Historical Saison Band 108

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GELIEBTER FEIND UND GENTLEMAN von VIRGINIA HEATH

Die Gentlemen liegen der wunderschönen Charity zu Füßen. Und gerade das ärgert Griffith Philpot merkwürdigerweise maßlos. Dabei hält er sie für eine entsetzliche Nervensäge! Doch jeder Versuch, der besten Freundin seiner Schwester aus dem Weg zu gehen, scheitert. Als ob ihm das Schicksal etwas mitteilen möchte …

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  • Erscheinungstag 01.06.2024
  • Bandnummer 108
  • ISBN / Artikelnummer 8090240108
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Virginia Heath, Helen Dickson

HISTORICAL SAISON BAND 108

1. KAPITEL

Die Hochzeit des Figaro, das großartige Meisterwerk Mozarts, nähert sich seiner letzten Woche. Und ich höre aus zuverlässiger Quelle, lieber Leser, dass sein jüngster und strahlendster Star, Miss Charity Brookes, sich bereits ein weiteres einträgliches Engagement gesichert hat. Sobald der Vorhang sich im Covent Garden senkt, wird unser lebhafter Sopran sich gen Norden begeben, um auch die nach Kunst dürstenden Massen dort oben zu beglücken …

Geflüster hinter dem Fächer, April 1815

„Ich sage ja nicht, er sei kein vollkommen netter Gentleman.“ Charity tätschelte ihrer Freundin tröstend den Arm. „Oder Captain Sinclair sei kein sehr ehrbarer junger Mann, denn er ist zweifellos sowohl das eine wie das andere. Aber es gibt nun einmal Gentlemen und Gentlemen, Dorothy, also ist es nicht sehr klug, ihm gleich zwei Walzer zu gewähren, einfach nur weil er der Erste war, der dich darum gebeten hat. Denn das würde den übrigen Gentlemen heute Abend den Eindruck vermitteln, dass du bereits vergeben bist.“

„Aber er hat an der Tür gewartet … nur auf mich.“

„Was ja auch sehr lieb und ausgesprochen schmeichelhaft ist, aber dennoch hättest du ihm nicht zwei Walzer zusagen dürfen. Der Walzer ist …“ Im Falle der drei Brookes-Schwestern jedenfalls ein unglaublich bedeutungsvoller Tanz. Faith und Hope hatten sich nach ihrem ersten Walzer Hals über Kopf in ihre jetzigen, völlig vernarrten Gatten verliebt. „Nun, er ist etwas Besonderes, weil ein Gentleman nur dann eine Dame um einen Walzer bittet, wenn es ihm sehr ernst ist. Das weiß doch jeder. Einen Walzer zu versprechen, ist schon bedeutsam genug, aber gleich zwei, noch dazu demselben Mann! Du könntest genauso gut gleich jede Hoffnung aufgeben, je wieder von einem anderen Mann aufgefordert zu werden.“

„Also soll ich überhaupt nicht mit ihm tanzen?“, fragte Dorothy enttäuscht und sah zum Captain hinüber, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als ihn. „Obwohl ich es doch so sehr möchte?“

„Aber natürlich sollst du mit ihm tanzen. Er ist charmant und sieht sehr gut aus. Ihr beide werdet hinreißend aussehen auf der Tanzfläche. Aber auf jedem Ball nur einmal. Das sind die Regeln, Dorothy, und es sind nicht nur meine. Jeder weiß, was zwei Walzer bedeuten. Sag ihm einfach, dass du dich geirrt hast und er nur den ersten Walzer bekommen kann, weil du vergessen hast, dass du den zweiten bereits vergeben hattest. Das wird sein Interesse nicht schmälern und dir weitere Möglichkeiten offenhalten.“ Ihre Freundin hatte im vergangenen Monat auf beunruhigende Weise ihre Zuneigung zu Captain Sinclair nur allzu deutlich gemacht. „Und es gibt Lord Tevitt die Möglichkeit, dich auch um einen Walzer zu bitten. Der arme Mann sieht dich sehnsüchtig an, seit du den Saal betreten hast.“

„Tanz einfach, mit wem du willst, Dottie.“ Wie nicht anders zu erwarten, beschloss Griffith Philpot in diesem Moment, in ihr Gespräch einzugreifen – zweifellos einzig zu dem Zweck, Charity zu widersprechen. „Wenn die Meinung deines Bruders noch zählt, muss ich sagen, dass ich Captain Sinclair bei Weitem dem kinnlosen Lord Tevitt vorziehe. Was macht es schon aus, wenn alle ihre Vermutungen über dich und den Captain anstellen? Ganz besonders, wenn diese Vermutungen zutreffen.“ Seine Schwester lächelte, und er warf Charity einen vernichtenden Blick zu. „Sinclair ist ein vernünftiger Mann und nicht so oberflächlich wie manch anderer.“

Wenn das Griesgram Griff nicht wieder ähnlich sah – schroff und bärbeißig wie immer. Charity verdrehte die Augen. „Es gibt Vernunft und Vernunft. Natürlich gebe ich zu, dass der gute Captain fast ebenso vernünftig ist wie Griffith hier …“ Sie verzog das Gesicht, damit der aufreizende ältere Bruder ihrer besten Freundin sich keine Illusionen machte und wusste, wie unendlich langweilig sie ihn fand. „… aber heute Abend sind viele vernünftige junge Gentlemen anwesend, und viele von ihnen weisen noch sehr viel mehr attraktive Eigenschaften auf als nur Vernunft oder Tiefsinn.“ Es war ihr zur lieben Gewohnheit geworden, ihm regelmäßig einen Dämpfer zu verpassen – wahrscheinlich aus Rache für seine Neigung, sie immer wieder daran zu erinnern, dass sie alles andere als vollkommen war.

„Wie zum Beispiel Geld und uralte Titel, was?“ Wie gewöhnlich starrte er sie an, als würde sie den größten Blödsinn verzapfen, und sie kam sich wieder vor, als wäre sie nicht älter als sechs und ebenso unreif. „Du würdest zulassen, dass meine Schwester für solche oberflächlichen Dinge eine glückliche Zukunft aufs Spiel setzt, Charity?“

Das war seine übliche Antwort für sie, weil er sie für oberflächlich hielt, aber das bedeutete natürlich, dass sie ihm beweisen musste, wie wenig sie sich um seine Meinung scherte. „Ein Captain ist zwar immer noch besser als ein bloßer Mister …“ Wie zum Beispiel Mr. Griffith Philpot! „… aber er kann sich dennoch nie mit einem Earl messen. Und ob du es nun billigst oder nicht, Griff, kannst selbst du nicht leugnen, dass Dorothy als Gattin eines Earls ein sehr viel besseres Leben führen würde als mit Captain Sinclair.“

Ihre beiden Schwestern waren aufgeblüht, seit sie verheiratet waren – nicht nur in ihren Ehen, sondern auch in ihren Karrieren. Faiths Gemälde waren jetzt ebenso gefragt wie die ihres Vaters, und Hopes erster Roman war regelrecht von den Regalen geflogen und ihr Publikum erwartete ihr zweites Werk mit atemloser Spannung. Natürlich wurden sie von der Gesellschaft gefeiert, waren beliebt und wurden überallhin eingeladen. Doch wenn Charity aufrichtig sein wollte, musste sie zugeben, dass ihre Schwestern auch erfolgreich geworden wären, wenn sie weniger vornehme Männer geheiratet hätten. Aber das musste sie Griff gegenüber ja nicht erwähnen, obwohl sie ihm insgeheim zustimmte.

Er schüttelte gereizt den dunkel gelockten Kopf. „Meine Schwester ist eine reiche Erbin, die sich dieses bessere Leben auch ohne Hilfe leisten kann, das weißt du. Und diese unbestreitbare Tatsache ist auch der Grund für Lord Tevitts plötzliche Zuneigung zu ihr. Während Captain Sinclair bereits eine Schwäche für sie zeigte, bevor er sein Offizierspatent erwarb und lange bevor mein Vater letztes Jahr beschloss, sie zur Zielscheibe jedes Mitgiftjägers im Land zu machen, und vor aller Welt verkündete, dass sie eine Mitgift von fünfzigtausend Pfund zu erwarten hat.“ Ein Entschluss, der das sonst so harmonische Zusammenleben der Philpot-Familie entschieden gefährdet hatte. Vater und Sohn gerieten noch immer deswegen aneinander, und Griff hatte sich in einen übertrieben fürsorglichen Bruder verwandelt, der eigens zum Schutz seiner Schwester nach London zurückgekehrt war. „Deswegen ist dieser bloße Captain nicht nur vernünftig, sondern auch aufrichtig und ein Mann, der ehrliche Zuneigung für meine Schwester empfindet. Es hieße, meine Pflicht als Bruder zu vernachlässigen, wenn ich ihr das nicht klarmachen würde.“

So ausgedrückt, hatte der ärgerliche Mann natürlich recht. Ein Titel war ja schön und gut, aber selbstverständlich kein Ersatz für einen guten Charakter. Es gab zwar anständige Adlige, wie Luke und Piers, die Männer ihrer Schwestern, aber leider doppelt so viele, die alles andere als anständig waren. Charity traute Lord Tevitts Absichten ebenso wenig wie Griff, und so war er natürlich nicht das beste Beispiel gewesen, um ihren Standpunkt darzustellen.

Und ginge es hier nicht um Griffin Philpot, den einzigen Mann auf der ganzen Welt, der nie auch nur das geringste Interesse an ihr gezeigt und ihr seit ihrem sechsten Lebensjahr nichts als Missbilligung entgegengebracht hatte, dann hätte sie das auch eingestanden. Doch seit seiner Rückkehr nach Bloomsbury im vergangenen Jahr schien er sie als erwachsene Frau sogar noch weniger zu billigen als damals, als er noch zehn Jahre alt gewesen war. Also würde eher die Hölle zufrieren, bevor sie diesem arroganten Kerl in irgendeiner Sache recht gab.

„Als reiche Erbin kann Dorothy sich den Besten aussuchen, Griff, und sie hat das Recht, das ganze Angebot zu prüfen, bevor sie eine hastige Entscheidung trifft, die den Rest ihres Lebens beeinflussen wird. Captain Sinclair war zwei Jahre fort und ist gerade eben erst wieder aufgetaucht, und während der ganzen Zeit hat er ihr keinen einzigen Brief geschrieben, wie du zugeben wirst. Deswegen bin ich nicht so von seiner aufrichtigen Zuneigung überzeugt wie du, und es hieße, meine Pflicht als ihre älteste und beste Freundin zu vernachlässigen, wenn ich ihr das nicht klarmachen würde.“

Griff machte ein finsteres Gesicht, ein sicheres Zeichen, dass er keine Antwort parat hatte. Charity klopfte sich insgeheim zufrieden auf die Schulter, wenn sie auch wusste, dass sie die Lage nicht ganz korrekt darstellte. Jeder konnte sehen, dass der offensichtlich schüchterne Captain Sinclair unsterblich in Dorothy verliebt war und es schon immer gewesen war, der arme Kerl. Und ebendiese Schüchternheit hatte ihn davon abgehalten, ihr einen Antrag zu machen, bevor er in seiner schicken Paradeuniform in den Krieg zog. Sehr viel beunruhigender allerdings war, dass ihre beste Freundin offenbar die Gefühle des jungen Mannes erwiderte. Und deswegen versuchte Charity, die Dinge ein wenig zu verlangsamen, denn ihre zwei Schwestern hatten die Liebe ihres Lebens geheiratet, und wenn Dorothy sich jetzt auch noch kopfüber in eine glückliche Ehe stürzen würde, dann wäre sie selbst die Einzige aus diesem engen Kreis, die noch ungebunden sein würde.

Der Gedanke machte ihr nicht wenig zu schaffen.

Natürlich wollte sie, dass ihre Freundin glücklich wurde, ebenso wie sie Faith und Hope ihr Glück von ganzem Herzen gönnte, und Dorothy sollte natürlich den Mann heiraten, den sie liebte und der sie vergötterte. Aber Charity hatte für sich dasselbe erträumt. Sie sehnte sich fast verzweifelt nach einem so vollkommenen Glück wie dem ihrer Schwestern. Dabei war es ihr herzlich gleichgültig, ob der Mann ihres Herzens von Stand war oder ein Bettler, wenn sie ihn nur liebte und er ihre Liebe erwiderte. Zu ihrem Kummer hatte sie diesen beneidenswerten Zustand noch nicht erreicht, und auch der Hauptkandidat, den sie für diesen Zweck ausgesucht hatte, erwies sich als sehr schwer von Begriff und war noch ebenso weit davon entfernt, sich in sie zu verlieben, wie vor einem Jahr, als sie ihn zum ersten Mal herausgepickt hatte.

Während Dorothy zu ihrem Captain hinüberlief, um ihm die schlechte Nachricht zu überbringen, ließ Charity unklugerweise ihren Blick zu Lord Denby schweifen. Der gut aussehende, charmante Erbe des Duke of Loughton stand lachend im üblichen Kreis seiner engsten Kumpane. Obwohl Charity elf Monate damit zugebracht hatte, zielstrebig mit ihm zu flirten, trotz der häufigen, scheinbar zufälligen Begegnungen und einem gelegentlichen Kuss, hatte er noch immer nichts getan, um sich öffentlich zu ihr zu bekennen, außer gelegentlich mit ihr zu tanzen. Und das für gewöhnlich nur, nachdem sie ihn dazu gedrängt hatte. Wenn sie jedoch allein waren, zeigte er sich mehr als entzückt und machte keinen Hehl aus seinem leidenschaftlichen Verlangen für sie. Charity begann zu argwöhnen, dass sie sich den falschen Mann ausgesucht hatte, denn ihr zukünftiger Duke schien nicht im Geringsten geneigt zu sein, angemessen um sie zu werben. Wahrscheinlich würde er heute Abend gar nicht wissen, ob sie hier war oder nicht, wenn sie sich nicht deutlich bemerkbar machte.

Zu spät wurde ihr bewusst, dass Griff sie beobachtete. Der unmögliche Mann folgte ihrem Blick und tippte sich nachdenklich gegen das markante Kinn. „Ich nehme mal an, Denby wäre ein angemessener Kandidat, dem man beide Walzer zugestehen dürfte?“ Er seufzte nicht sehr überzeugend auf. „Wenn du nur nicht so unsichtbar für ihn wärst, Charity, sosehr du dich auch bemühst, dich ihm an den Hals zu werfen.“

Sie lächelte nur rätselhaft, um nicht zu verraten, dass er die Situation völlig richtig einschätzte. Denby interessierte sich offensichtlich nur dafür, sie in sein Bett zu locken. „Wenn jeder das denkt, dann ist es uns ja großartig gelungen, unsere Gefühle zu verbergen.“

„Oh, also ist es Absicht, wenn er dich ignoriert, was?“ Er schien eher amüsiert als überzeugt zu sein, und es juckte Charity in den Fingern, ihm das selbstgefällige Lächeln aus dem Gesicht zu wischen. Doch stattdessen verließ sie sich auf ihre Schauspielkunst, um eine völlig unbeirrte Miene aufzusetzen. Sollte er doch denken, was er wollte. Die Wahrheit würde er nur über ihre Leiche erfahren. „Über was für eine unglaubliche Selbstbeherrschung der Mann doch verfügt, wenn es ihm gelingt, nicht einmal einen Blick zu dir herüberzuwerfen. Und das trotz all eurer vielen Schäferstündchen.“

Manchmal ging ihr Griffs Scharfsinn wirklich auf die Nerven. „Du weißt ja, wie die Klatschblätter sind. Oder du wüsstest es, wenn du interessant genug wärst, damit sie etwas über dich schreiben.“

„Nur zu wahr.“ Er nahm gelassen einen Schluck von dem Champagnerglas, an dem er seit mindestens einer halben Stunde sparsam nippte, um nicht tanzen zu müssen. „Es ist entweder das oder die Tatsache, dass ich mich nicht bemühe, von ihnen bemerkt zu werden. Aber ich verlange ja auch nicht nach der ständigen Aufmerksamkeit und Bewunderung der Massen wie gewisse Personen, um zufrieden mit meinem Leben zu sein.“

Der Stich traf ins Schwarze, genau wie er es beabsichtigt hatte, aber Charity zuckte nur die Achseln, wie sie es immer tat, und wünschte insgeheim, es wäre ihr gleichgültig, dass er sie so sehr missbilligte, obwohl sie niemandes Anerkennung so sehr ersehnte wie seine. Es war ein sehr unangenehmer Zug von ihr, der sich leider in dem Jahr, seit er wieder zurück war, nur noch verstärkt hatte. „Nun, umso besser, nicht wahr, Griff? Denn sonst würdest du immer wieder enttäuscht werden.“

Als die letzten Noten des Tanzes erklangen, schaute sie demonstrativ auf ihre Tanzkarte – wie immer bis an den Rand mit den Namen ihrer Bewunderer gefüllt –, und sorgte dafür, dass er jeden einzelnen Namen sehen konnte. Zu ihrer Erleichterung handelte es sich bei ihrem nächsten Tanzpartner um einen eher uninteressanten Adligen, der sich bereits in diesem Moment einen Weg durch die Menge zu ihr bahnte, um sie von dem einzigen Mann zu trennen, der sie zu gut kannte. „So faszinierend deine Gesellschaft heute Abend auch ist, fürchte ich doch sehr, dass du mich entschuldigen musst.“ Sie wandte sich genau in dem Moment um, in dem ihr Tanzpartner bei ihr ankam, knickste und strahlte ihn scheinbar begeistert an. „Lord Rigsby, Sie kommen genau richtig.“ Denn Griff war es wieder einmal gelungen, ihr das Gefühl von Unsicherheit und Unzulänglichkeit zu vermitteln. Aber schon immer war sie nicht mehr gewesen als die Brookes-Schwester mit dem geringsten Talent, stets weniger bemerkenswert und stets weniger intelligent.

Es ärgerte ihn zutiefst, dass er nicht davon lassen konnte, ihr mit dem Blick zu folgen.

Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, dieses Mal die Gesellschaft anderer Leute zu suchen, sah er ständig zu Charity hinüber, wie er es auch sonst immer tat. Er hätte jeden ihrer zahlreichen Tanzpartner aufzählen können, vom liebeskranken Lord Rigsby bis zum erlauchten Lord Denby, auf den sie so viel Wert legte und der gerade einen Walzer mit ihr tanzte. Nach dem verträumten Ausdruck in ihren großen blauen Augen zu schließen, gelang es dem Kerl offenbar, sie völlig zu verzaubern.

Griff verabscheute ihn mit jeder Faser seines Körpers. Denby war nicht mehr als ein Clown – vermessen, immer übertrieben wie aus dem Ei gepellt, mit zu vielen Quasten an den Stiefeln, zu viel Pomade im Haar, übertrieben auffälligen Westen und übertrieben kompliziert gebundenen Krawattentüchern, in denen er seine lächerliche Nadel mit dem wachteleigroßen Smaragd zur Schau trug, um seinen Reichtum und seinen Rang zu demonstrieren. Allerdings war Griff auch bewusst, dass sein Hass auf den Hohlkopf nur auf Charity zurückzuführen war.

Miss Charity Grace Brookes.

Der Fluch seines Lebens seit seiner Kindheit.

Sie war die schönste Frau auf jedem Ball, beliebt und bewundert, wo immer sie auch hinging. Sie besaß die Stimme eines Engels und die Fähigkeit, jede Bühne und jeden Raum mit Licht zu erfüllen. Jeder Mann begehrte sie, und jede Frau wollte sein wie sie.

Wunderschön, temperamentvoll, witzig, ehrgeizig, aufdringlich, mutig und eitel, indiskret, unerschütterlich und unvergleichlich, verlockend und berauschend. Sie war gewiss die gefährlichste Frau, der er je begegnet war, und doch gleichzeitig eine treue und nachsichtige Freundin für seine unbeständige kleine Schwester Dottie, die an ihren Lippen hing, als verkünde sie das Evangelium – und die sich nur allzu willig von ihr in die Irre führen ließ.

Charity war das Haar in seiner Suppe, eine beharrliche Nervensäge und ein absolutes Rätsel, aus dem er einfach nicht klug wurde, obwohl er es seit fast zwei Jahrzehnten versuchte. Und aus unerfindlichen Gründen war sie auch sein Ein und Alles.

Glücklicherweise war er zu vernünftig, um sie nicht schon längst durchschaut zu haben, sonst wäre er zum gleichen Schicksal verdammt wie der unglückselige Rigsby – nie gut genug für die hochfliegenden Ziele, die Charity sich gesetzt hatte, und zu schwach, um ihren Fallstricken zu entkommen.

Dem Himmel sei Dank!

Der arme Kerl gehörte aber dem Adel an, hatte also wenigstens eine winzige Chance bei ihr, während Griff ebenso wenig vornehm war wie sie selbst und völlig zufrieden damit.

Ebenso wie er sich mit der Tatsache zufriedengab, dass sie ihm nie gehören würde. Ihr Verhältnis zueinander war nach so vielen Jahren Bekanntschaft wie das zwischen Geschwistern, und das Letzte, was er wollte, war eine Frau, die ihm das Leben zur Hölle machen würde. Nur ein Dummkopf würde eine Gattin haben wollen, die ihm auf der Nase herumtanzte, mit allen Männern flirtete, sie hinter seinem Rücken sogar küsste und im Grunde nur ihren Ehrgeiz befriedigen wollte und niemals mit ihrem Los zufrieden sein würde. Nein, er war alles andere als ein Dummkopf. Nicht, dass sie ihn überhaupt nehmen würde, also war es in jedem Fall sinnlos, so viel darüber zu grübeln, wie er es tat.

Sollte er sich auf die Suche nach einer Frau machen, und er war entschlossen, es in nicht allzu ferner Zukunft zu tun, wünschte Griff sich eine Ehe wie die seiner Eltern – ein glückliches Zusammentreffen zweier Menschen mit ähnlichen Ansichten und gemeinsamen Zielen. Seine Ehe sollte eine Oase in der Wüste und ein ruhiger Hafen im Sturm sein, eine Zuflucht gegenseitigen Vertrauens, hingebungsvoller Treue und geordneter Ausgeglichenheit. Miss Charity Grace Brookes war dafür nicht die richtige Partnerin. Sie war wie eine brechende Welle gewesen, chaotisch und entschlossen, und das vom ersten Moment an, da sie in sein Leben gestürmt war und sein Lieblingsspielzeug zerbrochen hatte. Weder Klebe noch Unmengen von Papierflicken hatten jenen verflixten Drachen wieder zum Fliegen bringen können – eine sehr aufschlussreiche Metapher und ein böses Omen, dessen Warnung er immer beherzigt hatte, als hinge sein Leben davon ab.

Das Beste für ihn war, Charity aus dem Weg zu gehen.

Wenn seine ungesunde, lang anhaltende Besessenheit von ihr nur endlich nachlassen würde. Seit siebzehn Jahren betete er unaufhörlich darum, frei von ihr zu sein. Nun, vielleicht nicht ganze siebzehn Jahre. Als er London verlassen hatte, um das Geschäft seines Vaters von Grund auf zu erlernen, und vier idyllische Jahre in ihrer Maschinenfabrik in Sheffield verbrachte, hatte er kaum an Charity gedacht. Sie war ihm nur ein- oder zweimal in den Sinn gekommen – oder zehnmal. Nun gut, womöglich sogar einige hundertmal … am Tag.

„Tanzt du schon wieder nicht, Griff?“ Faith, Charitys älteste Schwester und seine älteste Freundin, gesellte sich zu ihm und rettete ihn vor weiteren nutzlosen Grübeleien. „Dir ist doch klar, dass es als äußerst unhöflich gilt, nicht zu tanzen, wenn so viele heiratswillige junge Damen keinen Tanzpartner haben?“

„Ich habe nie gern getanzt, das weißt du. Am wenigsten mit heiratswilligen jungen Damen.“

„Nein, das stimmt nicht.“ Sie wies auf eine kleine Gruppe junger Mädchen, die ihr Interesse an ihm nicht verhehlen konnten. „Was dir nicht gefällt, ist, dass man dich für heiratswillig halten könnte.“

Das ließ sich nicht leugnen. Als sein Vater aller Welt unklugerweise verkündete, dass Dorothy eine Mitgift von fünfzigtausend Pfund zu erwarten hatte, um einen adligen Schwiegersohn anzulocken, hatte er gleichzeitig auch Griff ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Jetzt wussten Gott und die Welt, dass das Unternehmen Philpot und Sohn ein Vermögen wert war und dass also besagter Sohn eine großartige Partie darstellte.

„Du weißt, dass ich dich für alles verantwortlich mache, oder?“ Er seufzte übertrieben, um sie zu amüsieren. „Wenn du nicht deinen Viscount geheiratet hättest und deine Mutter sich nicht so damit gebrüstet hätte, wäre meine liebe Mama nicht so entschlossen gewesen, ihr nachzueifern und auch ihre Kinder gesellschaftlich zu verbessern. Und auf Hope bin ich auch wütend, weil sie deinem Beispiel gefolgt ist und die Lage damit nur noch verschlimmert hat. Das vergangene Jahr war unerträglich, und ich wünschte, ich wäre in Sheffield geblieben.“ Aus mehr Gründen als nur einem – obwohl der wichtigste Grund von allen ihn überhaupt wieder zurück nach Hause gezogen hatte.

„Tut mir so leid.“ Aber ihr breites Lächeln strafte ihre Worte Lügen. „Und Hope sicher auch. Aber sieh es doch von der positiven Seite. Jetzt brauchst du dich bei den Damen nicht mehr anzustrengen. Sie kommen ganz von allein auf dich zu. Die meisten Gentlemen würden für so einen Vorteil töten. Vielleicht solltest du deine neu erworbene Beliebtheit einfach akzeptieren und dich zur Abwechslung einmal ein bisschen amüsieren. Erlebe ein paar leidenschaftliche Affären, bevor du dich vor den Altar locken lässt. Arbeit allein macht nicht glücklich, sondern eher langweilig, mein lieber Griff.“

„Das ist schon das zweite Mal, dass mich eine Brookes langweilig nennt.“ Unwillkürlich ging sein Blick wieder zur jüngsten Brookes-Schwester, die noch immer elegant über die Tanzfläche wirbelte, bevor er ihn entschlossen wieder abwandte. „Deine Familie wird mir zunehmend unsympathischer.“

„Wirklich schade, denn ich wollte dich eigentlich zu einer Gesellschaft einladen.“

„Du weißt, dass mir nichts an Menschenmengen liegt.“

„Es ist nicht die Art von Gesellschaft, du alter Griesgram. Nur Familie und enge Freunde, ohne viel Aufhebens. Eine private Feier bei mir zu Hause.“

„Und was feiern wir?“

„Charity.“ Natürlich. In letzter Zeit und seit sie zu einer wahren Berühmtheit geworden war, schien er ihr einfach nicht entkommen zu können, sosehr er es auch versuchte. Und er versuchte wirklich alles. „Sie wollen ihre Aufführungen in Covent Garden durch den ganzen Sommer hindurch fortführen. Ist das nicht großartig?“

Noch mehr Erfolg also, der ihr zweifellos zu Kopf steigen würde, so hübsch dieser auch war. „In der Tat.“

„Wir haben es erst heute Nachmittag erfahren, also ist es ein Geheimnis, bis die Verträge unterschrieben sind. Aber sie sind so darauf erpicht, dass sie sogar bereit sind, ihre Tournee in den Norden zu berücksichtigen.“ Die Zeitungen hatten in der vergangenen Woche bis zum Überdruss darüber berichtet. Charity würde Soloaufführungen in den vier größten Provinztheatern des Landes geben und fürstlich dafür bezahlt werden – Lincoln, Manchester, Leeds und York. Vier herrliche Wochen und Hunderte von Meilen zwischen ihnen, die ihm endlich ein wenig Ruhe vor ihr bescheren würden. „Also wird ihr und Dorothys kleines Abenteuer nicht davon beeinträchtigt werden.“

„Dorothy?“

„Deine Schwester begleitet sie doch. Alles wurde vergangene Woche arrangiert. Hat sie es dir nicht gesagt?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Natürlich hatte sie das nicht. Denn Dottie wusste sehr gut, dass er sich eher erschießen würde, als eine solche Katastrophe zuzulassen.

2. KAPITEL

Ein Überfluss an Gerüchten, lieber Leser, erreichte mein Ohr. Demnach soll Miss C. aus Bloomsbury auf Lady Bulphans gestriger Soiree mehr als nur einen Augenblick mit Lord D. genossen haben – in derselben Orangerie, in der sie letztes Jahr den Gerüchten zufolge jenen Kavallerieoffizier geküsst haben soll …

Geflüster hinter dem Fächer, April 1815

„Aber Lily und Evan werden uns doch begleiten!“ Charity starrte ihre Mutter fassungslos an. „Sie sind nicht nur Mann und Frau, sondern du und Papa vertrauen ihnen außerdem vorbehaltlos. Also muss sich wohl kaum noch eine Anstandsdame an uns hängen wie eine Klette.“ Ganz besonders wenn es sich bei dieser Anstandsdame um Griesgram Griff Philpot handelte, den einzigen Menschen auf der ganzen Welt, bei dem sie sicher sein konnte, dass er ihr jeden Spaß verderben und ihr alle Freude über ihre Erfolge nehmen würde.

„Ich fürchte, Mrs. Philpot hat darauf bestanden, mein Liebes, und sie hat nicht ganz unrecht. Es gibt so viele böse Menschen, die versuchen könnten, zwei junge Damen zu übervorteilen, und als Mütter haben wir die Pflicht, die kostbare T-U-G-E-N-D unserer Töchter zu beschützen. Ein Familienangehöriger wird das so viel gewissenhafter übernehmen als eine Zofe und ein Kutscher. So treu ergeben Lily und Evan auch sind, man wird sie kaum zu den Gesellschaften zulassen, zu denen ihr eingeladen werdet. Und das heißt, ihr wäret die meiste Zeit ohne Begleitung.“

Aus ebendiesem Grund hatte Charity ja auch auf Lily und Evan bestanden. Schließlich sollte das ein Abenteuer werden, ihr großer Augenblick, in dem sie ganz allein im Rampenlicht stehen würde. Endlich würden sie und Dorothy einen Geschmack von jener wahren Freiheit bekommen, die sie als jüngste Töchter überängstlicher Eltern noch nie erlebt hatten. Zweifellos hatte der allzu schlaue Griff diesen Teil ihres Plans durchschaut und war sofort dazu übergegangen, seine Mutter in Angst und Schrecken zu versetzen. Der unmögliche Mensch war schon immer ein Spielverderber gewesen.

„Aber ausgerechnet Griff, Mama? Von allen Menschen, die so viel besser für diese Aufgabe gewesen wären, ist euch kein passenderer eingefallen?“ Warum ausgerechnet der Mann, der nichts an ihr einzigartig oder eindrucksvoll fand, der immer ihre beiden Schwestern ihr vorgezogen hatte, den sie als Kind insgeheim angebetet und doch irgendwie stets verärgert hatte, ohne es je zu wollen, und den sie noch immer nicht begreifen konnte. Er war einfach attraktiver, stattlicher und klüger, als gut für ihn war, und einer der rätselhaftesten und irritierendsten Junggesellen, die je auf der Erde gewandelt waren.

Junggeselle!

Plötzlich kam ihr ein Einfall. „Es ist doch aber gewiss völlig ungehörig, wenn ein unverheirateter Gentleman zwei junge Damen begleitet, von der eine nicht im Entferntesten mit ihm verwandt ist, oder? Einen ganzen Monat lang werden wir gezwungenermaßen dicht an dicht wohnen, also könnte er doch sehr leicht auf unangebrachte G-E-D-A-N-K-E-N kommen, Mama.“

Statt beunruhigt zu sein, brach ihre Mutter in Gelächter aus. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass Griff ihre Tochter kaum je ansah, geschweige denn verlangend. „Manchmal sagst du wirklich die drolligsten Sachen, Charity! Als würde Griff dich je in so einem Licht betrachten! Ihr seid doch fast wie Bruder und Schwester, und so wird er dich mit derselben Gewissenhaftigkeit beschützen wie Dorothy. Griff war schon immer der vernünftigste von euch fünf Kindern und der verantwortungsbewussteste. Der vollkommene große Bruder.“

Ihre Familien erwähnten diese Tatsache ziemlich oft, und Charity hätte nicht verblüffter darüber sein können, denn es gab nichts Brüderliches an ihrer Beziehung zu Griff. Das Beste, was man jetzt darüber sagen konnte, war, dass sie distanziert war, aber meistens auch angespannt. Sie ertrugen die Existenz des anderen, weil es nicht anders ging, und seit seiner Rückkehr war selbst das schon schwierig genug. Statt mit den Jahren toleranter zu werden, schien Griffs Missfallen an ihr noch zugenommen zu haben, und nach Charitys bescheidener Meinung auf übertriebene Weise. Denn sie war jetzt mit ihren dreiundzwanzig Jahren sehr viel vernünftiger als mit achtzehn, als er sein Zuhause verlassen hatte. Doch gerade die Dinge, die ihr schon immer so viel Vergnügen bereitet hatten – Tanzen, Plaudern, Flirten und jede Art von Spaß –, waren ebendie Dinge, an denen er Anstoß nahm.

„Und wenn ich Hope bitte mitzukommen?“ Hope schuldete ihr einen enormen Gefallen, denn sie hatte niemandem verraten, wie oft Hope und ihr jetziger Gatte sich abends heimlich auf ihren aneinandergrenzenden Balkonen getroffen hatten, obwohl sie es von fast Anfang an gewusst hatte. Aber sie hatte geschwiegen, damit ihre allzu vernünftige Schwester ein bisschen Spaß haben konnte. Und sie hatte sich ausgerechnet dann mit ihrem Buch in den Vordergrund gespielt, als Charity im Figaro ihr Debut als Susanna gemacht hatte. Also schuldete sie ihr mehr als einen Gefallen.

„Abgesehen davon, dass es kaum richtig wäre, eine schwangere Frau quer durchs Land zu schleppen, und wie kurzfristig du sie davon in Kenntnis setzen würdest, ist ihr neues Buch schon bald fällig. Luke würde es außerdem nicht zulassen. Und denk gar nicht erst daran, Faith zu bitten, denn sie hat ebenso sehr alle Hände voll zu tun mit Aufträgen für neue Gemälde wie dein Vater. Und dann ist da noch deine kleine Nichte.“ Besagte Nichte hatte beschlossen, ausgerechnet einen Tag nach Charitys Debut zu erscheinen und damit den Erfolg ihrer Tante zu schmälern, für den sie so viele Jahre lang gearbeitet hatte. Sosehr sie die kleine Raphaela und auch ihre große Schwester vergötterte, so wünschte sie doch insgeheim, die Kleine hätte ein wenig länger gebraucht, um auf die Welt zu kommen.

„Ich würde ja kommen, mein Liebling, aber ich hatte mich schon für das Konzert in Bath verpflichtet, bevor dein Angebot kam, und ich kann die Leute unmöglich im Stich lassen.“ Ihre Mutter hasste es, ihre Bewunderer zu enttäuschen. „Du könntest natürlich Dorothys Mutter bitten …“ Was unendlich unangenehmer wäre, da Mrs. Philpot wahre Adleraugen hatte – genau wie ihr verflixter Sohn. „Doch da Griff bereits dringende Geschäfte im Norden zu erledigen hat, ergäbe es keinen Sinn, dass beide euch begleiten.“

Dringende Geschäfte, die zweifellos dringender geworden waren, kaum dass er gehört hatte, dass seine kleine Schwester einen ganzen Monat mit ihr verbringen wollte. Charity war stark versucht, Dorothy wieder auszuladen, um Griesgram Griff davon abzuhalten, sich ihr anzuschließen und ihr den ganzen Spaß zu verderben.

Ihre Mutter lächelte über ihre niedergeschlagene Miene. „Ich verstehe zwar, dass du dich ungern kontrollieren lässt, aber wir beide wissen, dass du einen vernünftigen Kopf gut gebrauchen kannst auf dieser Reise, mein Liebling. Und ich werde ruhiger schlafen können, wenn ich weiß, dass jemand bei dir ist, der deinen Leichtsinn etwas zügeln wird. Außerdem wirst du trotz Griffs Anwesenheit viel Spaß haben, weil du das immer tust. Komm jetzt, die Kutsche wartet bereits, und du möchtest doch zu deiner eigenen Party nicht zu spät kommen.“

Den größten Teil der Fahrt bis zu Faiths Haus am Grosvenor Square war Charity bedrückt, bis sie sich sagte, dass Gruff Griff, der Spaßverderber, von ihr aus zum Teufel gehen konnte. Er sollte ruhig versuchen, sie zu unterdrücken, aber sie war entschlossen zu tun, was ihr gefiel, wie sie es schon immer getan hatte. Wenn sie nicht arbeiten musste, wollte sie Spaß haben, was immer er auch dagegen einzuwenden haben würde. Und wehe, er besaß die Frechheit, ihr einen Berg unzumutbarer Regeln aufzubürden, denn Regeln waren dazu da, dass man sie brach, und er wusste sehr gut, dass sie im Innersten schon immer eine Rebellin gewesen war. Und was die Gesellschaften anging, zu denen sie, wie sie hoffte, eingeladen werden würde, so beabsichtigte sie, jeden einzelnen Tanz zu tanzen, und zwar mit einer Vielzahl junger Gentlemen und bis in die frühen Morgenstunden, um ihn zu ärgern und so wenig Zeit wie nur menschenmöglich mit ihm verbringen zu müssen.

Und erst wenn sie Sheffield erreicht hatten, würde sie ihm das Allerbeste verraten.

Denn sie hatte ganz andere Pläne für ihre letzte Woche im Norden, die dafür sorgen würden, dass Griffs Anwesenheit völlig überflüssig wurde. Diese geheimen Pläne hatte sie nicht einmal Dorothy anvertraut, und sie bedeuteten, dass Charity unmöglich im Haus der Philpots bleiben würde, während Griff sich um seine angeblich so dringenden Geschäfte kümmerte. Denn stattdessen würde sie an Lord Denbys Hausparty auf seinem Gut zwanzig Meilen weit davon entfernt teilnehmen.

Sie hatte Denby im Grunde dazu angestachelt, diese Hausparty zu geben, als er neulich erwähnt hatte, dass er aus dem Norden stammte. Besonders praktisch war, dass seine Eltern ständig auf diesem Gut lebten und sozusagen als Aufpasser fungieren konnten. Charity hatte Denby davon überzeugen können, dass es der vollkommene Hintergrund war, um seinen dreißigsten Geburtstag zu feiern – mit seiner Familie, wie es sich gehörte –, und die vollkommene Gelegenheit, ihn dazu zu bringen, sich endlich in sie zu verlieben, statt sie nur zu seiner Geliebten machen zu wollen. Dann könnte sie Griff diesen Heiratsantrag unter die Nase reiben. Was für eine wundervolle Rache das sein würde!

Schon fühlte sie sich viel besser und legte nur für ihn ein besonders strahlendes Lächeln auf, als sie das Haus betrat, um ihn wissen zu lassen, dass seine unwillkommene Einmischung sie nicht im Geringsten beunruhigte – und danach ignorierte sie ihn. Doch wie sie Griff kannte, würde er schon bald dazu übergehen, ihr seine kleinlichen, unsinnigen Regeln für ihre Reise aufzuzählen. Und tatsächlich musste sie nicht lange warten, da ihre älteste Schwester sie in ihrer Unbedachtheit beim Essen direkt neben Griff gesetzt hatte.

„Ich nehme an, du bist wütend auf mich.“

Sie widerstand der Versuchung, ihm mit der Serviette ins viel zu attraktive Gesicht zu schlagen. „Eigentlich eher neugierig als wütend, Griff, da ich nicht verstehe, warum du von Theater zu Theater hinter mir herlaufen willst, wenn du die Oper doch verabscheust und nur kommst, wenn deine Mutter dich dazu zwingt. Und selbst dann ist es nur allzu offensichtlich, wie sehr du es hasst.“ Selbst ihr Gesang konnte ihn nicht beeindrucken, zum Kuckuck mit ihm, aber wenn sie seiner Meinung nach schon sonst nichts richtig machen konnte, so war sie doch zweifellos eine hervorragende Sängerin.

„Jemand muss auf meine Schwester aufpassen.“

„Weil ich sie selbstverständlich vom rechten Weg abbringen werde.“

„Darin hast du nun einmal ein Talent, Charity, und du weißt, dass Dottie jede Vernunft vergisst, wenn sie mit dir zusammen ist.“

„Ach? Ich fürchte, das wirst du schon besser belegen müssen, Griff, da ich es ganz und gar nicht weiß.“

Er wartete, bis der Diener ihnen die Suppe serviert hatte, bevor er seine tiefe Stimme zu einem Flüstern senkte und Charity unwillkürlich erschauerte. „Da war zum Beispiel das eine Mal, als du sie mit dir auf einen der unbeleuchteten Wege von Vauxhall Gardens gezerrt hast, damit ihr euch heimlich mit Lord Denby treffen konntet.“

„Falls Dorothy und ich uns eines Vergehens schuldig machten, so nur unseres Wunsches, das Feuerwerk besser zu sehen. Jeder weiß, dass man am Ende des Dark Walk an den Turm kommt, von wo man die Feuerwerkskörper abschießt, wo man sie also am besten sehen kann. Außerdem waren wir die ganze Zeit in der Gesellschaft von Hope und Luke – und natürlich deiner Wenigkeit.“

„Nur weil du es nicht verhindern konntest.“

„Haben wir auch nur einmal versucht, uns aus deinen übertrieben fürsorglichen Klauen zu befreien?“ Am liebsten hätte sie seinen Dickschädel mit ihrem Suppenlöffel bearbeitet. „Nein, haben wir nicht. Im Gegensatz zu meiner Schwester und ihrem jetzigen Gatten, die in jener Nacht selbst ein völlig unangebrachtes Rendezvous abhielten, blieben Dorothy und ich die ganze Zeit bei dir. Und wir waren noch immer zusammen, als wir zufällig auf Lord Denby stießen, der ganz offensichtlich ebenfalls nur da war, um das Feuerwerk verfolgen zu können.“

„Ich erinnere mich noch gut, dass du ununterbrochen schamlos mit ihm geflirtet hast, also war es nur gut, dass ich dabei war.“

Aber es war wirklich nicht geplant gewesen. Charity hatte Lord Denby vor jenem Abend kaum gekannt und nur deswegen mit ihm geflirtet, weil sie wusste, dass Griff es missbilligen würde. Die Tatsache, dass er sofort davon ausgegangen war, dass sie sich schlecht benehmen würde, hatte auf sie gewirkt wie ein rotes Tuch – und sie hatte sich so schlecht benommen, wie er es von ihr erwartet hatte. Und das allein, wie schon unzählige Male vorher, um ihn zu ärgern.

„Ich flirte schon aus Prinzip schamlos mit jedem Mann.“ Außer mit ihm. Charity hatte kein einziges Mal versucht, die Waffen einer Frau bei Griff einzusetzen, da er so steif und missbilligend war, dass sie wahrscheinlich sowieso nicht funktionieren oder vielleicht sogar nach hinten losgehen würden. „Ein kleiner Flirt hin und wieder kann nicht schaden, wenn er bedeutungslos ist, und zu der Zeit kannte ich Denby kaum, also bedeutete er … damals … ganz gewiss nichts.“

Er würde sie durchschauen, wenn sie versuchen wollte, ihre Lüge auszuschmücken, denn ihr Flirt mit Denby bedeutete noch immer nichts, soweit es Denby betraf – jedenfalls nichts, was über das Körperliche hinausginge. Er war in jeder anderen Hinsicht so zurückhaltend, dass selbst die versprochene Hausparty noch in der Schwebe hing. Das war wohl auch der wahre Grund, weswegen sie Dorothy gar nicht davon erzählt hatte. Ihr sorgfältig ausgesuchter zukünftiger Duke war nicht sehr begeistert gewesen von ihrem Vorschlag und hatte erst zugestimmt, nachdem sie ihm erlaubt hatte, sie sehr viel leidenschaftlicher zu küssen, als ihr angenehm war.

„Aber ich schweife ab. Du sagtest, Dorothy verfüge über keine Vernunft, wenn sie mit mir zusammen ist, und müsse deswegen beschützt werden. Aber sie hat an jenem Abend mit niemandem geflirtet, oder? Du bestrafst sie also für meine offensichtlichen Vergehen, und das ist ja wohl kaum gerecht.“

„Wenn ich nicht da gewesen wäre …“

„Ach, um Himmels willen, Griff, wärest du nicht da gewesen, hätte ich einfach wieder schamlos geflirtet, während wir das Feuerwerk beobachtet hätten, weil es mir nun einmal gefällt. Jeder weiß das.“ Sie war gut im Flirten – so gut, dass sie hervorstach, und sie genoss die Aufmerksamkeit, wann immer Griff in der Nähe war. Das war leider die traurige Wahrheit. „Und dann wären deine Schwester und ich sofort wieder zu euch zurückgekommen, wie wir es immer tun. Was hätten wir denn sonst gemacht? Wir sind erwachsene Frauen, keine Hohlköpfe, und wissen sehr gut, wie wir uns benehmen müssen. Jedenfalls sind wir gut genug zurechtgekommen in all den Jahren, in denen du im langweiligen Sheffield mit deinen albernen Dampfmaschinen herumgespielt hast.“ Und die ganze Zeit hatte sie die Tage bis zu seinem nächsten flüchtigen Besuch gezählt. Nicht, dass sich das Warten je gelohnt hätte, denn er war sowieso nie erfreut gewesen, sie zu sehen.

„Weißt du, wie du dich benehmen musst? Es war eine unüberlegte Laune von dir, die Dorothys Ruf hätte zerstören können.“

Charity verdrehte die Augen. „Wie denn das? Sie hat doch nichts Unangebrachtes getan, und es war auch niemand da, der es hätte sehen können.“

„Aber wenn doch jemand da gewesen wäre, Charity? Wenn man ihren Namen in der Zeitung schlecht gemacht und es einen Skandal gegeben hätte? Was wäre dann gewesen?“

„Die Klatschblätter schreiben ständig nur Unsinn, und Skandale gehen vorüber.“ Das wusste sie aus Erfahrung, da sie und ihre Schwestern schon seit jeher von den Zeitungen aufs Korn genommen wurden. Doch genau wie ihr Vater war sie der Meinung, dass es am besten war, den Unsinn in den Klatschblättern zu ignorieren, bis er vorüber war. Leider musste sie eingestehen, dass der Unsinn meist auf ihre eigenen impulsiven, unbekümmerten Fehler zurückgeführt werden konnte, und so musste sie sich selbst die Schuld daran geben, genau wie Griff gesagt hatte. Zum Kuckuck mit ihm.

„Für dich vielleicht, weil du daran gewohnt bist, es dir nichts ausmacht oder vielleicht sogar daran Spaß hast, aber Dorothy besitzt keine Engelsstimme oder eine Armee hingebungsvoller Opernliebhaber, die über ihre vielen Verstöße gegen den guten Geschmack hinwegsehen würden.“

„Und was soll das jetzt heißen?“ Obwohl sie genau wusste, worauf er anspielte, versetzte es ihr doch einen Stich. Als lebenslanger Freund ihrer Familie und ihrer ebenso oft verleumdeten Schwestern sollte er es eigentlich besser wissen. Anzüglicher Klatsch war wie das Gestrüpp in einem Garten. Es fing klein an, nahm aber leicht überhand, bis die Wahrheit der Blüten erstickt wurde und man nur noch die wirren Dornenstränge der Lüge sehen konnte.

Griff gab sich nicht die Mühe, seine Verachtung zu verbergen. „Wegen deiner Position als Künstlerin wird die Gesellschaft immer bereit sein, dir mehr Nachsicht zu zeigen, wann immer du dich unpassend benimmst. Das sähe ganz anders aus, falls meine Schwester es täte.“

Das „wann immer“ und „falls“ in seiner Aussage sprach Bände. Nach seiner voreingenommenen Meinung hatte sie selbst sich immer schlecht benommen und würde es auch weiterhin tun, während Dorothy nicht dazu in der Lage wäre, wenn ihre Freundin sie nicht böswillig dazu verleiten würde. „Du glaubst alles, was sie je über mich geschrieben haben, nicht wahr?“

Er zögerte einen Moment zu lange, und dann starrte er grimmig auf seinen Suppenteller hinab, als er antwortete. „Nicht alles. Hin und wieder zweifle ich schon.“

„Hin und wieder?“

„Für jedes Gerücht gibt es immer eine Basis, Charity, ganz besonders bei dir. Du vergisst, dass deine legendären Heldentaten mit diversen Gentlemen sogar die über zweihundert Meilen bis zum langweiligen Sheffield gereist sind. Wenn wir davon ausgehen, dass auch nur ein Viertel all dieser Geschichten wahr ist, bedeutet es noch immer, dass du bedeutend mehr Männer geküsst hast, als es für eine anständige junge Dame schicklich ist.“

Sie blieb kurz regungslos sitzen, während sie die Beleidigung zu verdauen suchte. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass Griff zum Teufel gehen konnte mit seiner selbstgerechten Einstellung. Sie erhob sich ruhig, gab vor, ihre Röcke vom Tischbein befreien zu müssen, und mit einem wohlgezielten Ruck gelang es ihr, den gesamten Inhalt seines Suppentellers in seinem Schoß landen zu lassen.

3. KAPITEL

Vergangenen Abend in Covent Garden wurde die engelsgleiche Sängerin Miss Charity Brookes nicht einmal, sondern gleich sechsmal von ihrem begeisterten Publikum vor den Vorhang gerufen und erhielt stehende Ovationen. Nach vier Monaten war es die letzte, hochgelobte Vorstellung der Hochzeit des Figaro. Aber keine Sorge, lieber Leser, denn wie ich aus bester Quelle erfahren habe, wird sie die Rolle, für die sie geboren zu sein scheint, im Sommer wieder aufnehmen, sobald ihre ausverkaufte Tournee im Norden beendet ist …

Geflüster hinter dem Fächer, Mai 1815

„Ist das sicher schon das gesamte Gepäck?“, fragte Evan, der Kutscher der Brookes, sardonisch und schüttelte den Kopf, als sie ihm eine enorme Hutschachtel überreichte. „Ich glaube, Sie haben jetzt doppelt so viel wie alle Übrigen zusammengenommen, Miss Charity.“

„Selbstverständlich.“ Sie zuckte unbekümmert die Schultern, während er ihr in die Kutsche half, in der Griff und seine Schwester bereits seit zwanzig Minuten geduldig auf sie warteten. „Die Übrigen mussten ja auch keine Kostüme oder Perücken oder Bühnenschminke mitnehmen.“ Sie machte es sich neben Dorothy bequem und lächelte. Wie immer musste sie sich keine besondere Mühe geben, um wunderschön auszusehen und Lebensfreude zu versprühen. „Ist das nicht aufregend, Dottie? Vier Wochen voller Vergnügen und Abenteuer liegen vor uns.“ Dann ließ ihr Lächeln entschieden nach, als sie Griff einen Blick zuwarf. „Da du selbst nichts Angenehmes zu tun hattest, wirst du gewiss einen Plan für unsere Reise aufgestellt haben, nehme ich an. Ich muss am Fünften des Monats für die Proben in Lincoln sein, aber ich möchte auf dem Weg dorthin in Cambridge haltmachen, denn es gibt da die hübschesten Straßen und wunderbare Geschäfte.“ Ganz offensichtlich hatte sie ihn für die Reise zu einer Art persönlichem Sekretär erkoren.

Nicht, dass es ihm etwas ausmachen würde, wenn er damit nur dafür sorgen konnte, dass sie sich gesittet benahm. Er hielt seinen säuberlich aufgeschriebenen Zeitplan hoch und wies auf die Daten, Zeiten und geplanten Zwischenstationen.

„Wie du siehst, werden wir in Baldock übernachten und morgen in aller Frühe nach Cambridge weiterfahren. Wenn das Wetter sich so gut hält, wirst du zum Mittagessen dort sein und genug Zeit haben, um deinen Flitterkram zu besorgen. Am Tag darauf werden wir in Stilton zu Mittag essen, der Heimat des berühmten Käses, und dann fahren wir weiter nach Stamford, wo sich eines meiner bevorzugten Gasthäuser befindet. Donnerstagabend sind wir dann in Grantham, und von dort brechen wir bei Dämmerung auf, um wie festgesetzt Freitagfrüh im Theater in Lincoln anzukommen.“

Griff zählte bereits jetzt die Minuten, denn bis dahin würde er vier endlose Tage mit ihr in dieser Kutsche eingepfercht sein. In Lincoln würde er dann endlich eine Atempause bekommen. Charity hatte an Freitag und Samstag Proben und am Samstagabend war die Aufführung, und er hoffte nur, sie würde so sehr mit allem beschäftigt sein, dass er einige wundervolle Stunden lang die Ruhe finden würde, um sich von dieser Tortur zu erholen. Denn am Sonntag konnten sie sich nicht von der Stelle rühren, da sie auf die Aufführung am Montag warten mussten. Wer konnte wissen, welchen Unfug Charity sich in diesen freien Stunden nicht einfallen lassen würde? Also musste er auf der Hut sein.

„Alles ist aufgeladen. Evan und ich sind bereit, wenn Sie es sind.“ Lily, Charitys Zofe, erschien am Fenster, und hinter ihr standen Augustus und Roberta Brookes, ihre Eltern, um sich zu verabschieden.

„Unterhalte dich gut, mein Liebling!“ Roberta Brookes zupfte die bereits perfekt liegenden Locken ihrer Tochter zurecht und küsste sie herzhaft. Tränen in den Augen, drückte sie Dorothys und Griffs Hände. „Passt auf mein liebes Baby auf.“

„Das werden wir.“ Er zumindest würde es tun. Dottie würde sich sehr wahrscheinlich eher als Hindernis und Charitys Komplizin erweisen, statt ihm zu helfen.

„Und schreibt oft. Ich möchte wissen, wie es euch geht.“

„Lass sie endlich losfahren, Roberta.“ Augustus Brookes musste seine Frau regelrecht von der Kutsche fortzerren. „Hab viel Spaß, mein Liebling, und versuche bitte, auf Griff zu hören.“ Er warf ihm einen vielsagenden Blick zu, der Griffs böseste Ahnungen bestätigte. „Ich verlasse mich darauf, dass du meine dickköpfige Tochter vor sich selbst rettest, Griff. Wenn es dir gelingen sollte, werde ich dir auf ewig verpflichtet sein. Viel Glück, mein Junge. Ich nehme an, dass du es brauchen wirst. Aber wenn es jemand schaffen kann, dann du. Du hattest schon immer einen alten Kopf auf deinen jungen Schultern. Manchmal vergesse ich, dass ich doppelt so alt bin wie du.“ Kein besonders schmeichelhaftes Kompliment, fand Griff. Es ließ ihn dastehen wie einen muffigen Kauz, den Charity sowieso schon in ihm sah. Augustus Brookes hob streng den Zeigefinger. „Hör auf Griff, Charity, wie du auf mich hören würdest, und tu, was er dir sagt.“ Als ob sie das je getan hätte.

Ihren Eltern fiel offenbar nicht auf, dass sie nicht auf die Ermahnungen ihres Vaters einging. Als die Kutsche anfuhr, rief Charity nur: „Au revoir, Papa! Du fehlst mir jetzt schon, Mama!“

Griff ließ sie und Dottie aufgeregt miteinander plaudern, während er aus dem Fenster blickte und zusah, wie die Stadt langsam zurückblieb, und versuchte, den Klang von Charitys Stimme nicht zu genießen.

Sie war eine geborene Geschichtenerzählerin, die selbst ein abgedroschenes Thema fesselnd darstellen konnte. Aber das heutige Thema war eine interessante, witzige Beschreibung von den Ereignissen hinter der Bühne bei ihrer letzten Aufführung in Covent Garden, und sie stellte sich dabei überhaupt nicht in den Mittelpunkt – einen Tag nachdem sie ihm die heiße Tomatensuppe in den Schoß geschüttet und dabei seine cremefarbene Lieblingsweste ruiniert hatte.

Sosehr sie auch von sich eingenommen war, konnte sie sich dennoch über sich lustig machen und über die Tatsache, dass sie unfähig zu sein schien, jemals irgendwo pünktlich anzukommen. Durch ihre Schuld erlitt der arme Bühneninspizient fast einen Anfall, weil sie mit ihrer Frisur erst fertig war, als nur noch eine Minute bis zu ihrem Auftritt blieb. Dottie bog sich vor Lachen bei Charitys Beschreibung, wie sie in der ersten Szene versuchte, Figaros üblem Mundgeruch auszuweichen, aber das Publikum dennoch glauben zu lassen, dass sie ein verliebtes Liebespaar waren, das kurz vor seiner Hochzeit stand. Aber der Bariton hatte zum Abendessen eine ganze Zwiebelpastete verdrückt, und gleich nach Ende der Szene hatte Charity einen Bühnenhelfer beauftragt, frische Minzblätter zu besorgen, die ihr Kollege kauen sollte, bevor sie ihn in der letzten Szene umarmen musste. Als keine aufzutreiben waren, war Charity mit einer der Rosen auf die Bühne gegangen, die ein Bewunderer ihr geschickt hatte, und hatte ihren Duft tief eingeatmet, wann immer der übel riechende Figaro in ihre Nähe gekommen war.

Griff erinnerte sich noch lebhaft an die Szene und war sehr verwundert gewesen, da sie sonst nie mit einer Rose in der Hand auf die Bühne gekommen war. Es war eine rosafarbene Rose gewesen. Aus irgendeinem Grund erinnerte er sich auch daran, aber sie hatte die Blume auf so lustige Weise benutzt, dass man das Gefühl bekam, sie gehörte zur Inszenierung, und Griff war nichts weiter aufgefallen, während er sich von Charitys Darstellung hatte mitreißen lassen – so wie es immer geschah. Nicht, dass er es Charity oder seiner Schwester gegenüber zugeben würde. Oder sonst jemandem, was das anging. Einige Dinge waren einfach zu persönlich und unangenehm, als dass man sie offen zugeben könnte.

Niemand wusste außerdem, dass er sich dank seiner ungesunden Besessenheit seit Beginn der Aufführungen im Januar mindestens einmal pro Woche Figaros Hochzeit angesehen hatte. Und jedes Mal rührte sie ihn mit ihrer Arie Deh vieni, non tardar zu Tränen.

Niemand ahnte etwas, weil sie alle glaubten, er ließe sich nur unter lautem Protest ins Theater schleppen, und er beabsichtigte auch nicht, die Leute aufzuklären. Reine Neugier zog ihn ins Theater – und das Rätsel, das Charity darstellte. Er wollte, nein, er musste sie endlich begreifen, um zu verstehen, warum sie ihn so faszinierte. Mehr nicht. Er gehörte nicht zu ihren hingebungsvollen Bewunderern, die an ihren Lippen hingen.

Alles andere als das.

An jenem speziellen Abend war er wieder ins Theater gegangen, um sie singen zu hören, wie er es seit ihres Debuts im Chor von Così fan tutte mit beunruhigender Regelmäßigkeit tat, und hatte seinen bevorzugten Platz in den obersten Rängen eingenommen, wo er unsichtbar war. Es fiel ihm immer leichter, ihr zuzusehen, wenn er nicht zu verbergen brauchte, wie der Klang ihrer Stimme ihn berührte und wie hilflos er seinen Gefühlen ausgeliefert war.

Etwas an der Art, wie Charity spielte, war so hypnotisierend und bewegend, dass es ihm jedes Mal den Atem nahm und ihm ans Herz ging, und immer wenn der letzte Vorhang fiel, wurde Griff ohne Ausnahme von seinen Gefühlen überwältigt und brauchte mehrere Minuten, bis er sich wieder gefasst hatte.

Zunächst hatte er sich eingeredet, dass es Mozarts Genie war, das ihn so tief bewegte, denn alles andere war einfach undenkbar und wäre nicht zu ertragen. Es konnte unmöglich an Charity liegen. Er war zu vernünftig, um sich von ihr verzaubern zu lassen. Aber nachdem ihn bei allen zwanzig oder dreißig Aufführungen, die er sich voller Stolz weigerte zu zählen, dieselben Gefühle überwältigten, musste er zugeben, dass sie der Grund dafür war – und dass er genau wie jeder andere Mann, der ihr begegnete, sich von ihrem Talent, ihrer Schönheit und ihrem Charme hatte verhexen lassen.

Aber das alles war lediglich eine bedrückende, erbärmliche Verschwendung seiner kostbaren Zeit, denn sosehr er sich auch einbildete, Charity zu begehren, so begehrte er sie nicht wirklich, und er wollte gewiss nicht ständig daran denken. Das war sein größtes Problem.

Ein Problem, das er sehr wahrscheinlich niemals würde lösen können, im Gegensatz zu dem sehr viel einfacheren Problem in seiner Dokumententasche, das er schon bald lösen würde. Als sie die Straßen hinter sich gelassen hatten und ihre Umgebung grün und hügelig wurde, holte er die Skizze hervor, die ihn in letzter Zeit nachts wachhielt. Er mochte ja vielleicht nie in der Lage sein, das unergründliche Rätsel zu entschlüsseln, das Charity für ihn darstellte, aber er würde, zum Henker noch mal, nicht zulassen, dass die Funktionsweise des geplanten neuen mechanischen Philpot-Webstuhls ihn besiegte!

„Es ist doch sicher Zeit, einmal anzuhalten!“ Ihre Stimme riss ihn aus seiner Betrachtung der komplizierten Dampfleitungen, die er versuchte, neu zu arrangieren, und brachte ihn widerwillig wieder in die Gegenwart zurück. Durchs Fenster sah man jetzt nur noch Felder und Hügel, und Dottie schlief tief und fest. So wie sie aussah, leicht zerzaust und leise schnarchend, musste seine Schwester schon seit einer ganzen Weile eingenickt sein.

Er holte seine Taschenuhr hervor und stellte erstaunt fest, dass sie bereits seit zweieinhalb Stunden unterwegs waren. „Wir sollten gegen Mittag in Hatfield ankommen.“

„Mittag!“

„Das ist nur noch eine halbe Stunde, Charity. Wohl kaum eine so große Mühsal.“

„Für dich vielleicht nicht, aber du hast es dir ja auch sehr bequem gemacht.“ Sie wies auf seine Beine, die, da musste er ihr recht geben, ziemlich viel Platz in der Kutsche einnahmen. Und die kleine Lücke zwischen ihm und Charity, die sie nicht ausfüllten, wurde von seiner Tasche und deren Inhalt mit Beschlag belegt. „Die Kutsche ist nicht dein persönliches Büro, Griff.“

„Entschuldige.“ Hastig sammelte er seine Sachen ein und stellte sie auf der Sitzbank neben sich ab. „Ich habe ganz vergessen, wo ich bin.“

„Ebenso wie die Tatsache, dass du unmöglich lange Beine hast und noch zwei weitere Menschen die Kutsche mit dir teilen müssen.“

„Für gewöhnlich reise ich allein.“ Was ebenso jämmerlich klang wie Augustus Brookes’ Bemerkung, Griff komme ihm manchmal vor wie ein Altersgenosse. „Wenn ich geschäftlich unterwegs bin, heißt das.“

Sie schnaubte geringschätzig und ließ das Fenster herab. „Evan, können Sie bitte beim nächsten Gasthaus halten?“

„Wird erledigt, Miss.“

Griff schüttelte den Kopf. „Das Greyhound in Hatfield erwartet uns zum Mittagessen. Ich habe ein Privatzimmer für uns reservieren lassen.“

„Ich muss mir die Beine vertreten. Und wir können genauso gut in jedem anderen Gasthaus etwas essen wie in deinem kostbaren Greyhound.“

„Aber es ist ein anständiges Haus, wo ich immer halte, wenn ich auf Reisen bin. Nicht jedes Gasthaus auf der Great North Road ist respektabel, Charity, also ist es niemals klug, einfach irgendwo zu halten. Wenn es sich nun als unzumutbar erweist? Du wirst diejenige sein, die sich den ganzen Weg bis Baldock beschweren wird, wenn dir das Essen nicht bekommt.“

Sie verdrehte die Augen. „Musst du immer so steif und unnachgiebig sein? Ich schwöre, du wirst von Jahr zu Jahr älter.“

„Jeder wird von Jahr zu Jahr älter, Charity. Das liegt in der Natur der Sache.“

„Ich bezog mich nicht auf dein körperliches Alter, Griff, sondern auf das hier.“ Sie tippte sich an die Schläfe. „Uns trennen kaum vier Jahre, aber in unserer Einstellung sind es eher zwanzig. Seit du wieder zurück bist, bist du so verkrustet geworden. Genieße dein Leben ein wenig, heiße das Unerwartete zur Abwechslung einmal willkommen, ohne dich von deinen peniblen Tabellen und Listen und Skizzen behindern zu lassen, und riskiere es einmal, an einem unbekannten Ort zu essen. Aber du traust dich bestimmt nicht!“

„Ich würde es vorziehen, wie geplant in Hatfield zu halten, wo ich weiß, dass der Service und das Essen großartig sein werden.“ Selbst er fand, dass er sich steif und verkrustet anhörte, aber er gab allein Charity die Schuld daran, dass er sich im reifen Alter von siebenundzwanzig Jahren schon wie ein Großvater vorkam, denn genau so würde er sich zwangsläufig fühlen, während er in der nächsten Zeit den Anstandswauwau für sie spielen musste.

„Nun, und ich würde es vorziehen, jetzt zu halten, Griff. Ich muss die Beine ausstrecken – abgesehen von anderen nötigen Dingen – und da es meine Reise ist, zu der du dich ungebeten eingeladen hast, und es die Kutsche meines Vaters ist, wäre es mir lieb, wenn du ein wenig Verständnis zeigen und lernen könntest, Kompromisse einzugehen.“ Bevor er widersprechen konnte, verlangsamte das Gefährt bereits die Geschwindigkeit, und gleich darauf hielten sie vor einem hübschen, strohgedeckten Gasthaus. „Sieht das nicht entzückend aus?“ Sie schüttelte Dottie leicht, als wäre bereits alles entschieden. „Wach auf, Schlafmütze. Zeit für unser Mittagessen.“

Widerwillig, aber sorgsam half er Charity aus der Kutsche, und im selben Moment erschien das Militär und Griff musste voller Entsetzen mit ansehen, wie mindestens fünfzig uniformierte junge Männer sie viel zu interessiert angrinsten und Charity mit einem koketten Lächeln antwortete.

4. KAPITEL

Charity glaubte schon, Griff würde einen Hirnschlag erleiden, als die Soldaten erschienen, und er bekam wirklich fast einen, als der aufgeregte Gastwirt ihm mitteilte, dass beide privaten Speiseräume bereits belegt waren und sie im Schankraum würden speisen müssen. Während er sich noch mit dem Mann stritt, und bevor er darauf bestehen konnte, dass sie sofort weiterreisten, wies sie Evan leise an, die Pferde auszuspannen und zu füttern, ließ sich schnell mit ihrer Freundin an einem gemütlichen Tisch am Fenster nieder und bestellte Tee. Wie durch ein Wunder kam er fast sofort, und als Griff schließlich, aufgebracht und zerzaust, zurückkam, waren sie zufrieden dabei, eine Tasse davon zu genießen. Charity wies mit einer Kopfbewegung auf den leeren Stuhl ihr gegenüber. Sie hatte ihn eigens für ihn ausgesucht, damit er mit dem Rücken zu den reizenden Soldaten sitzen und ihr dabei zusehen musste, wie sie mithilfe vielsagender Blicke mit ihnen flirtete. Als Strafe dafür, dass er Griff war.

„Ich habe für uns alle die Wildpastete bestellt, die köstlich sein soll, wie einer der Stammgäste mir versichert hat.“

„Bei dieser Unmenge von Gästen werden wir von Glück sagen können, wenn sie uns bis zum Abend etwas serviert haben.“ Er sah immer besonders gut aus, wenn er verärgert war. „Wir sollten besser gehen, dann schaffen wir es noch rechtzeitig, im Greyhound etwas zu essen.“

Doch im wahrlich vollkommensten Augenblick kam ein Schankmädchen auf ihren Tisch zu und hielt die dampfende Pastete auf einem Tablett empor. „Ihre Wildpastete mit allen Innereien, Miss.“

Griff starrte sie offenen Mundes an, und Charity konnte ein schadenfrohes Grinsen nicht unterdrücken. Offenbar meinte das Schicksal es heute sehr gut mit ihr. „Was für ein großartiger Service!“

„Lass uns erst einmal probieren.“

Er verdiente ihr theatralisches Aufstöhnen und sogar Dorothys Kichern. „Ach, setz dich einfach, Griff, du alter Griesgram. Am besten an einen anderen Tisch. Ich möchte nicht, dass deine saure Miene meine Verdauung stört.“

Zum Glück blieb er während des größten Teils der ausgezeichneten Mahlzeit stumm und sagte nur etwas, wenn er angesprochen wurde. Ganz offensichtlich war er verärgert darüber, dass seine Annahmen ständig widerlegt wurden. Nach dem Dessert und lediglich, weil er ständig auf die Uhr sah, da er es eilig hatte, die Reise fortzusetzen, bestellte Charity Tee und ließ sich alle Zeit der Welt, um ihn zu genießen.

„Wie schneidet also dieses Gasthaus im Vergleich zum Greyhound ab, Griff?“

„Mir gefällt es besser“, warf Dorothy ein, bevor er antworten konnte. „Es ist weniger muffig, und das Essen ist auch besser. War die Pastete nicht köstlich, Griff?“

„Sie war ganz gut.“ Er saß mit vor der Brust verschränkten Armen da, ein Bein über das andere geschlagen, und klopfte mit einem Stiefel ungeduldig auf den Boden, wobei der weiche Kaschmirstoff seiner Hose sich über den festen Muskeln seiner Schenkel spannte. Da er schon mit zwanzig einen kräftigen, muskulösen Körper besessen hatte, war Griff schon immer ein attraktiver Anblick gewesen. Und das sogar noch mehr seit seiner ausgedehnten Zeit im Familienbetrieb in Sheffield. So aufreizend er auch sein konnte, musste Charity doch seine besonders eindrucksvollen breiten Schultern bewundern.

„Sie muss ja wohl mehr als gut gewesen sein, lieber Bruder, da du deinen Teller ein zweites Mal gefüllt hast.“ Dorothy stieß mit der Fußspitze gegen Charitys, um sie von Griffs Schultern abzulenken und auf den schneidigen jungen Soldaten aufmerksam zu machen, der jetzt auf ihren Tisch zukam. Wenn der arme Kerl auch im Vergleich zu Griff und tr...

Autor

Virginia Heath
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