Julia Collection Band 20

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STUNDEN, DIE ALLES VERÄNDERN von BROWNING, DIXIE
Im prachtvollen Herrenhaus "Snow" sucht Daisy mit ihren besten Freundinnen Marty und Sasha endlich Ruhe. Doch um die ist es geschehen, als Kelly Magee erscheint - der atemberaubende Sportler, der alles aus dem Takt bringt. Vor allem Daisys Herzschlag

SÜSSE STUNDEN HEISSER LIEBE von BROWNING, DIXIE
Nach zwei gescheiterten Ehen will Marty von Beziehungen nichts mehr wissen. Bis Cole Stevens auftaucht - ein Mann wie ein Magnet! Es gelingt ihr kaum, ihm zu widerstehen. Und sie gibt auf, als er nachts bei ihr bleibt, um sie vor einem anonymen Anrufer zu beschützen

MIT JEDEM KUSS WÄCHST DIE LUST von BROWNING, DIXIE
Der attraktive Jake Smith ist ein Traummann - auch wenn er für Sasha nicht ernsthaft in Frage kommt. Nach ihrer Scheidung glaubt sie nicht mehr an romantische Liebe! Doch das aufregende Prickeln in seiner Nähe will sie nicht missen. Vielleicht ist Jake ja doch anders


  • Erscheinungstag 28.04.2010
  • Bandnummer 20
  • ISBN / Artikelnummer 9783862956616
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dixie Browning

Nachts kommt die Sehnsucht

AUTOR ALLEIN

GESAMTTITEL

Stunden, die alles verändern

Wer ist nur dieser Mann, der aus heiterem Himmel erscheint und direkt unter die Haut geht? Die drei Freundinnen Daisy, Marty und Sasha mögen im prachtvollen Herrenhaus „Snow“ ihren Augen kaum trauen: Kelly Magee hat alles, wovon die drei träumen – aber an keiner von ihnen Interesse. Bis Daisy den Schlüssel zu seinem Herzen findet. Und zu ihrem Glück?

Süße Stunden heißer Liebe

Sanft massiert der attraktive Bauunternehmer Cole Stevens ihren verspannten Nacken. Dann lässt er ihr ein heißes Bad ein – und trocknet sie zärtlich ab … Nie zuvor hat Marty einen so einfühlsamen Mann erlebt wie ihn. Trotzdem erwachen am nächsten Morgen ihre alten Bedenken: Kann sie nach zwei enttäuschenden Ehen wirklich noch auf ihr großes Glück hoffen?

Mit jedem Kuss wächst die Lust

Fasziniert beobachtet der Privatdetektiv Jake Smith die bezaubernde Sasha, als die sich auf der Terrasse des Ferienhauses sonnt. Vergessen ist sein Auftrag! Er kann das Verlangen kaum unterdrücken, zu ihr zu gehen, sie zart zu berühren und leidenschaftlich zu küssen. Dabei ist er sicher, dass sie die Geliebte des Mannes ist, den er beschatten soll …

1. KAPITEL

Daisy war sehr stolz auf ihre Zuverlässigkeit, und deshalb ärgerte es sie umso mehr, zu spät zu der Beerdigung zu kommen. Erst hatte das blöde Telefon ständig geklingelt, und als sie sich dann endlich gerade umzog, hatte jemand an die Haustür geklopft. Vor Schreck hatte sie einen ihrer guten Schuhe unters Bett geschubst. Zum Glück hatte Faylene die Tür geöffnet. Ihre Besucher waren die Leute vom Elektrizitätswerk, die sich erkundigt hatten, wann sie den Strom abschalten sollten.

Daisy war wieder nach oben in ihr Zimmer gelaufen und hatte ihren Schuh unterm Bett hervorgeholt. Dabei hatte sie sich eine Laufmasche in ihrer einzigen schwarzen Strumpfhose eingehandelt. Obendrein sprang ihr Auto bei so feuchtem Wetter immer schlecht an. Und so war sie mehr als zehn Minuten zu spät gekommen.

Jetzt stand sie etwas steif und abseits von den anderen Trauergästen am Grab ihres verstorbenen Patienten. Der kalte Regen durchnässte allmählich ihren Regenmantel, der zwar uralt, aber wenigstens schwarz war. Ihre knallgelbe Öljacke war ihr zu einer Beerdigung doch ziemlich unpassend erschienen.

Natürlich war Egbert bereits da. Daisy hatte ihn bisher als den pünktlichsten Menschen der Welt erlebt. Da sie ihre große Sonnenbrille trug, konnte sie den Mann, den sie sich als zukünftigen Ehemann ausgeguckt hatte, völlig ungehemmt mustern. Sie war alt genug, um zu wissen, worauf es bei der richtigen Partnerwahl ankam. Denselben Fehler würde sie bestimmt kein zweites Mal begehen.

Der gute Egbert hatte von ihren Plänen natürlich keine Ahnung. Es käme ihm sicher nie in den Sinn, dass eine Frau es ganz bewusst darauf anlegte, ihn in eine Ehe zu locken. Allerdings war er auch sehr bescheiden – eine Tugend, die Daisy sehr wohl zu schätzen wusste. Von Angebern hielt sie nicht viel.

Jetzt traten ein paar der wenigen Leute, die um das Grab standen, ein wenig zur Seite, und so konnte Daisy zum ersten Mal einen Blick auf den Mann neben Egbert werfen. Der, dachte sie, ist ein perfektes Beispiel. Wenn dieser große, schlanke Mann auch nur einen Funken Bescheidenheit besitzt, dann wäre ich ernsthaft überrascht. Schon allein die Art, wie er dort mit leicht gespreizten Beinen und vor der Brust verschränkten Armen stand, drückte Arroganz aus.

Egbert trug seinen üblichen schwarzen Anzug und darüber einen gut geschnittenen schwarzen Regenmantel. Als umsichtiger Mensch hatte er natürlich auch einen Regenschirm dabei. Er ist wirklich ein gut aussehender Mann, überlegte Daisy. Vielleicht nicht gerade vordergründig attraktiv, wohl eher auf eine zurückhaltende, bescheidene Art.

Bescheidenheit war für sie überhaupt das Wichtigste. Im Gegensatz zu ihren beiden Freundinnen, die nicht viel Wert darauf legten, unauffällig durchs Leben zu gehen, hatte Daisy noch keine Scheidung hinter sich. Lediglich einen Fehlschlag, der ihrem Selbstbewusstsein allerdings auch einen herben Schlag verpasst hatte. Wenn Egbert erst mal erkannte, was für eine perfekte Ehefrau sie abgeben würde, wäre er für sie die erste Wahl. Ihre Ehe wäre die Verbindung zweier seelisch reifer Menschen.

Daisys Blick kehrte zu dem großen Fremden zurück.

Er trug weder Regenmantel noch Schirm. Der Regen prasselte auf seinen Kopf, und das nasse schwarze Haar hing in die Stirn seines braun gebrannten Gesichts. Daisy konnte sich selbst nicht erklären, wieso dieser Anblick sie so erregte. Eines hatte sie doch sicher aus ihrer Vergangenheit gelernt: Sobald körperliche Erregung ins Spiel kam, verabschiedete sich der gesunde Menschenverstand.

Der Mann überragte Egbert um einen Kopf, und so hätte er Egberts Schirm nur schwer mit nutzen können. Egbert hätte es ihm sicher angeboten, denn er war nicht nur höflich, sondern auch mitfühlend. Ein weiterer Pluspunkt für ihn.

Der Pfarrer sagte, von mehreren Niesern unterbrochen, ein paar Worte über den Verstorbenen, dem sie die letzte Ehre erwiesen, während Daisy immer wieder über den rätselhaften Fremden nachdenken musste. Hätte sie ihn schon einmal gesehen, dann würde sie sich bestimmt an ihn erinnern, und das lag sicher nicht daran, dass er als Einziger unpassend gekleidet war.

Andererseits boten die Jeans und die Lederjacke weit mehr Schutz vor dem Regen als ihr sechs Jahre altes schwarzes Kleid und der nicht gerade wasserdichte Regenmantel, ganz zu schweigen von den Pumps, die langsam im schlammigen Boden versanken.

Es war nicht sehr kalt, doch allmählich regnete es immer heftiger. Das war zwar nicht das geeignete Wetter, um eine Sonnenbrille aufzuhaben, doch bei Beerdigungen trugen die Leute schließlich auch oft dunkle Brillen, um ihre geröteten und verheulten Augen zu verbergen.

Oder – wie in Daisys Fall – die neugierigen Blicke.

Nein, dachte sie, dieser Mann stammt ganz sicher nicht von hier. Zumindest vom Sehen her kannte sie jeden Einwohner aus Muddy Landing, die meisten sogar mit Namen. Außerdem würde dieser Mann auf der Liste der verfügbaren Junggesellen, die Daisys Freundinnen Sasha und Marty sorgfältig führten, ganz oben stehen, hätten die beiden ihn jemals zu Gesicht bekommen. Vorausgesetzt natürlich, er war tatsächlich Junggeselle.

Sie versuchte zu erkennen, ob er einen Ring trug. Das tat er nicht, aber was sagte das schon aus?

Die Daumen hatte er unter den Gürtel gehakt und die Finger an die Jeans gedrückt. Daisys Blick glitt über seinen flachen Bauch. Bestimmt hatte er einen Waschbrettbauch.

Innerlich schüttelte sie den Kopf über ihre Gedanken. Anscheinend sah sie zu viel fern. Seit Harvey, ihr Langzeitpatient, völlig überraschend gestorben war, konnte Daisy nicht mehr gut schlafen. Doch von nun an würde sie sich nur noch den Wetterkanal angucken.

Der Mann stand völlig reglos da. Ob er Polizist war? Aber würde er dann nicht in Uniform sein? Außerdem war sein Haar dafür zu lang.

Fast so, als könne der Mann spüren, wie eingehend Daisy ihn musterte, schaute er auf einmal über die nassen Blumen und den Kunstrasen hinweg in ihre Richtung. Eine Sekunde lang hielt sie den Atem an. Blaue Augen an sich waren nichts Ungewöhnliches, doch in einem gebräunten Gesicht und unter dunklen Augenbrauen waren so blaue Augen einfach umwerfend.

Der kurze Gottesdienst war genau in dem Moment zu Ende, als ein Windstoß noch mehr Regen vom Fluss herüberwehte. Da es keine Familienangehörigen zu trösten gab, nieste der Pfarrer ein letztes Mal, murmelte noch ein paar unverständliche Worte und eilte dann zu seinem schwarzen Minivan. Die kleine Trauergemeinde löste sich auf.

Bis auf zwei Ausnahmen.

O nein, sie kommen auf mich zu!, stellte Daisy entsetzt fest.

Sie tat so, als könne sie Egberts Rufe nicht hören, während sie hastig durch die Pfützen zu ihrem Auto auf dem Parkplatz lief. Mit dem klatschnassen Haar, dem alten Kleid und dem noch älteren durchnässten Regenmantel wollte sie weder mit diesem Fremden noch mit Egbert sprechen. Das würde sie in ihren Plänen um mindestens ein halbes Jahr zurückwerfen.

Der Zeitplan, den sie sich gesetzt hatte, ließ ihr kein halbes Jahr Zeit. Sie wurde schließlich nicht jünger. In drei Monaten würde Egbert genau ein Jahr Witwer sein. Sie wollte ihn nicht bedrängen, aber sie wollte auch nicht riskieren, dass eine andere Frau ihr in die Quere kam.

Daisy fuhr auf die Straße, blickte auf die hektisch sich bewegenden Scheibenwischer und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Sie musste noch viele Sachen sortieren und packen, bevor Egbert als Testamentsvollstrecker Harveys Hab und Gut an die Begünstigten verteilte. Das waren in diesem Fall Harveys Haushälterin, die auch für Daisys Freundinnen arbeitete, und die Historische Gesellschaft, die schlecht organisiert und ohne eigenes Vermögen war.

Daisy sah in den Rückspiegel. Egbert fuhr zwei Wagen hinter ihr und blieb exakt zwei Meilen unter der Höchstgeschwindigkeit. Sie konnte sich selbst nicht erklären, wieso sie auf einmal Gas gab und fünf Meilen schneller als erlaubt fuhr. Schließlich hielt sie sich sonst immer an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Daisy war die Vorsicht in Person.

„Wir müssen etwas wegen Daisy unternehmen.“ Draußen regnete es in Strömen. Sasha stützte die Ellbogen auf den Tisch und lackierte sich die langen Fingernägel in glitzerndem Violett. „In letzter Zeit wirkt sie sehr deprimiert.“

Daisy hatte ihre beiden Freundinnen darum gebeten, nicht zur Beerdigung zu kommen, und sie hatten auch nicht ernsthaft darauf bestanden.

„Sie ist nicht deprimiert, sie trauert. Daisy ist immer so, wenn sie einen Patienten verliert, besonders, wenn sie ihn lange betreut hat. Übrigens, diese Farbe passt überhaupt nicht zu deinem Haar.“

Prüfend schaute Sasha erst auf ihre Nägel und dann zu ihrer Freundin Marty Owens. „Wieso passt Violett nicht zu Kupferrot? Weißt du, Daisy macht sich das Leben selbst schwer, weil sie alles so ernst nimmt. Schlimm genug, dass sie immer so viel arbeiten muss, aber wenn sie dann noch bei einem Patienten einzieht, wie bei dem armen Harvey Snow, dann …“ Seufzend wischte sie einen Klecks Nagellack weg.

„Das fand ich nur vernünftig, nachdem sie aus ihrer Wohnung geworfen wurde und Harvey ganz allein in diesem riesigen alten Haus saß.“

„Sie wurde nicht rausgeworfen. Nach den Schäden durch den Hurrikan mussten alle Bewohner ausziehen. Wo hätte sie denn sonst hinziehen sollen? Das nächste Motel, das noch geöffnet hat, liegt in Elizabeth City. Dadurch hätte sie jeden Tag vierzig Minuten mehr Fahrzeit gehabt. Das alles würde sie nicht so sehr mitnehmen, wenn sie oder Harvey noch Familienangehörige hätten.“

Marty nickte zustimmend und schenkte sich Wein nach. Sie hatte schon mehr als genug, aber am Wochenende brauchte sie natürlich nicht so streng sein. Das Problem lag nur darin, dass für Marty, nachdem sie ihren Buchladen hatte schließen müssen, jeder Tag Wochenende war. „Sie hat ihn immer nur mit Mr. Snow angesprochen, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie in ihm so etwas wie einen Großvater gesehen hat. Wen wollen wir denn als Nächstes verkuppeln? Sadie Glover? Oder dieses Mädchen aus dem Eisgeschäft mit den dicken Brillengläsern?“

Die beiden Frauen – und Daisy genauso, wenn sie mit dabei war – waren es gewohnt, von einem Thema zum nächsten zu springen.

„Wie wär’s mit Faylene?“, schlug Sasha vor.

Marty riss die Augen auf. „Unsere Faylene? Sie würde uns umbringen.“

„Daisy braucht etwas Abwechslung. Kannst du dir eine schwierigere Herausforderung vorstellen, als einen Partner für Faylene zu finden?“

„In der Tat. Leider gehen uns die männlichen Kandidaten aus, es sei denn, wir dehnen unsere Jagdgründe aus.“ „Also, da hätte ich durchaus ein paar Vorschläge.“ Nachdenklich blickte Sasha zur Zimmerdecke.

Vor ein paar Jahren hatten Sasha und Daisy Marty zur Mithilfe überredet, einen schüchternen älteren Nachbarn mit der Kassiererin der einzigen Apotheke im Ort zusammenzubringen. Zu der Zeit hatte Marty gerade ihren zweiten Ehemann an eine andere verloren und etwas Abwechslung gebraucht. Das Projekt hatten die drei Frauen als Erfolg verbucht, denn der Nachbar hatte sein Haus vermietet und war zu der verwitweten Kassiererin und ihren siebzehn Katzen gezogen.

Sie hatten sich nach anderen Kandidaten umgesehen, die möglicherweise einen kleinen Anstoß brauchten, um aus ihrem einsamen Leben auszubrechen. Schon bald war die Kuppelei zu ihrem Lieblingshobby geworden. Es ging nicht einfach nur darum, eine hübsche alleinstehende Frau an einen erfolgreichen Junggesellen zu bringen. So etwas war keine Herausforderung.

Es ging ihnen vielmehr um die Menschen, die bereits alle Hoffnung aufgegeben hatten. Einsame, schüchterne und weniger erfolgreiche Leute stellten eine viel schwierigere Aufgabe dar. Ohne es direkt zu planen, hatten die drei Freundinnen angefangen, Singles in ihrer Umgebung ausfindig zu machen und ganz dezente Tipps zu geben, wie diese Leute sich vorteilhafter kleiden und charmanter wirken konnten. Meistens ging es lediglich darum, ein bisschen Selbstbewusstsein zu wecken. Anschließend brachten die drei das Pärchen zusammen. Die beste Gelegenheit dafür war das „Box Supper“, das alle zwei Monate stattfand. Für diese Veranstaltung bereiteten die Frauen des Ortes Leckereien zu, verpackten sie hübsch, und die Männer konnten die Päckchen ersteigern. Der Erlös ging an soziale Einrichtungen.

„Vergiss Faylene.“ Marty schüttelte den Kopf. „Lass uns doch lieber einen Mann für Daisy finden.“

Daisy Hunter war die einzige der drei Frauen, die noch nie verheiratet gewesen war. Marty war bereits einmal verwitwet und einmal geschieden und hatte den Männern abgeschworen.

Sasha hatte bereits vier Scheidungen hinter sich und gab offen zu, in puncto Männer einen schrecklichen Geschmack zu haben. Das hinderte sie allerdings nicht daran, für andere Frauen Partner auszusuchen. „Die Mühe können wir uns sparen. Schließlich kennt Daisy jede Menge Männer. Sie hat doch ständig mit all diesen Ärzten zu tun.“

„Wie bitte? Und was war mit Jerry? Schuhe von Gucci, keine Socken, aber Anzüge von Armani, Föhnfrisur und dieses entsetzliche Rasierwasser? Der Mistkerl hat sie nach dem Jahrestreffen einfach fallen lassen.“

„Stimmt. Blöd ist doch, dass Daisy als Krankenschwester fast nur Ärzte und Patienten trifft. Stirbt ein Patient, dann deprimiert es sie, besonders, wenn sie ihn so lange betreut hat wie den alten Snow.“

„Tja, in der Geriatrie geht es nun mal um die Pflege von alten und gebrechlichen Menschen. Sie hat gewusst, worauf sie sich einlässt.“

„Weißt du noch, wie scharf sie auf den Leiter dieses Pflegeheims war, bei dem sich dann herausgestellt hat, dass er Gelder veruntreut hat?“

Sasha zuckte mit den Schultern. „Also schön, sie hat einen lausigen Geschmack, was Männer betrifft. Damit ist sie in unserem Kreis nicht die Einzige.“

„Richtig. Dein zweiter Ehemann wurde doch wegen Geldwäsche verurteilt, oder etwa nicht?“

„Nein, nein.“ Empört schüttelte Sasha ihre rote Mähne. „Das war mein erster. Damals war ich gerade mal achtzehn und hatte keine Ahnung, was es auf der Welt so alles gibt.“

Die beiden Frauen kicherten.

„Während sie also trauert, auf das Haus aufpasst und alles verpackt, damit es für wohltätige Zwecke verkauft werden kann, könnten wir doch anfangen, nach geeigneten Junggesellen zu suchen. Wie alt sollen die denn sein? Zwischen fünfundzwanzig und fünfzig? Und wen hast du dir für Faylene überlegt?“

Stirnrunzelnd blickte Sasha auf ihre Fingernägel. „Hm, das sieht ziemlich knallig aus, oder? Also, mir fallen da zwei Kandidaten ein, aber ich dachte, wir könnten mit Gus von der Autowerkstatt anfangen. Der hat mir kürzlich die Bremsen neu eingestellt. Zufällig weiß ich, dass er Single ist.“

„Vielleicht ist er schwul.“

„Hast du jemals von einem schwulen Automechaniker gehört?“ Sasha zog ihre Sandaletten aus und betrachtete ihre unlackierten Zehennägel, während Marty weiter ihren Wein trank.

„Wollen wir nicht warten, bis Daisy mitmachen kann? Vielleicht fallen ihr auch ein paar potenzielle Kandidaten ein. Das würde sie ablenken. Ich glaube allerdings immer noch, dass Faylene ausrasten wird, wenn sie herausfindet, was wir vorhaben.“

Lächelnd trug Sasha den violetten Glitzerlack auf ihre Fußnägel auf. „Von mir aus kann sie ausrasten, so viel sie will. Hauptsache, sie kündigt nicht. Hausputz und ich, das sind zwei Welten, die nicht zusammenpassen.“

Ein paar Meilen außerhalb von Muddy Landing packte Daisy Hunter in einem hübschen alten Haus, das allerdings schon bessere Zeiten gesehen hatte, einen weiteren Karton mit Kleidungsstücken ihres verstorbenen Patienten. Das Ganze wollte sie bei ihrer nächsten Fahrt nach Elizabeth City in einem Geschäft abgeben, das Gebrauchtwaren für wohltätige Zwecke verkaufte. Am liebsten wäre Daisy gleich am Tag nach Harveys Tod ausgezogen, aber ihr Apartment war immer noch nicht bezugsfertig. Außerdem hatte Egbert vorgeschlagen, sie solle zumindest so lange bleiben, bis sie einen neuen Patienten zur Pflege hatte. So hatte eines zum anderen geführt.

„Ihr Gehalt können Sie weiterbeziehen, während Sie alles im Haus packen und sortieren. Außerdem verfallen leer stehende Häuser schneller.“ Egberts bestimmter Ton hatte Daisy beruhigt. Bei einem Mann wie Egbert Blalock wusste eine Frau immer, woran sie war.

Bis vor Harveys Tod hatten Daisy und Egbert sich nur sehr flüchtig gekannt. Seitdem hatten sie sich allerdings einige Male getroffen, um Harveys Angelegenheiten zu besprechen. Beim zweiten oder dritten Treffen hatte Daisy angefangen, Egbert nicht nur in seiner Funktion, sondern auch als Mensch zu sehen. Je länger sie über ihn nachgedacht hatte, desto mehr war sie zu der Überzeugung gelangt, dass er einen vorbildlichen Ehemann abgeben würde. Schließlich wurde sie auch nicht jünger, und wenn sie jemals eine eigene Familie gründen wollte, dann wurde es Zeit.

Während Faylene, die an drei Tagen in der Woche hier putzte, das alte Haus ein letztes Mal gründlich reinigte und dabei auch die Räume sauber machte, die seit Jahren verschlossen gewesen waren, erstellte Daisy Listen, verpackte persönliche Dinge von Harvey und grübelte gleichzeitig darüber nach, wie sie einen passenden Partner finden konnte. Für andere schaffte sie das problemlos, aber sobald es um sie selbst ging, konnte sie nicht mehr objektiv bleiben.

Natürlich hatte sie den beiden Freundinnen kein Sterbenswörtchen darüber verraten. Marty und Sasha würden schon beim ersten winzigen Hinweis die Regie übernehmen und das Ganze zum Scheitern bringen. Sasha legte sich neue Ehemänner zu wie andere Frauen Schuhe, und Marty war da auch nicht viel besser, obwohl sie immer wieder beteuerte, sie habe ein für alle Mal genug von Experimenten mit Männern.

Daisy erblickte sich in einem der großen Spiegel und strich sich über das wirre Haar. Wenigstens war es jetzt wieder trocken, auch wenn die Farbe an eine tote Motte erinnerte und sicher keinen Mann entzückte. Schon seit Wochen wollte sie zum Friseur gehen, aber bevor sie sich zu einem völlig neuen Styling durchrang, wollte sie erst Egberts Meinung erfahren. Bevorzugte er langes oder kurzes Haar? Mochte er Blondinen? Wie blond sollten sie denn sein? Platinblond oder eher honigblond? Daisys natürliche Haarfarbe war undefinierbar, sodass jede Färbung eine Verbesserung sein würde.

Egberts Haar besaß einen hübschen mittleren Braunton, und am Scheitel wurde es bereits etwas dünner. Haarausfall ist kein Grund, sich zu schämen, dachte sie. Heutzutage trugen viele Männer aus modischen Gründen eine Glatze. Es hieß, das sei sexy. Egbert wirkte nicht direkt sexy, aber als vollkommen unerotisch konnte man ihn auch nicht bezeichnen. Sasha hatte ihn einmal einen Langweiler genannt, dabei war Egbert einfach nur strebsam, verlässlich und treu. Alles ausgezeichnete Eigenschaften für einen Ehemann. Manche bevorzugten vielleicht aufregendere Männer, und bis vor Kurzem hatte auch Daisy zu diesen Frauen gehört. Aber mittlerweile hatte sie aus ihren Erfahrungen gelernt.

Ihr knurrte der Magen, und erst jetzt fiel ihr ein, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Als sie nach dem Trauergottesdienst nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie sich schnell umgezogen und wieder an die Arbeit gemacht. Sie wollte diesen Job hier so bald wie möglich abschließen, um sich um ihre eigenen Pläne zu kümmern. Daisy beendete lieber erst eine Sache, bevor sie sich der nächsten widmete.

Während Daisy eines von Harveys gestreiften Oberhemden zusammenlegte, kehrten ihre Gedanken zu dem verregneten Trauergottesdienst zurück. Sie musste wieder an den Fremden denken, den sie dort gesehen hatte. Ganz bestimmt war sie ihm noch nie zuvor hier im Ort begegnet, denn einen Mann mit so langen Beinen, breiten Schultern, kantigem Gesicht und durchdringend blauen Augen würde keine Frau wieder vergessen. Eigentlich konnte man die Augenfarbe über eine Entfernung von mehreren Metern gar nicht richtig erkennen, doch die Augen dieses Fremden schienen regelrecht zu strahlen.

Was für eine Augenfarbe hatte Egbert eigentlich? Daisy überlegte. Dunkelbraun?

Harveys Augen waren hellbraun. Immer hatte er ein lustiges Blitzen in den Augen, auch als er zuletzt ständig Schmerzen gehabt hatte. Der gute Kerl hätte es verdient, am Ende seiner Tage eine Familie um sich versammelt zu haben. Leider hatte er keine Familie, und seine Freunde waren bereits verstorben oder weggezogen. Ein altes Paar lebte noch in Elizabeth City, doch in der letzten Zeit hatten sie ihn fast überhaupt nicht mehr besucht.

Beim Packen des nächsten Kartons dachte Daisy an die letzte Stunde zurück, die sie mit ihrem Patienten verbracht hatte. Den Fernseher hatte er als zu laut empfunden, also hatte sie ihm aus der Zeitung vorgelesen. Sie waren kaum über die Kommentare auf Seite zwei hinausgekommen, als Harvey eingeschlafen war. Das war nichts Ungewöhnliches, und so hatte Daisy die Zeitung leise zusammengefaltet, die Bettdecke zurechtgezogen, das Licht ausgeschaltet und das Zimmer verlassen.

Am nächsten Morgen hatte sie ihm die Medizin bringen wollen, doch auf ihr Klopfen an der Tür hatte Harvey nicht reagiert. Als sie eintrat, lag ihr Patient mit geschlossenen Augen und friedlichem Gesichtsausdruck im Bett.

Er war im Schlaf gestorben.

Daisy hatte nicht geweint, aber sie wusste, dass die Tränen früher oder später noch kommen würden. Keinem ihrer bisherigen Patienten hatte sie so nahegestanden wie Harvey Snow. Vielleicht hatte sie seinen Mut so bewundert. Trotz seiner Arthritis hatte er allein gelebt und auch nach zwei kleinen Schlaganfällen seinen Humor nicht verloren.

Wahrscheinlich werde ich im unpassendsten Moment hemmungslos zu weinen anfangen, dachte sie. Seufzend klebte sie den Karton zu. Um sich von ihrer deprimierenden Arbeit abzulenken, überlegte sie, wie sie sich aufheitern konnte. Vielleicht sollte sie mal einkaufen gehen. Allerdings durfte sie nicht vergessen, dass Egbert sicher einen konservativeren Geschmack hatte als sie. Aber selbst bei einer strengen Bluse konnte man ein paar Knöpfe offen lassen, um ein bisschen Dekolleté zu zeigen. Und auch sehr klassische Röcke hatten einen Schlitz, der etwas Bein sehen ließ.

Und wenn sie sich schon neue Sachen zulegte, sollte sie sich vielleicht ein klassisch einfach geschnittenes Kleid anschaffen, nur für den Fall, dass Egbert sie zum Tanzen ausführte. Es war schon Ewigkeiten her, seit Daisy tanzen gegangen war. Dabei hatte sie immer so gern getanzt. Konnte Egbert überhaupt tanzen?

Vielleicht konnten sie ihre Kenntnisse im Tanzen gemeinsam auffrischen. Und auch noch ein paar andere Kenntnisse. Sie schluckte, um ihre aufkeimende Sehnsucht zu unterdrücken.

Dafür war sie jetzt eindeutig zu erschöpft. Ein langer deprimierender Tag lag hinter ihr, aber wenigstens war er jetzt so gut wie vorüber. Gleich nächste Woche würde sie anfangen, sich um ihre eigenen Pläne zu kümmern.

Eigentlich konnte sie auch jetzt sofort damit anfangen, indem sie bei Paul anrief und sich einen Termin zum Haareschneiden geben ließ. Nichts Aufregendes, sondern nur eine kleine Veränderung, um Egbert ein wenig zu irritieren. Er sollte sich fragen, ob ihm bisher irgendetwas entgangen war.

Gerade als Daisy nach dem Telefonhörer griff, klingelte es. Vor Schreck ließ sie die Klebebandrolle fallen. Die Anrufe hatten in dem Moment angefangen, als sich die Nachricht von Harveys Tod herumgesprochen hatte. Steinmetze wollten ihr einen Grabstein verkaufen, Historiker des Orts einen Rundgang durchs Haus vereinbaren, Antiquitätenhändler und Makler – sie alle hatten wie die Aasgeier gewartet und wollten nun als Erste das Geschäft machen.

Daisy hatte alle Anrufer an Egbert als Harveys Nachlassverwalter verwiesen.

„Bei Snow“, meldete sie sich knapp. Eigentlich brauchte sie hier einen Anrufbeantworter, doch für die kurze Zeit lohnte sich das nicht mehr.

„Daisy, Liebes, du klingst, als brauchtest du eine Massage oder einen starken Drink oder eine Großpackung Schokokirschen. Wie ist es dir heute denn so ergangen?“

„Abgesehen davon, dass es wie aus Kübeln gegossen, der Pfarrer dauernd geniest hat und nur eine Handvoll Leute da war?“

„Wir haben dir angeboten mitzukommen“, warf Sasha sofort ein.

„Ich weiß, ich bin einfach nur schlecht gelaunt. Wenn es statt der Schokokirschen etwas mit Kokosnuss gibt, bin ich sofort dabei.“ Daisy ließ sich auf das Bett fallen, das aus dem Nebenzimmer wieder herübergebracht worden war, nachdem ein paar Sanitäter das angemietete Krankenhausbett abgeholt hatten. Seit Tagen kämpfte Daisy jetzt schon gegen ihre Depression an.

„Sieh mal, Marty und ich dachten uns, dass unser letztes Projekt schon so lange zurückliegt. Jetzt hat sie ihren Buchladen geschlossen und trinkt zu viel.“

Im Hintergrund hörte Daisy Marty sofort protestieren.

„Und ich weiß aus sicherer Quelle, dass sie fünf Pfund zugenommen hat. Siehst du das auch so?“

Daisy musste lächeln, auch wenn sie genau erkannte, dass die zwei lediglich versuchten, sie irgendwie aufzuheitern. „Lasst mich mal eine Runde lang aussetzen. Ich werde mich bestimmt nicht in das Leben anderer einmischen, während ich die Überbleibsel eines fremden Lebens sortiere und feststelle, dass wahrscheinlich kaum jemand etwas davon haben will.“

„Ach, Liebes, es bringt dich nicht weiter, wenn du dich schmollend einkapselst.“

Sasha hatte ein weiches Herz, und das kaschierte sie oft mit ihrer glamourösen Ader und ihrer fast schroffen kumpelhaften Art.

„Ich schmolle ja gar nicht.“ Daisy besaß genug Berufserfahrung, um sich persönlich nicht zu eng an einen Patienten zu binden. Andererseits hatte sie Harvey länger als sonst einen Patienten betreut.

„Na komm schon! Bist du bereit für eine Herausforderung?“, drängte Sasha und lachte leise.

Daisy seufzte. In letzter Zeit hatte sie sich genug Herausforderungen gestellt. Sollten ihre Freundinnen lieber denken, sie trauere noch, als dass sie von ihren Zukunftsplänen erfuhren. Wenn sie auch nur den kleinsten Hinweis darauf lieferte, würden die beiden sie so lange bedrängen, bis Daisy mit dem nächstbesten Blödmann verlobt war, den Marty und Sasha hatten auftreiben können.

Nein, vielen Dank. Hatte sich Daisy erst einmal für etwas entschieden, dann wollte sie es auch auf ihre Weise tun. So handelte sie, seit sie dreizehn Jahre alt war. Damals hatten ihre Adoptiveltern sich getrennt, und keiner der beiden hatte Daisy behalten wollen. Daisy war damit fertig geworden, und genau so würde sie auch heute ihre Probleme allein bewältigen. Nächstes Jahr um diese Zeit werde ich in Egberts Haus im Park Drive wohnen und von ihm schwanger sein, sagte sie sich.

„Daisy, wach auf, Liebes.“

„Ich bin ja hier. Also schön, um wen geht es?“

„Um Faylene.“

Fassungslos saß sie mit offenem Mund da. „Auf keinen Fall! Ein neues Projekt ist ja gut und schön, aber im Moment möchte ich mich nicht in eine Sache stürzen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.“ In den vergangenen Jahren hatte Faylene Beasley an drei Tagen für Harvey gearbeitet und an den übrigen für Daisys zwei beste Freundinnen. Als Haushälterin war sie unübertrefflich, aber als Heiratskandidatin? „Das meint ihr doch nicht ernst.“

„Und ob wir das tun. Ist dir mal aufgefallen, wie schlecht gelaunt sie in letzter Zeit immer ist? Diese Frau braucht einen Mann im Bett.“

Draußen prasselte immer noch der Regen auf das Schieferdach. Sollte das etwa der Altweibersommer sein, den der Wetterbericht vorhergesagt hatte? Daisys Magen knurrte und erinnerte sie erneut daran, dass sie seit dem spärlichen Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte. „Ruft mich morgen wieder an. Im Moment bin ich zu müde, um über irgendwas nachzudenken. Ich werde früh zu Abend essen und mich dann hinlegen. Aber eventuell wüsste ich noch einen anderen Junggesellen für eure Liste.“

Allerdings nicht für Faylene. O nein, denn dieser Kerl war wirklich etwas ganz Besonderes.

„Du brauchst dringend etwas Aufmunterung. Wir kommen nachher vorbei“, erwiderte Sasha nur.

2. KAPITEL

Kells Stiefel waren immer noch nicht trocken, aber wenigstens hatte er einen Großteil des Schlamms abkratzen können. Trotz seiner Enttäuschung darüber, dass er zu spät gekommen war, um seinen Halbonkel zu treffen, so musste er doch zugeben, dass es ihm Spaß gemacht hatte, dieser unbekannten Frau dabei zuzusehen, wie sie hin und her tänzelte, um mit ihren Schuhen nicht im schlammigen Boden zu versinken. Diese Frau hatte wirklich hübsche Beine gehabt. Da sie einen Regenmantel mit Kapuze und eine Sonnenbrille getragen hatte, hatte Kell von ihr nur ein paar nasse Strähnen dunkelblonden Haars, ein blasses Gesicht und ihre mit Schlamm bespritzten Beine sehen können. Trotzdem waren ihm ihre schmalen Knöchel aufgefallen.

In dem Moment war Kell immer noch zu geschockt darüber, dass der Mann, den er so lange gesucht hatte, kurz zuvor gestorben war. Deshalb hatte er Blalock nicht nach dieser Frau gefragt, die am Telefon gewesen war, als er, Kell, am Abend zuvor vom Ortsrand aus angerufen hatte. Die Frau hatte ihn prompt an den Banker seines Halbonkels verwiesen. Zu der Uhrzeit hatte die Bank bereits geschlossen gehabt, und so hatte Kell sich bis zum nächsten Morgen gedulden müssen.

Er hätte sofort anrufen sollen, als er die mögliche Verbindung zwischen den Snows in North Carolina und den Magees in Oklahoma City entdeckt hatte. Doch zu der Zeit hatte er noch vieles erledigen müssen, bevor er die Stadt kurzzeitig verlassen konnte. Andererseits hatte ihm die Vorstellung gefallen, einfach unerwartet aufzutauchen. Er hatte sich ausgemalt, wie sein Onkel Harvey ihm die Tür öffnete und ihn sofort als seinen lange vermissten Neffen erkannte.

Dabei wäre das ohnehin sehr unwahrscheinlich gewesen. Kell sah seinem Vater überhaupt nicht ähnlich. Sie besaßen einen ähnlichen Körperbau, doch Evander Magee hatte rotes Haar und unzählige Sommersprossen gehabt. Die einzige Ähnlichkeit zwischen Kell und seinem Vater lag in der Augenfarbe und dem Grübchen im Kinn.

Vielleicht war es ein bisschen naiv gewesen, einfach loszufahren, ohne Harvey Snow vorher anzurufen, doch Kell war trotz allem, was ihm in seinen neununddreißig Lebensjahren widerfahren war, ein unerschütterlicher Optimist geblieben. Als aktiver Profisportler war er früher mit der festen Überzeugung in jedes Spiel gegangen, dass er am Ende als Sieger vom Platz gehen würde. Jedes Mal hatte er von Anfang an mit vollem Einsatz gespielt, und wenn er dadurch auch nicht alle neun Runden durchgehalten hatte, so hatte er doch zumindest sieben geschafft. Für Kell war es selbstverständlich gewesen, seine Suche zu Ende zu führen, nachdem er sie erst einmal begonnen hatte.

Als er abends in Muddy Landing angekommen war, hatte er erfahren müssen, dass das einzige Motel des Ortes wegen der durch den Hurrikan Isabel verursachten Sturmschäden geschlossen war. Also hatte er den Ort wieder verlassen, noch viele Meilen fahren und dann in einem Zimmer schlafen müssen, in dem das Bett zu kurz, die Wände zu dünn und das Kopfkissen zu hart waren.

Das Ergebnis war jedenfalls, dass Kell Harvey Snow ein paar Tage zu spät ausfindig gemacht hatte. Er hatte eine entsetzliche Nacht hinter sich und war folglich unausgeschlafen. Gefrühstückt hatte er auch nicht, war erst eine Stunde nach Öffnung der Bank dort angekommen und hatte diesen Mann namens Blalock ziemlich nervös vorgefunden. Er hatte ihn abwimmeln wollen, weil er keine Zeit habe.

Kell jedoch gab nicht so leicht auf. Er hatte sich Blalock in den Weg gestellt, sich vorgestellt und erklärt, wieso er hier war. Sein Vater habe einen jüngeren Halbbruder namens Harvey Snow gehabt, und er, Kell, wolle jetzt gern wissen, wo er seinen Onkel finden könne. Da hatte er die schlechte Nachricht erfahren.

„Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber der Mann, nach dem Sie suchen, ist vor Kurzem verstorben. Heute findet die Beerdigung statt, und ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Also entschuldigen Sie mich bitte.“

Kell hatte einen Moment gebraucht, um diese Neuigkeiten zu verdauen. Wie versteinert hatte er dagestanden.

„Soweit uns bekannt ist“, hatte Blalock gesagt, „hat Mr. Snow keine lebenden Verwandten hinterlassen.“

Kell hatte sofort protestieren wollen, ließ es jedoch. Stattdessen war er Blalock durch den Regen zum Friedhof gefolgt. Anschließend waren sie gemeinsam zur Bank zurückgekehrt. Blalock hatte ihn mit Fragen bestürmt, bis er ihm endlich die Adresse des Verstorbenen mitgeteilt hatte. Kell hatte ihm gesagt, nun könnte er endlich mal sehen, wo sein Vater früher gelebt hatte.

Angeblich gelebt, so hatte Blalock es ausgedrückt.

Fünf Tage, maximal eine Woche, mehr Zeit blieb Kell nicht. Die Jungs zu Hause würden den Laden so lange ohne ihn führen können, und wenn es Schwierigkeiten gab, hatten sie eine Nummer, an die sie sich wenden konnten.

Im Lauf der Zeit war die Arbeit mit den Kids aus armen Verhältnissen für ihn bedeutsamer geworden als sein Sportartikelgeschäft, an das eine Trainingshalle angeschlossen war. Sein neuestes Projekt war der Umbau einer Ranch zu einem Baseballcamp, und wenn er damit fertig war, würde er alles besitzen, was ein Mann sich erträumen konnte. Zufriedenstellende Arbeit, finanzielle Sicherheit und genug Frauen in Sicht, um bis ins hohe Alter nicht unter Langeweile leiden zu müssen.

Andererseits wollte er etwas über seine Familie herausfinden, und nachdem er einmal zu suchen angefangen hatte, wollte er nicht mehr aufgeben. Auch wenn Blalock skeptisch blieb, was die Verbindung zwischen den Magees und den Snows anging, so würde Kell doch seinem Instinkt vertrauen. Und der sagte ihm, dass er sich genau auf Zielkurs befand. Sein Dad hatte den Großteil seines Lebens zwar in Oklahoma verbracht, doch Kell hätte sein gesamtes Vermögen darauf verwettet, dass die Wurzeln seines Vaters hier in Muddy Landing waren.

Er folgte der schmalen regennassen Straße. Auf der einen Seite befanden sich Felder, auf der anderen die Küste mit zahllosen privaten Anliegern und kleinen Booten. Jetzt wünschte Kell sich, er hätte besser zugehört, wenn sein Vater ihm von den Bärenjagden in einem Moor namens Great Dismal Swamp und den Angelausflügen bei den Outer Banks erzählt hatte. Beide Gebiete lagen nicht weit von Muddy Landing entfernt, und allein das sollte ihm Beweis genug dafür sein, dass er hier am Ziel war.

Leider war er einfach zu ungeduldig gewesen, um längere Zeit zuzuhören. Er hatte immer an der offenen Tür gestanden und schon den Baseballhandschuh in den Händen gehalten, um seinem Dad zu zeigen, dass seine Kumpel bereits auf ihn warteten.

Wenn sein Dad ausnahmsweise mal ein Bier mehr getrunken hatte und ins Plaudern gekommen war, hätte Kell zuhören können, doch er hatte immer nur Baseball spielen wollen. Und wenn Mädchen zusahen, hatte er sich noch mehr ins Zeug gelegt.

Kells Gedanken kehrten zu der Frau im schwarzen Regenmantel zurück. Ganz bestimmt war es dieselbe Frau, die ihn am Telefon an Blalock verwiesen hatte. Hatte Blalock nicht erwähnt, die Krankenschwester von Harvey Snow lebe noch im Haus und räume alles auf? Nett von ihr, sich auf der Beerdigung blicken zu lassen, dachte Kell. Das hätten sicher nicht alle getan. In ihrem Aufzug und mit dieser Sonnenbrille hatte sie wie eine der mysteriösen Frauen ausgesehen, die in Filmen immer bei Beerdigungen von Leuten aus besseren Kreisen auftauchten.

Nach der Beerdigung hatte Kell nur ganz kurz mit Blalock sprechen können. Offenbar wollte er ihm keine Anhaltspunkte verraten, die auf mögliche Verbindungen zwischen Kells Vater und Harvey Snow hindeuteten. Im Grunde konnte Kell das sogar verstehen. Wenn so kurz nach dem Tod eines Menschen entfernte Verwandte aus dem Nichts auftauchten, dann bedeutete das in jedem Fall Schwierigkeiten. Und Kell schätzte Blalock als einen Menschen ein, dem es am liebsten war, wenn alles erwartungsgemäß verlief.

Kell hätte ihm vielleicht sofort versichern sollen, dass er keinerlei Interesse an Harvey Snows Erbschaft hatte. Da es jetzt zu spät war, um seinen Verwandten kennenzulernen, wollte er wenigstens etwas über die Vergangenheit seines Vaters herausfinden. Eventuell gab es sogar noch ein paar Cousins hier in der Gegend.

Vor ungefähr fünfzig Jahren hatte Evander Magee als Sechzehnjähriger diese Gegend verlassen. Kell war vierzehn gewesen, als seine Eltern bei einem Feuer ums Leben kamen, bei dem auch sämtliche Dokumente und Unterlagen verbrannt waren, die ihm hätten bei seiner Suche helfen können. Bisher hatte Kell sich nicht weiter um seine Vergangenheit gekümmert, doch jetzt, kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag, sollte er Patenonkel der Zwillinge seines besten Freundes werden. Das hatte ihn auf den Gedanken möglicher Verwandtschaft gebracht.

Zum ersten Mal war Kell bewusst geworden, dass er der letzte Magee war, und diese Erkenntnis war für ihn ziemlich bedrückend.

Wieder dachte er an die vom Regen durchweichte Blondine in Schwarz. Er mochte Frauen, egal ob sie Schwarz trugen oder irgendeine andere Farbe. Am liebsten hatte er sie, wenn sie überhaupt nichts am Leib hatten. Am Telefon hatte diese Frau ziemlich abweisend geklungen. Auch hatte sie ausgesehen, als würde sie frieren und sich unglaublich elend fühlen.

Kell fragte sich, ob es ihr mittlerweile wieder besser ging.

Der Tag der Beerdigung kam Daisy endlos vor. Am späten Nachmittag ließ der Regen endlich etwas nach. Ihre Freundinnen waren offensichtlich davon überzeugt, dass sie nicht allein sein sollte, und so tranken sie gemeinsam Eistee. Marty und Sasha blätterten in alten Illustrierten, während Daisy auf der Veranda in dem alten dunkelgrünen Schaukelstuhl lag. Die Veranda war seit dem Hurrikan beschädigt und niemals repariert worden. Daisy betrachtete die rosafarbenen Wolken, die sie über die dunkelgrünen Hecken hinweg erkennen konnte. Sie roch den frischen Duft der wuchernden Blumen. Das hier war ihr absoluter Lieblingsplatz, vorausgesetzt, die Mücken ärgerten sie nicht zu sehr.

Es war jetzt gerade mal zwei Monate her, seit der Hurrikan „Isabel“ über Muddy Landing hinweggefegt war, und immer noch sah man überall die Schäden, die er hinterlassen hatte. Sämtliche Baufirmen waren völlig überlastet.

Der Eigentümer von Daisys Apartmenthaus fand immer neue Erklärungen dafür, wieso Daisy noch nicht wieder einziehen konnte, und sie verstand das ja auch alles, aber länger konnte sie nicht hier in Harveys Haus wohnen. Sie musste wieder in ihr eigenes Leben zurückkehren.

Marty und Sasha hatten es sich auf Liegestühlen bequem gemacht, und Daisy wünschte sich, die beiden würden gehen, damit sie weiter aufräumen und packen konnte. Außerdem wollte sie Faylene beim Putzen der Zimmer helfen, die seit Jahrzehnten verschlossen geblieben waren. Vielleicht war ihr ja morgen mehr nach Shoppen und Friseur zumute. Aber nicht heute, wo sie noch von den Erinnerungen an den sanften alten Mann umgeben war, dessen gesamtes Erwachsenenleben von Schmerz und Einsamkeit beherrscht gewesen war.

„Hör auf, dem armen Mann nachzutrauern. Er hatte ein erfülltes Leben“, warf Sasha ein.

„Das bezweifle ich.“ Marty schüttelte den Kopf. „Sagtest du nicht, er sei bettlägerig gewesen?“

„Nur während der letzten paar Monate, nach seinen Schlaganfällen. Davor konnte er sich gut in seinem Rollstuhl bewegen. Ich glaube, ich bin einfach nur erschöpft. Ich habe Eg… Mr. Blalock versprochen, bis Ende nächster Woche mit dem Aufräumen fertig zu sein.“

„Will sich denn jemand das Haus ansehen?“

Daisy zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich all die Leute, die ständig hier anrufen.“ Wieder überlegte sie, was sie noch alles zu erledigen hatte. Anscheinend hatte Howard sein Leben lang Dinge gesammelt. Zum Glück bin ich da anders, dachte sie. Ich habe meine Kleider, ein paar hübsche Möbelstücke und ein paar Bücher meiner Lieblingsautoren. Die meisten der Bücher hatte sie von Marty bekommen. Das war eben der Vorteil, wenn man eine Buchhändlerin zur Freundin hatte.

„Tja, er war immer nett zu mir.“ Sasha seufzte. „Selbst wenn noch viele Autos in der Schlange standen und auf den Service warteten.“

Wer? Harvey? Daisys Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Klar, dass die Männer nett zu einer so toll aussehenden Rothaarigen wie Sasha waren. Aber was hatte Harvey mit Autos zu tun? Er hatte seit Jahren keinen Wagen mehr besessen.

„Seine Werkstatt ist picobello sauber. Und wir wissen, dass er ehrlich ist.“ Sasha nickte bedeutungsvoll.

Oh! Anscheinend sprachen die beiden über Faylenes möglichen Partner. „Woher wollen wir das denn wissen?“ Daisy hielt nicht viel von diesem Kuppelversuch und hätte sich am liebsten ausgeklinkt.

„Zum einen“, erklärte Sasha, „hat er letzte Woche bei mir Ölstand und Reifendruck geprüft und mir dafür genau dasselbe berechnet wie Oren.“ Oren war ihr Nachbar.

„Also schön, dann wäre es also möglich, dass er nicht versucht, ihr die Ersparnisse abzuluchsen.“ Daisy hatte es bereits erleben müssen, dass ihr alles, was sie besessen hatte, von einem Mann, den sie bewundert hatte, abgenommen worden war. Seitdem zählte Integrität mehr für sie als alles andere. Auch in dieser Hinsicht hatte Egbert anderen Männern eine Menge voraus. „Seinen Kunden gegenüber ist er vielleicht ehrlich, aber …“

„Wir versuchen doch lediglich, die beiden zu einer ersten Verabredung zusammenzubekommen. Sie sollen sich ganz ungezwungen kennenlernen, stimmt’s?“ Sasha wartete auf zustimmendes Nicken. „Wir müssen also nur dafür sorgen, dass die beiden sich begegnen. Und dann schauen wir mal, ob der Funke überspringt. Gus ist kein Millionär und Faylene keine strahlende Schönheit, aber sie sind beide so um die fünfzig und alleinstehend. Wer weiß, vielleicht braucht Gus ihr nur ein einziges Mal tief in die Augen zu sehen und …“

„Und dann ist ihm alles andere egal“, beendete Marty den Satz nüchtern. „Zugegeben, Gus hat noch seine eigenen Haare und die eigenen Zähne, und Faylene … also, sie hat tolle Beine.“

Alle drei Frauen waren sich einig, dass Faylenes Haare eine einzige Katastrophe waren. Und in ihrem Gesicht gab es mehr Falten, als man zählen konnte. Niemand kannte ihr genaues Alter. Allerdings trug sie stets, abgesehen von den kältesten Tagen im Jahr, weiße Shorts, eine Strumpfhose und weiße Leinenschuhe. Sie hatte wirklich sehr schöne Beine.

„Er wird ausflippen, wenn sie ihn mit zu sich nach Hause nimmt“, stellte Daisy fest. Faylene lebte in einer Wohnwagensiedlung in ihrem eigenen Wohnwagen, der von zahllosen Zementskulpturen umgeben war.

„Na und? Sie sammelt eben Kunstwerke.“ Sasha zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich sammelt er auch irgendwas. Alle Männer sind Sammler.“ Zwei ihrer drei Ehemänner zum Beispiel hatten Geliebte gesammelt.

„Sie werden ihre Probleme jedenfalls allein lösen können. Weiß eine von euch etwas über Gus’ sexuelle Vorlieben?“

„Mit wem? Wie oft? Wie lange? Wie gut er ist?“

Daisy musste lachen und wechselte das Thema. „Seid ihr überhaupt sicher, dass er zu einem Box Supper gehen würde?“ Diese Wohltätigkeitsveranstaltungen, bei denen in letzter Zeit für Opfer des Hurrikans gesammelt wurde, waren immer noch die beste Gelegenheit, um ein Pärchen zusammenzubringen.

„Wenn er zum Box Supper geht, dann heißt das, dass er nicht kochen kann.“

„Wenn er Speisen auftauen und in die Mikrowelle stellen kann, ist er in der Küche begabter als Faylene“, warf Sasha ein.

Marty hob ihr Glas mit Eistee. „Also abgemacht? Nehmen wir am nächsten Box Supper teil?“ Das bedeutete, dass Marty und Sasha die Zutaten besorgten und Daisy daraus Köstlichkeiten zauberte. „Übernächsten Mittwoch ist, glaube ich, das nächste, oder? Welches Datum haben wir eigentlich?“

Daisys Gedanken wanderten wieder zu ihrer neuen Frisur. Irgendein modischer Kurzhaarschnitt? Aber bestimmt mochte Egbert lieber etwas Klassisches.

Sasha schaute auf ihre Armbanduhr, die ihr alles, von der aktuellen Mondphase bis zu den Aktienkursen, verriet, vorausgesetzt, sie drückte den richtigen Knopf. „Heute haben wir Freitag, und das nächste Box Supper findet Mittwoch statt, bei gutem Wetter im Freien vor dem Gemeindezentrum.“

„Toll, und wenn’s regnet?“ Marty verzog das Gesicht. „Stehen wir uns dann zwischen den beiden Toilettentüren die Beine in den Bauch? Wie romantisch!“

„Ach, hör doch auf, Marty. Das Wetter spielt sicher mit. Also das Übliche? Oder diesmal vier Päckchen statt drei? Ich habe noch eine violette Geschenkschleife, die ich spenden kann. Wir müssen nur noch eines der Päckchen mit Faylenes Namen versehen und Gus den Tipp geben, dass er das Päckchen mit der violetten Schleife ersteigern muss.“

„Zuerst müssen wir jedoch etwas mit Faylenes Haaren machen.“ Sasha hatte in den letzten Jahren ihre Haarfarbe immer wieder gewechselt und behauptete, sie wisse gar nicht mehr, was ihre natürliche Haarfarbe war. Marty hatte vorgeschlagen, sie könne sich ja einfach mal die Wurzeln ansehen.

„Auf keinen Fall kann sie zu einem Kirchenbasar in Shorts auftauchen. Aus der Entfernung sehen ihre Beine toll aus, aber wenn man dichter dran ist …“ Marty schüttelte den Kopf.

Sasha seufzte. „Also schön, ich kümmere mich um ihr Haar, und du, Marty, sorgst dafür, dass sie etwas Vernünftiges zum Anziehen hat. Damit bleibt nur das Päckchen übrig. Wie wär’s, Daisy?“

Daisy schaute versonnen über die Bohnenranken und Hecken des Snow-Grundstücks. Diese friedliche Stille würde sie vermissen. Anfänglich war Muddy Landing eine kleine Ansammlung weniger Farmhäuser gewesen, und eines davon war Martys gewesen. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hatte sich die Größe des Orts verdreifacht, und die ersten Ausläufer von Norfolk näherten sich bereits der Ortsgrenze.

Sasha schnippte mit den Fingern. „Erde an Daisy! Bist du noch unter uns? Sag mal, machst du wieder dein berühmtes Hähnchen in Buttermilch, gebratene Maiskolben und vielleicht Krautsalat oder Schokokuchen?“

„Wie? Ja, gern, aber vielleicht sollten wir uns noch mal etwas genauer überlegen, welche Kandidaten da infrage kommen.“ Daisy war zwar noch ledig, aber sie wusste genau, dass die Chemie allein nicht reichte. Es musste auch noch etwas Solideres zwischen den beiden Partnern sein, sonst lebte man nach dem Verpuffen der ersten Faszination mit einem völlig Fremden zusammen.

In puncto Chemie brauchte sie sich bei Egbert keine Sorgen zu machen. Das war im Grunde der verlässlichste Punkt in ihrem Plan. Es gab kein Knistern zwischen ihnen, also konnte auch niemand enttäuscht sein, wenn dieses Knistern irgendwann nachließ. Daisy hatte zwar nicht so viel Erfahrung wie ihre Freundinnen, aber sie war auch nicht naiv. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen erkannte sie sehr wohl einen guten, potenziellen Ehemann, wenn er vor ihr stand.

Seltsam eigentlich, dass die beiden Egbert noch nicht auf ihrer Liste der zu vermittelnden Junggesellen hatten. Seine Frau war vor fast einem Jahr gestorben.

Als das Telefon klingelte, stand Daisy stöhnend auf und verkündete den beiden, was sie mit einem Vertreter anstellen würde, der ihr irgendwas verkaufen wolle.

Sobald sie die Veranda verlassen hatte, sprachen Sasha und Marty leise miteinander.

„Verdammt, ich habe dir doch gesagt, dass sie deprimiert ist! Sie kann ja nicht mal unserer Unterhaltung folgen. Guckt einfach in die Gegend, als habe sie ihren letzten Freund verloren.“ Sasha schüttelte den Kopf.

„Tja, die beiden haben sich eben sehr nahegestanden. Harvey Snow war für sie wie ein Großvater, zumindest, als sie bei ihm eingezogen ist.“ Marty suchte nach ihrer Brille, die sie sich nach oben auf den Kopf geschoben hatte.

„Jedenfalls sagt sie, Faylene würde heute Abend hierherkommen. Da müssen wir die Gelegenheit nutzen, um zu erfahren, was ihr an einem Mann gefällt und was nicht.“

„Wem denn? Daisy oder Faylene?“

„Beiden. Ach, du weißt schon, was ich meine. Das Problem mit Gus ist doch, dass er über der Werkstatt wohnt. Kannst du dir vorstellen, wie er Faylene dort die Treppe hinaufträgt?“

Nachdenklich schürzte Marty die Lippen. „Er könnte ja einen Lift einbauen. Oder so ein Ding wie das, mit dem er in der Werkstatt die Autos anhebt, um sich untendrunter den ganzen Krimskrams anzusehen.“

„Weißt du eigentlich, dass du für eine ehemalige Buchhändlerin einen erbärmlichen Wortschatz hast?“

Bevor Marty etwas Boshaftes erwidern konnte, kam Daisy zurück.

„Das war Egbert … Mr. Blalock. Seit Harveys Anwalt im letzten Herbst gestorben ist, habe ich sämtliche offiziellen Anfragen für Harvey an ihn weitergeleitet. Jetzt sagt er, heute Morgen sei ein Mann aufgetaucht, der behauptet, ein Verwandter zu sein.“

„Von Harvey? Ich denke, der hatte überhaupt keine Familie.“ Marty richtete sich auf.

„Zumindest keine enge Familie. Aber Egbert, also, Mr. Blalock sagt, er habe seit der Beerdigung heute früh ein paar Unterlagen durchgesehen und es könnte vielleicht doch etwas dran sein. Zumindest hat der Mann darauf bestanden, mit zur Beerdigung zu kommen.“ Erst jetzt, wo sie es sagte, wurde ihr klar, was das bedeutete. O nein! Nicht dieser Cowboy! Dann musste sie sofort von hier verschwinden. Sie würde nicht ruhig bleiben können, wenn dieser Mann ihr gegenüberstand. Außerdem hatte er Harvey überhaupt nicht ähnlich gesehen.

Nach einer schlaflosen Nacht und einem endlosen Tag fühlte Daisy sich hundeelend. Jammern nützt nichts, sagte sie sich und lief hinauf ins Bad, um irgendetwas mit ihren Haaren zu machen.

3. KAPITEL

Kell Magee näherte sich dem Haus. Er war fast sicher, dass sein Vater hier die ersten sechzehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Allerdings hatte Kell im Lauf seiner neununddreißig Jahre gelernt, in seinen Erwartungen realistisch zu bleiben. Diese Erkenntnis versuchte er seitdem an die Jungs weiterzugeben, die ihn immer wieder auf seine kurze Karriere als professioneller Baseballspieler ansprachen. Als Erstes wollten sie immer wissen, wie viel Geld er dabei verdient hatte, und Kell antwortete stets, dass er zwar nicht so viel wie die großen Sportstars verdient hatte, aber weit mehr, als er jemals erwartet hatte.

Jetzt war es bereits später Nachmittag. Den Wagen hatte er bewusst etwas abseits der Bäume geparkt, an denen immer noch einige vom Hurrikan halb losgerissene Äste hingen. Das Haus vor ihm sah aus wie eine Hochzeitstorte, die man im Regen vergessen hatte. Nur um ganz sicherzugehen, dass er sich nicht in der Adresse geirrt hatte, warf er einen Blick auf den Briefkasten.

H. Snow. Der kleine Aufkleber löste sich bereits an einer Ecke.

Kell wandte sich wieder dem dreistöckigen Haus mit den zahllosen Giebeln, Erkern, Buntglasfenstern und der herabhängenden Regenrinne zu. Dann sah er die Frau an der Tür. Obwohl die Sonne ihn blendete, erkannte er sofort die Frau von der Beerdigung wieder. Es musste an ihrer Körperhaltung liegen, denn ohne den Regenmantel wirkte sie sehr verändert.

Er straffte seine Schultern. Die Übernachtung in dem billigen Motel war Gift für seinen Rücken gewesen. Langsam ging er auf die Veranda zu. „Hallo. Sie sind gegangen, bevor Blalock uns heute Morgen miteinander bekannt machen konnte, doch er hat Ihnen mittlerweile bestimmt von mir berichtet.“ Kell zögerte kurz, als die Frau weiterhin abweisend die Arme vor der Brust verschränkt hielt. „Sie müssen Miss Hunter sein, stimmt’s? Die Krankenschwester?“ Er ging weiter, und als die Frau antwortete, konnte er bereits die Sommersprossen auf ihrer Nase erkennen.

„Kann ich mal irgendeinen Ausweis von Ihnen sehen?“

An der untersten Stufe der Veranda blieb er stehen. „Natürlich.“ Das ganze Zeug steckte ständig in seiner Brieftasche, und auch Blalock hatte bereits von allen Papieren Kopien angefertigt. Wieso hatte Blalock der Frau den Besuch denn nicht angekündigt? „Ich heiße Kell Magee.“ Er griff in die Gesäßtasche seiner Hose. „Gewiss hat Blalock Ihnen mitgeteilt, dass ich glaube, Harvey Snow war mein Halbonkel.“

Inzwischen war Kell fast sicher, dass es eine Verwandtschaft zwischen Harvey und ihm gab. Er trat auf die unterste Stufe und gab sich betont freundlich und harmlos, aber auch selbstsicher. „Hat er Ihnen gesagt, dass die Mutter meines Dads nach dem Tod ihres ersten Ehemanns einen Mann namens Snow aus dieser Gegend geheiratet hat?“ Während er in seinen Papieren kramte, stieg er zwei Stufen höher. Sobald er oben bei der Frau ankam, gab er ihr seinen Führerschein und die Sozialversicherungskarte. Die immer noch reglose dastehende Frau begann, ihn zu verunsichern, und diesmal lag das nicht an ihren hübschen Beinen.

Während sie seine Papiere eingehend studierte, tat Kell so, als schaue er sich den verwilderten Garten an. Dabei betrachtete er aus dem Augenwinkel das blonde Haar und die grauen Augen der Frau. Im Moment wirkte alles an ihr so einladend wie ein Stacheldrahtzaun. Anfang dreißig, schätzte Kell. Hübscher Mund, und falls sie es jemals über sich brachte zu lächeln, war er bestimmt so aufregend wie ihre Beine.

Geduldig wartete Kell darauf, dass die Frau ihn ins Haus bat.

Endlich blickte sie auf und sah ihn durchdringend an. „Was hat Mr. Blalock Ihnen gesagt?“

„Worüber?“ In Gedanken ging er die beiden kurzen Treffen mit Blalock noch einmal durch und versuchte, sich an jede Einzelheit zu erinnern. Es war ihm schwer genug gefallen, dem Mann diese Adresse zu entlocken, damit er sich das Haus, in dem sein Vater möglicherweise gelebt hatte, überhaupt mal ansehen konnte.

„Über Mr. Snow.“ Ihre Stimme klang sanft, aber gleichzeitig kühl. „Sie sagten, er sei vielleicht Ihr Onkel gewesen. Woher soll ich wissen, dass Sie nicht nur irgendein Antiquitätenhändler sind?“

„Wie bitte?“

Sie bewegte sich nicht von der Tür weg und gab ihm schweigend seine Papiere zurück. Dann schien sie plötzlich ihre abweisende Haltung abzulegen. „Also schön.“ Sie seufzte. „Von mir aus können Sie auch reinkommen. Aber ich warne Sie: Wenn Sie mir irgendetwas ver- oder abkaufen wollen, dann werfe ich Sie sofort raus, verstanden?“

„Ja, Madam.“ Staunend folgte Kell ihr ins Haus. Hier sah es aus wie in einem Museum. Das hier waren keine Möbel, die von geschickten Handwerkern einer früheren Epoche nachempfunden worden waren, sondern lauter Originale, die von Generation zu Generation weitervererbt worden waren.

„Kommen Sie jetzt rein? Oder wollen Sie den ganzen Tag dort stehen bleiben?“

„Nein, Madam. Gehen Sie vor.“ Wenn diese Frau von hinten auch nur annähernd so gut aussah wie von vorn, würde er ihr am liebsten direkt ins nächste Schlafzimmer folgen. Allerdings schien sie an alles andere als an Sex zu denken.

Ich tu das ja auch nicht, sagte er sich. Jedenfalls nicht bis zu dem Moment, als ich sie von Nahem gesehen habe. Seltsam, wie manche Frauen es ohne jede Mühe schafften, einen Mann zu erregen. Die Frau trug jetzt beigefarbene Shorts und ein ausgewaschenes blaues T-Shirt. Und was ihre Augen anging …

Kell hatte graue Augen nie sonderlich interessant gefunden. Manche der Frauen, die er kannte, trugen farbige Kontaktlinsen, allerdings niemals graue, obwohl Kell gerade feststellte, wie ruhig und gleichzeitig rätselhaft diese Farbe wirken konnte.

Reiß dich zusammen, dachte er. Sieh dich lieber um.

Die Frau führte ihn an einer geschwungenen Treppe vorbei in eine Küche mit hoher Decke, wo eine ältere Frau in engen weißen Shorts Geschirr in einen Karton packte. Als sie ihn sah, deutete sie mit einer geblümten Teekanne auf ihn.

„Ich kenne Sie! Wer sind Sie?“

„Er sagt, sein Name sei Kelland Magee“, stellte die Blondine ihn vor, als sei sie davon immer noch nicht überzeugt, obwohl sie seine Papiere genauestens gelesen hatte. „Er behauptet, Mr. Snow sei sein Onkel gewesen.“

„Möglicherweise“, stellte Kell richtig. „Ich bin ziemlich sicher, dass ein Mann namens Harvey Snow der jüngere Halbbruder meines Vaters ist, aber das Gericht hatte gerade geschlossen, als ich dort ankam, deshalb kann ich es noch nicht mit Sicherheit behaupten, solange mir keine weiteren Unterlagen vorliegen.“ Und heute war auch noch Freitag. Verdammt. „Hier in der Gegend kann es ja auch mehrere Harvey Snows gegeben haben.“ Angespannt wartete er ab und fühlte sich wieder wie vor seinem ersten Spiel in der Profi-Liga. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass dies das richtige Haus ist. Schließlich gibt es hier einen Sumpf namens Dismal Swamp.“ Er zeigte in die Richtung, in der hoffentlich der Sumpf lag, und lächelte charmant. Früher bei den Groupies hatte das immer geklappt. Aber möglicherweise war sein Charme im Laufe der Zeit ein bisschen eingerostet.

Daisy atmete tief durch und versuchte sich einzureden, sie trüge eine Schwesterntracht und nicht ihre alten Sachen. Aufräumen und Einpacken war nun mal eine anstrengende Arbeit, und sie hatte sich entsprechend angezogen. Jetzt hatte dieser Mann sie heute Morgen völlig durchnässt gesehen, und nun sah sie fast noch schlimmer aus. Sie hatte sich nicht viel Zeit zum Frisieren genommen. Wenn Daisy ihr Haar nicht sorgfältig föhnte und bürstete, sah es am Ende immer aus wie ein Eichhörnchennest.

Aber warum machte ihr das überhaupt etwas aus?

Sie konnte es sich nicht erklären. Irgendwie musste es an der Stimme dieses Mannes liegen oder an seinem Gesicht. Oder an seinem Körper. Daisys Blick glitt zu seinem Schoß, und sofort wurde sie rot. Er trug dieselbe tief sitzende Jeans wie heute Morgen. Die Jeans war vorn weit geschnitten, und anscheinend brauchte dieser Mann den Platz auch.

„Miss?“

„Ja, schon gut.“ Wenn sich ihr jemals die Gelegenheit geboten hätte, etwas über ihre Herkunft zu erfahren, hätte Daisy sie sofort ergriffen. Im Zweifel für den Angeklagten, dachte sie. „Also schön, kommen Sie. Das hier ist Faylene Beasley.“ Sie deutete auf die Haushälterin. „Es ist schon spät, und wir haben beide eine Menge zu tun, aber ich schätze, ich kann Sie noch kurz rumführen.“ Ihr kläglicher Versuch, verbindlich und höflich zu wirken, scheiterte leider.

Faylene schaute den Mann durchdringend an. „Magee? Das klingt doch irgendwie bekannt in meinem Ohr. Haben Sie nicht mal Basketball gespielt?“

Kell schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, das muss ein anderer Magee gewesen sein.“ Die Krankenschwester war bereits wieder hinaus auf den Flur gegangen, und Kell folgte ihr. Offensichtlich ging ihre Geduld langsam zu Ende, und er hatte vor, auch noch das letzte bisschen an Information aus ihr herauszupressen. Oder zumindest den Anblick ihres Pos zu genießen.

Neben der polierten Eichenholztreppe blieb sie stehen. „Woher kann Faylene Sie denn kennen?“

„Die Haushälterin?“ Seit wann trugen Haushälterinnen bei der Arbeit eigentlich so enge Shorts? „Keine Ahnung, ich habe einfach ein Durchschnittsgesicht. Sie würden staunen, wie oft mir die Leute auf die Schulter klopfen, weil sie glauben, sie würden mich von irgendwoher kennen.“

Daisy versuchte gar nicht erst, ihre Skepsis zu verbergen.

Fast hätte Kell gelacht. Er überlegte, ob er ihr von seiner kurzen Zeit als Berühmtheit erzählen sollte. Na ja, immerhin hatte er über fünf Spielzeiten hinweg erfolgreich gespielt. Aber das hätte nach Angeberei geklungen und diese Lady ohnehin nicht sonderlich beeindruckt. Womit würde man ihr denn imponieren können?

Daisy war fest entschlossen, diesen Mann schnell herumzuführen, um ihn dann wieder loszuwerden. Im ersten Stock öffnete sie eine Zimmertür nach der anderen und ließ den Mann kurz in jeden Raum schauen, bevor sie ihn weiterdrängte. Insgeheim hatte sie gehofft, der Fremde von der Beerdigung würde aus der Nähe weniger beeindruckend aussehen, doch jetzt weckte er Sehnsüchte in ihr, die seit Jahren friedlich geschlummert hatten.

„Mehr oder weniger sind all diese Räume möbliert“, teilte sie ihm sachlich mit. Die Hälfte der Zimmer hatten Faylene und sie bereits gesaugt, und die Möbel waren mit sauberen Laken abgedeckt. Am Ende des Flurs öffnete sie eine Tür und wollte sie sofort wieder schließen, doch der Mann, drängte sich an ihr vorbei. Daisy roch Leder, Rasierwasser und männliche Haut. Sofort wünschte sie sich, sie hätte sich Zeit genommen, um zu duschen und sich etwas Hübscheres anzuziehen.

Nein, das alles spielte doch keine Rolle!

In das kleine Zimmer fiel nur durch ein winziges Fenster Licht. „Hier gibt es nichts Interessantes zu entdecken. Wenn Sie also gestatten …“ Daisy schaltete die Deckenleuchte gar nicht erst ein.

Doch der Mann betrat das Zimmer. „Meine Mutter hatte auch so ein Ding in Oklahoma.“

Daisy fand, es klang, als brauchten die Magees und die Snows nur die gleichen Dinge zu besitzen, um zweifelsfrei miteinander verwandt zu sein.

Daisys Blick fiel auf die alte Nähmaschine. Zögernd folgte sie dem Mann in den Raum. Je eher seine Neugier befriedigt hatte, desto schneller würde er wieder verschwinden. „Ich glaube, die Mutter von Mr. Snow hat diesen Raum als Nähzimmer benutzt. Danach diente er als Lagerraum.“ Zählten Nähmaschinen zu persönlichen Gegenständen oder zu Möbelstücken? Sie würde Egbert fragen müssen. „Sind Sie so weit?“ Fast hätte sie ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden getippt.

„Was ist in diesen Kartons?“

Mist, die hatte Daisy ganz vergessen. „Wahrscheinlich Stoffe.“ Stoffe, die niemals genäht worden waren. In Gedanken sah Daisy neben der Nähmaschine einen Stapel mit Kleidungsstücken, die noch ausgebessert oder fertig genäht werden sollten. Auf einmal wurde ihr das alles zu viel.

Dabei konnte sie sich nicht einmal erinnern, dass Harvey seine Mutter jemals erwähnt hatte.

Schluckend wandte sie sich ab. Jetzt gab es kein Halten mehr. Daisy schluchzte laut los und spürte die Hände des Mannes an ihren Schultern.

„Daisy? Miss Hunter?“

Wie peinlich! „Gehen Sie bitte nach unten. Ich … ich will nur … ich …“

Sanft zog er sie in die Arme.

Daisy schüttelte den Kopf. Das wollte sie alles nicht. Sie wollte nicht weinen, und seinen Trost wollte sie auch nicht. Doch niemand konnte auf ewig seine Gefühle zurückhalten. „Das liegt alles nur an meiner Allergie“, brachte sie hervor, während Kell leise auf sie einredete.

Obwohl ihre Nase fast zu war, nahm Daisy wieder seinen unglaublich männlichen Duft wahr. Vielleicht lag es wirklich an einer Allergie, dass sie hier so zusammenbrach. Gegen das Rasierwasser ihres Exverlobten war sie auch allergisch gewesen. Jerry hatte jeden Monat mehr Geld für Pflegeprodukte ausgegeben als Daisy im gesamten Jahr. Und sein Rasierwasser hatte er immer ausgiebig benutzt.

Magee war ganz anders. Er sah nicht wie ein Filmstar aus, aber seine Ausstrahlung war stärker als bei jedem Schauspieler, den Daisy jemals im Kino gesehen hatte.

Nein, sie wollte nicht weiter über seine Anziehungskraft nachdenken. Jedenfalls dann nicht, wenn schon ein paar tröstende Worte seiner tiefen, weichen Stimme ausreichten, um ein verräterisches Kribbeln in ihrem Bauch auszulösen.

Sie hatte noch nie leise weinen können. Wenn Daisy heulte, dann tat sie es laut, und jeder bekam es mit. Genau aus diesem Grund achtete sie auch darauf, allein zu sein, wenn sie weinen musste.

Das Ganze wurde auch dadurch nicht weniger peinlich, dass Kell ihr über den Rücken strich und dabei sanft und leise auf sie einredete. Langsam fuhr er ihr mit dem Kinn über den Kopf.

Wahrscheinlich sucht er den Ausknopf, dachte Daisy und atmete noch einmal tief durch. Gleich ziehe ich mich von ihm zurück, sagte sie sich. Nur noch ein paar Sekunden.

Vielleicht sollte sie ihn zuvor dazu bringen, die Augen zu schließen. Schon heute Morgen hatte sie rote verquollene Augen gehabt, und das war jetzt sicher noch schlimmer geworden. Ihr Haar sah sicher aus, als habe sie den Kampf mit einem verrückt gewordenen Föhn verloren.

„Ist es jetzt besser?“, erkundigte er sich leise. So wie er die Frau an sich drückte, spürte sie bestimmt, was gerade in ihm vorging.

„Vielen Dank für Ihre Geduld“, antwortete Daisy so würdevoll, wie es ihr unter diesen Umständen möglich war. „Wenn Sie hier fertig sind, kann Faylene Sie im Erdgeschoss herumführen.“ Sie zog sich zurück.

„Wieso zeigen Sie mir nicht das Erdgeschoss?“ Obwohl er leise sprach, war seine Entschlossenheit deutlich zu spüren.

„Weil ich noch im Dachgeschoss zu tun habe.“ Erst diese Kartons hier hatten Daisy daran erinnert, dass sie unter dem Dach noch gar nicht aufgeräumt hatte.

Er folgte ihr aus dem Zimmer und schloss die Tür. Dann deutete er mit einem Kopfnicken zu der schmalen Tür am anderen Ende des Flurs. „Geht es dort nach oben? Vielleicht befindet sich da ja noch etwas von meinem Dad. Wenn im Laufe der Jahre irgendetwas von ihm dort hinaufgebracht worden wäre, könnte es doch immer noch dort liegen, oder nicht?“

Er klang so nüchtern und sachlich, als hätte es die vergangenen Minuten nie gegeben.

Anstatt in Richtung Erdgeschoss steuerte er auf die Tür zum Dachboden zu. „Warum sehen wir uns das nicht gemeinsam an? Es dauert doch nicht lange.“

4. KAPITEL

Daisy fügte sich ins Unvermeidliche. Wenn Kell Magee erfahren hatte, was er wissen wollte, würde er wieder gehen. Wenigstens hatte sie sich jetzt wieder unter Kontrolle, auch wenn sie bestimmt eine rote Nase, geschwollene Augenlider und eine Frisur wie ein Heuhaufen hatte.

Der ganze Tag war bereits grauenvoll gewesen, wovor fürchtete sie sich dann noch? Eigentlich hatte sie gleich nach der Beerdigung etwas schlafen und anschließend zusammen mit Faylene einen weiteren Schrank ausräumen wollen. Doch dann waren Marty und Sasha aufgetaucht und fast eine Stunde lang geblieben. Gerade als die beiden wieder gegangen waren, war dieser sexy Fremde mit den blauen Augen und der aufregenden Stimme gekommen.

Jedenfalls konnte Daisy auf weitere Aufregungen an diesem Tag gut verzichten. „Sie können sich ja schnell umsehen, aber da ist wirklich nichts Aufregendes. Das typische Gerümpel auf einem Dachboden. Sie wissen schon.“

„Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Da, wo ich aufgewachsen bin, gab es keinen Dachboden.“

Jetzt kommt auch noch die Mitleidstour, dachte Daisy entnervt und betrachtete den Mann vor sich, der bestimmt fast eins neunzig groß war und sie jetzt jungenhaft anlächelte. Leider wirkte es, auch wenn sie die Masche durchschaute. „Na, wenn es unbedingt sein muss. Aber schnell, denn ich habe heute wirklich noch viel zu tun.“

Die Stufen waren schmal und steil. Auf halber Höhe musste man an einer Kordel ziehen, um die einzige Glühbirne unter dem Dach anzuschalten.

„Passen Sie auf!“, rief Daisy noch, doch es war bereits zu spät.

Kell war ihr vorausgegangen und über den Schaukelstuhl gestolpert, gegen den Daisy bereits am Vortag gestoßen war, als sie hier oben nach leeren Kartons gesucht hatte.

Kell rieb sich das Schienbein. „Das Ding kommt mir aber sehr bekannt vor. Habe ich das vielleicht schon mal auf einem Foto gesehen?“

Wie konnte er eigentlich einfach ignorieren, was in dem Nähzimmer passiert war? Daisy zitterte jetzt noch leicht vor … jedenfalls ist es keine Erregung, sagte sie sich. Es muss Verlegenheit sein. Sie zuckte mit den Schultern. „Davon sind bestimmt Tausende hergestellt worden. Vielleicht sind ein paar davon sogar in Oklahoma gelandet.“

Daisy grübelte darüber nach, was er an einer Frau attraktiv finden mochte. Stand er eher auf den ordentlichen und praktischen Typ? Oder lag ihm mehr an der sexy Frau, die ungehemmt und wild war? Eines war ihr jedoch klar: Kein Mann fühlte sich zu schlampig aussehenden, hysterisch heulenden Frauen hingezogen, die beim Anblick einer alten Nähmaschine die Fassung verloren.

Während Kell den Schaukelstuhl begutachtete und die dunklen Ecken des Dachbodens durchstöberte, zog Daisy sich innerlich zurück, indem sie über ihre Zukunftspläne nachdachte. In ein paar Minuten, höchstens einer halben Stunde, würde dieser Mann wieder verschwunden sein.

Sie versuchte, ihn nicht dabei zu beobachten, wie er umherlief, Gegenstände berührte und alte Autokennzeichen musterte, die jemand an die Dachbalken genagelt hatte. Sogar seine Art zu gehen ließ Daisys Herz schneller schlagen. Immer wieder blickte sie verstohlen zu seinen langen Beinen und diesem runden festen Po.

Schluss jetzt! Sie sollte lieber an den verlässlichen und bescheidenen Egbert denken. Daisy malte sich aus, wie er nervös lächelnd am Altar stehen würde, wenn sie mit einem Bouquet in den Händen auf ihn zukommen würde. Es würde nur eine kleine Hochzeit werden, das hatte Daisy bereits entschieden, aber auf jeden Fall wollte sie kirchlich heiraten. In festlichem Rahmen, aber nicht übertrieben förmlich. Das Haar würde sie etwas kürzer tragen, aber nicht zu kurz.

Doch sosehr Daisy ihre Fantasie auch bemühte, immer wieder trug der Mann vor dem Altar Jeans, Lederjacke und Cowboystiefel. Diesen Mann hatte sie vor wenigen Stunden zum ersten Mal gesehen, er hatte ein jungenhaftes Lächeln und strahlende Augen, und wenn Daisy ihn vor dem Altar sah, konnte sie an nichts anderes denken als an …

Das alles war zu viel Stress für einen Tag. Sie musste ihren Verstand verloren haben.

Schuldbewusst riss sie sich aus ihren Gedanken und blickte zu dem kaputten Schaukelstuhl. „Es tut mir wirklich leid, Mr. Magee. Anscheinend nimmt mich das alles mehr mit, als ich gedacht hätte. Normalerweise halte ich meine Gefühle immer aus meinem Beruf heraus, aber Mr. Snow hatte sonst niemanden auf der Welt, und mir widerstrebt der Gedanke, dass Fremde jetzt all seine Sachen durchwühlen. Dafür hatte er einfach zu viel Würde.“

Kell erwiderte nichts, sondern blickte Daisy nur aus seinen strahlend blauen Augen an.

Hilflos hob sie die Hände. „Ich mochte diesen Mann. Er war nicht nur mein Patient, sondern auch mein Freund. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, dann …“

„… verschwinden Sie bitte von hier, damit wir fertig werden können. Das meinten Sie doch, stimmt’s?“

Hastig wandte sie sich ab und blinzelte. Oh, verdammt, nicht schon wieder!

Unter einem Buntglasfenster in der anderen Ecke des Dachbodens stand eine große Truhe. Die muss ich auch noch durchsehen, dachte Daisy betrübt. Oder ich schleppe sie hinunter zum Fluss und kippe sie ungeöffnet ins Wasser.

„Daisy?“

„Was denn?“ Sie wandte sich nicht zu ihm um. Jetzt verlor sie gegenüber diesem Mann schon zum zweiten Mal die Fassung!

„Hier oben ist es kalt, und Sie haben nur wenig an. Gehen wir lieber wieder nach unten. Vielleicht kann diese – ich habe den Namen vergessen – einen Kaffee kochen. Einverstanden?“

„Faylene.“ Dankbar griff Daisy alles auf, was diese Tour abkürzte. „Sie heißt Faylene Beasley. Drei Tage in der Woche hat sie für Mr. Snow gearbeitet, und an den anderen beiden für meine besten Freundinnen. Aber ich weiß gar nicht, wieso ich Ihnen das alles erzähle. Sonst bin ich nie so geschwätzig.“

Er nickte nur ernsthaft und ging voraus. Wahrscheinlich rechnete er damit, dass sie jederzeit wieder die Nerven verlieren und zusammenbrechen konnte. Falls sie stürzte und sich ein Bein brach, würde er sie vielleicht auf die Arme nehmen, mit ihr auf sein weißes Pferd steigen und sie in wildem Galopp in die nächste Notaufnahme bringen. Energisch riss Daisy sich aus ihren Tagträumen.

„Meine Großmutter hat vielleicht in genau diesem Schaukelstuhl gesessen“, sagte Kell leise, als er die Tür zum Dachboden schloss. „Ich weiß ja nicht, ob Blalock es Ihnen erklärt hat oder nicht, aber mein Dad und Onkel Harvey hatten dieselbe Mutter.“

„Das haben Sie schon zwei Mal erwähnt.“ Onkel Harvey? Daisy erkannte genau, was dieser Mann vorhatte. Er wollte seine Ansprüche geltend machen, aber es lag nicht an ihr zu entscheiden, ob diese Ansprüche gerechtfertigt waren.

Auf dem frisch gewachsten Holzboden des ersten Stocks quietschten die Gummisohlen von Daisys Schuhen bei jedem Schritt. Die Cowboystiefel des Mannes klangen im Vergleich dazu wie ein Flüstern.

„Harvey war eher mein Halbonkel“, stellte er klar. „Jedenfalls sagt Blalock, Harvey habe nie geheiratet, also war es bestimmt meine Großmutter, die diese Truhe dort hinaufgebracht hat.“

„Meinen Sie?“ Ich hätte ihn gleich wieder wegschicken sollen, als er hier aufgetaucht ist, dachte sie. Soll Egbert sich mit ihm auseinandersetzen, das gehört nicht zu meinem Job.

„Glauben Sie, da oben könnten auch noch ein paar Fotos ihrer beiden Söhne sein?“

Darauf wusste Daisy keine Antwort. Von ihr aus konnte er alle Fotos bekommen, die er haben wollte. Oder auch den Karton mit den alten Stoffresten. Sollte Egbert doch Harveys Testament durchgehen und feststellen, was diesem Mann zustand.

Wenn er glaubte, sie mit seinem Charme weichklopfen zu können, dann täuschte er sich gewaltig. Gegen männlichen Charme war Daisy mittlerweile immun. Ihren Zusammenbruch dort oben hatte sie nur deshalb erlitten, weil der heutige Tag so entsetzlich verlaufen war.

Daisy wandte sich der Küche zu. Sollte sich doch Faylene mit ihm abgeben. Sein Duft nach Leder und Mann und die leisen Geräusche seiner Schritte folgten ihr.

„Finden Sie es nicht auffallend, dass die Namen Harvey und Evander beide ein V enthalten? Schließlich gibt es nicht viele Namen mit einem V.“

„Victor? Vance? Vaughn? Virginia? Virgil?“

„An die hatte ich nicht gedacht. Scrabble sollte ich mit Ihnen wohl lieber nicht spielen.“

Falls er mit seinem Lächeln versuchte, ihren Widerstand zu brechen, dann hatte er damit keinen Erfolg. „Ich spiele keine Spiele.“

Sein Lächeln ging in ein Grinsen über. „Verstehe.“

Immer noch standen sie beide reglos da, als etwas an die Hauswand schlug.

„O nein!“, rief Daisy. „Das war bestimmt ein Vogel. Ich sehe mal lieber nach, ob er sich verletzt hat. Manchmal spiegelt die Sonne sich am späten Nachmittag in den großen Scheiben, und dann …“

Hastig lief sie zur Haustür, als das Geräusch wieder erklang. Kell und Daisy verharrten und schauten sich an. Dann sahen sie beide in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

„Oben“, sagte er.

„Draußen“, sagte sie.

„Vielleicht ein Ast. Es ist windiger geworden.“

„Mist, dann kann ich gleich wieder Laub harken. Den Garten hatte ich vollkommen vergessen.“

Sie liefen beide nach draußen und suchten im Gras nach einem Vogel. Überall lagen abgerissene Zweige und Kiefern- und Tannenzapfen herum.

Autor

Dixie Browning

Dixie Browning, Tochter eines bekannten Baseballspielers und Enkelin eines Kapitäns zur See, ist eine gefeierte Malerin, eine mit Auszeichnungen bedachte Schriftstellerin und Mitbesitzerin einer Kunstgalerie in North Carolina. Bis jetzt hat die vielbeschäftigte Autorin 80 Romances geschrieben – und dabei wird es nicht bleiben - sowie einige historische Liebesromane zusammen...

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