Unbezähmbar wie dieses Begehren

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Sie gehört zu der mächtigen Funaro-Familie? Die Eröffnung trifft die junge Künstlerin Audrey, die ihre leibliche Mutter nie kennengelernt hat, wie ein Blitzschlag! Aufgeregt tritt sie auf dem prächtigen Anwesen am Comer See ihren adeligen Verwandten entgegen, schaut atemlos in die Runde – und erblickt einen faszinierenden Mann. Mit solch unverhohlenem Verlangen betrachtet er sie, dass ihr ganz heiß wird. Aber auch mit so viel Skepsis, dass sie ein kalter Schauer drohender Vorahnung überläuft …


  • Erscheinungstag 28.05.2024
  • Bandnummer 112024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751524766
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Meine liebste Audrey,

ich weiß, dies wird ein großer Schock für dich sein, und ich hoffe, du machst mir nicht zu viele Vorwürfe, weil ich so lange geschwiegen habe. Aber ich weiß, wie viel Familie dir bedeutet. Ich kann dieses Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen. Die Entscheidung, wie es weitergeht, liegt nur bei dir, mein liebstes Mädchen – nicht bei mir, nicht bei deinem Vater und sie sollte auch nichts mit deiner Mutter zu tun haben.

Meine Mutter? kann ich dich fast fragen hören. Ja. Ich habe ihre wahre Identität herausgefunden. Es tut mir leid, aber sie ist schon vor vielen Jahren verstorben. Eine kurze Zeitungsmeldung hat meinen Verdacht erregt, und ich habe daraufhin Nachforschungen angestellt.

Sie war keine mittellose Waise, wie sie immer behauptet hat, sondern stammte aus einer sehr alten, sehr mächtigen und sehr wohlhabenden italienischen Familie. Und anscheinend hast du eine italienische Großmutter und viele Cousinen und Cousins.

Deine Tante Beatrice ist im Besitz aller notwendigen Unterlagen und hat schon Kontakt zu den Anwälten deiner Großmutter aufgenommen. Ihr Name ist Marguerite Funaro, und sie möchte dich gerne kennenlernen. Wenn du sie treffen möchtest, kannst du das tun.

Es ist deine Entscheidung.

Ich wünsche dir viel Freude und Glück, ein Leben voller Liebe und eine wunderbare Familie.

In ewiger Liebe

deine Nonna

Audrey starrte auf den Brief in ihrer Hand und sah dann ihre Tante Beatrice an. Tante war ein Ehrentitel, aber Nonnas beste Freundin hatte sich immer wie Familie angefühlt. Den vergangenen Monat hatte Audrey bei Tante Beatrice am Comer See verbracht, doch während der ganzen Zeit hatte sie eine Familie gehabt, von der sie nie etwas gewusst hatte?

„Hier steht …“

„Ja.“ Beatrice nickte.

„Ich habe …?“

„Eine Familie? Si, Audrey, es scheint so. Deine Großmutter wollte, dass ich zuerst mit ihnen Kontakt aufnehme, damit du dir nicht umsonst Hoffnungen machst, falls sie dich nicht hätten anerkennen wollen. Aber im Gegenteil, sie wollen dich unbedingt kennenlernen.“

In ihrer Brust stieg prickelnd wie Champagner Freude auf. Und noch etwas anderes. Etwas, das ihren Atem stocken ließ.

Wenn sie schonungslos ehrlich war – und sie war immer schonungslos ehrlich, jedenfalls zu sich selbst –, hatte sie seit Johannas Tod noch nicht ihr Gleichgewicht wiedererlangt. Eine Zwillingsschwester zu verlieren … es fühlte sich an, als hätte sie einen Teil von sich selbst verloren.

Nach Johannas Tod hatte sie wieder auf die Beine gefunden, langsam, jeder Schritt war hart erkämpft. Dann war die schockierende Ankündigung ihres Vaters gekommen, dass er heiraten und nach Amerika ziehen würde. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er eine Beziehung hatte!

Und dann war Nonna gestorben. Audreys Kehle wurde eng. Sie bezweifelte, dass irgendetwas diese Lücke füllen konnte. Sie brauchte all ihre Kraft, um den entsetzlichen Schmerz zurückzudrängen. Von ihrer nie sehr großen Familie waren plötzlich nur noch sie, ihre Cousine Frankie und Tante Beatrice geblieben.

Aber jetzt die Familie ihrer Mutter zu finden … sie hatte eine Großmutter und Cousins. Audrey suchte verzweifelt nach einem sicheren Hafen. Konnte das ihre neue Familie für sie sein?

„Möchtest du sie treffen?“

Es fühlte sich an, als wäre die Sonne hinter einer Wolke hervorgekommen und tauchte sie in ihr warmes Licht. Eine große Familie? Sie faltete die Hände im Schoß. Das wollte sie mehr, als sie je etwas gewollt hatte.

„Ja bitte. Wie schnell können wir ein Treffen arrangieren?“

1. KAPITEL

„Bist du bereit, Audrey?“

Die Worte klangen eher wie ein Befehl als eine Frage. Audrey warf ihrer Großmutter einen Blick zu und stellte fest, dass sie kein Wort herausbringen konnte.

Vor einer Woche hatte sie Marguerite Funaro kennengelernt, und Marguerite war Nonna so unähnlich wie nur möglich.

Der Schein kann täuschen, hörte sie eine leise Stimme in ihrem Kopf.

Sie hielt sich an diesem Gedanken fest. Die Stimme – Nonnas Stimme – löste ein wenig ihre Anspannung. Von Nonna hatte sie gelernt, was Familie bedeutete, und sie würde diese Lektionen jetzt nicht vergessen, nur weil sie nervös war und sich die Situation ein bisschen seltsam anfühlte.

Marguerite war vielleicht nicht besonders gefühlsbetont oder sie zeigte ihre Gefühle nicht, aber Audrey hatte sich vom ersten Moment an mit der älteren Frau verbunden gefühlt. Marguerite hatte sich nicht wie eine Fremde angefühlt, obwohl die Welt, in der ihre Großmutter lebte, kaum fremder sein könnte.

In ihrem Brief hatte Nonna geschrieben, die Familie von Audreys Mutter wäre wohlhabend und mächtig. Aber Audrey hatte nicht geahnt, wie wohlhabend und mächtig. Anscheinend stand der Name Funaro für alle großen Adelsnamen Italiens.

Im ersten Moment hatte sie sich kneifen müssen. Sie konnte kaum glauben, dass sie Mitglied einer so alten, mächtigen italienischen Familie war. Oder dass sie jetzt in ihrem unglaublich luxuriösen Anwesen am Ufer des Comer Sees mit extravaganten Gärten und einer atemberaubenden Aussicht wohnte.

Sie blickte wieder zu ihrer Großmutter, und ihr Magen drehte sich um. Sie wollte Marguerite nicht enttäuschen. Wollte niemanden aus der Familie enttäuschen, aber was wusste sie schon von dieser Welt? Wie würde sie jemals hineinpassen?

Aber nur weil Marguerite majestätisch und stolz war, hieß das nicht, dass sie kein Herz besaß oder keine Freundlichkeit und Liebe zu geben hatte.

Der Gedanke heiterte Audrey ein wenig auf. Marguerite hatte sie, ohne zu zögern in der Familie willkommen geheißen … mit ihrer ganz eigenen Art von Wärme.

Audrey hob den Kopf und nickte. „Ich freue mich darauf, den Rest der Familie kennenzulernen, grandmother.“

Marguerite hatte sie gebeten, sie grandmother zu nennen. Audrey hatte keine Ahnung, warum sie die englische Bezeichnung statt der italienischen verwendete. Vielleicht wollte sie Audrey auf diese Weise von den anderen Familienmitgliedern unterscheiden. Anscheinend gab es davon ziemlich viele.

Ihre zaghafte Freude verschwand, als Marguerite den Blick über Audreys Kleidung schweifen ließ. Die Lippen ihrer Großmutter wurden nicht schmal, ihre Nasenflügel bebten nicht. Nichts an ihrem Gesicht verriet auch nur einen Hauch von Missbilligung, aber Audrey konnte das Gefühl nicht unterdrücken, dass irgendetwas an ihr nicht in Ordnung war.

Sie blickte an sich herunter. „Möchtest du, dass ich mich umziehe?“ Nicht, dass sie etwas anderes zum Anziehen hätte. Nicht wirklich. „Ich habe leider nur wenig Kleidung mitgebracht.“

Sie besaß nur wenig Kleidung, aber sie hatte nicht die Absicht, das zuzugeben. „Ich hatte noch keine Gelegenheit, einzukaufen und …“

„Audrey!“

Sie nahm Haltung an. „Ja, grandmother?“

„Du bist eine Enkelin der Familie Funaro. In deinen Adern fließt königliches Blut.“

Audrey unterdrückte ein völlig unangebrachtes Lachen. Königliches Blut? Sie?

„Deine Kleidung definiert dich nicht.“

Leicht gesagt, wenn man einen wunderschönen Chanel-Anzug aus rosa-weißem Tweed trug.

„Du wirst da rausgehen, als ob dir der Raum gehört.“

Oh, einfach so, ja? Kinderleicht. Am liebsten hätte sie ihre Cousine Frankie angerufen, damit sie ihr ein bisschen Mut machte.

„Du hältst deinen Rücken gerade, trägst dein Kinn hoch und einen freundlichen Ausdruck auf dem Gesicht.“

Audrey passte ihre Haltung den hohen Anforderungen ihrer Großmutter an.

„Wir sind eine große Familie, und wie in den meisten Familien verstehen sich einige besser miteinander als andere. Du wirst nicht zulassen, dass irgendjemand dir das Gefühl gibt, du würdest nicht hierhergehören oder wärst weniger wert.“

Okay, jetzt wollte sie wirklich zu Tante Beatrice zurücklaufen und sich unter dem Bett verstecken.

„Wiederhole das bitte“, befahl die ältere Frau.

„Ich werde nicht zulassen, dass mir jemand das Gefühl gibt, weniger wert zu sein“, wiederholte sie gehorsam.

Diese Leute waren ihre Familie. Natürlich würde es am Anfang ein bisschen unbehaglich sein. Aber nicht Geld und Stellung machten eine Person aus. Nur weil ihr Kleid nicht die neueste Mode war, machte sie das noch lange nicht zu einem schlechteren Menschen.

Ihr Herz schlug schnell. Dies war ihre Familie. Und sie würde sich einfügen. Es könnte vielleicht einige Zeit dauern, aber sie würde sie dazu bringen, sie zu lieben. Familie bedeutete Sicherheit. Sie war ein Ort, an dem man dazugehört. Seit Nonnas Tod fühlte Audrey sich schutzlos und alleine. Aber hier würde man sie akzeptieren und sie würde einen sicheren Hafen finden – wo sie lieben und geliebt werden konnte.

„Denke daran, deine Großmutter hat dich anerkannt.“

Marguerite war vielleicht nicht die Verkörperung mütterlicher Wärme, aber ihre unerschütterliche Unterstützung wärmte Audrey. „Ich bin bereit, alle kennenzulernen, grandmother. Ich freue mich darauf.“

Sobald dieses erste Treffen vorbei war, würde sie die Familie bestimmt weniger förmlich kennenlernen. Bei Mittagessen, Abendessen oder Familienausflügen. Und bis Weihnachten würde es sich hoffentlich so anfühlen, als würden sie sich schon ewig kennen.

Sie drückte die Daumen.

„Vergiss nicht, Rücken gerade, Schultern zurück … und lächle!“

Audrey befolgte die Anweisungen haargenau und wartete dann vor einer vergoldeten Doppeltür, während ein Butler oder Diener oder … nun ja, ein Mitarbeiter in einer sehr außergewöhnlichen Uniform die Türen aufriss. Sie rechnete halb damit, dass er sie ankündigen würde.

Das tat er natürlich nicht. Dies war nicht der Schauplatz eines historischen Dramas. Sie war keine Jane-Austen-Heldin. Das hier war die wirkliche Welt.

Allerdings konnte es kaum einen größeren Gegensatz zu Audreys wirklicher Welt geben als den Comer See, riesige glitzernde Kronleuchter, Villen mit achtzig Zimmern und eine neue Großfamilie.

Marguerite nahm Audreys Arm, als wäre sie eine alte Dame, die sich stützen musste. Was ein Witz war, denn Marguerite kannte keine Gebrechlichkeit. Audrey bezweifelte, dass sie die ältere Frau im Armdrücken besiegen könnte.

Der Gedanke ließ sie lächeln.

Dann betraten sie den Raum, und ihr stockte der Atem. Mindestens vierzig Leute starrten sie an. Es kostete sie ihre ganze Kraft, nicht die Hände unter dem Kinn zu verschränken und alle anzustrahlen. Wie wunderbar! Sie wollte schon immer Teil einer großen, liebevollen Familie sein.

Niemand sagte ein Wort, als sie und Marguerite sich einen Weg durch die Menge zu einem Thron bahnten …

Kein Thron. Ein Stuhl. Aber aus vergoldetem Holz und rosafarbenem Samt, und ganz eindeutig gehörte er Marguerite. In der Stille richteten sich all die feinen Härchen auf Audreys Armen auf. Sie konzentrierte sich darauf, den Rücken gerade zu halten, das Kinn zu heben und ihren freundlichen Gesichtsausdruck beizubehalten. Offenbar ging man hier die Dinge mit einer seltsamen Förmlichkeit an.

Trotzdem hatte sie ihre Größe nie mehr gehasst als in diesem Augenblick. Sie ließ sie immer auffallen, und – Moment mal … sie war nicht die einzige große Person im Raum! Diese Körpergröße war offensichtlich ein typisches Merkmal der Funaros. Ihr Lächeln wurde breiter. Bestimmt zeigte das, wie gut sie in die Familie passte.

Marguerite löste ihren Arm von Audreys und setzte sich. Sofort fühlte Audrey sich hilflos.

Stell dich nicht so an.

Es wäre einfacher, wenn sie wüsste, was sie tun sollte. Sollte sie sich auch setzen? Leider gab es neben dem Stuhl ihrer Großmutter keinen Platz.

Du sollst dich nicht hinsetzen. Du sollst dich unter die Leute mischen und alle kennenlernen.

Aber doch bestimmt nicht, bevor sie vorgestellt wurde? So wie alle sie anschauten, hatte sie das Gefühl, als sollte sie ein Schild um den Hals tragen, auf dem „Beweisstück A“ stand.

Die Vorstellung ließ sie schmunzeln. Sobald alle sie kennengelernt hatten, würde man sie nicht länger anstarren, und sie wäre nur ein weiteres Familienmitglied.

Aber die Stille dehnte sich aus, und sie hatte das Gefühl, dass zwischen den anderen Familienmitgliedern ein stiller Informationsaustausch stattfand.

Schließlich löste sich mit einem ungeduldigen Schnauben ein Kind aus den Reihen und stürmte auf Audrey zu. Vor ihr blieb das kleine Mädchen stehen und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. „Ciao! Hallo!“

Die süße Kleine konnte nicht älter als drei oder vier sein. Audrey schmolz dahin. Sie hatte nicht darüber nachgedacht, aber natürlich gab es Kinder in der Familie. Sie kniete nieder und streckte ihre Hand aus. „Ich bin Audrey. Und wer könntest du sein? Eine Prinzessin vielleicht?“

„Ich bin keine Prinzessin. Ich bin Liliana.“ Das Mädchen legte seine Hand in Audreys und schüttelte sie ernsthaft. „Und du bist meine Tante.“

Sie schaute die Kleine an, und ihre Kehle wurde eng. Ihre Augen brannten. Sie hatte eine Nichte? Sie musste schlucken, bevor sie ihrer Stimme vertrauen konnte. „Meine Nichte? Ich habe eine Nichte?“

Die kleine Liliana nickte eifrig.

Audrey konnte ihre Freude nicht verbergen und grinste wie verrückt. Vielleicht tanzte sie sogar ein wenig. „Das ist die beste Nachricht, die ich je bekommen habe!“

Sie hatte eine Nichte!

Liliana erwiderte ihr Lachen, als könnte sie auch nicht anders. Und dann umarmten sie sich innig. Sie hatte also mindestens eine Freundin hier.

Gabriel warf einen Blick auf das Bild, das sich ihm bot. Am liebsten hätte er lange und heftig geflucht.

Was die Welt nicht brauchte, war noch eine Funaro.

Und was die Welt ganz bestimmt nicht brauchte, war eine Funaro, die seine Tochter unwiderstehlich fand.

Nicht, dass er Lili dafür verantwortlich machen würde, dass sie sich auf den ersten Blick in diese hochgewachsene Frau verliebt hatte, die sich mit der Leichtigkeit und Anmut einer Balletttänzerin zu ihr auf den Boden gekniet hatte. Oder die sie anlächelte, als wäre ihr bei Lilis Begrüßung gerade ihr Herzenswunsch auf einem diamantbesetzten Platinteller überreicht worden.

Die kleine Szene hatte sogar sein Herz berührt, und er war ein hartgesottener Zyniker. Er sah zu, wie die Fremde aufstand und Lili ihre kleine Hand in die ihrer neuen Freundin gleiten ließ. Audreys Finger schlossen sich um Lilis, als ob … Er rieb sich mit einer Hand über die Brust.

Als würde sie diese kleine Hand beschützen. Als würde sie …

Er versuchte, den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. So hätte Fina Lilis Hand halten sollen. Aber auch wenn seine Frau nicht gestorben wäre, würde sie das nicht tun. Die Art Frau war Fina nicht gewesen. Das war keine der Frauen in diesem Raum. Keine von ihnen würde Lilis Hand auf diese Weise halten.

Er betrachtete das Gesicht der ruhigen, schönen Frau mit den dunklen Augen. Wenn man nicht danach suchte, fiel ihre Schönheit vielleicht nicht auf den ersten Blick auf. Doch er besaß das Auge eines Künstlers und erkannte ihre Schönheit sofort.

Dies war keine Frau, die das Beste aus ihrem Aussehen machte, indem sie ihr Gesicht bemalte oder die Haare in einer komplizierten Hochsteckfrisur trug, für die ein Team von Friseuren nötig war. Ihrem Kleid und ihren Schuhe nach zu urteilen, war sie keine Frau, die sich Designerlabels leisten konnte. Jedenfalls bis jetzt nicht.

Mehrere Frauen im Raum zogen die Augenbrauen hoch und tauschten Blicke aus. Aber schon sehr bald würde diese Audrey mehr als genug Geld zur Verfügung haben, um jeden einzelnen Mangel zu beheben, den man hier an ihrer Erscheinung auszusetzen hatte. Und dann würden die anderen eifersüchtig auf sie sein, weil sie sie alle überstrahlte.

Wenigstens für einen kurzen Augenblick. Wie ein Stern, der am hellsten leuchtet, bevor er explodiert.

Schließlich stellte Marguerite das neue Familienmitglied vor und erklärte, sie würde sich sehr freuen, ihre Enkelin Audrey in der Familie willkommen zu heißen. Ein Stuhl wurde für Audrey neben den von Marguerite gestellt, und im Stillen lachte Gabriel humorlos auf. Audrey verstand noch nicht die Ehre, die dieser Stuhl für sie bedeutete. Aber sie würde lernen. Und wenn sie nicht von den Piranhas im Raum lebendig gefressen werden wollte, sollte sie besser presto lernen. Schnell.

Die Temperatur im Raum stieg an, als Groll und Bosheit die Luft erhitzten. Was würden die meisten hier dafür geben, in so unmittelbarer Nähe von Marguerite zu sitzen und ihr zehn Minuten lang süße Schmeicheleien und bittere Verleumdungen ins Ohr zu flüstern? Wie viele von ihnen hätten gerne die Gelegenheit, einen guten Eindruck zu machen?

Und weil sie es nicht konnten, schienen sich die verfeindeten Familienmitglieder für einen Moment gegen den Neuankömmling zu verbünden. Als könnten sie es nicht abwarten, bis auch sie in Ungnade fiel.

Ein bitterer Seufzer stieg in ihm auf. Er zweifelte nicht daran, dass Audrey früher oder später in Ungnade fallen würde. Immerhin war sie eine Funaro.

Als verschiedene Familienmitglieder nach vorne gerufen wurden, um sich vorzustellen, blieb er im Hintergrund – wo er hingehörte. Er war kein Familienmitglied, Gott sei Dank. Als Lilis Vater wurde er geduldet, mehr nicht.

Lili mochte eine Funaro sein, aber sie war auch eine Dimarco. Er ballte die Fäuste. Er würde nicht zulassen, dass sie den Weg ihrer Mutter ging. Er würde nicht zulassen, dass die Exzesse dieser Familie, ihr ausschweifendes Leben und ihre Maßlosigkeit seine Tochter zerstören. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um das zu verhindern.

Er behielt Lili genau im Auge, und es kostete ihn seine ganze Willenskraft, sie nicht wieder zu sich zu rufen. Damit würde er nur die Aufmerksamkeit auf sie beide lenken, und das wollte er vermeiden.

Die Sorgerechtsvereinbarung besagte – rechtskräftig von einem Team von Anwälten unterzeichnet –, dass Lili den Sommer mit der Familie ihrer Mutter verbrachte. Wenn es nicht unbedingt nötig war, wollte er sich nicht auf einen langwierigen Rechtsstreit mit Marguerite einlassen.

Überraschenderweise hatte Marguerite sofort zugestimmt, dass er Lili während des Sommers an den Comer See begleiten durfte. Das musste man ihr zugutehalten. Aber sie wusste, dass seine Anwesenheit gut für Lili war. Im Gegenzug stimmte er zu, dass Marguerite auch außerhalb des Sommers Zeit mit Lili verbringen durfte.

Wieder schaute er das neue Familienmitglied an, und seine Brust verkrampfte sich. Ihre Größe, die Linie ihrer Nase und die aristokratischen Wangenknochen zeigten ihre Herkunft. In ihr sah er Fina und auch Danae, die Mutter von Audrey und Fina.

Er würde sich nie wieder in eine Funaro-Erbin verlieben oder auch nur länger als nötig mit einer sprechen. Einmal war genug. Diesen Albtraum würde er kein zweites Mal durchleben.

Das bedeutete nicht, dass er es genießen würde, Zeuge zu sein, wie die nächste Erbin in Ungnade fiel. Mit anzusehen, wie sie dem Reichtum und dem Luxus erlag, den kleinen Schmeicheleien und intriganten Verführungen, den endlosen Partys. Zischend stieß er die Luft aus. Den Drogen.

Er verabscheute den Gedanken, wie all das Potenzial vergeudet wurde, das in diesem eleganten Körper steckte, verabscheute, zuzusehen, wie das Feuer in diesen Augen schwächer werden und schließlich erlöschen würde.

„Gabriel!“

Sein Name, ein königlicher Befehl der Matriarchin persönlich, brachte ihn zurück in die Realität.

„Bitte komm. Ich habe eine Bitte an dich.“

Er setzte eine höfliche Miene auf. Was hatte das intrigante Familienoberhaupt jetzt vor? Was auch immer es war, es würde ihm bestimmt nicht gefallen.

Lilis strahlendes Lächeln und ihr aufgeregtes Hüpfen ließen ihn zu dem Trio in der Mitte des Raumes gehen anstatt zur Tür, wie sein Instinkt ihm riet.

„Das ist Papa.“ Lili lehnte sich gegen Audreys Beine und lächelte sie mit der naiven Offenheit und absoluten Selbstsicherheit einer viel geliebten Vierjährigen an, die glaubte, dass Audrey sie genauso sehr verehrte wie Lili sie. Am liebsten hätte er sich seine Tochter geschnappt, wäre aus dem Haus gerannt, um sie in einem Turm einzusperren, wo keiner dieser Leute ihr jemals wehtun konnte.

„Ich freue mich, deinen Papa kennenzulernen“, sagte Audrey mit einem breiten Lächeln, das einen anderen Teil seiner Anatomie als sein Herz berührte. Er unterdrückte einen Fluch.

„Du meine Güte, Audrey“, sagte Marguerite, „du musst nicht jedes Mal aufstehen, wenn ich dir jemand Neues vorstelle.“

„Ich möchte nur höflich sein“, erwiderte Audrey sanft und anscheinend unbeeindruckt von dem Befehlston ihrer Großmutter.

„Audrey, das ist Gabriel. Er war mit meiner Enkelin Serafina verheiratet.“

„Mit meiner Mama“, flüsterte Lili. Allerdings brachten Vierjährige offensichtlich kein leises Flüstern zustande, sie dachten nur, dass sie es taten.

Audrey drückte Lilis Hand. „Meiner Schwester.“

„Halbschwester“, warf Marguerite ein.

Audrey zwinkerte Lili zu. „Ich wette, deine Mama und ich wären die besten Freundinnen gewesen.“

Ein Kichern ging durch den Raum. Marguerites Blick brachte es schnell zum Schweigen. Aber Gabriel stimmte stillschweigend allen anderen zu. Er bezweifelte, dass Audrey und Fina Freundinnen gewesen wären, aber er schätzte ihre Freundlichkeit seiner Tochter gegenüber.

„Gabriel“, stellte er sich vor und streckte die Hand aus.

Sie legte prompt ihre Hand in seine. Als sich ihre Finger berührten, weiteten sich ihre Augen, und er runzelte die Stirn. Sie zogen die Hände genau im selben Moment zurück.

„Audrey besitzt anscheinend ein gewisses künstlerisches Talent“, erklärte Marguerite gebieterisch.

Aha. Eine Amateurin, die sich überschätzte. Er senkte den Blick, um den Spott in seinen Augen und sein zynisches Lächeln zu verbergen.

„Sie hat einen Monat bei Madame De Luca studiert.“

Sein Kopf schoss hoch und die Art, wie Audreys Lippen zuckten, ließ ihn vermuten, dass er seine Verachtung nicht sehr gut versteckt hatte. Wenn sie bei Madame De Luca studierte, musste sie ein gewisses Maß an Talent besitzen.

Bei Gabriels offensichtlicher Überraschung musste Audrey lächeln. Das änderte nichts daran, dass ihre Hand brannte und ihr Atem schneller ging, auch wenn sie nicht verstand, warum.

Gabriel war nicht klassisch gut aussehend. Dunkelhaarig, mit olivfarbener Haut und einem Dreitagebart, sah er weder geschniegelt noch auf diese glatte Art charmant aus wie die anderen Männer im Raum. Doch er war etwas anderes, und zwar durch und durch männlich. Unter seinem distanzierten Verhalten lauerte etwas sehr Ursprüngliches, und es berührte etwas tief in ihrem Inneren.

Wahrscheinlich hatte er diese Wirkung auf jede Frau. Aber was auch immer es war, es war alles andere als angenehm. Und sie hatte fest vor, es zu ignorieren.

Dieser Sommer würde schon schwierig genug für sie sein. Bis sie ihren Platz in der Familie gefunden hatte, konnte sie Männer und Romantik nicht in ihrem Leben gebrauchen. Bis sie gelernt hatte, mit dieser neuen Welt umzugehen.

Immer noch musterten sie seine grauen Augen, ihre Farbe überraschte sie. Sie sollten dunkel sein wie sein Haar. Und doch … Hör auf!

„Was ist dein Spezialgebiet?“

Die Frage ließ sie schlucken. „Ich möchte keinen falschen Eindruck erwecken. Madame De Luca hat mich als Gefallen für einen gemeinsamen Freund als Schülerin angenommen. Dein erster Eindruck war richtig – ich bin eine absolute Amateurin.“

Er hob die ausdrucksvollen Brauen, als hätte er ihr Ausweichen bemerkt. Es war nur … wenn sie anderen von ihrer bevorzugten Kunstform erzählte, lachten sie normalerweise. Und sie wollte nicht, dass jemand über sie lachte. Nicht heute. Es gab schon genug Unterströmungen im Raum, die sie nicht verstand.

Er sah sie lange an, dann nickte wer.

Sie atmete tief aus, die Spannung in ihren Schultern ließ nach. „Bist du Künstler, Gabriel?“

Ein weiteres leises Lachen ging durch den Raum, und sie unterdrückte ein Stirnrunzeln. Was hatte sie jetzt wieder Falsches gesagt?

Die Funaros waren vielleicht nicht so warmherzig, wie sie gehofft hatte, aber es war auch noch früh. Entschlossen hob sie das Kinn. Sie würde sie schon noch dazu bringen, sie zu lieben. Sie widerstand dem Drang, Marguerite einen fragenden Blick zuzuwerfen, sondern hielt Gabriels Blick stand und wartete auf seine Antwort.

„Ich bin Bildhauer.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen. „Ich arbeite mit recycelten Materialien. Stahl, Holz, Draht und so.“

Moment mal …

Ihr Herz begann zu hämmern. „Große Installationen?“

Er nickte.

Sein Vorname war Gabriel …

Sie schluckte. „Du bist nicht zufällig Gabriel Dimarco, oder?“

Si, das bin ich.“

Ihr Kinn fiel herunter. Sie konnte nicht anders.

„Audrey, bitte.“ Marguerites Stimme war halb Seufzer, halb Befehl.

„Aber …“ Sie schloss den Mund und blickte ihre Großmutter an. Dann wandte sie sich wieder zu ihm um. „Deine Arbeit ist großartig.“

Ihre Hände flatterten in der Luft, als suchte sie nach Worten, um zu beschreiben, wie seine Arbeit sie fühlen ließ. Sie konnte diese Gefühle genauso wenig kontrollieren wie die Sonne – oder was die anderen im Raum über sie dachten.

Autor

Michelle Douglas

Das Erfinden von Geschichten war schon immer eine Leidenschaft von Michelle Douglas. Obwohl sie in ihrer Heimat Australien bereits mit acht Jahren das erste Mal die Enttäuschung eines abgelehnten Manuskripts verkraften musste, hörte sie nie auf, daran zu arbeiten, Schriftstellerin zu werden.

Ihr Literaturstudium war der erste Schritt dahin, der...

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