Entfesselte Begierde im Schloss des Earls

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Mit Herzklopfen denkt die schöne Amelia Greystone an jenen Sommer der Zärtlichkeit: Damals flirtete der Earl of St. Just mit ihr, raubte ihr auf den Klippen einen Kuss - um sie dann zu verlassen und eine andere zu heiraten! Nun ist er zurückgekehrt. Doch er ist nicht länger der unbeschwerte Charmeur, sondern frisch verwitwet und düster. Als er sie bittet, ihm als Haushälterin zur Seite zu stehen, beschließt die verarmte Adelige, ihm zu helfen. Eine gefährliche Entscheidung! Denn wie in der entfesselten Brandung vor Cornwall gerät Amelias Herz erneut in den Sog des geheimnisvollen Earls …


  • Erscheinungstag 08.09.2015
  • Bandnummer 21
  • ISBN / Artikelnummer 9783733762933
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

La Prison de la Luxembourg, Paris, März 1794

Jetzt würden sie ihn holen kommen.

Vor Angst schlug ihm das Herz bis zum Hals. Er bekam keine Luft mehr. Langsam drehte er sich um und starrte voller Anspannung den pechschwarzen Gang hinab. Aus der Dunkelheit hörte er leise Schritte näher kommen.

Er versuchte ruhig zu atmen. Er trat an die Vorderseite seiner Zelle und packte die eiskalten Gitterstäbe. Die Schritte kamen immer näher.

Alles in ihm verkrampfte sich. Die Angst überwältigte ihn nahezu. Würde er den nächsten Tag noch erleben?

In der Zelle stank es. Wer auch immer dort vor ihm eingesperrt gewesen war, hatte sich in dem winzigen Raum erleichtern müssen. Der Geruch von Urin, Kot und Erbrochenem war unerträglich. Getrocknetes Blut war auf dem Boden und auf der Pritsche, auf der zu schlafen er sich geweigert hatte. Die Zelleninsassen vor ihm waren mit Sicherheit grausam gefoltert worden. Nicht ohne Grund – schließlich galten sie als Feinde der Revolution.

Selbst die Luft, die von draußen durch das einzige vergitterte Fenster in die Zelle drang, roch übel. Der Place de la Révolution lag nur wenige Meter von den Mauern des Gefängnisses entfernt. Hunderte – vermutlich Tausende – waren dort aufs Schafott geschickt worden. Das Blut der Verurteilten, ob sie schuldig waren oder nicht, verpestete die Luft.

Jetzt konnte er schon Stimmen hören. Voller Furcht rang er nach Luft.

Es war sechsundneunzig Tage her, seit man ihm vor den Schreibstuben des Stadtrates, für den er als Schreiber tätig gewesen war, aufgelauert hatte. Man hatte ihn niedergeschlagen, gefesselt und ihm eine Kapuze über den Kopf gezogen. „Verräter“, hatte ihm eine vertraute Stimme zugezischt, als man ihn auf einen Karren warf. Eine Stunde später wurde ihm die Kapuze vom Kopf gerissen, und er hatte sich in einer Zelle wiedergefunden. Der Wächter hatte ihm erklärt, dass man ihn wegen Verbrechen gegen die Republik angeklagt habe. Jedermann wusste, was das bedeutete …

Er hatte den Mann, der ihn als Verräter tituliert hatte, nicht gesehen, aber er war sich ziemlich sicher, dass es Jean Lafleur gewesen war, ein hoher Funktionär bei den Radikalen.

Gedanken an seine Kinder schossen ihm durch den Kopf. Seine beiden Söhne waren noch so jung. Sie waren unschuldige Knaben. Er war sehr vorsichtig gewesen, aber offenbar nicht vorsichtig genug, als er Frankreich verlassen hatte, um die zwei zu besuchen. Sie lebten in London. William hatte Geburtstag gehabt. Er hatte ihn schrecklich vermisst, genauso wie John. In London war er nur kurze Zeit gewesen, weil er sich aus Sorge vor Entdeckung nicht getraut hatte, länger zu bleiben. Niemand außer seiner Familie hatte Kenntnis davon gehabt, dass er sich in London aufhielt. Aber mit dem Wissen, bald wieder fahren zu müssen, war das Wiedersehen die ganze Zeit über von bitterem Schmerz überschattet gewesen.

Von dem Augenblick an, als er seinen Fuß wieder auf französischen Boden gesetzt hatte, war er das Gefühl nicht losgeworden, beobachtet zu werden. Er hatte niemanden bemerkt, der ihn verfolgt hätte, aber er war sich sicher gewesen, dass er observiert wurde. Wie die meisten Franzosen begann er, in permanenter Angst zu leben. Schon ein Schatten erschreckte ihn. Nachts fuhr er aus dem Bett hoch, weil er glaubte, jemand würde drohend an seine Tür hämmern. Wenn sie um Mitternacht kamen, bedeutete das immer, dass sie einen abholten …

So, wie sie ihn nun abholen würden. Die Schritte wurden lauter.

Mit aller Macht versuchte er, seine Angst zu unterdrücken. Wenn sie seine Angst spürten, würde es aus sein mit ihm. Seine Furcht allein schon wäre für sie Eingeständnis seiner Schuld. So waren die Zeiten mittlerweile in Paris geworden, und auch im übrigen Frankreich sah es nicht viel anders aus.

Er hielt die Gitterstäbe fest umklammert. Seine Zeit war abgelaufen. Entweder würde man ihn auf die Liste Général des Condamnés setzen, womit sein Schicksal besiegelt wäre. Oder er würde das Gefängnis als freier Mann verlassen können – aber zu welchem Preis?

Jetzt all seinen Mut zu sammeln, war der schwerste und schlimmste Moment seines Lebens.

Das Licht einer Fackel kam näher und beleuchtete die feuchten Mauern des Gefängnisses. Dann sah er die Silhouetten der Männer, die in eisigem Schweigen verharrten.

Das Herz hämmerte ihm in der Brust. Er war wie erstarrt.

Ein Wächter trat vor, erwartungsvoll grinsend, als würde er bereits seine Zukunft kennen. Dann sah er den Jakobiner, der hinter dem Wächter stand. Es war Jean Lafleur, einer der fanatischsten Anhänger Robespierres und seines Schreckensregimes, so wie er bereits vermutet hatte.

Groß und dürr, mit blassem Gesicht, trat Lafleur an das Zellengitter heran. „Bonjour, Jourdan. Comment-allez vous, aujourd’hui?“ Er grinste und schien den Moment zu genießen.

„Il va bien“, sagte er ruhig. Alles ist gut. Da er weder seine Unschuld beteuerte noch um Gnade flehte, wich das Lächeln aus Lafleurs Gesicht. „Ist das alles, was Sie zu sagen haben? Sie sind ein Verräter, Jourdan. Gestehen Sie Ihre Verbrechen, und wir werden Ihnen einen zügigen Prozess machen. Ich werde auch dafür sorgen, dass Sie als Erster auf das Schafott steigen dürfen.“ Jetzt grinste Lafleur wieder.

Sollte es wirklich dazu kommen, hoffte er sogar, der Erste unter der Guillotine zu sein. Nichts war grausamer, als Stunde um Stunde in Fesseln zu verbringen und die Hinrichtungen mit ansehen zu müssen, während der Tod selbst auf einen wartete. „Das wäre für Sie aber ein Verlust.“ Er konnte selbst kaum glauben, wie ruhig er klang.

Lafleur blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Wollen Sie gar nicht Ihre Unschuld beteuern?“

„Wird mir das denn helfen?“

„Nein.“

„Dann verzichte ich dankend.“

„Sie sind der dritte Sohn des Vicomte Jourdan. Es besteht keine Aussicht auf Rettung. Sie sind kein Patriot, sondern ein Spion. Ihre Familie ist tot, und schon bald werden Sie sie wiedersehen – in der Hölle!“

„Ich weiß von einem neuen Spionagechef in London.“

Lafleur war überrascht. „Was für ein Trick ist das jetzt wieder?“

„Sie müssten eigentlich wissen, dass meine Familie in Lyon jahrelang Geschäfte betrieben hat und dass wir enge Verbindungen zu den Engländern haben.“

Der Jakobiner beäugte ihn. „Sie sind einen Monat aus Paris fort gewesen. Sind Sie etwa nach London gereist?“

„Das bin ich.“

„Aha, Sie geben es zu.“

„Ich gebe zu, dass ich in geschäftlichen Angelegenheiten nach London gefahren bin. Schauen Sie sich doch mal um, Lafleur. Jedermann in Paris hungert. Das Papiergeld der Revolution ist nichts wert. Dennoch habe ich immer Brot auf meinem Tisch.“

„Schmuggeln ist ein Verbrechen.“ Lafleurs Augen funkelten. Dann entspannte er sich und zuckte mit den Schultern. Gegen den gewaltigen Schwarzhandel in Paris konnte man nichts unternehmen.

„Was bieten Sie mir an?“, fragte Lafleur leise und musterte ihn mit einem düsteren Blick.

„Haben Sie mir etwa nicht zugehört?“

„Wollen Sie mich bestechen, oder möchten Sie mir etwas über den neuen Spionagechef erzählen?“

„Ich habe nicht nur geschäftliche Verbindungen in England, Lafleur“, erklärte er gefasst. „Der Earl of St. Just ist mein Vetter. Hätten Sie meine Familie genauer überprüft, dann wüssten Sie das selbst.“

Er merkte, wie Lafleur fieberhaft nachdachte.

„St. Just geht in den höchsten Londoner Kreisen ein und aus. Und er wäre bestimmt entzückt, dass einer seiner Verwandten die Metzelei hier in Paris überlebt hat. Ich denke, er würde mich mit offenen Armen in seinem Haus willkommen heißen.“

Lafleur starrte ihn an. „Das ist eine Finte“, meinte er schließlich. „Sie würden nicht mehr zurückkommen.“

Er begann zu lächeln. „Ich schätze, das wäre durchaus möglich“, sagte er. „Vielleicht würde ich nie wieder zurückkehren. Was aber, wenn ich doch der aufrechte Patriot bin, der ich behaupte zu sein? Ein solch loyaler Franzose wie Sie? In dem Fall könnte ich mit der Art von Informationen zurückkommen, an die nur sehr wenige Ihrer Agenten gelangen. Sehr wertvollen Informationen, die Frankreich helfen, den Krieg zu gewinnen.“

Lafleurs Gesicht blieb unbewegt.

Er machte sich nicht die Mühe darauf hinzuweisen, dass die Aussicht, in London in die politischen Kreise der Tory-Regierung vorzudringen und möglicherweise mit unbezahlbaren Geheiminformationen in die Republik zurückzukehren, das Risiko wert war, dass er eventuell auf Nimmerwiedersehen aus Frankreich verschwinden könnte.

„Diese Entscheidung kann ich nicht allein treffen“, sagte Lafleur schließlich. „Ich werde Sie dem Comité vorführen lassen. Sollten Sie überzeugend darlegen, dass Sie von Nutzen sein können, wird man Sie verschonen.“

Er rührte sich nicht von der Stelle.

Lafleur ging davon.

Und Simon Grenville brach auf der schmutzigen Pritsche zusammen.

1. KAPITEL

Greystone Manor, Cornwall, 4. April 1794

Grenvilles Frau war tot.

Amelia Greystone starrte ihren Bruder regungslos an, einen Stapel Teller in der Hand.

„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“, fragte Lucas. „Lady Grenville ist letzte Nacht bei der Geburt ihrer Tochter gestorben.“

Seine Frau sollte gestorben sein?

Amelia war wie gelähmt. Jeden Tag hörte man neue Nachrichten über den Krieg und die Gräueltaten in Frankreich, die schrecklich und Furcht erregend waren. Aber damit hatte sie nicht gerechnet.

Wie konnte es möglich sein, dass Lady Grenville tot war? Sie war so schön, so elegant – viel zu jung zum Sterben.

Amelia konnte kaum noch klar denken. Lady Grenville hatte seit ihrer Heirat vor zehn Jahren keinen Fuß mehr nach St. Just Hall gesetzt. Ebenso wenig wie ihr Ehemann. Dann war sie plötzlich im Januar auf dem Familiensitz des Earls mit ihrem Haushalt und zwei Söhnen aufgetaucht, schwanger mit einem weiterem Kind. St. Just selbst war nicht mitgekommen.

Cornwall war ein rauer und abgelegener Landstrich, aber im Januar war es noch schlimmer. Im Winter herrschte eine unwirtliche Kälte durch die andauernden Stürme, die die Küste entlangfegten.

Wer würde in eine solch verlassene Ecke des Landes reisen, um dort im Winter ein Kind zu bekommen?

Lady Grenvilles Eintreffen hatte Anlass zum Rätseln gegeben. Amelia war wie alle anderen in der Gemeinde überrascht gewesen, als sie erfahren hatte, dass die Countess wieder im Ort wohnte. Als sie überraschend zum Tee eingeladen wurde, hatte sie nicht gezögert. Sie war neugierig gewesen, Elizabeth Grenville kennenzulernen. Nicht nur, weil sie Nachbarn waren – sie hatte sich vor allem gefragt, wie die Countess of St. Just wohl als Mensch war.

Sie war genau die vornehme Dame, die sich Amelia vorgestellt hatte – blond und schön, würdevoll und elegant. Sie passte perfekt zu dem dunkelhaarigen, in sich gekehrten Earl. Elizabeth Grenville verkörperte das, was Amelia Greystone nicht war. Aber weil Amelia versucht hatte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, war sie noch nicht einmal auf den Gedanken gekommen, sich selbst mit der Countess zu vergleichen.

Aber jetzt, da sie vor Entsetzen über die Nachricht beinahe zitterte, fragte sie sich auf einmal, was für Motive sie wirklich gehabt hatte, der Einladung zum Tee nachzukommen und die Frau in Augenschein zu nehmen. Die Frau, die Grenville damals geheiratet hatte – anstelle von ihr.

Amelia hielt die Teller mit zitternden Händen dicht an ihre Brust gedrückt. Sie musste achtgeben, die Vergangenheit nicht wieder heraufzubeschwören. Sie weigerte sich zu glauben, dass sie Lady Grenville nur hatte treffen wollen, um herauszufinden, wie sie war.

Schließlich hatte sie Elizabeth Grenville von Anfang an gemocht. Und ihre eigene Affäre mit Grenville war vor über einem Jahrzehnt zu Ende gegangen.

Seitdem hatte sie dieses Kapitel aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Und sie wollte jetzt auch nicht mehr daran erinnert werden.

Aber dennoch – es fühlte sich wieder so an, als ob sie sechzehn wäre – so jung und schön, so naiv und vertrauensselig. Und so verletzbar. Als würde sie in diesem Moment wieder in den starken Armen von Simon Grenville liegen und auf seine Liebesschwüre warten – und auf seinen Heiratsantrag.

Es war zu spät. Berauschende Erinnerungen brachen über sie herein – sie beide auf einer Picknickdecke im Wald, sie beide in dem Irrgarten hinter dem Herrenhaus, sie beide in seiner Kutsche. Er küsste sie stürmisch, und sie erwiderte seine Küsse. Sie beide in einem Strudel gefährlich gedankenloser Leidenschaft …

Verwirrt und aufgewühlt von der Erinnerung an diesen Sommer, der so lange her war, seufzte sie. Nie wieder war Grenville ihr so nahe gewesen wie damals. Nie wieder hatte er ihr den Hof gemacht. Sie hatte so sehr gehofft, dass er um ihre Hand anhalten würde. Aber er hatte sie sitzen lassen. Ihr Schmerz war niederschmetternd gewesen.

Offenbar brachte der beklagenswerte Tod von Lady Grenville jetzt die Erinnerung an eine Zeit in ihrem Leben zurück, in der sie jung und so dumm gewesen war. Seit Jahren hatte sie nicht mehr an diesen Sommer gedacht, selbst dann nicht, als sie in Lady Grenvilles Haus zu Gast gewesen war, mit ihr Tee getrunken und sich mit ihr über den Krieg unterhalten hatte.

Und nun war Grenville Witwer.

Lucas nahm ihr den Stapel Teller ab, den sie immer noch in Händen hielt, und riss sie aus ihrer Grübelei. Sie sah ihn stumm an, beunruhigt über ihre Empfindungen und darüber, was sie bedeuteten.

„Amelia?“ Lucas wirkte besorgt.

Sie durfte nicht mehr an die Vergangenheit denken. Sie wusste nicht, warum diese albernen Gedanken wieder hochgekommen waren. Sie war eine erwachsene Frau von sechsundzwanzig Jahren. Diese Tändelei musste sie ein für allemal vergessen. Niemals wieder an diese Geschichte denken. Sie hatte doch alles schon vor Jahren aus ihrer Erinnerung getilgt – damals, als er Cornwall ohne ein Wort verlassen hatte, nachdem sein Bruder durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen war.

All das hatte sie vergessen wollen.

Und sie hatte es tatsächlich vergessen. Natürlich hatte ihr die Sache Kummer bereitet, sie hatte getrauert, aber sie hatte auch ihr Leben weiterführen müssen. So hatte sie ihre altersschwache, etwas verwirrte Mutter versorgt, war für ihre Schwester, ihre Brüder und das Haus da gewesen. Es war ihr gelungen, Grenville und ihre Liebelei für ein ganzes Jahrzehnt vollkommen aus ihrem Bewusstsein zu verbannen. Sie war genug damit beschäftigt gewesen, sich unter den schwierigen Umständen um ihre Familie zu kümmern. Und auch er hatte sein Leben weitergelebt, hatte geheiratet und Kinder bekommen.

Ihr war keine Zeit geblieben, der Sache lange nachzutrauern – ihre Familie hatte sie gebraucht. Seit sie ein Kind gewesen war und ihr Vater sie verlassen hatte, lag es an ihr, für sie alle zu sorgen. Aber dann kam die Revolution in Frankreich, der Krieg brach aus, und alles hatte sich verändert.

„Beinahe hättest du die Teller fallen gelassen“, sagte Lucas. „Geht es dir nicht gut? Du bist ja weiß wie die Wand.“

Sie fröstelte. Natürlich ging es ihr nicht gut. Aber sie wollte sich nicht von der Vergangenheit, die tot und begraben sein sollte, beirren lassen. „Schrecklich, was für eine Tragödie.“

Lucas strich sein hellblondes Haar zurück, während er sie ansah. Er war gerade zur Tür hereingekommen, offenbar geradewegs aus London. Er war groß und wirkte in seinem samtgrünen Mantel, den beigefarbenen Reithosen und den Stiefeln recht schneidig. „Sag schon, Amelia. Was hat dich so mitgenommen?“

Sie brachte ein kleines Lächeln zustande. Was sie mitgenommen hatte? Nicht etwa Simon Grenville. Sondern der Tod einer jungen Mutter, die drei kleine Kinder hinterließ. „Sie ist bei der Geburt ihres dritten Kindes gestorben, Lucas. Und da sind noch zwei kleine Jungen. Ich habe Lady Grenville im Februar kennengelernt … Sie war so schön, so würdevoll und so elegant, genau wie es alle gesagt haben.“ Vom ersten Moment an, als sie den Salon betreten hatte, war ihr klar gewesen, warum Grenville sie zur Frau genommen hatte. So düster und machtvoll, wie er war, so heiter und fröhlich war sie. Sie gaben das perfekte aristokratische Ehepaar ab. „Ich war sehr von ihrer Freundlichkeit und ihrer Gastlichkeit beeindruckt. Und wie klug sie war. Wir haben uns so gut unterhalten. Es ist so traurig.“

„Ja, mir tun diese Kinder und der Earl auch leid.“

Langsam gewann Amelia ihre Fassung zurück. Und während Grenville noch als dunkle Erinnerung durch ihren Kopf spukte, übernahm nun die Vernunft wieder die Oberhand. Lady Grenville war gestorben, drei Kinder waren zurückgeblieben. Jetzt musste sie ihrem Nachbarn ihr Beileid aussprechen. Und vermutlich brauchte man auch ihre Hilfe.

„Die armen Kinder. Und das arme Baby. Das geht mir ans Herz.“

„Sie werden eine schwere Zeit durchmachen“, meinte Lucas. Er sah sie nachdenklich an. „Man kann sich einfach nicht daran gewöhnen, dass Leute jung sterben.“

Sie wusste, dass er über den Krieg nachdachte, sie wusste, was er alles im Krieg durchgemacht hatte. Aber sie blieb in Gedanken bei den bedauernswerten Kindern. Was besser war, als über Grenville nachzugrübeln. Sie nahm Lucas die Teller wieder aus der Hand und begann, gewissenhaft den Tisch zu decken. Die Kinder taten ihr so leid. Grenville würde sicherlich auch in tiefer Trauer sein, aber sie wollte weder an ihn noch an seine Gefühle denken, selbst wenn er ihr Nachbar war.

Sie stellte den letzten Teller auf den alten Esstisch und starrte auf das polierte Holz. So viel Zeit war verstrichen. Früher einmal war sie in Grenville verliebt gewesen, aber jetzt war sie es natürlich nicht mehr. Und daher konnte sie jetzt das tun, was richtig war.

In den vergangenen zehn Jahren hatte sie Simon Grenville kein einziges Mal gesehen. Vermutlich würde sie ihn gar nicht mehr wiedererkennen. Bestimmt hatte er zugenommen. Sein Haar war sicher schon ergraut. Er würde nicht mehr der schmucke junge Schwerenöter sein, der ihren Herzschlag mit einem einzigen Blick hatte beschleunigen können.

Und auch er würde sie kaum noch erkennen. Sie war immer noch schlank – vielleicht sogar etwas zu dünn – und anmutig, aber ihr Aussehen hatte sich eben auch verändert. Und selbst wenn einige Gentlemen ihr gelegentlich anerkennende Blicke zuwarfen, war sie wohl kaum noch so hübsch wie früher.

Ein wenig fühlte sie sich aber auch erleichtert. Sie würde sich nicht mehr so von ihm angezogen fühlen. Und sie würde auch nicht mehr so von ihm eingeschüchtert sein, wie sie es einst gewesen war. Immerhin war sie jetzt älter und weiser. Auch wenn sie verarmt war, hatte sie das, was ihr an finanziellen Mitteln fehlte, durch ihren Charakter wettgemacht. Das Leben hatte sie stark und entschlossen werden lassen.

Und da sie Lady Grenville persönlich gekannt hatte, musste sie ihr Beileid aussprechen. So wie sie es bei jedem Nachbarn tun würde, der einen solchen Trauerfall zu beklagen hätte.

Sie fühlte sich allmählich erleichtert. Es war einfach zu töricht, sich über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen.

„Die Familie hat es bestimmt sehr getroffen“, bemerkte Lucas leise. „Sie war ja auch noch so jung. St. Just ist sicher am Boden zerstört.“

Amelia sah langsam auf. Lucas hatte recht. Grenville musste seine Frau sehr geliebt haben. Sie räusperte sich. „Du hast mich damit völlig überrascht, Lucas. Ich hatte überhaupt nicht mit dir gerechnet. Und schon gar nicht damit, dass du zur Tür hereinkommst mit solch erschütternden Nachrichten.“

Er legte den Arm um sie. „Das tut mir leid. Ich habe davon gehört, als ich in Penzance die Kutsche gewechselt habe.“

„Ich mache mir große Sorgen um die Kinder. Wir müssen der Familie helfen, so gut wir können.“ Das war ihre aufrichtige Absicht. Niemals würde sie jemanden in Not im Stich lassen.

Er lächelte. „Das ist die Schwester, die ich kenne und liebe. Natürlich machst du dir Sorgen. Aber Grenville wird schon das Nötige veranlassen, wenn er erst einmal wieder zur Besinnung findet.“

Sie dachte nach. Grenville war vor Trauer gewiss gerade wie gelähmt. „Ja, so wird es sein.“ Sie begutachtete den liebevoll gedeckten Tisch. Es war gar nicht so einfach, die Tafel zu decken, wenn die Umstände finanziell etwas eng waren. Es gab noch keine Blumen zu dieser Jahreszeit, weshalb die Tischmitte nicht von einem Strauß, sondern von einem schweren Silberleuchter beherrscht wurde, der noch aus besseren Zeiten stammte. Eine antike Anrichte war in dem Zimmer das einzige weitere Möbelstück, auf der ihr bestes Porzellan ausgestellt war. Das gesamte Haus war nur spärlich möbliert. „Das Mittagessen ist in ein paar Minuten fertig. Würdest du hinaufgehen und Momma holen?“

„Natürlich. Ich kümmere mich darum.“

„Ich bin so froh, dass du da bist. Wir essen zusammen wie eine ganz normale Familie.“

Er lächelte ein wenig bitter. „Es gibt nicht mehr viel normale Familien, Amelia. Nicht in diesen Zeiten.“

Lucas war vorhin zur Tür hereinspaziert, nachdem sie ihn über einen Monat nicht mehr gesehen hatte. Er hatte Schatten unter den Augen und trug unterhalb des Wangenknochens eine kleine Narbe, die er vorher noch nicht gehabt hatte. Sie war zu besorgt, um zu fragen, woher sie stammte. Er sah immer noch umwerfend gut aus, aber die Revolution in Frankreich und der Krieg hatten ihn verändert.

Vor dem Sturz des französischen Königs hatten sie alle ein ruhiges Leben geführt. Lucas war damit beschäftigt gewesen, das Anwesen zu verwalten, und sein größtes Problem war es gewesen, die Erträge aus ihrer Mine und dem Steinbruch zu steigern. Jack, Amelias ein Jahr jüngerer Bruder, war einer von vielen Schmugglern in Cornwall gewesen, die Spaß daran hatten, die Steuereintreiber auszutricksen. Und ihre jüngere Schwester Julianne hatte jeden freien Moment in der Bibliothek gehockt, hatte alles gelesen, was ihr in die Finger gekommen war, und hatte mit den Jakobinern sympathisiert. Greystone Manor war für sie alle ein glückliches und zufriedenes Zuhause gewesen. Auch wenn das Anwesen finanziell von der Zinnmine und dem Steinbruch abhängig gewesen war – sie waren relativ gut zurechtgekommen.

John Greystone, ihr Vater, hatte die Familie verlassen, als Amelia erst sieben Jahre alt gewesen war. Kurz darauf hatte ihre Mutter begonnen, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Amelia war in die Bresche gesprungen, hatte den Haushalt geführt, die Einkäufe erledigt, das Essen vorbereitet und den verbliebenen Angestellten Anweisungen erteilt. Vor allem hatte sie sich um Julianne gekümmert, die damals noch ein Kleinkind gewesen war. Ihr Onkel, Sebastian Warlock, hatte einen Mann geschickt, der das Anwesen für sie verwalten sollte, aber Lucas hatte diese Aufgabe übernommen, noch bevor er fünfzehn geworden war. Ihr Haushalt war durchaus kein gewöhnlicher, aber sie kümmerten sich fürsorglich und liebevoll umeinander, und auch wenn das Geld knapp war, wurde viel und oft gelacht.

Das Haus war nun recht leer. Julianne hatte sich in den Earl of Bedford verliebt, den ihre Brüder aufgenommen hatten, als er kurz vor dem Tode stand. Damals hatte Julianne nicht gewusst, wer er tatsächlich war, zu der Zeit gab er vor, ein französischer Offizier zu sein. Für die beiden war es anfangs mühselig gewesen, denn in Wirklichkeit war er ein Agent von Premierminister Pitt und sie eine Sympathisantin der Jakobiner gewesen, für die Pitt nichts übrig gehabt hatte. Es war immer noch nicht zu glauben, aber Julianne war mit Bedford durchgebrannt und hatte vor Kurzem in London eine Tochter zur Welt gebracht, wo sie nun beide lebten. Amelia schüttelte amüsiert den Kopf. Ihre radikal eingestellte Schwester war nun die Countess of Bedford – und völlig vernarrt in ihren Ehemann, der den Tories angehörte.

Das Leben ihrer beiden Brüder hatte der Krieg ebenfalls umgekrempelt. Lucas kam nur noch selten nach Greystone Manor. Da Amelia und er nur zwei Jahre auseinander waren und sie beide die Rolle ihrer Eltern übernehmen mussten, standen sie sich sehr nahe. Amelia war seine Vertraute, auch wenn er ihr nicht von jeder seiner Angelegenheiten im Einzelnen erzählte. Lucas hatte jedenfalls nicht still herumsitzen können, während die Revolution über Frankreich hinwegfegte. Vor einiger Zeit hatte Lucas dem Kriegsministerium diskret seine Dienste angeboten. Schon bevor in Frankreich das Terrorregime tobte, hatte es eine Flut von Emigranten gegeben, die aus Furcht um ihr Leben den Revolutionären entkommen wollten. Lucas hatte die letzten zwei Jahre damit zugebracht, Flüchtlinge aus Frankreich herauszuschmuggeln.

Es war ein gefährliches Unternehmen. Sollten die französischen Behörden Lucas dabei erwischen, würde er umgehend verhaftet werden und unter die Guillotine kommen. Amelia war zwar stolz auf ihren Bruder, aber auch sehr besorgt um ihn. Schließlich war er das Oberhaupt der Familie. Um Jack machte sie sich jedoch noch mehr Sorgen. Jack kannte keine Angst. Er war ein Draufgänger. Er tat immer so, als ob der Tod ihm nichts anhaben könnte. Vor dem Krieg war er einfach nur ein Schmuggler gewesen, einer von vielen in Cornwall, die sich mit illegalen Geschäften ihr Brot verdienten. Damit war er in die Fußstapfen seiner Vorfahren getreten. Jetzt verdiente Jack sich eine goldene Nase, indem er heimlich Waren zwischen den beiden verfeindeten Ländern hin und her transportierte – ein gefährliches Spiel. Jack trickste die Königliche Marine schon seit Jahren aus. Würde man ihn erwischen, hätte er früher mit einer Gefängnisstrafe rechnen müssen. Doch nun würden ihn die englischen Gerichte als Verräter betrachten, weil er das Embargo, das über Frankreich verhängt worden war, umging. Und auf Landesverrat stand der Galgen.

Außerdem half Jack ab und zu, mit Lucas Flüchtlinge aus Frankreich über den Kanal in Sicherheit zu bringen.

Amelia war dankbar, dass sich zumindest Julianne friedlich niedergelassen hatte und mit ihrem Mann und ihrer Tochter beschäftigt war. Sie erwiderte Lucas’ fragenden Blick. „Ich mache mir Sorgen um dich. Und um Jack. Aber wenigstens brauche ich mir um Julianne keine Gedanken zu machen.“

Er grinste. „In dem Punkt stimme ich dir zu. Sie ist gut versorgt und in Sicherheit.“

„Wenn doch der Krieg nur zu Ende wäre. Wenn es doch nur mal gute Nachrichten geben würde.“ Amelia schüttelte den Kopf, als sie wieder daran denken musste, dass Lady Grenville gestorben war und drei unschuldige Halbwaisen zurückgelassen hatte. „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, in Frieden zu leben.“

„Wir können von Glück reden, dass wir nicht in Frankreich sind.“ Er machte ein betrübtes Gesicht.

„Bitte, ich will nicht noch mehr schreckliche Geschichten hören. Die Gerüchte allein sind schlimm genug.“

„Ich hatte nicht die Absicht, dich damit zu belasten. Du musst gar nicht im Einzelnen erfahren, wie all die unschuldigen Menschen in Frankreich leiden müssen. Mit Glück werden unsere Truppen die Franzosen im Frühjahr besiegen. Wir stehen schon bereit, um in Flandern einzumarschieren, Amelia. Wir haben von Ypern bis hin zur Maas bereits Stellung bezogen. Und ich glaube, dieser Österreicher Coburg ist ein fähiger General.“ Er schwieg einen Moment lang. „Wenn wir gewinnen, ist das das Ende der Republik. Und das bedeutet Frieden für uns alle.“

„Ich bete, dass wir gewinnen“, sagte sie.

Lucas nahm ihren Arm. Er sprach mit leiser Stimme, als ob er nicht wollte, dass man ihn belauschte, auch wenn bis auf Garrett, den Diener, niemand sonst anwesend war. „Ich bin nach Hause gekommen, weil ich beunruhigt war. Du hast doch gehört, was mit Squire Penwaithe passiert ist?“

Sie sah ihn angespannt an. „Natürlich habe ich das. Hat doch jeder. Drei französische Seeleute – offenbar Deserteure – sind vor seinem Haus aufgetaucht und haben um Essen gebettelt. Der Squire hat sie zum Essen eingeladen. Und danach haben sie ihm und seiner Familie eine Pistole vor die Nase gehalten und sein Haus ausgeplündert.“

„Zum Glück hat man sie am nächsten Tag festgenommen, und niemand wurde verletzt.“ Lucas blickte grimmig.

Amelia war sich im Klaren, was in Lucas vorging. Sie lebte hier in völliger Abgeschiedenheit mit ihrer Mutter und nur einem Bediensteten. Garrett war zwar früher einmal Sergeant in der britischen Armee gewesen und daher vertraut im Umgang mit Waffen. Aber Greystone Manor lag am äußersten südwestlichen Zipfel von Cornwall. Diese Abgeschiedenheit war einer der Gründe, warum die Gegend über die Jahrhunderte zu einer Hochburg von Schmugglern geworden war. Von Sennen Cove, das direkt unterhalb des Anwesens lag, war es nur eine kurze Entfernung über den Kanal nach Brest in Frankreich.

Diese Deserteure hätten genauso gut auch vor ihrer Tür stehen können.

Sie bekam Kopfschmerzen und rieb sich die Schläfen, müde von all den Sorgen. Wenigstens war der Waffenschrank gut bestückt – und als Frau aus Cornwall wusste sie sehr gut, wie man mit Pistolen und Musketen umging.

„Ich denke, es ist am besten, wenn du und Momma das Frühjahr über in London seid“, sagte Lucas kurzum. „Es gibt genug Platz in Onkel Sebastians Wohnung am Cavendish Square. Und du könntest dann Julianne regelmäßig sehen.“ Er lächelte, aber seine Augen blieben ernst.

Sie hatte gerade einen Monat bei ihrer Schwester in London verbracht, nach der Geburt ihrer Nichte. Es war sehr familiär gewesen, und sie hatte dort eine wundervolle, friedliche Zeit erlebt. Amelia begann darüber nachzudenken, ob sie noch einmal für eine Weile fortwollte. Vielleicht hatte Lucas ja recht. „Keine schlechte Idee. Aber was ist mit dem Haus? Können wir denn hier alles so zurücklassen? Und was ist mit Richards? Du weißt, er zahlt mir die Pacht.“

„Ich könnte es so einrichten, dass sich jemand um die Pacht kümmert. Ich hätte das Gefühl, meine Pflichten zu vernachlässigen, wenn ich dich und Momma nicht in Sicherheit bringen würde.“

Er hat recht, dachte Amelia. „Ich brauche Zeit, um alles vorzubereiten.“

„Versucht, euren Hausstand so schnell wie möglich zu packen“, erwiderte er. „Ich muss gleich nach der Beerdigung wieder nach London zurück. Wenn du so weit bist, komme ich entweder selbst zurück oder schicke Jack oder einen Kutscher.“

Amelia nickte, aber alles, woran sie denken konnte, war das bevorstehende Begräbnis. „Lucas, weißt du schon, wann die Beerdigung stattfindet?“

„Ich hörte, dass sie am Sonntag einen Trauergottesdienst in der Kapelle von St. Just abhalten, aber bestattet werden soll sie in der Familiengruft in London.“

Sie schluckte. Heute war ja schon Freitag! Und dann war da noch Grenville, mit seinen dunklen Augen und seinem dunklen Haar, der ihr schon wieder durch den Kopf geisterte. Ihr Mund wurde trocken. „Ich muss hingehen. Und du auch.“

„Das werden wir machen.“

Aufgewühlt sah sie ihn an. In ihr gab es nur noch einen Gedanken. Am Sonntag würde sie Simon wiedersehen – zum ersten Mal seit zehn Jahren.

Amelia saß zusammen mit Lucas und ihrer Mutter in der Kutsche. Sie ballte ihre behandschuhten Hände zusammen, weil sie die Anspannung kaum ertragen konnte. Sogar das Atmen fiel ihr schwer.

Es war zwölf Uhr Mittag am Sonntag. In einer halben Stunde würde der Gottesdienst für Elizabeth Grenville beginnen.

Das Herrenhaus von St. Just kam in Sicht.

Es war ein großes Gebäude, das so gar nicht nach Cornwall zu passen schien. Das aus hellem Stein errichtete Haus war drei Stockwerke hoch. Vier gewaltige Säulen aus Alabaster säumten den Eingang. Ein Seitenflügel mit zwei Stockwerken und einem schiefergedeckten Dach schloss sich an der landwärts gelegenen Seite des Hauses an. Auf der anderen Seite befand sich die Kapelle mit einem eigenen Vorplatz. Auch hier säumten Säulen die Fassade, und kleine Ecktürme zierten den Eingang zur Kapelle.

Große dunkle Bäume umgaben das Haus. Sie waren jetzt im Winter so kahl wie der Garten, aber im Mai würde das Grün zu sprießen beginnen. Im Sommer würde dann alles in prächtigen Farben blühen, die Bäume wären üppig und grün, und in dem Heckenlabyrinth hinter dem Haus würde man sich verlaufen.

Amelia kannte das alles allzu gut.

Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie sie sich dort immer versteckt hatte. Wie sie atemlos und schwindlig vor Vergnügen gewesen war. Und wie Simon um die Ecke gekommen war und sie in seine Arme genommen hatte …

Sie schüttelte den Gedanken ab. Die Kutsche fuhr den Kiesweg hinauf, hinter ihnen folgten zwei Dutzend weitere Wagen. Die gesamte Gemeinde erschien zu Lady Grenvilles Bestattung. Bauern und Adlige würden in der Kapelle Seite an Seite sitzen.

Und in wenigen Minuten würde sie Grenville wiedersehen.

„Ein Ball?“, fragte ihre Mutter, die zwischen ihr und Lucas saß, aufgeregt. „Wir gehen auf einen Ball, Liebling?“

Lucas tätschelte ihre Hand. „Momma, ich bin Lucas. Und nein, es ist kein Ball. Wir gehen zur Beerdigung von Lady Grenville.“

Ihre Mutter war eine zierliche grauhaarige Frau, sogar noch zierlicher als Amelia. Sie sah Lucas ausdruckslos an. Amelia hatte sich an diesen Zustand gewöhnt. Ihre Mutter war nur noch selten bei klarem Verstand. Wie so häufig hielt sie sich für die junge Debütantin, die sie einmal gewesen war, und verwechselte Lucas mit ihrem Mann oder einem ihrer früheren Verehrer.

Amelia blickte aus dem Fenster. Sie hatte in den letzten beiden Tage ihr Bestes gegeben, um sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie hatte eine lange Liste gemacht, was alles zu erledigen war, bevor sie das Haus verlassen und mit Momma in die Stadt ziehen könnte. Sie hatte Julianne bereits geschrieben und sie über die Ereignisse in Kenntnis gesetzt. Dann hatte sie damit begonnen, Wäsche zusammenzusuchen, Vorräte einzulagern, Wintergarderobe wegzupacken und alles zu organisieren, was sie für den Aufenthalt in der Stadt brauchten. Sich damit zu beschäftigen, war eine gute Ablenkung gewesen. Ab und zu hatte sie zwar noch an Grenville gedacht, aber es war ihr gelungen, alle Gedanken an ihn so gut wie möglich zu verdrängen. Tief in ihrer Erinnerung jedoch war sein markantes, attraktives Gesicht unauslöschbar.

Sie konnte nicht leugnen, dass sie aufgeregt war. Vor Beklemmung konnte sie kaum atmen. Was ziemlich absurd war, denn was sollte schon sein, wenn sie sich beide nach all den Jahren wieder gegenüberstehen würden? Höchstwahrscheinlich würde er sie gar nicht mehr erkennen, aber selbst wenn, würde er sich ganz bestimmt nicht mehr an ihre Liebelei erinnern wollen. Dessen war sie sich sicher.

Aber ihre Erinnerungen an diese längst vergangene Liebe stürmten immer wieder auf sie ein, als sie nun auf das Herrenhaus zufuhren. Der Drang, in diesen Erinnerungen zu schwelgen, hatte begonnen, seit sie am Morgen erwacht war.

Amelia wusste, sie musste einen kühlen Kopf behalten. Aber sie hatte sich auch schon daran erinnert, wie sehr sie am Boden zerstört gewesen war, als sie erfahren musste, dass er Cornwall verlassen hatte. Ohne jede Verabschiedung. Nicht einmal eine Nachricht hatte er ihr hinterlassen. Sie erinnerte sich nur allzu gut an die Wochen des Kummers und des Leidens, an die Nächte, in denen sie sich in den Schlaf geweint hatte.

Jetzt musste sie unbedingt ihre Würde bewahren. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie lediglich Nachbarn waren, weiter nichts. Sie schlang die Arme um sich.

„Geht es dir gut?“ Lucas klang besorgt.

Sie bemühte sich erst gar nicht um ein Lächeln. „Es ist gut, dass wir hierher fahren. Vielleicht habe ich ja Gelegenheit, vor dem Gottesdienst die Kinder zu sehen. Sie sind gerade meine größte Sorge.“

„Aber Kinder gehen doch gar nicht auf einen Ball“, warf Momma ein.

Amelia lächelte. „Natürlich tun sie das nicht.“ Sie sah Lucas seufzend an.

„Du siehst angespannt aus“, stellte er fest.

„Ich hatte so viel für unseren Umzug vorzubereiten“, log sie. „Ich sitze wie auf glühenden Kohlen.“ Sie strahlte ihre Mutter an. „Ist es nicht schön, dass wir wieder in der Stadt leben werden?“

Momma machte große Augen. „In der Stadt?“ Sie war entzückt.

Amelia nahm ihre Hand und drückte sie. „Ja, sobald wir hier fertig sind.“

Lucas blickte skeptisch drein. „Es ist schon in Ordnung, dass du über die Vergangenheit grübelst.“

Ertappt fuhr sie zusammen und ließ Mommas Hand los. „Bitte?“

„Auch wenn es lange her ist – ich habe nicht vergessen, wie er dir mitgespielt hat.“ Er kniff die Augen zusammen. „Er hat dir das Herz gebrochen, Amelia.“

„Ich war erst sechzehn“, stieß sie hervor. Lucas konnte sich tatsächlich noch an alles erinnern? „Das ist zehn Jahre her.“

„Und er ist in der ganzen Zeit nie zurückgekommen. Nicht ein einziges Mal. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass du jetzt ein wenig aufgeregt bist. Oder?“

Sie errötete. Lucas kannte sie nur allzu gut, aber auch wenn sie vor ihm keine Geheimnisse hatte, ahnte er wohl kaum, wie ängstlich sie sich gerade fühlte. „Lucas, die Vergangenheit habe ich lange hinter mir gelassen.“

„Gut.“ Er klang ernst. „Ich freue mich, das zu hören.“ Dann fügte er hinzu: „Ich habe dir das nie erzählt, aber ab und zu treffe ich ihn in der Stadt an. Wir gehen freundlich miteinander um. Es hat ja keinen Zweck, immer noch Groll zu hegen. Nicht nach so langer Zeit.“

„Du hast recht. Warum sollte man noch Groll hegen?“ Sie hatte bis heute nicht gewusst, dass Lucas und Grenville einander hin und wieder mal begegneten. Aber da Lucas sich häufig in London aufhielt, lag es auf der Hand, dass sich ihre Wege irgendwann hatten kreuzen müssen. Am liebsten hätte sie gefragt, wie es Simon gehe und ob er sich verändert habe. Aber besser, sie zeigte kein Interesse.

Er musterte sie nachdenklich. „Nun, es scheint, als hätte ihn irgendetwas aufgehalten. Soweit ich weiß, wird er immer noch auf St. Just erwartet.“

Amelia konnte es nicht glauben. „Wie ist das möglich? Wo immer er auch war, als Lady Grenville gestorben ist – das war vor drei Tagen. Da hätte er doch inzwischen hier sein müssen.“

Lucas starrte ins Leere, als die Kutsche nicht weit vom Hof der Kapelle zum Stillstand kam. „Die Straßen sind um diese Jahreszeit sehr schlecht. Aber ich stimme dir zu, eigentlich hätte er schon hier sein sollen.“

Sie sah ihn fragend an. „Man wird doch die Trauerfeier nicht ohne St. Just abhalten?“

„Die ganze Gemeinde hat sich bereits eingefunden.“

Amelia blickte durch das Fenster der Kutsche. Das Anwesen war zugeparkt mit Kutschen und Wagen jeglicher Art. Die Begräbnisfeier hatte doch sicher Grenville angesetzt. Und nur er konnte sie verschieben. Aber wenn er nicht anwesend war, wie sollte er das tun?

„Lieber Himmel“, flüsterte sie beunruhigt. „Er wird am Ende noch das Begräbnis seiner eigenen Frau versäumen.“

„Dann lass uns mal hoffen, dass er noch rechtzeitig erscheint.“ Lucas stieg aus und machte sich daran, seiner Mutter zu helfen. Dann reichte er Amelia die Hand. Immer noch fassungslos, kletterte Amelia aus der Kutsche. Vielleicht würden sie sich heute doch nicht wiedersehen. Wäre das eine Erleichterung? Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie sich beinahe enttäuscht gefühlt.

Eine in Schwarz gekleidete Menge strömte in den Hof der Kapelle. Amelia blieb stehen, um sich umzuschauen. Es war ein grauer, trostloser und windiger Tag. Sie fröstelte, obwohl sie einen Wollmantel trug. Es war zehn Jahre her, seit sie das letzte Mal auf dem Gut gewesen war, aber alles war unverändert. Das Herrenhaus sah immer noch so eindrucksvoll aus wie eh und je.

Als sie die Auffahrt verließen, um den anderen zur Kapelle zu folgen, versank sie mit ihren flachen Schuhen im matschigen Boden. Der Rasen war feucht und morastig. Lucas führte Amelia und ihre Mutter zu dem gepflasterten Pfad, über den man zum Vorhof der Kapelle gelangte.

War der Rest der Familie schon hineingegangen? fragte Amelia sich.

Sie warf einen Blick zurück auf den prunkvollen Eingang des Herrenhauses und stockte. Ein dünner Mann und eine beleibte grauhaarige Frau kamen soeben mit zwei kleinen Knaben die Treppe herunter.

Das müssen die Söhne von Grenville sein, ging ihr durch den Sinn. Sie rührte sich nicht von der Stelle. Die beiden Jungen hatten dunkles Haar und trugen Schwarz – dunkle Mäntel und Hosen, dazu weiße Strümpfe. Der eine Junge war um die acht Jahre, der andere schätzungsweise vier oder fünf Jahre alt. Der Jüngere hielt die Hand seines Bruders fest. Jetzt bemerkte Amelia, dass die Kinderfrau den Säugling in den Armen trug, eingemummelt in eine dicke weiße Decke.

Sie hatte die Jungen nur kurz getroffen, als sie bei deren Mutter zum Tee eingeladen gewesen war. Als die vier näher kamen, konnte sie sehen, wie sehr die beiden ihrem Vater ähnelten – aus beiden würden stattliche Männer werden.

Sie war gerührt und bewegt. Der Kleinere der beiden schluchzte, während sein älterer Bruder offenbar versuchte, sich zusammenzunehmen. Beiden Kindern stand die Trauer ins Gesicht geschrieben.

Amelia zerriss es beinahe das Herz. „Geh schon mal mit Momma vor. Ich komme gleich nach.“ Sie wartete Lucas’ Antwort nicht ab und ging entschlossen auf die vier zu.

Als sie auf die beiden Erwachsenen und die Kinder zuschritt, schenkte sie dem schlanken Mann ein Lächeln. „Ich bin Miss Amelia Greystone, Lady Grenvilles Nachbarin. Was für eine Tragödie!“

Der Mann hatte Tränen in den Augen. Auch wenn er sehr gut gekleidet war, war deutlich, dass er irgendeine Art von Bediensteter war und obendrein aus dem Ausland stammte. „Ich bin Signor Antonio Barelli, Miss Greystone. Der Hauslehrer der beiden Knaben. Und dies ist Mrs Murdock, die Gouvernante. Und das hier sind Lord William und Master John.“

Amelia schüttelte dem Lehrer und Mrs Murdock, die ebenfalls den Tränen nahe war, die Hand. Sie konnte es ihnen nicht verdenken – Lady Grenville war bestimmt sehr beliebt gewesen. Dann lächelte sie William, den Älteren der beiden, an. Ihr wurde bewusst, dass Grenville ihn nach seinem verstorbenen Bruder benannt hatte. „Es tut mir sehr leid, dass du deine Mutter verloren hast, William. Ich hatte sie erst kürzlich kennengelernt, aber ich mochte sie sehr. Sie war eine wunderbare Frau.“

William nickte beherrscht, aber seine Mundwinkel waren heruntergezogen. „Wir haben Sie gesehen, als Sie zu Besuch waren, Miss Greystone. Wir beobachten manchmal die Besucher heimlich.“

„Das macht euch bestimmt Spaß.“ Amelia lächelte.

„Ja, sehr. Das ist mein Bruder John“, sagte William, ohne ihr Lächeln zu erwidern.

Sie hockte sich vor John und lächelte ihn an. „Wie alt bist du denn, John?“

John blickte sie mit tränenüberströmtem Gesicht an, aber riss seine Augen weit auf. „Vier“, sagte er dann.

„Vier!“, rief sie. „Also, ich hätte dich mindestens schon für acht gehalten“.

„Ich bin acht“, erklärte William ernst. Dann sah er sie nachdenklich an. „Für wie alt haben Sie mich denn gehalten?“

„Zehn oder elf.“ Amelia lächelte. „Ich sehe, dass du dich gut um deinen Bruder kümmerst. So wie man das macht. Deine Mutter wäre so stolz auf dich.“

Er nickte ernst und sah zu Mrs Murdock herüber. „Wir haben jetzt eine Schwester. Sie hat aber noch keinen Namen.“

Amelia lächelte ihn an. „Das ist nichts Ungewöhnliches.“ Sie streichelte über seinen Kopf. Sein Haar war seidigweich – wie das seines Vaters. Schnell zog sie ihre Hand zurück. „Ich bin gekommen, um euch beizustehen. In jeder Hinsicht. Ich wohne nicht einmal eine Stunde mit der Kutsche entfernt.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen.“ William klang fast schon wie ein Erwachsener.

Amelia schenkte ihm noch ein Lächeln, tätschelte John die Schulter und wandte sich an die Gouvernante. Die ältliche Frau, die stämmig und grauhaarig war, hatte zu schluchzen begonnen. Tränen rannen ihr über die geröteten Wangen. Amelia hoffte inständig, dass sie sich zusammenreißen würde – schließlich brauchten die Kinder sie jetzt. „Und wie geht es dem Baby?“

Mrs Murdock holte Luft. „Es weint die ganze Zeit … ununterbrochen. Ich kann sie nicht richtig stillen, Miss Greystone. Zum Glück ist die Kleine gerade eingeschlafen. Ich weiß mir keinen Rat mehr“, heulte sie, eindeutig vollkommen überfordert.

Amelia trat einen Schritt näher, um das schlafende Kind zu betrachten. Mrs Murdock schlug eine Ecke der Decke auf. Amelia konnte ein hellhaariges Kind sehen, das ganz eindeutig nach seiner blonden Mutter geraten war. „Sie ist wunderschön.“

„Sieht sie nicht genauso aus wie Lady Grenville? Möge sie in Frieden ruhen. Du meine Güte … ich bin doch erst vor Kurzem eingestellt worden, Miss Greystone. Ich kenne mich hier überhaupt noch nicht aus. Und wir sind alle ratlos, weil wir auch keine richtige Hauswirtschafterin haben.“

Amelia horchte auf. „Wieso?“

„Mrs Delaney war viele Jahre lang für Lady Grenville tätig, aber sie war schwer erkrankt und ist auch vor kurzer Zeit gestorben. Das war kurz vor Weihnachten, nachdem ich eingestellt worden war. Lady Grenville hatte seitdem den Haushalt selbst besorgt, Miss Greystone. Sie wollte eine neue Hauswirtschafterin einstellen, aber niemand hat bei ihr Anklang gefunden. Und jetzt kümmert sich keiner mehr um das Haus!“

Amelia wurde klar, dass die Zustände im Haus vermutlich wirklich chaotisch waren. „Ich bin sicher, Seine Lordschaft wird rasch eine neue Hauswirtschafterin einstellen.“

„Aber er ist ja nicht einmal hier.“ Mrs Murdock weinte lauthals.

„Er ist so gut wie nie zu Hause“, sagte Signor Barelli mit Missbilligung in seiner zitternden Stimme. „Das letzte Mal haben wir ihn im November gesehen. Aber auch nur kurz. Wird er heute kommen? Warum ist er denn noch nicht hier?“

Amelia war bestürzt. Sie wiederholte das, was Lucas vorhin gesagt hatte. „Er muss jeden Moment eintreffen. Die Wege sind um diese Jahreszeit einfach schrecklich. Kommt er denn aus London?“

„Wir haben keine Ahnung, wo er sich aufhält. Angeblich ist er im Norden, auf einem seiner Anwesen dort.“

Amelia wunderte sich über die Wortwahl des Manns. Angeblich. Was meinte der Lehrer damit?

„Vater ist zu meinem Geburtstag gekommen“, meinte William ernst, aber mit einigem Stolz. „Auch wenn er mit dem Anwesen sehr beschäftigt ist.“

Amelia war sich sicher, dass der Junge nur die Worte seines Vaters nachplapperte. Sie konnte immer noch nicht fassen, in was für einem Durcheinander sich alles befand. Niemand führte den Haushalt, St. Just war quasi nie anwesend, und niemand konnte sagen, wo er sich gerade aufhielt. Was hatte das zu bedeuten?

John fing wieder an zu weinen. William nahm seine Hand. „Papa kommt bald nach Hause“, sagte er mit Nachdruck, um den Kleineren zu trösten. Aber auch er kämpfte mit den Tränen.

Amelia schaute ihn an und wusste, er würde genauso wie sein Vater werden. Er trug hier nun eindeutig die Verantwortung. Bevor sie ihm versichern konnte, dass St. Just ganz bestimmt jeden Moment eintreffen und sich um alles kümmern würde, hörte sie das Rumpeln einer nahenden Kutsche.

Sie hatte keinen Zweifel, um wen es sich handelte, als William auch schon aufschrie. Langsam drehte sie sich um.

Eine große schwarze Kutsche donnerte die Auffahrt hinauf. Sechs prächtige schwarze Pferde waren vorgespannt. Der Kutscher trug eine Uniform in den königsblauen und goldenen Farben des Hauses St. Just. Zwei Bedienstete standen auf dem hinteren Trittbrett. Unwillkürlich hielt Amelia die Luft an.

St. Just war da.

Vor der Kapelle bremste der Kutscher und rief „Halt!“. Als die Pferde anhielten, spritzten die Kieselsteine der Auffahrt zu allen Seiten.

Amelias Herz schlug wie wild. Ihre Wangen brannten wie Feuer.

Simon Grenville war nach Hause zurückgekehrt!

Die beiden Bediensteten sprangen ab und beeilten sich, Grenville die Tür zu öffnen. Der Earl of St. Just stieg aus.

Ihr Verstand setzte aus.

Tadellos gekleidet, in einem dunkelbraunen Samtmantel mit Stickereien, dunklen Hosen, weißen Strümpfen und schwarzen Schuhen, kam er auf sie zu. Er war groß, hatte breite Schultern und eine schmale Taille. Amelia warf einen Blick auf seine hohen Wangenknochen, sein kräftiges Kinn und seinen sinnlichen Mund. Ihr wurde ein wenig schwindelig.

Er hatte sich kein bisschen verändert.

Noch immer sah er so attraktiv aus wie in ihrer Erinnerung. Vielleicht hatte er ein paar graue Haare, das konnte sie nicht erkennen, da er eine dunkle Perücke trug, die etwas bräunlicher war als sein eigenes Haar. Dazu trug er einen Zweispitz.

Amelia war wie gelähmt. Sie konnte ihn nur noch gebannt anstarren. Er jedoch hatte nur Augen für seine Söhne.

Tatsächlich schien er sie gar nicht zu bemerken. Aber sie hatte ja damit gerechnet, dass er sie nicht mehr erkennen würde. Da könnte sie ihn auch einfach direkt anschauen. Er war sogar noch umwerfender und attraktiver, jetzt, da er in seinen Dreißigern war. Seine Erscheinung war noch eindrucksvoller.

Bilder von früher tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Mühsam versuchte sie sie zu verscheuchen.

Grenville kam mit großen Schritten und unbeirrtem Blick heran. Er erreichte die beiden Jungen und zog sie in seine Arme. John weinte. William schmiegte sich an seinen Vater.

Amelia fühlte sich wie ein Eindringling. Er hatte sie weder angesehen noch begrüßt, ja, nicht einmal wahrgenommen. Eigentlich hätte sie erleichtert sein sollen – schließlich wusste sie selbst, dass sie nichts anderes hatte erwarten können –, dennoch fühlte sie sich etwas betroffen.

Grenville rührte sich nicht, sondern hielt seine Söhne fest im Arm. Er hatte den Kopf über sie gebeugt, sodass Amelia sein Gesicht nicht sehen konnte. Sie wollte gehen, schließlich war diese Familienvereinigung eine sehr private Angelegenheit, aber sie fürchtete, dann seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Dann holte er tief Luft, richtete sich auf und nahm seine Söhne bei den Händen. Sie hatte den Eindruck, dass er sie am liebsten nie wieder losgelassen hätte.

Schließlich nickte der Earl der Kinderfrau und dem Lehrer zu. Beide neigten die Köpfe und murmelten: „Mylord.“

Amelia hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Jeden Moment konnte sein Blick auf sie fallen – es sei denn, er hätte beschlossen, sie zu ignorieren. Ihr Herz hämmerte noch immer so laut, dass sie hoffte, er würde es nicht hören. Sie einfach nicht bemerken.

Aber Grenville drehte sich um und sah sie direkt an.

Sie erstarrte bei seinem düsteren Blick.

Die Zeit schien stillzustehen. Alle Geräusche um sie herum verstummten. Da waren nur noch ihr ohrenbetäubender Herzschlag, die Überraschung in seinem Gesicht und die intensiven Blicke, die sie wechselten.

In diesem Moment wurde Amelia klar, dass er sie trotz der langen Jahre, in denen sie sich nicht begegnet waren, wiedererkannt hatte.

Er sagte kein Wort. Das musste er auch nicht. Auf irgendeine Weise konnte sie seinen Kummer und den Schmerz, der ihn bewegte, mitfühlen. Einen unsagbar großen Schmerz. In diesem Augenblick wusste sie, dass er sie brauchte wie nie zuvor.

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.

Unvermittelt wandte sich Grenville zu seinen Söhnen. „Es ist zu kalt, um hier draußen herumzustehen.“ Er legte einen Arm um jeden der Jungen und ging mit ihnen davon. Die drei betraten den Vorhof und verschwanden in der Kapelle.

Benommen rang sie nach Atem.

Er hatte sie wiedererkannt!

Dann fiel ihr auf, dass er seine kleine Tochter nicht ein einziges Mal angeschaut hatte.

2. KAPITEL

Simon starrte ins Nichts. Gedankenverloren saß er ganz vorne neben seinen Söhnen in der Kapelle. War er wirklich wieder in Cornwall? Wohnte er gerade tatsächlich der Trauerfeier seiner Frau bei?

Er merkte, wie er unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballte, als er in Richtung des Vikars starrte, der sich endlos über Elizabeth ausließ. Er nahm ihn weder bewusst wahr, noch hörte er wirklich, was er sagte. Noch vor drei Tagen war er in Paris gewesen, hatte sich als Henri Jourdan, einen Jakobiner, ausgegeben. Vor drei Tagen hatte er inmitten einer blutrünstigen Menge am Place de la Révolution gestanden und war Zeuge Dutzender Hinrichtungen geworden. Zum Schluss hatte es seinen Freund Danton getroffen, der unter all den Wahnsinnigen dort die einzige Stimme der Vernunft gewesen war. Dass er hatte zusehen müssen, wie Danton geköpft wurde – damit hatte man wohl seine Loyalität auf die Probe stellen wollen. Lafleur hatte direkt neben ihm gestanden. Und so hatte Simon bei jeder Enthauptung gegen seinen Willen applaudiert. Irgendwie hatte er es geschafft, dabei nicht ohnmächtig zu werden.

Aber jetzt war er nicht mehr in Paris. Nicht mehr in Frankreich. Er war zu Hause in Cornwall, an einem Ort, an den er niemals mehr hatte zurückkehren wollen. Er fühlte sich benommen und orientierungslos. Das letzte Mal war er hier gewesen, als sein Bruder gestorben war. Auch da hatte er in der Kapelle gesessen – um Wills Beerdigung beizuwohnen.

Vielleicht war das auch ein Grund dafür, dass ihm so elend zumute war. Zudem verfolgte ihn der Geruch von Blut, seit er Paris verlassen hatte. Selbst hier, in dieser kleinen Kapelle. Überall hatte er den Geruch in der Nase, ohne Unterlass. In seinem Haus, an seinen Kleidern, an seinen Dienstboten – sogar noch im Schlaf roch er das Blut.

Aber der Tod lauerte überall. Schließlich nahm er gerade an der Bestattung seiner eigenen Frau teil.

Um ein Haar hätte er bitter aufgelacht. Der Tod war schon so lange sein Begleiter – er hätte sich eigentlich längst an ihn gewöhnt haben sollen. Sein Bruder war in hier der Gegend ums Leben gekommen. Elizabeth war hier in diesem Haus gestorben. Er selbst hatte die letzten Jahre in Paris zugebracht, wo der Terror regierte. Wie ironisch war das alles, wie passend.

Simon wandte sich um und betrachtete die andächtigen Besucher, die jedes einzelne Wort des Vikars in sich aufsogen. So, als wäre Elizabeths Tod wirklich von Bedeutung. Dabei war sie lediglich ein weiteres unschuldiges Opfer, eines von vielen Tausenden. Die Leute, die um ihn herumsaßen, kamen ihm fremd vor. Er war zwar wie sie hier geboren, aber er hatte mit keinem Einzigen von ihnen etwas gemeinsam. Er war zu einem Außenseiter geworden – zu einem Ausgestoßenen.

Er blickte zur Kanzel hinauf. Vielleicht sollte er sich zusammenreißen und zuhören. Elizabeth war tot, seine Ehefrau war gestorben. Er konnte es nicht begreifen. Er sah zu dem aufgebahrten offenen Sarg. Auf einmal lag da nicht Elizabeth, sondern sein Bruder …

Seine Anspannung wuchs. Damals, nach Wills tragischem Tod, hatte er die Gemeinde innerhalb von wenigen Tagen verlassen. Und wenn Elizabeth nicht auf St. Just gestorben wäre, wäre er auch niemals wieder hierher zurückgekehrt.

Wie sehr er doch Cornwall verabscheute!

Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, dass Will noch am Leben wäre. Aber er haderte nicht mehr mit dem Schicksal. Er wusste es jetzt besser. Er hatte verstanden, dass es die Guten und Unschuldigen immer als Erstes traf – so wie das Schicksal nun seine Frau heimgesucht hatte.

Er machte die Augen zu. Hinter seinen geschlossenen Lidern brannten Tränen.

Hätte es nicht ihn treffen können?

Will hätte der Earl sein sollen – mit Elizabeth als seiner Frau.

Erschüttert von dieser Erkenntnis schlug Simon langsam die Augen auf. Er konnte nicht sagen, ob er immer noch um seinen älteren Bruder trauerte, der bei einem unglücklichen Reitunfall vor vielen Jahren ums Leben gekommen war. Oder um diejenigen, die den Tod durch den Terror gefunden hatten. Vielleicht weinte er auch um seine Frau, die er im Grunde kaum gekannt hatte. Was er jedoch wusste, war, dass er sich zusammennehmen musste. Seine Ehefrau Elizabeth war es, die dort in dem Sarg lag. Es war Elizabeth, derer man hier gedachte. Es war Elizabeth, der er nun seine Gedanken schenken musste – um das Wohl seiner Söhne willen. Bis er wieder nach London zurückkehren würde, um das schmutzige Handwerk des Krieges zu verrichten.

Aber so einfach gelang es ihm nicht. Er konnte sich nicht auf seine verstorbene Frau konzentrieren. Die Gespenster der Vergangenheit, die ihn seit Wochen und Monaten – ja seit Jahren – verfolgten, begannen vor seinem inneren Auge lebendig zu werden. Sie trugen die Gesichter seiner Freunde und Bekannten in Paris – Männer, Frauen und Kinder, die in Ketten gingen oder unter die Guillotine kamen. Ihre Gesichter waren es, die ihn der Heuchlerei und der Feigheit anklagten, der skrupellosen Selbsterhaltung und seines Versagens als Mensch, Ehemann und Bruder.

Er schloss wieder die Augen, um die Geister zu vertreiben, aber es half nichts.

Simon fragte sich, ob er letztlich den Verstand verlieren würde. Er öffnete die Augen, blickte sich in der Kapelle um und sah durch die Fenster aus farbigem Glas hinaus. Endlos erstreckten sich die Moore. Grau und düster – ein unerfreulicher Anblick. Er wusste, dass es jetzt nicht um ihn ging. In erster Linie musste er an seine Söhne denken, sich um sie kümmern.

Der Vikar sprach noch immer, aber Simon hatte nicht ein einziges Wort mitbekommen. Die Erinnerung an Will war zu stark und lähmte ihn. Zusammen mit zwei Stallknechten hatte er damals seinen Bruder gefunden. Er lag mit dem Rücken auf dem felsigen harten Boden, das Gesicht nach oben, die Augen offen. Das Mondlicht hatte auf sein selbst noch im Tod attraktives Gesicht geschienen.

Das Einzige, woran Simon gerade denken konnte, war sein toter Bruder.

Es war beinahe so, als hätte er Will in diesem Moment gerade bei den Klippen gefunden. Als wäre die Vergangenheit zur Gegenwart geworden.

Simon lief eine Träne die Wange hinunter. Es gab so viel Kummer, so viel Schmerz. Würde er erneut um seinen Bruder trauern? Oder trauerte er letztlich doch um Elizabeth? Oder vielleicht um Danton? Er wusste es nicht, und es war ihm auch gleichgültig. Er hatte sich selbst nie zugestanden, jemals um irgendjemanden zu trauern. Aber nun weinte er doch. Hilflos spürte er, wie ihm die Tränen über das Gesicht strömten.

Mit verschwommenem Blick starrte er in den Sarg. Er sah Elizabeth, die selbst im Tod so unglaublich schön war, aber er sah auch Will. Auch sein Bruder hatte noch als Toter so makellos gewirkt.

Es gab so viele Erinnerungen, die ihn jetzt schmerzhaft überkamen. In einigen war er mit seinem Bruder unterwegs, den er verehrt, bewundert und geliebt hatte. In anderen war er bei seiner Frau, die er respektiert, aber nie geliebt hatte.

Und das war der Grund, warum er niemals an diesen verfluchten Ort hatte zurückkehren wollen. Will hätte heute am Leben sein sollen, nicht er. Sein Bruder war edel gewesen, ehrenhaft und voller Charme. Er hätte einen großartigen Earl abgegeben, er hätte Elizabeth verehrt und geliebt. Will hätte sich niemals von den Radikalen zum Verräter machen lassen.

Simon dachte, wie recht sein Vater doch gehabt hatte. So häufig hatte der alte Earl ihm seinen Mangel an Charakter vorgehalten. Will war der perfekte Sohn, Simon war es nicht – er war der missratene Sprössling. Er taugte nicht viel, war leichtsinnig, hatte kein Verantwortungsbewusstsein und keinerlei Gespür für Anstand und Pflichtgefühl.

Und ehrlos war er obendrein. Der Beweis waren zwei Briefe, die in seiner Tasche steckten und seine Illoyalität belegten. Einer war von Pitts oberstem Spionagechef Warlock, der andere von seinem französischen Auftraggeber Lafleur. Sogar der gutherzige Will hätte sich für ihn geschämt.

„Papa?“

Simon brauchte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass sein Sohn mit ihm gesprochen hatte. Verbissen rang er sich ein Lächeln ab. Seine Wangen waren feucht von den Tränen. So sollten ihn seine Söhne nicht sehen. Ihm war klar, John und William brauchten jetzt vor allem starken Beistand. „Alles wird gut werden.“

„Du tust mir weh“, flüsterte John.

Simon fiel jetzt erst auf, dass er Johns Hand festhielt, viel zu fest. Er lockerte sofort seinen Griff.

Er hörte, wie Collins, der Vikar, sprach. „Sie war einer der gütigsten und mitfühlendsten Menschen, die es gegeben hat. Sie hat immer nur an andere und nie an sich selbst gedacht.“

Er fragte sich, ob das wohl stimmte. Ob seine Frau eine solch edelmütige und liebenswürdige Person gewesen war? Wenn sie diese Eigenschaften gehabt hatte, dann hatte er sie nie bemerkt. Nun war es zu spät dafür.

Er fühlte sich immer elender. Vielleicht, weil sich die Last seiner Schuld zu seinen ohnehin aufgewühlten Gefühlen mischte.

Ein dumpfes Geräusch.

Jemand hatte sein Gesangbuch fallen lassen.

Simon erstarrte.

Auf einmal stand der Vikar nicht mehr vorne – stattdessen sah Simon George Danton auf den blutbefleckten Stufen der Guillotine. Die aufgeputschte Menge brüllte: „À la guillotine! À la guillotine!“. Trotzig rief Danton dem Mob seine letzten Worte zu.

Dann sah Simon das große schwere Fallbeil herabzischen. Auch wenn er wusste, dass es unmöglich war – hier in der Kapelle gab es kein Fallbeil. Er musste auflachen. Ein Lachen, das von Angst und Schrecken erfüllt war.

William drückte seine Hand und brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. Als er zu ihm blickte, sah William ihn beunruhigt an. John stand kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen.

„Alle werden sie zutiefst vermissen – ihr liebender Ehemann, ihre ergebenen Söhne, ihre trauernde Familie und ihre Freunde …“ Die Stimme des Vikars klang weinerlich.

Simon zwang sich, gegen die Übelkeit und den Schmerz anzukämpfen. Die Knaben würden Elizabeth vermissen, auch wenn es sich bei ihm anders verhielt. Seine Söhne brauchten sie, die Grafschaft brauchte sie.

Die Geister der unschuldig Hingerichteten tanzten durch seinen Kopf. Sie wirbelten um ihn herum, bildeten eine Menschenmenge – und dann sah er unter ihnen seine Frau und seinen Bruder …

Er hielt es nicht mehr länger aus. „Ich bin gleich wieder da.“ Er stand auf und verließ die Kirchenbank, hastete den Mittelgang hinunter und betete, dass er sich nicht übergeben musste, ehe er die Kapelle verlassen hatte. Da fing das Baby an zu weinen.

Er konnte es nicht fassen. Als er auf die Tür zueilte, sah er das Kind in der letzten Reihe. Er warf einen kurzen Blick auf den Säugling, der in den Armen der Kinderfrau lag. Dann erkannte er Amelia Greystone, die ihn anstarrte.

Einen Moment später kauerte er auf den Knien draußen hinter der Kapelle und übergab sich röchelnd.

Die Trauerfeier war vorüber. Gerade rechtzeitig, dachte Amelia, denn das Neugeborene hatte begonnen, recht laut zu schreien. Mrs Murdock schien nicht in der Lage zu sein, das Baby zu beruhigen. Mehrere Trauergäste hatten sich schon nach dem weinenden Kind umgedreht. Und Grenville, was war mit ihm los? Wieso hatte er seine eigene Tochter so zornig angesehen?

Ihre Anspannung war grenzenlos. Es war ihr während des Gottesdienstes unmöglich gewesen, den Blick von seinen breiten Schultern abzuwenden. Und – er hatte sie wiedererkannt.

Amelia war noch nie so aufgewühlt gewesen.

Die Menge erhob sich langsam von ihren Sitzen. „Wir sollten schnell vor den anderen hinausgehen“, schlug Amelia vor, die während der Trauerfeier neben Mrs Murdock gesessen hatte. „Das Kind hat sicher Hunger.“ Aber ihr Blick blieb nach vorne gerichtet, wo Grenvilles Söhne allein auf der Sitzbank hockten. Ihr Vater war vor wenigen Minuten gegangen, noch bevor die Trauerrede vorüber gewesen war. Wie konnte er seine Kinder im Stich lassen? War er so verzweifelt?

Als er den Mittelgang entlanggestürmt war, hatte er sie direkt angesehen. Er war schrecklich blass gewesen, so als ob ihm schlecht geworden wäre.

Eigentlich sollte es sie nicht kümmern. Aber das tat es dennoch.

„Sie vermisst ihre Mutter“, meinte Mrs Murdock. Der Frau kamen wieder die Tränen. „Darum ist die Kleine so unruhig.“

Amelia zögerte. Die Gouvernante hatte sich während der Trauerfeier zusammengerissen – dass sie nun weinte, konnte sie ihr nicht übel nehmen. Ein Begräbnis war schon unter normalen Umständen schlimm genug, aber dass Elizabeth so jung gestorben war, war das Schrecklichste, das man sich nur vorstellen konnte. Das Baby würde niemals seine Mutter kennenlernen. „Wo ist Signor Barelli? Ich weiß nicht, ob St. Just zurückkommt. Am besten, ich hole jetzt die beiden Jungs.“

„Ich sah, dass der Signore gegangen ist, bevor Seine Lordschaft verschwand“, sagte Mrs Murdock, während sie das Kind in ihren Armen wiegte. „Er hat Lady Grenville sehr verehrt. Ich denke, Signor Barelli war zu betroffen, um zu bleiben. Er war ja auch kurz davor gewesen, in Tränen auszubrechen.“

Amelia überlegte, ob Grenville es ebenfalls vor lauter Trauer nicht ausgehalten hatte, bis zum Ende des Gottesdienstes zu bleiben. „Warten Sie einen Moment“, sagte sie und eilte an den ins Freie drängenden Trauergästen vorbei. Sie kannte die meisten und nickte ihnen im Vorbeigehen zu. „William? John? Lasst uns zurück ins Haus gehen. Ich werde Mrs Murdock mit dem Baby helfen. Und vielleicht habt ihr Lust, mir danach mal euer Haus zu zeigen?“ Sie lächelte.

Die beiden Knaben sahen sie verwirrt an. John fragte unter Tränen: „Wo ist Papa?“ Er hielt ihr seine Hand hin.

Amelia war gerührt und nahm sie. „Er trauert um eure Mutter“, sagte sie sanft. Wie wundervoll sich die kleine Hand in ihrer anfühlte. „Ich glaube, er ist hinausgegangen, weil er einen Moment für sich braucht.“

John nickte, aber William sah sie nachdenklich an. Als wollte er etwas sagen, was er dann doch lieber für sich behielt. Amelia ergriff auch seine Hand und ging mit ihnen zu der Gouvernante zurück. „Signor Barelli ist schon fort. Bestimmt wartet er zu Hause auf euch.“

„Wir haben heute keinen Unterricht“, erklärte William. „Am besten sehe ich mal nach Vater.“

Amelia nickte Mrs Murdock zu. Das Baby wimmerte, während die Kinderfrau weiterhin versuchte, es zu beruhigen. Die Trauergäste erkannten offenbar, dass sie in Eile war, und machten rasch Platz. Amelia lächelte ihnen dankbar zu. „Danke Ihnen, Mrs Harrod“, sagte sie. „Danke, Squire Penwaithe, dass Sie gekommen sind. Hallo, Millie. Hallo, George. Vermutlich gibt es noch eine Erfrischung oben im Haus.“ Mrs Murdock hatte davon gesprochen, aber nun fragte sich Amelia, ob sich Grenville überhaupt die Mühe machen würde, seine Gäste zu begrüßen.

Eine Nachbarin lächelte sie an. Millie, eine Milchmagd, rief entzückt: „Was für ein schönes Baby!“

Als sie die Kapelle verließen, hielt Amelia nach Grenville Ausschau. Inzwischen war er sicher zurück ins Haus gegangen, denn er war nicht mehr zu sehen. Es hatte zu nieseln begonnen. Das Kind fing erneut an zu weinen, dieses Mal lautstark.

Amelia nahm der Gouvernante das Kind aus den Armen. „Darf ich? Vielleicht kann ich behilflich sein.“ Sie wiegte das Kind dicht vor ihrer Brust. Für das Baby war es hier draußen viel zu kalt.

„Das hoffe ich. Ich glaube, sie mag mich nicht besonders. Sie merkt, dass ich nicht ihre Mutter bin“, gab Mrs Murdock zu.

Amelia seufzte innerlich. Sie wünschte sich, dass die Gouvernante solch verstörende Bemerkungen unterlassen würde, zumindest in Anwesenheit der Jungen. Als sie das wunderschöne Kind betrachtete, lächelte sie. Ihr wurde ganz warm ums Herz. Was für ein Engel das kleine Mädchen doch war. „Still, mein Schatz. Wir gehen jetzt rein. Ein Kind in deinem Alter sollte nicht bei einer Beerdigung dabei sein müssen.“ Amelia war verärgert. Das Baby hätte in seiner Wiege bleiben sollen, warm und geborgen. Bestimmt konnte es die Trübsal und die Trauer in der Kapelle spüren. Aber niemand hatte Mrs Murdock darauf hingewiesen. Schließlich gab es keine Hauswirtschafterin. Und Grenville war erst knapp zuvor eingetroffen, wenige Augenblicke, bevor die Trauerfeier begonnen hatte.

Wie konnte er nur so nachlässig sein?

Das Kind bekam einen Schluckauf und sah sie an. Dann lachte es.

Amelia war begeistert. „Sie lächelt! Oh, wie süß sie doch ist.“

„Haben Sie eigene Kinder?“, fragte Mrs Murdock.

Amelia schluckte getroffen. Sie war zu alt, um noch zu heiraten, und sie würde nie eigene Kinder haben. Dieser Umstand machte sie traurig, aber sie wollte darüber nicht in Selbstmitleid verfallen. „Nein, habe ich nicht“, sagte sie knapp. Sie sah hoch, als Lucas mit ihrer Mutter auf sie zukam.

Lucas meinte mit sanftem Blick: „Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich das Kind in deine Arme nimmst.“ Seine Stimme klang liebevoll.

„Was für ein hübsches Kind“, sagte ihre Mutter. „Ist das Ihr Erstes?“

Amelia seufzte. Momma erkannte sie wieder einmal nicht, aber daran hatte sie sich inzwischen gewöhnt. Sie stellte die Gouvernante Lucas und ihrer Mutter vor, dann wandte sie sich an ihren Bruder. „Bring doch Momma nach Hause und schick mir dann die Kutsche zurück. Ich möchte noch ein bisschen bleiben und mich um das Kind kümmern. Und um die beiden Jungs.“

Er blickte sie skeptisch an. „Ich weiß, du willst nur nett sein. Aber hältst du das für eine gute Idee?“

Sie hatte keine Ahnung, was er damit meinte.

Er nahm sie am Arm und führte sie ein paar Schritte weg außerhalb der Hörweite der beiden Jungen. „Grenville wirkt ziemlich verstört.“ Lucas’ Worte klangen wie eine Warnung.

„Was um aller Welt willst du damit sagen? Natürlich hat ihn der Verlust getroffen. Aber ich habe ja nicht vor, St. Just Beistand zu leisten.“ Sie versuchte leise zu sprechen. „Er ist so verzweifelt, er hat seine Söhne einfach sich selbst überlassen. Ich möchte mich einfach nur etwas um sie kümmern, Lucas. Das ist alles.“

Er schüttelte den Kopf, aber lächelte dabei. „Garrett wird dich in zwei Stunden wieder abholen.“ Sein Lächeln erstarb. „Hoffentlich wirst du das nicht bereuen, Amelia.“

Ihr Herz klopfte heftig. „Ich kann einfach nicht anders. Ich muss den armen Jungen helfen. Und natürlich dem Baby.“

Lucas küsste sie auf die Wange, dann gingen sie zu den anderen zurück. Ihre Mutter plapperte weiterhin über ihren Debütantinnenball. Amelia seufzte abermals, als Lucas ihre Mutter umsichtig zur Kutsche geleitete. Mrs Murdock sah Amelia mit großen Augen an, als sie mit den Knaben gemeinsam auf das Haus zugingen. „Momma ist verwirrt“, erklärte Amelia. „Sie hat nur wenige lichte Momente, in denen sie bei Sinnen ist und ihre Umgebung richtig wahrnimmt.“

Autor

Brenda Joyce

Brenda Joyce glaubt fest an ihre Muse, ohne die sie nicht New York Times Bestseller-Autorin hätte werden können. Ihre Ideen treffen sie manchmal wie ein Blitz – zum Beispiel beim Wandern, einem ihrer Hobbys neben der Pferdezucht. Sie würde sich niemals ohne eine Inspiration an den Schreibtisch setzen und einfach...

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