Der Meisterdieb

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Kostbare Juwelen sind verschwunden! Aufgeregt verfolgt die schöne Georgiana die Spur des Täters - Seite an Seite mit dem faszinierenden Jonathan, Marquis of Ashdowne. Doch während er ihr junges Herz mit heißen Küssen erobert, drängt sich ihr bald ein erschreckender Verdacht auf: Jonathan selbst ist der Dieb!


  • Erscheinungstag 01.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733764975
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Keiner nahm Georgiana Bellewether wirklich ernst.

Sie empfand es als eine ausgesprochene Bürde, dass sie mit den verführerischen Kurven einer Venus, einer Fülle blonder Locken und großen blauen Augen, die man wiederholt mit klaren Seen verglichen hatte, geschlagen war. Die meisten Menschen, denen sie begegnete, waren nach einem einzigen Blick auf sie überzeugt, dass sie nichts im Kopf haben konnte. Männer hielten Frauen sowieso nicht für intelligent, doch in ihrem Fall gingen sie davon aus, dass sie eine einfältige Gans sein musste.

Es war einfach trostlos.

Ihre Mutter war eine gute Seele, wenn auch ein wenig fahrig, ihr Vater ein beleibter, liebenswürdiger Landjunker, und Georgiana glaubte, dass sie zweifelsohne glücklicher geworden wäre, wenn sie ein wenig mehr ihren Eltern geähnelt hätte. Bedauerlicherweise war sie jedoch die Einzige der vier Bellewether-Sprösslinge, die nach ihrem Großonkel Morcombe schlug, der ein bekannter Gelehrter mit einem scharfen Verstand war. Seit ihren ersten Gehversuchen hatte Georgiana alles verschlungen, was sich ihr an Wissen bot. Sie übertraf in wenigen Jahren ebenso die Fähigkeiten ihrer Gouvernante wie die des Hauslehrers ihres Bruders und die der Lehrerinnen an der Schule für höhere Töchter.

Ihre besondere Begabung bestand in ihrer Fähigkeit, knifflige Denkaufgaben zu lösen, und oft verwünschte sie die Tatsache, dass sie als Frau auf diese Welt gekommen war und somit ihr Talent niemals nutzen und etwa ein Londoner Detektiv werden konnte. Statt mit souveränen Kombinationen Beweisketten zu schließen und tollkühn ruchlose Schurken zur Strecke zu bringen, wie sie es so gern getan hätte, musste sie sich damit begnügen, ihre Geistesgaben anzuwenden, indem sie sämtliche Kriminalfälle in den Zeitungen verfolgte und an der Aufklärung alltäglicher Rätsel arbeitete, wie sie sich ihr in Chatham’s Corner boten, jenem kleinen Dorf, in dem ihr Vater gemütlich als Gutsherr und Vertreter der Krone residierte.

Doch in diesem Jahr, das schwor sie sich, würde es anders werden. Ihre Familie hatte sich für den Sommer nach Bath begeben, und Georgiana hatte die Absicht, ihre neue Umgebung bestmöglich im Sinne ihres Talentes zu nutzen. In diesem berühmten Kurort musste sich ihr ja wohl zumindest ein verzwicktes kriminelles Vorkommnis bieten, an dem sie ihre Fähigkeiten messen konnte. Unter den vielen unterschiedlichen Menschen hier in Bath befanden sich doch wohl sicher auch weniger harmlose Zeitgenossen, als es die ländlichen Bewohner in ihrer vertrauten Umgebung waren.

Nach einer Woche, die Georgiana vornehmlich mit Besuchen in der Trinkhalle, dem „Pump Room“, und mit Spaziergängen auf den Straßen während der dafür genehmen Stunden zugebracht hatte, musste sie zu ihrem Leidwesen zugeben, dass sie enttäuscht war. Auch wenn es ihr Freude machte, alles zu erkunden, so hatte sie bisher doch nur denselben ähnlich langweiligen Menschenschlag kennengelernt, der ihr bereits zur Genüge bekannt war. Noch schlimmer fand sie allerdings, dass es weit und breit nicht den Hauch eines Falles zu entdecken gab.

Mit einem Seufzen schaute sich Georgiana in den Empfangsräumen des reich ausgestatteten Stadthauses von Lady Culpepper um. Sie sehnte sich nach einer Ablenkung, die sie sich nun hier, auf dem ersten richtigen Ball, den sie in Bath besuchte, erhoffte. Doch wieder einmal erblickte sie nur die stets anwesenden Witwen vornehmen Standes und gichtkranke Gentlemen, wie sie ganz Bath bevölkerten. Ein paar Mädchen, die jünger als Georgiana zu sein schienen, waren mit ihren in sie vernarrten Müttern gekommen, wohl in der Hoffnung, unter den männlichen Kurgästen einen Ehemann zu ergattern. Bedauerlicherweise hatte Georgiana bisher noch keine Altersgenossin getroffen, die an etwas anderes als an die Ehe dachte.

Sie wandte sich ab, und ihr Blick blieb an der eleganten Gestalt eines Mannes haften, der ganz in Schwarz gekleidet war. Endlich einmal etwas Mysteriöses, dachte Georgiana und kniff die Augen zusammen. Man musste bei Weitem nicht so aufmerksam sein wie sie, um zu dem Schluss zu gelangen, dass das Auftauchen des Marquess of Ashdowne in Bath höchst ungewöhnlich war. Schließlich stand der Badeort bei der modebewussten feinen Gesellschaft schon seit fünfzig Jahren nicht mehr so hoch im Kurs. Gut aussehende und charmante Aristokraten, wie Ashdowne einer war, blieben in London oder folgten dem Prinzregenten nach Brighton. Oder sie verbrachten ihre Zeit, wie Georgiana vermutete, mit dem Feiern skandalträchtiger Feste auf ihren riesigen, eleganten Landsitzen.

Nicht zum ersten Mal, seitdem sie von Ashdownes Aufenthalt erfahren hatte, fand Georgiana sein plötzliches Interesse an Bath recht merkwürdig. Sie hätte gern gewusst, warum er hier war. Dazu musste sie es jedoch zuerst einmal schaffen, ihm vorgestellt zu werden. Er war vor ein paar Tagen angekommen und hatte bereits alle jungen, unverheirateten Damen, einschließlich ihrer Schwestern, in kopflose Aufregung versetzt. Dementsprechend schwierig machte es die große Menge der Frauen, die ihn umgab, einen Blick auf ihn zu erhaschen.

Er hatte eines der begehrten Häuser am Camden Place gemietet, und dies war nun das erste Mal, dass ihn die Allgemeinheit zu Gesicht bekam. Es hieß, er sei hier, um die Wirkung des Heilwassers zu erproben, doch Georgiana fand die Erklärung abstrus, da Ashdowne noch nicht einmal dreißig war und nicht den Eindruck machte, als litte er unter einer kränklichen Konstitution. Er konnte nicht indisponiert sein, dessen war sie sich sicher, als die Menge sich endlich teilte und sie den Mann besser betrachten konnte.

Er sah aus wie das Wohlbefinden in Person. Der Marquess of Ashdowne war wahrscheinlich der am gesündesten aussehende Mann, den Georgiana jemals zu Gesicht bekommen hatte. Ihr stockte bei seinem Anblick beinahe der Atem. Er war groß, etwa einen Meter fünfundachtzig, und schlank, ohne mager zu sein – dabei breitschultrig und kraftvoll. Der Marquess besaß einen Charme und eine Haltung, wie sie Georgiana bei einem Vertreter des übersättigten, dekadenten Modegeschmacks nie erwartet hätte.

Geschmeidig – dieses Wort kam ihr in den Sinn, als sie seine elegante Gestalt in der teuren Kleidung betrachtete und ihre Blicke langsam zu seinem Gesicht hochwandern ließ. Seine Haare waren dunkel und glänzten, seine Augen von einem verführerischen Blau, und sein Mund war … Georgiana fand keine treffenden Worte, um ihn zu beschreiben. Die Lippen hatten einen sinnlichen Schwung und eine kleine Einbuchtung über der Oberlippe. Sie schluckte und musste zugeben, dass Ashdowne über die Maßen gut aussah.

Und dazu hellwach.

Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag, denn obwohl Georgiana sich der falschen Beurteilungen, die aufgrund der äußeren Erscheinung gefällt wurden, sehr bewusst war, so hatte sie doch angenommen, dass jemand, der so wohlhabend, einflussreich und gut aussehend war, nicht auch noch mit Verstand gesegnet sein konnte. Doch sie hatte sich getäuscht, denn während sie ihn noch voller Verwunderung betrachtete, traf sie der Blick des Marquess of Ashdowne, dessen Augen vor Intelligenz funkelten. Wäre sie ein wenig eitler gewesen, hätte sie seine Aufmerksamkeit ihrem Interesse an ihm zugeschrieben, denn es schien, als hebe er sie aus der Menge heraus.

Georgiana trat einen Schritt zurück. Sie schämte sich, ihn so angestarrt zu haben. Als daraufhin eine von Ashdownes dunklen Augenbrauen fragend zuckte, errötete sie. Sie fächelte sich Luft zu und schaute bewusst woandershin. Schließlich hatte sie den Mann nur genau betrachtet, so wie sie es auch mit anderen Menschen tat, und es gefiel ihr nicht, dass er sie so vertraulich angeschaut hatte. Ashdowne hielt sie vermutlich für eines dieser hingebungsvollen Geschöpfe, die angesichts seines Charmes reihenweise in Ohnmacht fielen.

Sie drehte sich rasch um und durchquerte fast den gesamten hellen Empfangsraum, ehe ihr klar wurde, dass sie gerade die ideale Gelegenheit verpasst hatte, um mit ihm bekannt zu werden. So etwas Dummes! Ärgerlich klappte sie ihren Fächer zusammen, da sie es eigentlich besser hätte wissen müssen, als ihre persönlichen Gefühle einer Untersuchung in die Quere kommen zu lassen. Sie konnte sich kaum einen Detektiv vorstellen, der einen Fall nicht weiterverfolgte, weil einer seiner Verdächtigen ihn allzu vertraulich angeschaut hatte.

Mit einem unwilligen Laut drehte sie sich um und wollte an ihren vorherigen Platz zurückkehren, musste jedoch feststellen, dass er bereits durch andere Frauen, junge und ältere, besetzt war. Dann erschien auch schon ihre Mutter und drängte sie, mit einem jungen Mann zu tanzen. Georgiana fügte sich ihrem Wunsch, da lange Erfahrung sie gelehrt hatte, dass es besser war, sich auf kein Streitgespräch einzulassen.

Schon bald stellte sie fest, dass Mr. Nichols ein netter Mann aus Kent war, der mit seiner Familie in Bath weilte. Als er jedoch stockend über solch langweilige Themen wie das Wetter und die hiesige Gesellschaft reden wollte, verlor sie bald das Interesse. Obwohl sie immer wieder versuchte, einen Blick auf Ashdowne zu werfen, entdeckte sie ihn erst in dem Moment, in dem der Marquess mit einer jungen Witwe, die ihre Trauer leichtfertig vergessen zu haben schien, dem Garten zustrebte.

Georgiana runzelte die Stirn, als sie während des Gesellschaftstanzes erneut mit Mr. Nichols zusammentraf. Geistesabwesend nickte sie nur, wenn er ihr Fragen stellte. Sie brachte wirklich keine Geduld für eine solche Zeitvergeudung auf. Leider kannte sie den verklärten Blick ihres Tanzpartners nur allzu gut. Sobald sich seine Augen auf sie richteten, würden sie bestimmt auf ihren Locken oder ihrem schmalen Hals verweilen, oder – was noch schlimmer wäre – an ihrem üppigen Dekolleté, das sie, der Mode entsprechend, großzügig zur Schau stellte. Darauf hatte ihre Mutter bestanden.

Natürlich achtete er in keiner Weise darauf, was sie zu sagen hatte, sodass Georgiana öfters das Bedürfnis verspürte, ihm etwas Ungehöriges zuzuflüstern oder einen Mord zu gestehen, um somit zumindest seine Aufmerksamkeit zu erregen. Gewöhnlich konnte man ihre Bewunderer in zwei Gruppen teilen: Jene, die sich überhaupt nicht darum kümmerten, was sie sagte, und jene, die sehnsüchtig an jedem ihrer Worte hingen.

Unglücklicherweise konnte sie mit den Letzteren genauso wenig anfangen wie mit den Ersteren, denn sie hatte es noch nie geschafft, ein sinnvolles Gespräch mit ihnen zu führen. Mit anbetungsvollem Hundeblick stimmten sie allem zu, was sie sagte. Eigentlich hätte sie sich inzwischen daran gewöhnen sollen, aber sie empfand dennoch stets einen leichten Stich der Enttäuschung.

Ihre Mama pries gern die Vorzüge der Ehe und des Daseins als Mutter, doch wie sollte Georgiana sich auch nur vorstellen können, mit einem solchen Mann wie Mr. Nichols den Rest ihres Lebens zu verbringen? Wie viel schwieriger war es allerdings, in ihrem kleinen Bekanntenkreis jemand anderen kennenzulernen! Bildung war in Adelskreisen meist nicht sehr hoch angeschrieben, und selbst diejenigen, die eine gewisse Erziehung genossen hatten, schienen durch Georgianas Äußeres nicht gerade daran erinnert zu werden.

Wie ein Fluch lastete ihr Aussehen auf ihr. Deshalb entmutigte sie auch all ihre Bewunderer, was ihrer Mutter gar nicht gefiel. Doch sie hatte sich bereits mit der Vorstellung abgefunden, ihr Leben als alte Jungfer zu verbringen, wobei sie zumindest die Freiheit besitzen würde, sich so zu geben und so zu handeln, wie es ihr gefiel – vorausgesetzt, dass ihr Großonkel Morcombe ihr das versprochene kleine Einkommen tatsächlich hinterlassen würde. Sie wünschte sich aber keineswegs, dass er schon bald das Zeitliche segnen würde.

Zu ihrer großen Erleichterung endete schließlich der Tanz. Georgiana beauftragte Mr. Nichols, ihr einen Eisbecher zu holen. Das verschaffte ihr die dringend notwendige, wenn auch nur kurze Erholung von seiner Gegenwart.

„Ist er nicht wunderbar?“, flüsterte ihre Mutter ihr zu. „Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass sein Großvater ihm einen ansehnlichen Landbesitz in Yorkshire vererbt, der ihm gut tausend Pfund im Jahr einbringen wird.“

Die Ernsthaftigkeit im Gesicht ihrer lieben Mama hielt Georgiana davon ab, ihre Hoffnungen mit einer heftigen Bemerkung zunichtezumachen. Wenn es nicht Mr. Nichols war, dann würde ihr ein anderer Gentleman aufgedrängt werden; deshalb nickte sie nur geistesabwesend, während sie den Saal nach Ashdowne absuchte. Zu ihrer Überraschung befand er sich nun auf der Tanzfläche und bewegte sich dabei mit einer solchen Eleganz, dass sie auf einmal ein Kribbeln im Magen verspürte.

„Entschuldige mich bitte“, sagte sie geistesabwesend und entfernte sich von ihrer Mutter.

„Aber Mr. Nichols …“

Georgiana hörte nicht auf den Einwand ihrer Mutter und mischte sich unter die Menge. Obwohl sie Ashdowne inzwischen wieder aus den Augen verloren hatte, war sie doch froh, ihre liebe Mama und Mr. Nichols hinter sich lassen zu können. Langsam bahnte sie sich ihren Weg durch die Schar der Ballbesucher, schnappte hier und da ein paar Worte auf und beobachtete das Geschehen. Diese Art der Beschäftigung war ihr eine der liebsten, da es immer die Möglichkeit gab, dass sie zufällig etwas vernahm, das zu einem späteren Zeitpunkt wichtig werden konnte. Natürlich kein Klatsch, sondern etwas, das für eine Untersuchung lohnend sein mochte.

In diesem Fall das, was man sich über Ashdowne erzählte.

Leider hörte sie nicht viel Nützliches, nur dass er äußerst wagemutig und sehr charmant sei und so weiter und so fort. Er war der jüngere Sohn, der den Titel erst geerbt hatte, nachdem sein älterer Bruder vor einem Jahr plötzlich gestorben war. Es machte den Anschein, als ob er sich in seiner neuen Rolle recht wohlfühlte, so jedenfalls glaubte eine gut informierte Dame mittleren Alters zu wissen, obwohl er nicht überheblich war, wie man an seiner besonnenen Haltung deutlich erkennen konnte und so weiter und so fort. Überall wurde sie Zeuge ähnlicher Lobreden. Die Bewunderung, die Ashdowne so bereitwillig gezollt wurde, ging Georgiana immer mehr auf die Nerven, und sie verspürte den abstrusen Wunsch, den Mann irgendeiner Schuld überführen zu können.

„Ah, Georgie!“ Georgiana verkniff sich ein Stöhnen und drehte sich zu ihrem Vater um, der neben einem vertrocknet aussehenden Gentleman stand. Sie nahm an, dass es sich um einen weiteren potenziellen Ehekandidaten handelte, und unterdrückte das Verlangen, laut schreiend aus dem Saal zu rennen.

„Mr. Hawkins, darf ich Ihnen meine älteste Tochter vorstellen? Ein hübsches Mädchen, wie ich ja schon sagte, und dabei nicht auf den Kopf gefallen. Ich bin überzeugt, dass sie sich sehr für Ihre Studien interessieren dürfte.“

Georgiana, die ihren Vater nur zu gut kannte, nahm an, dass er sich ganz und gar nicht dafür erwärmen konnte und deshalb seinen neuen Bekannten so schnell wie möglich auf sie abwälzen wollte.

„Georgie, meine Liebe, das ist Mr. Hawkins. Er ist gerade in Bath eingetroffen und hofft, hier eine Anstellung zu finden. Er ist Vikar und obendrein ausgesprochen gebildet.“

Georgiana lächelte gequält und schaffte es, Mr. Hawkins mit der angemessenen Höflichkeit zu begrüßen. Er besaß eine gewisse streng wirkende Anziehungskraft, doch etwas in seinen grauen Augen gab ihr zu verstehen, dass er nicht die sanfte, arglose Seele war wie ihr eigener Dorfvikar Marshfield.

„Es ist mir ein Vergnügen, Miss Bellewether“, sagte der Mann. „Doch von einer Dame wie Ihnen kann man nicht erwarten, dass sie in die Feinheiten der Philosophie eingeweiht ist. Ich vermute, dass sogar die meisten Männer es schwierig finden würden, mit meinen Kenntnissen mitzuhalten, denn ich habe mein Leben dem Studium der Philosophie gewidmet.“

Bevor Georgiana noch einwerfen konnte, dass sie Platon, der ja schließlich die Wissenschaft der Logik begründet hatte, aufs Höchste verehrte, fuhr Mr. Hawkins fort: „Rousseau findet ja nun, nach all den Unannehmlichkeiten, die sich in jüngster Zeit in Frankreich abgespielt haben, nicht mehr viel Wertschätzung. Ich für meinen Teil kann allerdings nicht einsehen, warum er dafür verantwortlich gemacht werden soll, was mit den Unglücklichen dort drüben geschehen ist.“

„Dann glauben Sie also, dass …“, setzte Georgiana an, doch Mr. Hawkins schnitt ihr das Wort ab.

„Aber die aufgeklärtesten Männer müssen ja oft wegen ihres Genies leiden“, erklärte er hoheitsvoll.

Man musste nicht besonders klug sein, um zu erkennen, dass der eingebildete Vikar sich selbst zu den verfolgten Geistern zählte. Georgianas kurzzeitig aufgeflammtes Interesse wurde augenblicklich im Keim erstickt. Auch bei diesem Mann würde sie keine geistigen Anreize finden, da Mr. Hawkins offensichtlich auf Erklärungen seiner selbst spezialisiert war und niemand anderen zu Wort kommen ließ.

Sie unterdrückte ein Gähnen, während er sie mit langatmigen Ausführungen überschüttete, die ihr den Eindruck vermittelten, dass er recht wenig von dem verstand, was er von sich gab. Kein Wunder, dass ihr Vater ihn so schnell wie möglich loswerden wollte! Auch Georgiana erreichte rasch die Grenzen ihrer Geduld.

„Ach, da ist ja unsere Gastgeberin“, sagte sie mit der Absicht, Mr. Hawkins sich selbst zu überlassen, doch er ließ sie nicht so leicht gehen.

„Ich bin wahrhaftig überrascht, dass sie ihr Haus auch für diejenigen geöffnet hat, die gesellschaftlich unter ihr stehen. Nach meiner Erfahrung sind die Angehörigen ihres Standes den weniger Glücklichen dieser Welt gegenüber selten zuvorkommend.“

Obwohl Lady Culpepper durchaus die herablassende Art einer Adeligen an den Tag zu legen vermochte, so empfand Georgiana sie doch nicht schlimmer als die meisten anderen. „Ich gebe zu, dass sie sich vielleicht etwas wohlwollender verhalten könnte, aber …“

„Wohlwollender?“ Mr. Hawkins schnitt Georgiana mit einem nicht gerade höflichen Schnauben das Wort ab, wobei eine seltsame Heftigkeit aus seiner Stimme klang. „Die Dame und ihre Standesgenossen sind nicht gerade dafür bekannt, anderen gegenüber wohlwollend zu sein, sondern vielmehr dafür, andere mit ihrer Macht und ihrem Geld zu beherrschen. Sie sind schlichtweg oberflächlich und kümmern sich um nichts anderes als um ihre eigensüchtigen Belange.“

Mr. Hawkins’ plötzlicher giftiger Ausbruch überraschte Georgiana, doch so schnell wie er kam, war er auch wieder verschwunden. Stattdessen zeigte sich ein recht teilnahmsloser Ausdruck auf seinem Gesicht. „Nun ja, ein Mann in meiner Position muss in allen Teilen der Gesellschaft zu Hause sein“, fügte er hinzu, was sich fast so anhörte, als ob er mit der von ihm gewählten Laufbahn unzufrieden sei.

„Ihre Berufung verlangt es wohl, die Leute dazu zu bringen, barmherziger zu sein“, bemerkte Georgiana leichthin.

Mr. Hawkins schenkte ihr ein so herablassendes Lächeln, dass sich ihr die Haare vor Wut sträubten. „Es spricht für Sie, dass Sie an so etwas denken, doch kann ich kaum von einer so bezaubernden Dame erwarten, dass sie die Schwierigkeiten meiner Position versteht“, sagte er. Georgiana verspürte das dringende Bedürfnis, ihn mit einem Tritt in eine neue Position zu befördern. „Tatsächlich glaube ich, dass Sie, Miss Bellewether, diesen öden Ball mit Ihrer Schönheit überstrahlen und das Einzige sind, das den Abend erträglich macht.“

Die Annahme Georgianas, dass der Mann zu sehr von sich selbst beeindruckt war, um sie überhaupt wahrzunehmen, erwies sich leider als falsch, denn sein Blick wanderte auffallend häufig zu ihrem Dekolleté, während er sich so angetan über sie äußerte. Für ihren Geschmack begutachtete er sie ein wenig zu aufmerksam, vor allem, da es sich bei ihm ja schließlich um einen Geistlichen handelte. „Entschuldigen Sie mich bitte“, sagte sie plötzlich und stürzte sich in die Menge, bevor er erneut zu einem langatmigen Vortrag ansetzen konnte.

Sie mischte sich unter die Gäste und hielt Augen und Ohren offen, um irgendetwas Interessantes aufzuschnappen, und blieb dann hinter einer prächtigen Topfpflanze von ausladenden Ausmaßen stehen, von wo aus sie unbeobachtet mehreren Unterhaltungen gleichzeitig lauschen konnte. Alle waren unglaublich langweilig. Als sie schließlich mit wachsender Unzufriedenheit weitergehen wollte, hörte sie dicht neben sich Geraschel und ein Flüstern, das etwas Interessantes zu versprechen schien.

Unauffällig ging sie noch näher heran und lugte durch das Blattwerk hindurch, um einen Blick auf die Sprechenden zu erhaschen. Sie sah einen recht bullig wirkenden Mann, dessen Haare sich bereits erheblich gelichtet hatten, und erkannte in ihm Viscount Whalsey. Er war ein Mann in mittleren Jahren, von dem es hieß, dass er unter den Besucherinnen von Bath nach einer reichen Frau Ausschau hielt. Lord Whalsey war bei den Damen auch recht beliebt, selbst wenn er ein bisschen zu sehr von sich eingenommen zu sein schien. Als sie hinter einem besonders großen Blatt hervorspähte, konnte sie sehen, wie er sich gespannt zu einem spitzgesichtigen jüngeren Mann hinüberbeugte. Die beiden schienen in eine ernste Unterhaltung vertieft zu sein. Georgiana lehnte sich noch ein wenig weiter nach vorn.

„Also? Hast du es?“, erkundigte sich Whalsey, in dessen Stimme eine Anspannung zu hören war, die Georgiana sogleich noch mehr die Ohren spitzen ließ.

„Nun … noch nicht“, erwiderte der andere Mann ausweichend.

„Was zum Teufel soll denn das heißen? Ich dachte, du wolltest es heute Abend holen! Verdammt, Cheever, du hast mir doch versichert, dass es kein Problem für dich wäre, du …“

„Warten Sie doch“, sagte der Mann namens Cheever in einem beschwichtigenden Tonfall. „Sie kriegen es. Aber es gab eine kleine Komplikation.“

„Was meinst du denn?“, zischte Whalsey. „Und untersteh dich, mehr Geld zu verlangen!“

„Nein, ich konnte nicht herausfinden, wo es ist.“

„Was?“, rief Whalsey. „Du weißt doch genau, wo es sich befindet! Nur darum sind wir doch in dieses schrecklich langweilige Provinznest gekommen.“

„Natürlich ist es hier, aber es liegt ja nicht offen herum. Ich muss es erst einmal suchen, und bisher hatte ich dazu keine Gelegenheit, da sich immer irgendein Idiot in der Nähe aufhält.“

Georgiana, die für den Moment Ashdowne ganz vergessen hatte, hielt den Atem an und streckte ihren Kopf noch weiter in die Blätter.

„Wer denn?“, erkundigte sich Whalsey.

„Das Dienstpersonal.“

„Heute Nacht ist die letzte Chance, du Hohlkopf! Was stehst du hier noch herum?“

„Nun, wenn ich schon hier bin, kann ich mich ruhig auch ein bisschen amüsieren, oder etwa nicht?“, meinte Cheever aufsässig. „Es ist nicht gerecht, wenn Sie tanzen und sich unterhalten, während ich die ganze Drecksarbeit mache!“

Whalseys Gesicht lief rot an, und er öffnete den Mund, so als ob er laut werden wollte. Doch zu Georgianas Enttäuschung schien er sich in den Griff zu bekommen und senkte seine Stimme so weit, dass sie sich anstrengen musste, ihn zu verstehen. „Wenn du hinter mehr Geld her bist – du weißt, dass ich keinen Penny habe, um …“

Georgiana, die nun fast nichts mehr hören konnte, lehnte sich zwischen dem üppigen Blätterwerk so weit vor wie nur möglich, als die Pflanze in ihrem chinesischen Übertopf auch schon bedenklich zu schwanken begann. Das brachte auch sie ins Wanken. Sie stieß einen unterdrückten Schreckenslaut aus und griff nach einem der armdicken Stiele, in der Hoffnung, so noch die Pflanze und sich selbst halten zu können. Einen Augenblick lang schien Georgiana in der Luft zu hängen, während sie in die entsetzten Gesichter von Lord Whalsey und Cheever starrte.

Sie war so sehr auf das eilig flüchtende Paar konzentriert, dass sie den anderen Mann erst sah, als es bereits zu spät war, und sie mitsamt der Topfpflanze vornüberkippte und auf ihn niederkrachte, sodass er und sie mitsamt den misshandelten Überresten der riesigen Staude zwischen ihnen und um sie herum auf dem Boden lagen.

Wie von fern hörte Georgiana überraschte Rufe, als sie versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Ihre Beine jedoch schienen mit denen des Mannes, der unter ihr lag, verknotet, und ihr Ballkleid hatte sich skandalös weit nach oben geschoben und ihre Fesseln enthüllt. Am schlimmsten jedoch war, dass ihr nun alle weiteren Einzelheiten des hinterlistigen Plans entgangen waren, den die zwei Männer offenbar ausheckten. So etwas Dummes!

Sie blies sich eine Locke, die nach vorn gefallen war, aus dem Gesicht und machte Anstalten, sich aufzusetzen. Da hörte sie einen Schmerzenslaut, als ihr Knie mit einem bestimmten Teil der männlichen Anatomie in Berührung kam. Georgiana stieß einen entsetzten Schrei aus und versuchte aufzuspringen, doch ihre ineinander verwickelten Unterröcke hielten sie zurück und ließen sie noch einmal vornüberfallen.

Wieder konnte Georgiana Ausrufe hören, und dann spürte sie, wie eine Hand sie fest um die Taille fasste. Als sie den Kopf hob, zuckte sie erschreckt vor dem Gesicht zurück, das auf einmal vor ihr auftauchte. Die dunklen Augenbrauen hoben sich nicht mehr ironisch nach oben, sondern waren zusammengezogen, sodass die ebenmäßigen Züge darunter unheilverkündend verzerrt erschienen. Statt des anziehenden Mundes erblickte sie etwas, das einem Zähnefletschen sehr nahe kam. „Hören Sie um Himmels willen endlich zu zappeln auf!“, knurrte der Mann.

„Lord Ashdowne!“, keuchte Georgiana. Sie wurde starr vor Entsetzen, dann hoben seine Hände sie bereits mühelos an und stellten sie auf die Füße. Verlegen trat sie einen Schritt zurück, doch er hielt sie noch immer, und Georgiana wurde sich auf einmal der Hitze bewusst, die von seiner Berührung ausging. Wie Feuer brannte seine Haut durch den dünnen Seidenstoff, den sie trug, und entflammte die ihre, wobei eine angenehme Wärme durch ihren Körper zu strömen schien.

Merkwürdig! Georgiana starrte ihr Gegenüber gebannt an. Er war noch wesentlich schöner, wenn man ihm nahe war; seine Augen leuchteten so blau, dass die ihren im Vergleich dazu bestimmt trüb anstatt klar erschienen. Georgiana fühlte ein seltsames Kribbeln in der Magengegend. Noch während sie ihn so anschaute, ließ er sie los und trat zurück, wobei sein markantes Gesicht einen höchst verärgerten Ausdruck zeigte. Er hob eine schlanke Hand, um den Schmutz von seiner eleganten Seidenweste abzuklopfen. Zu ihrer Empörung sah der Marquess sie an, als wäre sie ein unangenehmes Ungeziefer, das er am liebsten zerdrücken oder zumindest so schnell wie möglich loswerden würde.

Georgiana riss sich aus ihrer Benommenheit und murmelte so leise eine Entschuldigung, dass es wie der atemlose Unsinn einer entzückten Verehrerin klang. Und dann spürte sie auch noch, wie ihre Wangen vor Scham feuerrot anliefen – dabei hatte sie geglaubt, über dieses Alter hinaus zu sein! Sie war doch keine von diesen heiratswütigen Mädchen! Verzweifelt suchte sie nach den richtigen Worten, um dies Seiner Lordschaft irgendwie zu vermitteln. Doch ihre stotternde Entschuldigung wurde durch das Eintreffen ihrer Mutter unterbrochen, die gemeinsam mit zwei Dienern herbeieilte. Die beiden Hausangestellten machten sich sogleich daran, die Erde, die über den ganzen Teppich verteilt war, zusammenzukehren.

„Georgie!“ Sie zuckte entsetzt zusammen, als sie ihren Kosenamen so laut vernahm. Dabei überhörte sie Ashdownes gemurmelte Gemeinplätze. Noch bevor sie mit ihm sprechen konnte, empfahl er sich und ging fort, ganz so, als ob er erleichtert wäre, ihrer Gesellschaft ledig zu sein. Georgiana gefiel es ganz und gar nicht, von ihrer Mutter und ihren Schwestern umringt zu werden, während er in der Menge verschwand.

„Georgie! Was um Himmels willen hast du denn gemacht? Blattläuse gesucht?“, fragte ihre Mutter und betrachtete die Pflanze, wohl in der Hoffnung, dass sie eine Erklärung liefern würde. Als diese jedoch nichts von sich gab, wandte sie sich wieder an ihre Tochter.

„Hübsches Mädchen, aber leider nicht allzu graziös.“ Die durchdringende Stimme ihres Vaters veranlasste Georgiana genauso zu einer Grimasse, wie es das Geplapper ihrer Schwestern tat. Warum musste ihre ganze Familie denn ein solches Aufheben machen?

„Sind Sie in Ordnung, Miss Bellewether?“ Als ob ihre Lage nicht bereits schlimm genug war, hatte Mr. Nichols sich nun auch noch eingefunden. Das war allerdings kaum zu vermeiden gewesen, wenn man bedachte, was für ein Theater sie veranstaltet hatte. „Es ist ja auch nicht verwunderlich, dass so etwas passiert, wenn derart viele Gäste anwesend sind und der ganze Boden mit Hindernissen vollgestellt ist.“ Er schüttelte den Kopf, und sein Blick wanderte über Georgianas zerknittertes Ballkleid zu ihrer Fessel hinab. Georgiana strich sich eilig den Rock zurecht und seufzte, als ihre Mutter sie zu einem in der Nähe befindlichen Stuhl drängte, wo Mr. Nichols ihr das Eis unter die Nase hielt, das bereits zu schmelzen begonnen hatte.

Während alle sich um sie kümmerten, verspürte Georgiana das Bedürfnis, aufzuspringen und so weit wie möglich zu entfliehen. Es war ihr besonders unangenehm, dass alle Augen im Saal auf sie gerichtet zu sein schienen, vor allem wenn man bedachte, dass sie ja versucht hatte, unauffällige Beobachtungen anzustellen. Sie hatte wirklich grandios versagt – und ausgerechnet in dem Augenblick, in dem ihr endlich einmal etwas Interessantes zu Ohren gekommen war.

Georgiana gab ihrer Mutter ungeduldig zu verstehen, endlich von ihr zu lassen, und suchte dann die Menge nach Lord Whalsey und seinem Begleiter ab. Sie entdeckte nur Ashdowne. Obgleich er mit der Gastgeberin zu sprechen schien, ruhte sein Blick doch auf ihr, und sein Mund verzog sich vor Empörung, als ob er sie für das vorangegangene Missgeschick allein verantwortlich machen würde.

So etwas Dummes! Schließlich hatte sie ihn nicht gerufen, ja, ihr war es nicht einmal aufgefallen, dass er ihr zu Hilfe eilte. Demnach konnte er es ihr kaum vorwerfen, wenn sein Versuch, sie zu retten, fehlgeschlagen war. Ohne ihn wäre es besser gelaufen, dachte sie und errötete wieder. Am liebsten hätte sie ihm das gesagt, aber die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen, war wieder vorübergegangen und sie trug selbst die Schuld daran.

Ein richtiger Detektiv hätte beim Anblick eines attraktiven Gesichts sicherlich nicht gestarrt wie ein einfältiges Schulmädchen, sondern vielmehr das Beste aus diesem zufälligen Zusammentreffen gemacht. Er hätte Ashdowne gefragt, aus welchem Grund er sich denn in Bath aufhalte, und dessen Antworten geschickt dazu genutzt, ihn zu überführen. Welchen Vergehens, war Georgiana nicht ganz klar, aber sie war fest entschlossen, es zu finden.

Sie wollte erneut einen Blick auf das Objekt ihrer Überlegungen werfen und stellte überrascht fest, dass Ashdowne bereits wieder verschwunden war. Lady Culpepper sprach mit einer Dame, die einen Turban trug. Erstaunt stieß Georgiana die Luft aus, sodass eine ihrer Locken hin und her wippte, und schüttelte den Kopf. Dieser Mann war einmal hier und einmal da, um dann plötzlich ganz zu verschwinden. Sie war froh, dass sie nicht zu Aberglauben neigte, denn sonst hätte sie ihm leicht übernatürliche Fähigkeiten zugesprochen.

„… wie klare Seen.“ Mr. Nichols’ Stimme brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie setzte ein gequältes Lächeln auf und versuchte mehr Geduld aufzubringen, als sie das gewöhnlich tat. Es gelang ihr auch für ein paar Minuten, doch dann gab sie auf und entschuldigte sich.

Ihrer Mutter gegenüber behauptete sie, dass sie sich nach dem Missgeschick etwas frisch machen müsse, und eilte durch den Saal, wobei sie sich nach Whalsey und Cheever umsah, jedoch ohne Erfolg. Als sie Mr. Hawkins erblickte, der sich gerade auf sie zu bewegte, floh sie entsetzt in den Garten, wo sie erst einmal erleichtert aufatmete.

In der nächtlichen Luft lag der Duft der Sommerblumen, die versteckte Gartenwege säumten und nur durch das Funkeln der Sterne erhellt wurden. Eine andere junge Dame hätte sich vielleicht an dem Zauber des Abends erfreut, doch Georgiana fühlte sich in keiner Weise danach. Sie fragte sich vielmehr, wer sich wohl dort draußen in der Dunkelheit herumtrieb. Hatten sich Whalsey und sein Kumpan an einen abgeschiedeneren Ort zurückgezogen, um ihre verdächtigen Geschäfte dort weiter zu besprechen? Nur Georgianas angeborene Vernunft hielt sie davon ab, ihrer Neugierde freien Lauf zu lassen und die nächtlichen Wege zu betreten.

Mit einem Seufzer verfluchte sie ihr Geschlecht, das sie männlichen Vorstellungen und Plänen unterwarf und ihr innerhalb der Gesellschaft Beschränkungen auferlegte. Ein Londoner Detektiv konnte gehen, wohin er wollte, ob dies nun ein nächtlicher Garten war oder eine heruntergekommene Gegend in der Hauptstadt. Ach, was muss das doch für ein herrliches Leben sein; sie überlegte keinen Moment, wie ein solcher Mann überhaupt auf ein solches Fest gelangen würde. Minutenlang stellte sie sich entzückt die großartige Karriere vor, die sie hätte haben können, wenn sie nur als Mann geboren worden wäre.

Georgiana hätte sicherlich noch länger dort gestanden und sich ihren angenehmen Gedankenspielen überlassen, wenn nicht auf einmal ein lautes Kichern hinter einem der nahe gelegenen Büsche zu vernehmen gewesen wäre. Seufzend entschloss sie sich, zu dem Fest zurückzukehren, bevor sie Zeugin eines heimlichen Rendezvous wurde, das sie überhaupt nicht interessierte. Zweifelsohne suchte ihre Mutter auch bereits nach ihr, da es allmählich spät wurde und die achtbare Familie Bellewether sicherlich bald aufbrechen wollte.

Nachdem sie einen letzten Blick auf den dunklen Rasen geworfen hatte, drehte sich Georgiana um und huschte durch die Glastüren in den Empfangssaal zurück. Sie wollte gerade ihre Familie suchen, als ein Schrei ertönte, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Verblüfft drehte sie sich in die Richtung um, aus der er gekommen war, und sah ihre Gastgeberin, Lady Culpepper, gemeinsam mit der turbantragenden Dame, die Georgiana bereits vorhin beobachtet hatte, die Treppe heruntereilen.

Die beiden Frauen wirkten völlig aufgelöst, und Georgiana lief auf sie zu. Sie erreichte den Fuß der Treppe gerade rechtzeitig, um zu hören, wie die Turbanträgerin etwas über eine Halskette flüsterte. Dann ertönte bereits eine Stimme, die über das aufgeregte Gemurmel der Menge hinweg rief: „Lady Culpeppers berühmte Smaragde sind gestohlen worden!“

Während sich noch die Nachricht über den Diebstahl wie ein Lauffeuer im Empfangssalon, im restlichen Haus und sicherlich auch in ganz Bath verbreitete, erhielt Georgiana, die sich weigerte, nach Hause zu gehen, bevor sie nicht die ganze Geschichte erfahren hatte, den ersten atemlosen Bericht der Geschehnisse. Mrs. Higgott, die Frau mit dem Turban, erzählte ihr, was sich abgespielt hatte.

Nachdem Georgiana das aufgeregte Gestammel und Geplapper auf die nackten Tatsachen reduziert hatte, ergab sich Folgendes: Die zwei Frauen hatten über Lady Culpeppers Juwelen gesprochen, und Mrs. Higgott hatte sich bewundernd über das Smaragdcollier geäußert, das in der feinen Gesellschaft als der Stolz der Kollektion Ihrer Ladyschaft angesehen wurde. Lady Culpepper hatte daraufhin – entweder aus Eitelkeit oder aus Freundlichkeit – angeboten, ihr das teure Stück zu zeigen. Die beiden waren nach oben in die Gemächer der Gastgeberin gegangen, wo sie den geöffneten Schmuckkasten vorfanden. Das besagte Collier war verschwunden, und das Fenster stand offen.

Da den ganzen Abend über ein Diener in der Halle vor der Tür gestanden hatte, wurde angenommen, dass der Dieb es irgendwie geschafft hatte, am Gebäude außen hochzuklettern – ein Kunststück, das beinahe genauso ausführlich besprochen wurde wie der Diebstahl selbst. Obgleich Georgiana ihren Bruder Bertrand später dazu brachte, sie bei einem Rundgang des Anwesens zu begleiten, konnte sie in der Dunkelheit nichts erkennen. Auch ihre Bemühungen, die zwei Frauen eingehender zu befragen, schlugen fehl. Aus Rücksichtnahme auf Lady Culpepper brachen die Besucher recht rasch auf, und alle äußerten sich schockiert darüber, dass ein solches Verbrechen im ruhigen Bath geschehen konnte.

Alle außer Georgiana.

2. KAPITEL

Am Morgen nach dem Diebstahl stand Georgiana schon früh auf, da diese erste echte Herausforderung an ihre Fähigkeiten sie in große Aufregung versetzte. Sie nahm im Salon an ihrem Schreibtisch aus Rosenholz Platz und schrieb alles auf, was ihr noch über den Abend und die Gesellschaft im Gedächtnis geblieben war. Leider hatte sie weder den Tatort selbst begutachten noch die Betroffenen verhören können, sodass sie froh war, zumindest während des Vorfalls anwesend gewesen zu sein.

Das Rätsel, das es zu lösen galt, war wahrhaftig eine harte Nuss und nicht mit einem gewöhnlichen Verbrechen zu vergleichen. Jemand hatte das Ganze gut durchdacht und viel gewagt. Georgiana lächelte geistesabwesend, während sie alles niederschrieb, was ihr wichtig erschien. Als Erstes war natürlich der Zeitpunkt interessant. Wann hatte Lady Culpepper das Zimmer das letzte Mal betreten, bevor sie mit Mrs. Higgott dorthin zurückkehrte? Und was war mit dem Diener, der vor dem Zimmer Wache stand? Hatte er nichts gehört? War er wirklich den ganzen Abend über dort gewesen oder hatte er seinen Posten einmal verlassen?

Welches Zimmer war es? Konnte man durch einen anderen Raum dort hineingelangen? Georgiana wäre überglücklich gewesen, wenn sie nach irgendwelchen Indizien hätte forschen können, die der Dieb zurückgelassen hatte – einschließlich des Schmuckkästchens. Soweit sie das wirre Gerede der beiden Frauen verstanden hatte, war die Schatulle mit den restlichen Juwelen noch da.

Georgiana runzelte die Stirn. Warum stahl jemand nur die Halskette? War es dem Dieb nicht möglich gewesen, mehr mitzunehmen? Gewiss, ein Mann, der an der Hauswand hoch- und vielleicht auch wieder hinuntergeklettert war, konnte nicht besonders viel transportieren, aber ein paar kleinere Schmuckstücke hätten sich in den Taschen seiner Kleidung sicher unterbringen lassen. Oder war er in Eile gewesen, weil er fürchten musste, jeden Moment überrascht zu werden? Wie auch immer – Georgiana konnte sich keinen Reim darauf machen, warum jemand einen solch umständlichen Plan verfolgt hatte, um ins Haus einzubrechen. Vielleicht hat der Dieb ja auch ein Seil nach oben geworfen, dachte sie. Da sie nicht recht wusste, wie so etwas funktionierte, nahm sie sich vor, Bertrand zu fragen. Außerdem wollte sie sich unbedingt das Haus bei Tageslicht ansehen.

Wenn sie doch nur das Zimmer begutachten könnte! Die offene Schmuckschatulle erinnerte sie an irgendetwas, doch da es ihr im Augenblick nicht einfiel, kritzelte sie schnell eine Notiz auf das Papier und nahm sich dann ein weiteres Blatt, um ihre Verdächtigen aufzuschreiben. Ihre Hand zitterte vor Aufregung, denn der Diebstahl war nicht nur eine Herausforderung an ihren Verstand, sondern auch eine Chance für sie. Wenn sie dieses Rätsel lösen und den Namen des Schuldigen der Polizei nennen konnte, dann würde sie endlich die Anerkennung bekommen, nach der sie sich so sehnte.

Sie stützte ihren Kopf in die Hand und lächelte träumerisch, während sie sich vorstellte, wie sie öffentlich gelobt werden würde, vor allem, wenn sie es schaffte, den gestohlenen Schmuck wiederzubeschaffen. Noch wichtiger als die Bewunderung war ihr jedoch die Möglichkeit, sich einen Namen zu machen. Sie malte sich begeistert eine Zukunft aus, in der Menschen aus dem ganzen Land zu ihr, Georgiana Bellewether, kamen, um sie bei mysteriösen Vorfällen zurate zu ziehen.

In Gedanken an solch glorreiche Aussichten seufzte sie entzückt und wandte sich wieder dem vor ihr liegenden Problem zu. Als Erstes war es schließlich notwendig, herauszufinden, wer nun Lady Culpeppers Halskette gestohlen hatte. Natürlich konnte es sich bei dem Dieb um jemand handeln, den sie, Georgiana, nicht kannte, der sich in kriminellen Kreisen bewegte und nur auf seine Chance gewartet hatte. Doch ihr Ahnungsvermögen sprach dagegen. Kein gewöhnlicher Gauner würde ausgerechnet an einem Abend, an dem es in dem betreffenden Haus vor Gästen und Dienern nur so wimmelte, einen Einbruch wagen.

Wer auch immer für die Tat verantwortlich war, hatte keine Zeit damit verloren, andere Zimmer zu durchsuchen, sondern genau gewusst, wo er seine Beute finden würde. Plötzlich ließ Georgiana die Hand sinken und hob den Kopf, während ihr wieder die Unterhaltung, die sie heimlich mit angehört hatte, in den Sinn kam. Bereits das Geflüster war ein Hinweis darauf gewesen, dass Lord Whalsey und Mr. Cheever etwas Schändliches planten. Doch hätte sie nie geglaubt, dass die beiden ein derart gewagtes Verbrechen zu bewerkstelligen vermochten.

Mit grimmigem Gesicht schrieb Georgiana alles auf, was die beiden gesagt hatten, einschließlich Mr. Cheevers Bemerkung, dass ihn die Anwesenheit der Diener bis dahin abgehalten hatte, „es“ zu holen. Ach, das ist ja alles wirklich einfach, dachte Georgiana, und während sie Mr. Cheever und den Mann, für den er arbeitete, als Erste auf ihre Liste setzte, stellte sie sich wieder vor, wie sie berühmt wurde.

So vielversprechend ihr die beiden Verdächtigen auch zu sein schienen, wollte Georgiana doch alle Möglichkeiten durchgehen. Deshalb überlegte sie sich, wer sonst noch an jenem Abend da gewesen war, der für das Verbrechen verantwortlich sein könnte. Bei dem Schuldigen könnte es sich um einen Diener handeln, dachte sie, auch wenn solche Fälle selten waren. Wer von den Bediensteten hätte außerdem Zeit gehabt, während des Fests am Haus hochzuklettern? Sie hoffte, dass sich die Gelegenheit ergeben würde, Lady Culpeppers Dienstboten zu befragen, um möglicherweise wichtige Informationen aus ihnen herauszubringen.

Was die Gäste betraf, fiel es Georgiana nicht leicht, allzu viele Verbrechenskandidaten aus der gehobenen Gesellschaft von Bath auf ihre Liste zu setzen. Die meisten hielt sie für zu dumm, um ein so raffiniertes Verbrechen zu begehen, und wieder andere erschienen ihr zu ehrlich und einfallslos, als dass sie auf einmal eine kriminelle Laufbahn eingeschlagen hätten. Als sie sich jedoch all diese braven Gesichter vor Augen führte, erinnerte sie sich plötzlich wieder an den Vikar und seinen offen bekannten Widerwillen den Reichen gegenüber. Stirnrunzelnd überlegte sie, ob dem eifernden Kirchenmann ein solcher Diebstahl zuzutrauen wäre. Seine hasserfüllten Worte hatten sie verstört, und sie schrieb ihn, ohne weiter zu zögern, an die zweite Stelle ihrer Verdächtigenliste.

Noch einmal ging sie in Gedanken alle durch, die sie auf der Gesellschaft gesehen hatte. Die wohlhabenden Witwen, die gichtkranken Greise und die jungen Mädchen schloss sie von vornherein aus, da sie nicht glaubte, dass sie es zuwege bringen würden, durch ein Fenster im oberen Stockwerk zu steigen. Nein, der Täter musste jemand sein, der beweglich und schlank war, der die Kraft besaß, eine Hauswand hochzuklettern. Jemand, der sicherlich Gelenkigkeit besaß und der … der ganz in Schwarz gekleidet war?

Georgiana kniff die Augen zusammen, als sie sich die elegante dunkle Gestalt Ashdownes vorstellte. Ashdowne, der anscheinend nach Belieben auftauchte und wieder verschwand, wirkte auf sie wie ein Mann, der zu allem fähig war – auch dazu, an einer Mauer emporzuklimmen. Seine Kraft hatte er ja bewiesen, als er sie so mühelos von seinem unter ihr liegenden Körper hochgehoben hatte. Bei der Erinnerung an diese Szene errötete Georgiana erneut, vor allem wenn sie daran dachte, dass dieser gut aussehende Gentleman sie vor den Augen aller zu einer stotternden Närrin hatte werden lassen.

Georgiana schnaubte vor Wut über sich selbst und den Mann, dem es so leicht gelungen war, ihr die Sprache zu rauben. Er führte etwas im Schilde, dessen war sie sich sicher! Er war einfach zu – zu gesund, als dass er ein Heilwasser gebraucht hätte. Natürlich kann seine Anwesenheit in Bath auch etwas mit einer Frau zu tun haben, fiel Georgiana auf einmal ein – ein Gedanke, der seltsamerweise ein Gefühl der Enttäuschung nach sich zog. Es geschah schließlich recht häufig, dass Männer der besseren Gesellschaft ein Techtelmechtel mit Ehefrauen, Witwen oder anderen bereitwilligen Damen anfingen. Doch irgendwie hatte Georgiana von dem Besitzer dieser auffallend klugen Augen mehr erwartet.

Als sie sich die Frauen vorstellte, die am Abend zuvor bei der Gesellschaft gewesen waren, fiel es ihr schwer, eine passende Kandidatin zu finden. Ihrer Meinung nach hatte keine der Damen so ausgesehen, dass es die Mühe gelohnt hätte, aber sie war kein Mann. Und sicher war es ein Gemeinplatz, aber man wusste einfach wirklich nie, was die Männer insgeheim bewegte. Georgiana hatte Ashdowne mit einer Witwe gesehen, doch diese hatte mit anderen weitergetanzt, als er nicht da gewesen war. Es war sein unerklärliches Verschwinden, das Georgiana dazu veranlasst hatte, seinen Namen auf ihre Liste zu setzen.

Auch wenn sie weder Mr. Nichols noch irgendeinen anderen ihrer Verehrer mochte, so konnte sie diese Männer beim besten Willen nicht aufschreiben. Keiner von ihnen schien das nötige Zeug zu einem so wagemutigen Verbrechen zu besitzen. Selbst wenn sie ihre Verehrer falsch einschätzte, so hatte Bertrand ihr doch berichtet, dass die jungen Leute während des Diebstahls im Spielzimmer zusammengesessen hatten und mit irgendeiner Wette beschäftigt gewesen waren. Sie hatte ihren Bruder genau befragt und sich dabei vor allem nach jenen jungen Männern erkundigt, die vielleicht die erforderliche Beweglichkeit besaßen.

Somit blieben ihr nur wenige Verdächtige. Natürlich bestand noch immer die Möglichkeit, dass der Einbrecher jemand war, der sich gar nicht auf dem Fest befunden, aber die diesbezüglichen Informationen von einem der Anwesenden erhalten hatte. Diese Vorstellung gefiel ihr am allerwenigsten. Sie musste unbedingt die Namen aller Gäste bekommen und sich mit den Bediensteten und mit Lady Culpepper selbst unterhalten.

Georgiana legte ihre Liste beiseite und schrieb eilig ein paar Zeilen an die Dame, in denen sie sie bat, sie so bald als möglich aufsuchen zu dürfen, da sie eine höchst wichtige Angelegenheit mit ihr zu besprechen hätte. Noch am selben Vormittag wollte sie einen Diener mit der Nachricht zu ihr schicken; denn je schneller sie mit ihrer Untersuchung begann, desto rascher konnte sie die Juwelen wieder auffinden.

Der Diebstahl war zwar ein brillanter Schachzug gewesen, doch Georgiana bezweifelte nicht, dass ihre eigenen geistigen Fähigkeiten es ihr ermöglichen würden, das Rätsel bald zu lösen. Mr. Cheevers spitze Gesichtszüge tauchten vor ihr auf, und sie fragte sich, ob er überhaupt klug genug für diesen Diebstahl war. Sie kämpfte zwar dagegen an, doch sie konnte nicht anders – sie bewunderte den Täter insgeheim. Hier war endlich einmal ein Mann, der sich mit ihren eigenen Fähigkeiten messen konnte. Sie seufzte und stützte gedankenverloren den Kopf auf die Hände.

Ihr Pech, dass er ein Verbrecher war.

Nachdem Georgiana den ganzen Vormittag über ungeduldig auf Antwort gewartet hatte, erhielt sie schließlich die erhoffte Einladung. Sie eilte davon, um ihren Schwestern zu entgehen, und traf kurz nach Mittag in Lady Culpeppers elegantem Heim ein. Sie wurde zu einem Salon geführt, in dem die Gastgeberin in einem zierlichen Sessel saß und neben sich ein Tablett hatte, auf dem ihr Lunch stand.

„Kommen Sie herein, junge Dame!“, rief die ältere Frau mit schriller Stimme. Georgiana trat in den verschwenderisch ausgestatteten Raum mit seinem weißen Marmorkamin und dem glitzernden Kronleuchter. Das Mobiliar sah genauso aus wie am Abend zuvor, doch Lady Culpepper schien in dem Tageslicht, das durch die hohen Fenster fiel, wesentlich älter geworden zu sein.

Georgiana bemerkte, wie die Dame sie prüfend musterte, während sie sich auf einem Stuhl in ihrer Nähe niederließ. „Danke, dass Sie mich empfangen, Mylady“, begann sie höflich, bevor sie den säuerlichen Ausdruck auf Lady Culpeppers Gesicht sah.

„Sie sollten auch dankbar sein“, erwiderte die Hausherrin ungnädig. „Ich habe heute niemanden empfangen, denn ich bin äußerst niedergeschlagen. Sagen Sie mir also, was ist so wichtig, dass Sie mich aufsuchen? Wissen Sie etwas über mein Collier?“ Georgiana nickte, und ihr Gegenüber lehnte sich weiter vor, wobei ihre knochige Hand sich an die Mahagonilehne des Sessels klammerte. Ihre Augen verrieten eine Schläue, die Georgiana verriet, dass Lady Culpepper keine Närrin war.

„Also?“, fragte sie ungeduldig.

„Ich habe mir den Vorfall durch den Kopf gehen lassen und aufgrund der Informationen, die ich hatte, die Verdächtigen auf einige wenige reduziert“, antwortete Georgiana. Da Lady Culpepper verwirrt dreinschaute, fügte sie hinzu: „Ich halte mich für fähig, diesen Fall zu lösen und hoffe, schon bald zu einem schlüssigen Ergebnis zu gelangen. Dafür müsste ich jedoch zuerst mit Ihren Bediensteten sprechen und Ihnen selbst ein paar Fragen stellen.“

„Wer sind Sie?“, wollte Lady Culpepper wissen.

„Georgiana Bellewether, Mylady“, erwiderte sie, wobei sie sich fragte, ob die Frau vergesslich war.

„Ein Niemand also!“, sagte Lady Culpepper in einem erhabenen Ton. „Sie glauben wohl, dass Sie hier so einfach hereinplatzen können …“

„Aber Sie haben mich doch eingeladen, Mylady“, protestierte Georgiana und erhielt für diese Unterbrechung einen weiteren vernichtenden Blick.

„Junge Dame, Sie sind sehr impertinent. Ich willigte ein, Sie zu sehen, weil ich glaubte, dass Sie etwas über das gestohlene Schmuckstück wüssten.“

„Aber das tue ich doch auch“, meinte Georgiana. „Ich kann Ihnen helfen, wenn …“

„Bah, die Hilfe eines dummen Mädchens, das glaubt, mehr als die Höhergestellten zu wissen!“

„Ich kann Ihnen versichern, dass meine Fähigkeiten zu Hause bekannt sind, auch wenn hier in Bath …“

„Zu Hause! Das ist doch zweifellos ein unwichtiges, ein winziges Dorf!“, schnaubte Lady Culpepper.

Georgiana verstand, dass sie nun eine andere Taktik anwenden musste. „Was können Sie denn schon verlieren, Mylady?“, fragte sie. „Ich will keine Belohnung für meine Dienste, sondern Ihnen nur so gut, wie es mir möglich ist, behilflich sein.“

Bei dem Wort „Belohnung“ leuchtete in Lady Culpeppers Augen die Geldgier auf. „Die werden Sie auch sicherlich nicht bekommen“, schnappte sie. Für einen Moment schaute Georgiana sie nur gleichmütig an. Schließlich schnaubte ihre Ladyschaft noch einmal und hob stolz den Kopf. „Also gut. Stellen Sie Ihre Fragen, aber rasch, denn ich habe Wichtigeres zu tun, als den Marotten jedes dummen Mädchens in Bath nachzukommen.“

Während der wenigen Minuten, die Lady Culpepper ihr gnädig gewährte, fand Georgiana heraus, dass die Schmuckschatulle tatsächlich offen vorgefunden und ihr restlicher Inhalt unberührt zurückgelassen worden war. Die Tür war verschlossen gewesen, und der Diener, der davorgestanden hatte, schwor, niemand sei ins Zimmer gelangt.

„Warum haben Sie einen Diener damit beauftragt, vor der Tür Wache zu stehen? Ist das immer seine Aufgabe oder nur dann, wenn im Haus eine Geselligkeit stattfindet?“, erkundigte sich Georgiana.

Lady Culpepper schien durch die Frage ein wenig aus der Fassung gebracht, doch dann hob sie wieder den Kopf und schaute Georgiana hochnäsig an. „Das, junge Dame, geht Sie gar nichts an. Genug der Fragen!“

„Aber, Mylady!“, protestierte Georgiana. Leider wurde ihre Bitte, den Tatort und sein Umfeld zu begutachten, mit einer überheblichen Geste zurückgewiesen. Die gleiche Abfuhr erlebte sie, als sie bat, mit den Bediensteten sprechen zu dürfen. Lady Culpepper wurde immer gereizter.

Sie ließ sich durch das Verhalten der feinen Dame keineswegs einschüchtern. Je mehr Ihre Ladyschaft sprach, desto mehr erinnerte sie Georgiana an ein Fischweib, sodass sie sich fragte, wer wohl ihre Vorfahren gewesen waren. Sie unterdrückte ein Seufzen und versuchte, so weit es ging, doch noch ein wenig mit ihrer Untersuchung voranzukommen. „Können Sie sich einen Ihrer Diener oder Gäste vorstellen, der so etwas tun würde, Madam?“, fragte sie.

„Natürlich nicht!“, erwiderte Lady Culpepper hitzig. „Man hofft doch, dass niemand aus dem näheren Bekanntenkreis ein verabscheuungswürdiger Verbrecher ist! Das hier ist natürlich Bath und nicht London, und ich verdiene es wohl nicht anders, wenn ich mein Haus jedem Hinz und Kunz öffne, der sich hier aufhält. Ich werde sofort nach London zurückkehren, sobald ich mein Collier wiederhabe. Und dort werde ich nicht mehr so leichtfertig Einladungen aussprechen.“

Georgiana machte sich nicht die Mühe, sie darauf hinzuweisen, dass Diebstähle in der verrufenen Großstadt London wesentlich öfter vorkamen, sondern nickte stattdessen zustimmend und fuhr dann fort: „Sie haben keine Feinde oder jemanden, der die Absicht haben könnte, Ihnen zu schaden?“

Ihr fiel auf, dass die ältere Frau auf einmal blass wurde. Ob Lady Culpepper bei der bloßen Erwähnung einer solchen Boshaftigkeit wütend wurde oder ob es der Wahrheit entsprach, konnte Georgiana nicht sagen.

„Gehen Sie, mein Kind! Ich habe bereits genug Zeit mit diesem Unsinn verschwendet“, sagte Ihre Ladyschaft, und ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

Gleich darauf rief Lady Culpepper Jenkins, den Butler, damit er Georgiana hinausbegleitete. Sie konnte also nichts anderes tun, als der unfreundlichen Dame für ihre Zeit zu danken. Als sie ging, vermochte sie ein unbefriedigtes Gefühl nicht zu unterdrücken. Sie ertappte sich bei dem unfrommen Gedanken, dass eine derart unangenehme Frau es verdiente, wenn ihre Juwelen gestohlen wurden. Doch sogleich rief sie sich zur Ordnung, da sie es vermeiden wollte, dass ihre Gefühle ihren Untersuchungen in die Quere kamen.

Als sie vor der Tür stand, verkündete Georgiana dem überraschten Butler, dass sie einen Blick in den Garten werfen wolle. Ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, ging sie um das Haus herum und ließ den Mann stammelnd auf der Türschwelle stehen. Gemächlich schritt sie hinter das Gebäude und starrte dort zu den Fenstern im ersten Stock hinauf. Im Tageslicht war alles viel besser zu erkennen, und Georgiana bemerkte geschwungene Mauervorsprünge, die sich sowohl unter als auch über den Fenstern befanden.

Sie blinzelte und fragte sich, ob der Täter nicht einfach in ein anderes Zimmer geschlüpft war, um von dort über den Mauervorsprung in Lady Culpeppers Schlafzimmer zu gelangen. Ein solches Unternehmen sah allerdings recht gefährlich aus, und Georgianas Herz begann schon bei dieser Vorstellung schneller zu klopfen, da sie Höhen überhaupt nicht mochte. Ein gewandter Mann jedoch, der keine Angst hatte und in solchen waghalsigen Angelegenheiten geübt war, konnte sehr wohl …

„Haben Sie es mal wieder auf die Pflanzen abgesehen?“

Autor

Deborah Simmons

Die ehemalige Journalistin Deborah wurde durch ihre Vorliebe für historische Romane angespornt, selbst Historicals zu schreiben. Ihr erster Roman "Heart's Masquerade" erschien 1989, und seitdem hat sie mehr als 25 Romane und Kurzgeschichten verfasst. Zwei schafften es bis ins Finale der alljährlichen RITA Awards, einer Auszeichnung für besondere Leistungen im...

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