Der Duke meiner Träume

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Geraubte Küsse, heiße Hände auf nackter Haut, verbotenes Verlangen: Sündige Bilder quälen Lady Lucinda seit dem Kutschenunglück mit dem berüchtigten Duke of Alderworth, bei dem sie Teile ihrer Erinnerung verlor. Als sie das ihren Brüdern gesteht, wissen diese nur einen Ausweg: Sie zwingen den Duke, ihre Schwester zu heiraten … und entsenden ihn tags darauf in die amerikanischen Kolonien. Doch drei Jahre später kehrt der Duke zurück. Noch attraktiver, noch verwegener - und wild entschlossen, die sinnlichen Träume seiner jungen Gattin wahr zu machen …


  • Erscheinungstag 20.01.2015
  • Bandnummer 0557
  • ISBN / Artikelnummer 9783733762315
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

England, Bedfordshire, 1831

Meine Brüder werden mich dafür umbringen.

Lady Lucinda Wellingham wusste genau, dass sie das tun würden. Von all den tollkühnen Plänen, die sie jemals ausgeheckt hatte, war dies hier der verrückteste. Er würde sie ruinieren, und das wäre ganz allein ihre Schuld.

„Nur ein Kuss“, flüsterte der Mann und drängte sie gegen die Wand des Korridors. Sein Atem roch nach Alkohol. Er ließ die Hände über ihre Brüste gleiten, über den lächerlich dünnen Stoff des Kleides, zu dem sie sich von Posy Tompkins hatte überreden lassen. Lucinda ahnte, was er als Nächstes vorhatte.

Richard Allenby, dritter Earl of Halsey, war ihr auf Londons Bällen anziehend erschienen, doch hier auf dem Land in Bedfordshire war er unerträglich aufdringlich. Sie stieß ihn zurück, richtete sich auf und war froh, dass sie ihn mit ihrer Größe um einige Zentimeter überragte.

„Ich glaube, Sir, irgendwie haben Sie meinen Wunsch missverstanden, zu …“

Sie verstummte, als er seine Lippen auf ihre presste, ein nasser, schmieriger Kuss, bei dem sie sogleich den Kopf wegdrehte, ehe sie sich den Mund abwischte. Himmel, der Mann geiferte fast, und das machte ihn nicht attraktiver.

„Diese Gesellschaft ist die berüchtigtste der ganzen Saison … und mein Zimmer ist nicht weit von hier.“ Er umfasste ihr Handgelenk, während er zwei anderen Männern winkte, die aussahen, als hätten sie ebenso viel getrunken wie er. Beide starrten sie genauso lüstern an, wie Halsey es tat. Ein Fehler. Sie hätte vorhin davonlaufen sollen, als sie die Gelegenheit dazu hatte und die Schlafgemächer nicht so gefährlich nahe waren. In diesem Sündenpfuhl schien alles möglich zu sein – der Mann, dem dieses Haus gehörte, genoss den denkbar schlechtesten Ruf.

In einem Anflug von Panik stieß sie sich mit dem Ellenbogen an der Wand ab, löste sich aus Halseys Griff und konnte sich so befreien. Rasch rannte sie davon.

Vor ihr lagen enge, gewundene Korridore. Allein auf diesem Stockwerk gab es fast zwanzig Zimmer, und während Lucinda weitereilte, entdeckte sie am Ende des Ganges eine Flügeltür. Sie war um mehrere Ecken gelaufen und war sicher, dass ihre Verfolger keine Ahnung hatten, wohin sie geflohen war. Ohne sich noch einmal umzusehen, drehte sie den reich verzierten Türknauf aus Elfenbein und schlüpfte in das Zimmer.

Drinnen war es dunkel, nur eine Kerze leuchtete neben dem Bett, in dem ein Mann saß und las. Auf seiner Nasenspitze balancierte er eine dickrandige Brille.

Als er aufsah, legte sie einen Finger an die Lippen, damit er still blieb, ehe sie sich wieder zur Tür drehte. Draußen hörte sie ihre Verfolger. Sie würden doch hoffentlich nicht die Türen ausprobieren? Einige Minuten vergingen, das Flüstern draußen war kaum noch hörbar. Dann erstarb es ganz. Die Unholde gaben offensichtlich die Suche nach der entflohenen Beute auf und bedauerten sicher, dass ihr Abendprogramm nun um eine Unterhaltung ärmer geworden war.

Eine Woge der Erleichterung überkam sie.

„Darf ich jetzt etwas sagen?“ Die Stimme klang tief und lakonisch. Aber der Mann wirkte auch angespannt.

„Wenn Sie leise sprechen, ist es ungefährlich, denke ich.“ Lucinda sah sich unsicher um.

Als Antwort hörte sie nur einen Fluch, und als die Laken zurückgeschlagen wurden, sah sie einen splitterfasernackten Mann aufstehen. Sie starrte ihn an, ihr Mund stand weit offen. Es war nicht irgendein Mann – sondern ausgerechnet der skandalumwitterte Gastgeber dieser Wochenendgesellschaft: Taylen Ellesmere, der sechste Duke of Alderworth. Der ruchlose Duke, wie man ihn nannte, ein Wüstling, der sich nicht um Moral kümmerte und dem es egal war, was sich gehörte, solange er nur seinen amourösen Vergnügungen nachgehen konnte.

Vollkommen nackt ging er an ihr vorbei und verschloss die Tür. Lucinda vernahm das Geräusch überdeutlich, aber sie konnte keinen Muskel bewegen.

Er war schön. Das musste sie leider zugeben. Sein dunkles Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und seine Augen hatten die Farbe der nassen Blätter bei einem Sturm auf Falder. Unterhalb des Halses betrachtete sie ihn nicht, obwohl sie ein unbändiges Verlangen danach spürte. Sein Lächeln schien ihr zu sagen, dass er wusste, was sie dachte, und die Fältchen um seine Augen zeigten, dass er amüsiert war. „Lady Lucinda Wellingham?“

Der ruchlose Duke kennt meinen Namen? Sie nickte und versuchte, etwas zu sagen. Was würde als Nächstes geschehen? Sie fühlte sich wie ein kleines Lamm vor dem großen, bösen Wolf.

„Wissen Ihre drei Brüder, dass Sie hier sind?“

Sie schüttelte den Kopf, konnte vor Angst kaum atmen. Seit Tagesanbruch war so ziemlich alles schief gegangen, daher versuchte sie, ihr Mieder ein wenig zu öffnen, und war froh, als es nachgab und sie wieder etwas Luft holen konnte. Der künstlich geformte Ausschnitt, den die Damen der Gesellschaft so wichtig fanden, verschwand, als die Schnüre gelöst waren, und ihre Brüste fielen zurück in ihre natürliche, eher zarte Form. Das auffallende rote Kleid, das sie trug, öffnete sich vorn in sehr verführerischer Weise, und sie bemerkte, dass er das durchaus zur Kenntnis nahm.

„Mein Zimmer als Versteck zu wählen, war vielleicht nicht die klügste aller Entscheidungen.“ Er warf einen vielsagenden Blick zum Bett.

Lucinda ging auf diese Bemerkung nicht ein. „Richard Allenby, Earl of Halsey, und seine Freunde ließen mir kaum eine andere Wahl, Euer Gnaden. Ich brauchte einen sicheren Ort.“

Darüber musste er lachen, und das Geräusch hallte im Zimmer nach.

„Alkohol löst die erstickenden Fesseln des gesellschaftlichen Drucks. Gute Manieren und Anstand sind Dinge, die die meisten Männer nicht länger als ein paar Wochen ertragen, und dieser Ort erlaubt ihnen, etwas Dampf abzulassen, wenn Sie so wollen.“

„Auf Kosten der Frauen, die dazu Nein sagen?“

„Die meisten Damen hier ermutigen solches Verhalten und kleiden sich entsprechend.“

Er ließ den Blick über ihr tiefes Dekolleté gleiten, dann sah er ihr wieder in die Augen.

„Dies ist nicht London, Mylady, und es gibt auch nicht vor, das zu sein. Wenn Halsey Sie beleidigt hat, dann deshalb, weil er glaubte, Sie – nun, Sie ständen zur Verfügung. Auf den freien Willen lege ich hier in Alderworth sehr großen Wert.“

In seinem Blick lag eine Herausforderung, keine Entschuldigung. Wenn sie seine Miene beschreiben müsste, würde sie tatsächlich sagen, dass ein gewisser Gleichmut darin lag, als spielte eine Eidechse mit einer Fliege, der bereits die Flügel fehlten.

Sie tastete nach dem Türknauf, aber als sie nach dem Schlüssel suchte, stellte sie fest, dass er abgezogen war. Eine schnelle Handbewegung, die sie nicht gesehen hatte.

„Da der freie Wille Ihnen so wichtig ist, würde ich jetzt gern meinen eigenen zum Einsatz bringen und Sie bitten, die Tür zu öffnen.“

Er beugte sich über einen Haufen Kleidungsstücke, die unordentlich auf einem Stuhl lagen, und zog eine Taschenuhr hervor.

„Unglücklicherweise ist das eine ungewöhnliche Uhrzeit: zu früh, als dass die Gäste richtig betrunken wären und daher harmlos, und zu spät, als dass sie sich wie Gentlemen benähmen und daher über jeden Verdacht erhaben wären. Jeder Schritt in diesem Haus wäre um diese Zeit gefährlicher, als einfach hier bei mir zu bleiben.“

„Hier zu bleiben?“

Seine Augen funkelten. „Ich habe Platz genug.“

„Sie kennen mich seit zwei Minuten, und die Hälfte davon haben wir schweigend verbracht.“ Sie versuchte, ihre Stimme so autoritär klingen zu lassen, wie es ihr nur möglich war.

„Genug, um Ihre – vielfältigen Reize zur Kenntnis zu nehmen.“ Der Blick aus seinen grünen Augen war verschleiert und sinnlich. Es lag eine Einladung darin.

„Sie hören sich an wie der Wolf aus den Märchen der Brüder Grimm, Euer Gnaden, obwohl ich nicht glaube, dass irgendeine Figur aus den Kinderbüchern jemals so nackt gewesen ist.“

Rasch wich sie vor ihm zurück und sah mit Freude, dass er ein langes weißes Hemd anzog, das an den Schultern in weite Ärmel überging. Ein Kleidungsstück für einen Piraten oder einen Straßenräuber. Es passte ausgezeichnet zu ihm.

„Ist es so besser, Mylady?“

Als sie nickte, lächelte er und nahm dann zwei Gläser aus dem Schrank hinter ihm. „Vielleicht löst ein guter Wein etwas von Ihren Vorbehalten.“

„Das wird er gewiss nicht.“ Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihr Tonfall streng, und ihr Blick fiel auf das Buch, das auf dem Bett lag. „Machiavellis Il Principe ist eine seltsame Wahl für einen Mann, der keinen Wert auf den Namen der Generationen von Ellesmeres zu legen scheint, die vor ihm hier waren.“

„Sie meinen, alle Bösewichte sollten Analphabeten sein?“

Zu ihrer eigenen Überraschung begann sie zu lachen, so seltsam war dieses Gespräch. „Nun, gewöhnlich sind sie nicht um zehn Uhr abends im Bett mit nichts als einer Brille bekleidet, um ein Buch über Philosophie und Politik auf Italienisch zu lesen, Euer Gnaden.“

„Glauben Sie mir, es ist anstrengend, ein sündiges Leben zu führen. Es werden immer ruchlosere Taten erwartet! Und das kann sehr ermüdend sein, je älter man wird.“

„Wie alt sind Sie?“

„Fünfundzwanzig. Aber ich übe mich bereits etwas länger darin.“

Er war nur ein Jahr älter als sie, und ihre wenigen öffentlichen Fehltritte waren immer qualvoll gewesen. Doch er ist ein Mann, überlegte sie, wenn auch die unterschiedlichen Verhaltensregeln für beide Geschlechter nicht annähernd seine zahlreichen schockierenden Taten entschuldigten.

„Hat ihre Mutter Sie nicht die Grundlagen menschlicher Nächstenliebe gelehrt, Euer Gnaden?“

„Oh doch, das hat sie. Einen Ehemann und sechs Liebhaber später habe ich sie vollkommen verstanden. Ich war ihr einziges Kind, wissen Sie, und ich lerne schnell.“

Sie hatte die schmutzigen Geschichten über die Familie Ellesmere viele Male gehört, aber nicht aus dem Blickwinkel eines desillusionierten Sohnes. Patricia Ellesmere war weit weg von ihrer Familie gestorben. Es gab Menschen, die sagten, ihr gebrochenes Herz habe sie umgebracht, aber sechs Liebhaber hörten sich nach einem ziemlichen Durcheinander an.

„Was ist mit Ihrem Vater?“ Sie wusste, dass sie diese Frage eigentlich nicht stellen sollte, aber ihre Neugier siegte über jegliches Taktgefühl.

„Er tat das, was jeder Duke, der auf sich hielt, getan hätte, wenn er herausfindet, dass seine Ehefrau ihn mit sechs verschiedenen Männern betrogen hat.“

„Er nahm sich das Leben?“

Taylen Ellesmere lachte. „Nein. Er hat sein Vermögen verspielt und dann seinen Kummer in Brandy ertränkt. Meine Eltern starben an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, in verschiedenen Ecken des Landes und in der Gesellschaft ihrer neuesten Affären. Leberversagen und ein selbst zugefügter Schuss in den Kopf. Wenigstens wurde dadurch der Preis für die Beerdigung günstiger. Zwei zum Preis von einem senkt die Kosten ganz erheblich.“ Er verzog das Gesicht, und der Blick aus seinen grünen Augen wurde hart. „Damals war ich elf.“

Diese Offenheit war unerwartet. Niemand hatte bisher so mit ihr gesprochen, und er entschuldigte sich keineswegs, dass er ihr diese vielen schrecklichen Dinge erzählte.

„Hatten Sie andere Verwandte, die Ihnen helfen konnten?“

„Mary Shields, meine Großmutter, nahm mich auf.“

„Lady Shields?“ Gütiger Himmel, wer in der guten Gesellschaft kannte nicht ihre Vorliebe für boshaften Klatsch? Sie war jetzt seit drei Jahren tot, aber Lucinda erinnerte sich noch an ihre rabenschwarzen Augen und ihre beißenden Bemerkungen. Dieser Frau hatte man ein Waisenkind anvertraut?

„Ich sehe an Ihrer Miene, dass Sie sie kannten.“ Er öffnete die Flasche und schenkte sich großzügig ein.

An jedem Finger seiner linken Hand trug er Ringe, wie ihr auffiel. Sehr üppige Ringe, bis auf den schlichten Ring am Mittelfinger, der mit einer Gravur verziert war. Sie konnte die Buchstaben nicht entziffern.

Zweifellos von einer Frau. Es gingen Gerüchte um, dass er viele Geliebte hatte, junge und alte, dicke und dünne, verheiratete und unverheiratete. Wenn der Appetit ihn überkam, war er angeblich nicht wählerisch. Sie erinnerte sich, dass man sich genau das in der Gesellschaft erzählte – und das skandalöseste für die Klatschtanten war, dass der Hauptbeteiligte nicht das geringste Anzeichen von Reue zeugte.

Der Duke of Alderworth. Sie wusste, dass die meisten Damen der Gesellschaft ihn beobachteten und dass so manche hoffte, dass sie vielleicht diejenige wäre, die ihn bekehren könnte. Aber da er mittlerweile fünfundzwanzig Jahre alt war, glaubte Lucinda nicht, dass er sich für irgendjemanden ändern würde.

Alberne Träume waren das Vorrecht unerfahrener Mädchen. Als jüngste Schwester von drei lebhaften älteren Brüdern fühlte sie sich immun gegen die Reize des anderen Geschlechts und hing nur selten romantischen Träumen über irgendjemanden nach.

Überraschenderweise war das Schweigen, das nun zwischen ihr und dem Duke herrschte, nicht unangenehm. Diese Tatsache war umso erstaunlicher, als sie sich bei dem Gedanken ertappte, neugierig darauf zu sein, wie es wohl war, wenn er sich ebenso auf sie stürzte, wie Richard Allenby, Earl of Halsey, es getan hatte …

Doch er näherte sich ihr in keiner Weise. Von draußen drangen Entzückensschreie herein, und das helle Lachen einer Frau mischte sich mit den tieferen Stimmen ihrer betrunkenen Verehrer. Jemand blies in der Nähe in ein Jagdhorn, und das laute Geräusch ließ Lucinda zusammenzucken.

„Es hört sich an, als wäre dies eine erfolgreiche Nacht. Die Jäger und die Gejagten auf der Suche nach Ekstase. Bald schon wird darauf die Stille der Verdammten folgen.“ Er beobachtete sie genau.

„Ich glaube, Sie wollen mich herausfordern, Euer Gnaden. Ich glaube nicht, dass Sie auch nur halb so schlimm sind, wie die Leute es sagen.“

Seine Miene veränderte sich.

„Da täuschen Sie sich, Lady Lucinda. Denn ich bin genauso, wie die Leute behaupten, und noch viel schlimmer.“ Er wirkte auf einmal verärgert, und dieser Unmut verwandelte ihn auch äußerlich. Plötzlich kam er ihr viel ernster und älter vor. „Es ist eine Tatsache, dass ich Sie im Handumdrehen in mein Bett locken könnte – und Sie würden mich anflehen, nicht aufzuhören mit all dem, was ich mit Ihrem Körper tun möchte.“

Bei dem bloßen Klang seiner Worte schlug ihr Herz schneller, denn in dieser prahlerischen Behauptung lag ein gutes Stück Wahrheit. Sie war sich seiner männlichen Ausstrahlung so bewusst, wie sie es noch nie bei einem anderen Mann erlebt hatte …

Erschrocken drehte Lucinda sich zum Fenster und blickte angestrengt zum Garten hinaus, dessen Wege in dieser Nacht von vielen Fackeln erleuchtet wurden. Im Gebüsch lag ein Liebespaar, eng umschlungen, die nackte Haut schimmerte im Licht. Sie waren umgeben von anderen Paaren, deren Absichten selbst aus der Ferne eindeutig waren. All das schockierte sie bis tief in ihr Innerstes.

„Wenn Sie mich anrühren, werden meine Brüder Sie vermutlich umbringen.“ Sie versuchte, nicht allzu ängstlich zu klingen, während sie diese Drohung aussprach, aber das gelang ihr nicht.

Er lachte nur.

„Sie können es vermutlich versuchen, aber …“ Zwar beendete er den Satz nicht, doch die Drohung, die darin lag, war unüberhörbar. Die Gleichgültigkeit, die sie vorher bemerkt hatte, war nun einer stählernen Härte gewichen, ein Mann, der in der unteren Schicht von Londons Gesellschaft lebte, obwohl er von edelster Herkunft war. Dieser Widerspruch in ihm verwirrte sie, und der rasche Wechsel war beunruhigend.

„Ich bin mit Lady Posy Tompkins zu dieser Gesellschaft gekommen, und sie hat mir versichert, dass dies eine anständige Zusammenkunft ist. Offenbar haben sie und ich verschiedene Vorstellungen von dem Begriff ‚anständig‘, und vermutlich hätte ich genauer fragen sollen, wohin wir gehen, ehe ich Ja sagte. Aber sie hat immer wieder betont, wie viel Spaß wir haben werden, und die Tatsache, dass ihre Patin hier sein würde, ließ das Ganze noch viel ungefährlicher erscheinen …“

Er unterbrach sie, indem er einen Finger auf ihre Lippen legte. „Reden Sie immer so viel, Lady Lucinda?“

Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen. „Das tue ich, Euer Gnaden, denn wenn ich nervös bin, scheine ich immerfort zu reden, obwohl ich mich an keinen einzigen Anlass erinnern kann, bei dem ich so nervös war wie in diesem Moment, wenn Sie mich also bitte aus diesem Zimmer lassen würden, dann gehe ich mit Vergnügen zu …“

Er presste seine Lippen an die Stelle, an der eben noch sein Finger gewesen war, und Lucindas ganze Welt zerbarst in tausend bunte Teile.

2. KAPITEL

Tay wollte nur, dass sie aufhörte zu reden, denn der leichte Anflug von Panik in ihrer Stimme weckte in ihm ein Schuldbewusstsein, wie er es schon seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. Er spürte, wie sie instinktiv ihre Brüste an seinen Körper schmiegte, und das Gefühl gefiel ihm. Gewöhnlich musste er sich zu einer Frau hinabbeugen, aber diese war nur wenig kleiner als er, und ihre Schlankheit betonte ihre Größe noch.

Sie hatte kurze Fingernägel. Und die Schwielen zwischen Zeige- und Mittelfinger zeigten ihm, dass sie Linkshänderin war und irgendeinen Sport ausübte. Vielleicht Bogenschießen. Die Vorstellung, wie sie da stand und ein Ziel anvisierte, während der Wind mit ihrem blonden Haar spielte, war seltsam erregend. Natürlich sollte er sie umgehend von Alderworth fortbringen und dafür sorgen, dass sie sicher im Schoß ihrer Familie geborgen war.

Aber er wusste, dass er das nicht tun würde, und als er sie küsste, drängte sich ihm ein anderes Gefühl auf, über das er gar nicht nachdenken wollte.

Er glaubte nicht, dass sie schon oft geküsst worden war, denn sie hielt die vollen Lippen fest zusammengepresst, bis er seine Zunge dazwischenschob und sie ihn mit großen Augen ansah.

Hellblaue Augen, die am Rand ein wenig dunkler wurden – Augen, in denen ein Mann sich vollkommen verlieren und niemals wiederfinden konnte.

Er wurde sanfter, grub die Finger in ihr Haar, schob ihr Gesicht hoch. Diesmal drängte er sie nicht und verlangte auch nicht mehr, als sie geben wollte. Himmel, wie gut sie roch – wie die Blumen im Frühling, so sauber und frisch. Er hatte sich so sehr an die schweren Parfums seiner vielen erfahrenen amours gewöhnt, dass er den Unterschied vergessen hatte.

Unschuld. Es roch seltsamerweise nach Hoffnung.

Er küsste sie und umfasste ihren Nacken. Zog sie näher. Ihm wurde warm.

Ihre Nähe erregte ihn, und die Art, wie sie zögernd ihre Zunge zu bewegen begann, machte ihn melancholisch. Es war lange her, seit er eine Frau geküsst hatte, die ihn ansah, als könnte er ihr die Geheimnisse des Universums erklären.

Lust stieg in ihm auf, das Verlangen begann in ihm zu wachsen, als hätte jemand in seinem Innern eine Zündschnur entflammt. Unaufhaltsam.

„Bist du noch Jungfrau?“

Er wusste, dass dem so war, erkannte es an der Art, wie sie atmete – nur mühsam gelang es ihr, Luft zu holen, so ganz verloren hatte sie sich an diesen Augenblick. Und dann öffnete sie die Lippen. „Ja.“

„Warum zum Teufel bist du dann hierher gekommen?“

Die zivilisierte Haltung, die er nicht hatte ablegen wollen, war verschwunden, sobald er sie fühlte, aber als er die Frage gestellt hatte, gab es kein Zurück mehr. Sie schmiegte sich an ihn und schloss die Augen, als versuchte sie, in der Dunkelheit eine Antwort zu finden. Er spürte den Hauch ihres Atems an seiner empfindlichen Halsbeuge und fragte sich, ob sie tatsächlich so unschuldig war, wie er vermutete. Wenn dies ein Spiel sein sollte, das sie spielte, dann war es eines, in dem er sehr viel Übung hatte, und sie würde vorsichtig sein müssen. Wie von selbst legten sich seine Hände um ihren Rücken, als erinnerten sie sich an diese Bewegung.

Die Rettung.

Das Wort ging ihm unerwartet durch den Kopf, bewegte etwas, das er nicht leugnen konnte, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Es war Jahre her, seit er so etwas zum letzten Mal bei einer Frau empfunden hatte, und die Verwunderung darüber spornte ihn an.

Er drehte sie herum, ließ seine Lippen tiefer gleiten, liebkoste die Haut an ihrem Nacken, und ihre bleichen Wangen wurden rosiger. Sie passte ihren Atem seinem an, atmete weder ruhig noch gleichmäßig, denn jetzt hatte ihr Körper die Kontrolle übernommen. Mit dem Daumen rieb er ihre harten Brustspitzen durch den zarten Stoff ihrer Robe.

Sie beugte sich zurück, die Schenkel zusammengepresst, die Brüste zwei unendlich verlockende Versuchungen.

Er begehrte sie, wie er noch nie eine andere Frau in seinem Leben begehrt hatte, wollte sie fühlen, ihren weichen Körper, ihr Haar, das wie helles Gold neben seinem dunklen Körper lag. Mit einer einzigen Bewegung hatte er ihr Mieder gelöst und mit einer Hand ihre Brust umfasst, die er rieb und streichelte. Er wollte sie nackt, wollte sie spüren ohne etwas dazwischen. Wäre sie keine Lady, hätte er ihr einfach die Kleidung vom Leib gerissen und sie nackt in sein Bett getragen, um sich an ihr zu erfreuen. Selbst sein Mund sehnte sich danach, sie zu berühren.

„Der Geschmack einer Geliebten macht einen Teil der Anziehung aus“, erklärte er schlicht, als er den Kopf hob und beobachtete, wie sie begriff. Sie wurde wachsam, ein wenig unsicher, doch sie zog sich nicht zurück, wie er es erwartet hatte. Nur ein leichtes Stirnrunzeln machte sich bemerkbar, und sie wirkte nicht furchtsam. Sie erlaubte es ihm.

Dergleichen hatte er bisher selten erlebt. Sein Ruf hatte ihn geschützt, wie er vermutete, und andere auf Distanz gehalten. Aber Lucinda Wellingham war anders und gefährlicher als all die Sirenen, die ihn über die Jahre verfolgt hatten. Die Verbindung zwischen ihnen war beunruhigend und unerwartet, und er fühlte, wie seine Anspannung stieg. Er neigte den Kopf und umfasste ihre Brustspitze so ungestüm mit den Lippen, dass der rote Seidenstoff ihres Kleides zerriss. Es gefiel ihm, wie sie sich ihm entgegendrängte, wie sie die Finger in sein Haar grub, seine Annäherung genoss, sie einforderte.

Nun ließ er seine Hände von ihren Schenkeln nach vorn gleiten, tastete nach der empfindsamen Stelle dazwischen, wobei die zarte Seide ihrer Pantalettes glücklicherweise kaum ein Hindernis darstellte. Behutsam schob er einen Finger in sie hinein.

„Nein.“ Ein einziges Wort nur, mehr geseufzt als gesprochen, aber es genügte.

„Nein?“ Er musste sich vergewissern, dass sie genau das gemeint hatte. Er atmete schwer, so erregt war er. Diesmal schüttelte sie den Kopf. Ihre himmelblauen Augen wirkten ausdruckslos, sie hatte die Stirn gerunzelt, während ihre Brust sich sichtbar hob und senkte.

Nein, weil sie sich nicht vorstellen konnte, was ein Ja bedeuten würde? Nein, weil er ein Mann von so schlechtem Ruf war, dass ein Stelldichein mit ihm sie gesellschaftlich vernichten könnte?

Er löste sich von ihr und trat zurück, und in ihm vermengte sich Unmut mit Schuldbewusstsein. Der Weg zum Verderben war kurz, und er wusste, dass eine Lady wie sie seinen Verführungskünsten wenig entgegenzusetzen hatte. Ganz plötzlich erschien ihm seine Art zu leben schmutzig und vulgär.

„Ich werde dich nach Hause bringen.“

Sie sah ihn an, versuchte aber nicht, den Schaden an ihrem Kleid zu beheben, sodass eine ihrer Brüste nackt aus dem offenen Stoff herausstand. Deutlich hob sich die rosige Spitze von der scharlachroten Seide ab. Mit ihren glänzenden Augen und ihrem Schweigen wirkte sie wie eine sinnliche Madonna, die vom Himmel gefallen war und zu Füßen des Teufels gelandet war. Er zögerte, aber gegen so viel Güte hatte er keinen Schutzschild und keine Möglichkeit, sein Verlangen vor ihrer Unschuld zu schützen.

Er trat vor, richtete ihr Kleid, schloss die Bänder des dünnen Mieders, sodass wieder ein gewisser Anstand gewahrt war. Er konnte nichts tun, um die gerissene Naht zu reparieren, und sein Blick wurde angezogen von dem bisschen Haut, das darunter zu erkennen war und nach seiner Aufmerksamkeit zu betteln schien. Fluchend nahm er eine Decke von seinem Bett und legte sie ihr um die Schultern. Die Wolle war beinahe von derselben Farbe wie ihr Haar. Dann nahm er seine Sachen, zog seine Hose an und einen Gehrock. Mit einem Tuch hielt er sich nicht auf. Die Stiefel zog er über die nackten Füße.

Dann war er schon an der Tür, holte den Schlüssel hervor und entriegelte sie.

„Komm, meine Schöne“, flüsterte er und nahm ihre Hand. Es gefiel ihm, wie ihre schlanken Finger sich um seine schlossen.

Vertrauen.

Ein weiteres Hindernis genommen. Er sehnte sich nach den anderen.

Draußen war es still, und als sie die Stallungen erreichten, kam ein Junge auf sie zu.

„Sie brauchen um diese Zeit eine Kutsche, mitten in der Nacht, Euer Gnaden?“ Ungläubigkeit lag in dieser Frage. Gewöhnlich wurde vor dem Mittag des nächsten Tages keine Kutsche geordert. Oder besser vor dem Mittag des übernächsten Tages.

„So ist es. Hol Stephens und lass den Wagen vorbereiten. Ich muss nach London fahren.“

Als der Junge davonging, begann Lucinda Wellingham zu sprechen. Ihre Stimme klang leise und unsicher. „Mein Umhang ist noch immer im Haus, zusammen mit meinem Hut und dem Retikül. Soll ich sie nicht holen gehen?“

„Nein.“ Tay wollte nur fort von hier. Er wusste nicht, wer über ihr Erscheinen auf dieser berüchtigtsten und sündhaftesten Gesellschaft der Saison Bescheid wusste, aber wenn es ihm gelang, sie ins Stadthaus der Wellinghams zu bringen, ehe der Tag anbrach, dann würden ihre Brüder sich gewiss eine Geschichte ausdenken können, die alle Gerüchte im Keim erstickte.

„Meine Freundin Posy Tompkins wundert sich vielleicht, was aus mir geworden ist. Ich hoffe, sie ist in Sicherheit.“ Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, eine zerknirschte Venus, die unverhofft in die Unterwelt gestolpert war und jetzt wieder fort wollte.

„Sicherheit?“ Er musste lachen, allerdings klang es sehr freudlos. „Auf meinen Gesellschaften ist niemand in Sicherheit. Der einzige Programmpunkt ist gewöhnlich, genau das nicht zu sein.“

„Es geht also darum, sich zu amüsieren?“, gab sie schnell zurück, und wieder erschienen diese verdammten Grübchen in ihren Wangen.

„Oh, ich würde beinahe schwören, dass sie sich amüsiert. Ein guter Höhepunkt ist immer ein wichtiger Punkt auf dem Weg zur Zufriedenheit.

Stille breitete sich aus, aber sie musste das wissen. Wer er war. Was er war. Ihr Schweigen ermutigte ihn.

„Ich biete keine Sicherheit, Lady Lucinda, und das bereue ich auch nicht. Da du in einem Kleid nach Alderworth gekommen bist, das in jedem lebenden Mann dunkle Fantasien weckt, verstehst du doch wenigstens das?“

Tränen glänzten in ihren Augen, und Tay fluchte, als er im Schein der Lampe sah, wie ihre Wangen feucht wurden.

„Gott weiß, dass du viel zu süß bist für einen Sünder wie mich, und morgen wirst du begreifen, wie nahe du daran warst, ruiniert zu werden! Und du wirst dankbar dafür sein, dass ich dich nach Hause gebracht habe, auch wenn du dabei ein paar Habseligkeiten verloren hast.“

Asher, Taris und Cristo hätten sie niemals süß genannt. In einer Million Jahre nicht. Sie war ein Schandfleck für die Familie Wellingham, und das würde sie immer sein. Das war das Problem. Sie war im Innersten schlecht. Die Wahrsagerin, die ihr an einem Stand auf dem Leadenhall Market aus der Hand gelesen hat, hatte ihr direkt in die Augen gesehen und genau das gesagt.

Im Innersten schlecht.

Und das war sie. Diese Nacht war ein lebendes Beispiel für die lächerlichen Dinge, die sie tat, ohne an die Folgen zu denken. Sie handelte absolut unverantwortlich. Hätte sie weniger Glück gehabt, würde sie jetzt im Bett des Duke of Alderworth liegen, die Beine um seine muskulösen nackten Schenkel geschlungen, wohl wissend, dass das schon viele Frauen der guten englischen Gesellschaft mit weniger strengen Prinzipien getan hatten. Nur seine Vernunft hatte sie daran gehindert, denn sie war darüber hinaus gewesen, noch irgendetwas zu verhindern. Er hätte sie nicht lange überreden müssen, damit sie ihm im Schein der Kerzen ins Bett gefolgt wäre. Sie schämte sich, und sie fühlte sich schlecht. Gerade noch entkommen.

Ein älterer Mann kam auf sie zu, in der Hand eine Laterne, und hinter ihm eine ganze Reihe geschäftiger Diener. Lucinda sah ihnen nicht in die Augen, als sie sie musterten, und setzte eine Miene auf, von der sie annahm, dass sie gleichgültig wirkte. Himmel, wie sehr hoffte sie, dass unter diesen Dienern auf Alderworth keiner war, der irgendeine Verbindung zu den Wellinghams hatte.

Alderworth stand an ihrer Seite, und das versetzte sie gleichermaßen in Anspannung als auch in freudige Erregung. Sie spürte seine Wärme genau. Als er ihren Arm berührte, wich sie nicht von ihm, und es fühlte sich faszinierend und verboten zugleich an. Dann zog er die Hand zurück. Lucinda holte tief Luft, atmete langsam aus und versuchte, wieder klar zu denken. Doch es gelang ihr nicht.

Er beobachtete sie mit dem aufmerksamen Blick eines Tigers auf Beutezug.

Innerhalb weniger Augenblicke war die Kutsche bereit zum Aufbruch. Die Lampen leuchteten, und der Kutscher hatte Platz genommen. Ohne sie zu berühren, gab ihr Taylen Ellesmere ein Zeichen, dass sie einsteigen sollte, und als sie sich auf dem weichen Lederpolster niedergelassen hatte, setzte er sich ihr gegenüber. Seine grünen Augen funkelten.

„Wir brauchen etwa vier Stunden bis Mayfair. Falls dir noch kalt ist …?“

„Nein, mir geht es gut.“ Sie zog die Decke um sich, wie einen Schutzpanzer.

„Fein.“ Das klang kurz und schroff.

Sie blickte zum Fenster und entdeckte im Glas ihr bleiches, erschrockenes Gesicht.

Was dachte der Duke of Alderworth über sie? War er verwundert über ihre Unsicherheit, so wie über ihre Schamlosigkeit? Sie spürte, dass er sie loswerden wollte, so schnell wie nur möglich. Sie war eine Frau, die sich ungebeten an einen Ort verlaufen hatte, an dem sie nichts zu suchen hatte, eine Frau, die nicht die Spiele mitspielte, für die er so berüchtigt war …

Warum er selbst mit in die Kutsche gestiegen war, erschloss sich ihr nicht. Er wirkte so, als wäre er am liebsten ganz woanders gewesen als hier – ihr gegenüber – in diesem kleinen schaukelnden Gefährt.

Vermutlich war es der Kuss, besser gesagt die Tatsache, dass sie nicht genau wusste, wie man so eine Liebkosung erwiderte. Ihre Weigerung, mehr zwischen ihnen beiden zuzulassen, spielte natürlich auch eine Rolle. Sie war eine Unschuld, die mit dem Feuer gespielt und sie dann beide verbrannt hatte. Zwar hatten zwei oder drei wagemutige Verehrer in den letzten Jahren schon einmal ihre Lippen auf ihren Mund gepresst, aber das war stets sehr keusch gewesen und brav und ganz und gar nicht so wie bei …

Nein, darüber wollte sie nicht nachdenken. Taylen Ellesmere war ein schnelllebiger Wüstling, der sich ganz gewiss nicht zu der Tochter einer der ehrbarsten und angesehensten Familien Londons hingezogen fühlen würde. Er hatte alle Frauen, die er wollte, leichtlebige, schöne Frauen, und sie hatte schon sehr häufig gehört, dass er sich niemals durch eine Heirat Fesseln anlegen lassen würde.

Sie schüttelte heftig den Kopf und hörte sich an, was er jetzt zu sagen hatte.

„Sollte mich jemand danach fragen, werde ich leugnen, dass du heute Nacht in Alderworth gewesen bist. Sag deinen Brüdern, sie sollen dasselbe tun.“

„Wenn ich Glück habe, müssen sie gar nichts davon erfahren …“

„Meiner Erfahrung nach fällt das Wort Skandal nur ganz selten in einem Atemzug mit dem Wort Glück, Lucinda.“

Als er ihren Namen aussprach, erfasste sie eine warme Welle des Glücks. „Lucinda“ hatte ihr nie gut gefallen, aber wenn er es sagte, klang es – sinnlich. In seinen Worten lag die Andeutung eines Versprechens.

„Glaub mir, wenn wir uns geschickt anstellen, kann der Schaden in Grenzen gehalten werden.“

Schaden. Sie fand zurück in die Wirklichkeit. Sie war nur eine Situation, die gehandhabt werden musste. Die Nacht umfing sie, und etwas Mondlicht fiel in das Innere der Kutsche. Draußen hatte heftiger Regen eingesetzt, ein plötzlicher Schauer in einer windstillen Nacht.

Taylen Ellesmere war genau wie ihre Brüder, ein Mann, der es liebte, Dinge unter Kontrolle zu haben und Macht auszuüben. Keine Überraschungen oder unerwünschte Zwischenfälle. Bei diesem Gedanken runzelte sie die Stirn.

„Ich rechne nicht mit Schwierigkeiten“, sagte er. „Wenn du deine Rolle geschickt spielst, dann sollte es nicht …“

Ein Ruf durchdrang die Stille, und dann neigte sich die Kutsche plötzlich auf eine Seite, kippte und fiel, rollte immer weiter und weiter, Metall knirschte auf Holz, und es gab einen heftigen Ruck.

Mit einem Satz war der Duke neben ihr, zog sie in seine Arme, schützte sie vor dem splitternden Glas, das hereinfiel, ein Schutzschild gegen das Chaos und die eindringende kalte Luft. Er hielt sie so fest, dass sie spürte, wie Metall gegen seinen Körper schlug, wie Blut heraustrat und er das Gesicht verzog.

Und dann wurde es dunkel.

Lucinda befand sich in ihrem Zimmer in Falder House in Mayfair. Die Vorhänge bauschten sich in der leichten Nachmittagsbrise. Die Bäume raschelten im Wind, und aus dem etwas weiter entfernt gelegenen Park drangen die Stimmen von Kindern herein.

Alles schien ganz normal, abgesehen von ihren drei Schwägerinnen, die in dunkler Kleidung nebeneinander auf den Stühlen saßen und sie beobachteten.

„Du bist wach?“

Beatrice-Maude trat vor und hob behutsam Lucindas Kopf, um ihr etwas kühle Limonade aus einem Glas neben ihrem Bett einzuflößen. „Der Doktor hat gesagt, dass du heute wieder bei uns sein würdest, und er hatte recht.“ Sie lächelte, während sie behutsam ein paar Tropfen von Lucindas Lippen abtupfte. „Wie fühlst du dich?“

„Wie sollte ich mich fühlen?“

Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas Schlimmes wurde vor ihr verheimlicht, lauerte im Schatten, am Rande ihres Bewusstseins.

„Warum bin ich hier? Was ist passiert?“

„Du erinnerst dich nicht?“ Emerald trat jetzt zu Beatrice-Maude. Ihre Miene war ernst. „Du erinnerst dich nicht an den Unfall, Lucy?“

„Wo war das?“ Panik erfasste sie, und sie versuchte, sich aufzurichten, aber nichts schien zu funktionieren, weder ihre Arme noch ihre Beine oder ihr Rücken. Alles taub und gefühllos. Sie spürte nur, wie heftig ihr das Herz in der Brust schlug, und in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen vor lauter Angst, gelähmt zu sein.

„Ich kann mich nicht bewegen.“

„Doktor Cameron sagte, das wäre normal. Er sagte, viele Menschen können sich erst wieder bewegen, wenn die Schwellung abgeklungen ist.“

„Die Schwellung?“

„Du hast einen Schlag gegen den Hals bekommen und einen auf den Kopf. Es war ein Glück, dass die Kutsche nach Leicester gerade in die andere Richtung vorbeifuhr, sonst …“

„Du hättest die ganze Nacht da liegen können, und Doktor Cameron sagte, dass du dann vielleicht nicht überlebt hättest.“ Eleanor, die Frau ihres jüngsten Bruders, kam jetzt dazu, aber anders als bei den anderen war ihr Gesicht verschwollen, und ihre Stimme zitterte. Sie hatte geweint. Sehr viel geweint.

Das erschreckte Lucinda mehr als alles andere

„Wie ist das passiert?“

„Deine Kutsche hat sich überschlagen. Allem Anschein nach geschah es in einer Kurve, und das Gefährt fuhr viel zu schnell. Es stürzte mehrere Meter den Hügel hinab und blieb erst am Fuß der Anhöhe liegen.“

Sie begann zu zittern, als nach und nach immer mehr Worte in ihr leeres Gedächtnis eindrangen.

Beatrice übernahm, drückte ihr ganz fest die Hand und brachte ein mühsames Lächeln zustande. „Es ist vorbei, Liebes. Du bist zu Hause und in Sicherheit, und nur das zählt.“

„Wie bin ich hierhergekommen?“

„Asher hat dich vor drei Tagen zurückgebracht.“

Lucinda schluckte. Drei Tage. Sie versuchte verzweifelt, sich an irgendetwas zu erinnern, aber es gelang ihr nicht.

Und jetzt lag sie auf diesem Bett, als wäre sie aus Stein gemacht, und außer ihrem Kopf und ihrem Herzen vermochte sie nichts zu spüren. Aus ihrem linken Auge rollte eine Träne, lief als warmes Rinnsal über ihre Wange und dann in ihr Haar. Sie schluckte. Ihre Kehle war rau und trocken, und sie schmeckte Blut auf ihrer Zunge.

Schreie. Sie erinnerte sich an Geräusche. Schreie und noch mehr Schreie. Ihre Stimme und eine andere, die sie beruhigte. Ruhig und traurig. Warme Hände, die ihren Hals festhielten, sodass sie sich nicht bewegen konnte. Die Nachtluft kühl und feucht, während der Regen sich mit Blut vermengte.

„Doktor Cameron sagte, es wäre ein Wunder, dass du dich kein Stück bewegt hast, sonst wärest du gestorben. Er sagte, es wäre ein Glück gewesen, dass dein Kopf zwischen zwei Holzbrettern stabilisiert gewesen war, als man dich fand, sodass du dich nicht rühren konntest.“

„Ein Glück“, erwiderte sie, und es klang wie eine Frage.

Sie hatten ihr nicht alles gesagt. Das erkannte sie an den Blicken, die die drei miteinander tauschten, und aus der unausgesprochenen Zurückhaltung. Sie fragte sich, warum ihre Brüder nicht hier mit ihr im Zimmer waren, und kannte die Antwort auf die Frage, kaum dass sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte.

Sie würden nicht so leicht etwas vor ihr verheimlichen können, wie ihre Schwägerinnen es konnten, auch wenn Cristo noch immer recht gut darin war, für sich zu behalten, was er dachte.

„War noch jemand verletzt?“

An dem Zögern erkannte sie, dass das der Fall war.

„Es war ein Mann bei dir in der Kutsche, Lucy.“ Emerald nahm jetzt ihre andere Hand und rieb sie in einer Weise, die vermutlich tröstlich sein sollte, sich aber tatsächlich eher lästig anfühlte, weil ihre Gliedmaßen so taub waren.

„Ich war allein mit ihm?“ Das ergab alles keinen Sinn. Was konnte sie mitten in der Nacht auf offener Landstraße in Gesellschaft eines Fremden zu suchen gehabt haben? Es war alles sehr merkwürdig. „Wer war er?“

„Der sechste Duke of Alderworth.“ Jetzt nahm Beatrice den Faden wieder auf.

„Alderworth?“ Diesen Namen kannte Lucinda, auch wenn sie sich überhaupt nicht an den Unfall erinnern konnte.

Der ruchlose Duke war berüchtigt in ganz London, es hieß, dass er sich ausschließlich in den Kreisen der Dirnen und Lebedamen bewegte. Warum sollte sie dort mit ihm allein gewesen sein, noch dazu so weit weg von zu Hause?

„Weiß Asher, dass er dabei war?“ Sie blickte Emerald an.

„Unglücklicherweise weiß er es.“

„Wissen andere auch davon?“

„Unglücklicherweise ja.“

„Wie viele wissen es?“

„Ich denke, wenn ich sage, ganz London weiß davon, dann wäre das nicht übertrieben.“

„Ich verstehe. Dann hat es also einen Skandal gegeben, und ich bin ruiniert?“

Autor

Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste.
Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach. Die...
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