Julia Collection Band 77

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WO MEIN HERZ ZU HAUSE IST von FORBES, MARY J.
Ob sie wohl kommt? Gespannt empfängt Star-Footballer Skip Dalton die Partygäste, die mit ihm seine Heimkehr nach Firewood Island feiern. Und dann entdeckt er Addie Tait. Die Frau, die sein Herz nie vergaß und die nicht ahnt, dass ein Geheimnis sie für immer verbindet …

ZÄRTLICHE TRÄUME ÜBER DEN WOLKEN von FORBES, MARY J.
Sie soll sich in Rogan Matteo verguckt haben? Empört widerspricht Lee ihrer Schwester Kat. Dabei wären die schöne Pilotin und der neue, smarte Anwalt auf Firewood Island wohl längst ein Paar - stünde ihre Vergangenheit nicht zwischen ihnen …

WAS VERSCHWEIGST DU, GELIEBTER? von FORBES, MARY J.
Fassungslos blickt Pensionswirtin Kat in die sexy Augen von Denis Rainhart, dem Ex ihrer Schwester Lee. Heimlich war sie immer in den Bad Boy mit dem Motorrad verliebt, und nun will er einfach ihr Feriengast sein, weil er von irgendwas Abstand braucht? Unmöglich, oder?


  • Erscheinungstag 06.02.2015
  • Bandnummer 77
  • ISBN / Artikelnummer 9783733703349
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Mary J. Forbes

JULIA COLLECTION BAND 77

Endlich an deiner Seite

MINISERIE von Mary J. Forbes

Wo mein Herz zu Hause ist

Ihr Herz klopft viel zu wild – allein seine Stimme elektrisiert sie! Dennoch zwingt sich Addie, ihrem Jugendschwarm Skip beim Wiedersehen die kalte Schulter zu zeigen. Zu tief sitzt der Schmerz, während ihrer gemeinsamen Zeit wohl nicht seine einzige Freundin gewesen zu sein. Denn er hat inzwischen eine Tochter, die genauso alt ist, wie es ihr gemeinsames Kind jetzt wäre!

Zärtliche Träume über den Wolken

Könnte Rogan sich eine neue Liebe wünschen, dann hieße sie: Lee Tait! Sofort ist sie als Pilotin zur Stelle, als er jemanden sucht, der ihn vom Festland nach Firewood Island fliegt. Seitdem sitzt er täglich neben ihr und träumt bald von mehr … sie zu berühren, zu küssen. Alles könnte gut werden – trüge Lee nicht, wie es scheint, die Schuld am Tod seiner Frau …

Was verschweigst du, Geliebter?

Braungebrannt braust er mit seiner Harley Davidson vor den Carport der Ferienbungalows auf Firewood Island. Doch Denis Rainhart spielt den coolen Bad Boy nur. Denn wie es wirklich in ihm aussieht, soll niemand erfahren. Erst recht nicht Kate, die kleine Schwester seiner Exfreundin Lee, die er fast nicht wiedererkannt hätte, so schön, wie sie geworden ist …

1. KAPITEL

Heute würde sie ihn wiedersehen – das erste Mal nach dreizehn Jahren.

Sie brauchte nicht nachzurechnen; jedes Jahr war ihr schmerzlich bewusst. Allerdings nicht seinetwegen. Skip Dalton war ihr völlig egal. Wenn sie in dieser Zeit überhaupt an ihn gedacht hatte, dann nur, weil jemand seinen Namen erwähnte, oder weil Dempsey Malloy sich Footballspiele im Fernsehen ansah.

Doch mit Dempsey war sie seit über einem Jahr nicht mehr verheiratet, und ihr Fernseher blieb seitdem aus. Wenn sie nicht an der Schule unterrichtete, musste sie sich um ihre Bienen kümmern oder um die nötigen Reparaturen am Haus.

Nein, an Skip Dalton lag es nicht, dass sie sich seit dreizehn Jahren mit Erinnerungen quälte. Sondern an der „logischen Entscheidung“, die sie damals getroffen hatte. Logisch jedenfalls in den Augen ihres Vaters.

Logik. Und was war mit Gefühlen? Mit Tränen? Mit den schrecklichen Schuldgefühlen, die sie manchmal nächtelang wach hielten?

Ihre Finger verkrampften sich, und beinah hätte sie den zierlichen Ohrring fallen lassen, den sie sich gerade anstecken wollte.

Warum hatte sie damals nur auf ihre Eltern gehört?

Weil du feige warst, Addie. Genau wie jetzt. Sieh dich doch an – dir zittern die Knie, weil du ihm gleich begegnen wirst.

Sie biss sich auf die Unterlippe, steckte sich den zweiten Ohrring entschlossen an und atmete auf, als es geschafft war. Sollte sie sich auch die Wimpern tuschen? Ihre Schwestern Lee und Kat lagen ihr ständig in den Ohren damit, dass sie sich öfter schminken sollte. Aber schließlich war sie nicht auf dem Weg zu einer Verabredung. Und Skip Dalton wollte sie schon gar nicht beeindrucken.

Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete sich im Spiegel. Das sonnengelbe Sommerkleid hatte sie von Kat; es musste reichen. Geld wuchs schließlich nicht auf Bäumen – schon gar nicht hier auf Firewood Island mit seinen gerade mal zweitausend Einwohnern.

Als Imkerin mit knapp einer halben Million Bienen betrieb sie einen der „Hobbyhöfe“, wie die Leute vom Festland die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe auf der Insel gern überheblich nannten. Doch sommers wie winters zwölf Bienenstöcke zu betreuen, war beileibe kein Hobby, sondern verdammt harte Arbeit.

Sie steckte sich ihr dunkelblondes, widerspenstiges Haar zu einem Knoten auf, den sie mit vier Holzstäben befestigte. Die losen, sich ringelnden Strähnen ließ sie offen hängen – es war der Mühe nicht wert. An ihrer straßenköterblonden Mähne war wirklich nichts Besonderes.

Dafür war ihr Mund ein Hingucker. Sie beugte sich näher zum Spiegel und stellte zufrieden fest, dass ihre Lippen noch so voll und verführerisch aussahen wie damals. Nach kurzem Zögern legte sie einen Hauch zartrosa Lippenstift auf. Schließlich sollte er nicht denken, dass sie die letzten Jahre als Hausmütterchen am Herd verbracht und eine Schar Kinder versorgt hatte.

Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Du brauchst keine Schar, Addie. Mit Michaela sind all deine Träume in Erfüllung gegangen.

Trotzdem ließ der Schmerz nicht nach. Warum war die Erinnerung gerade heute so schwer zu ertragen?

Aber sie wusste natürlich warum. Wegen Skip Dalton.

Vergiss ihn einfach! Du bist dreizehn Jahre lang wunderbar ohne ihn ausgekommen.

Genau. Und deshalb klopfte ihr auch das Herz bis zum Hals, und ihre Wangen fühlten sich heiß an.

Nimm dich doch zusammen! Er wird dich sowieso nicht erkennen.

Der Gedanke beruhigte sie etwas, und sie schaltete das Licht aus und trat in den Flur.

Michaela saß in ihrem Zimmer und war dabei, drei ihrer zehn Barbiepuppen umzuziehen. Sie trug nur eine Socke und das gelbe T-Shirt linksrum. Ins dunkle Haar hatte sie sich vier rosa Haarklemmen gesteckt, die im Farbton zu ihren pinkfarbenen Shorts passten.

Addie musste an sich halten, um sich nicht auf ihre Tochter zu stürzen, sie in die Arme zu schließen und fest an sich zu drücken.

Stattdessen fragte sie ruhig: „Na, können wir los zu Grandma?“

„Okay.“ Michaela sammelte drei der Puppen ein, stand auf und nahm Addies Hand.

„Das wird bestimmt lustig. Grandma will heute Nachmittag mit dir Kekse backen. Ehrlich gesagt, beneide ich dich. Ich muss zu dieser langweiligen Veranstaltung in der Schule.“

„Ja.“

Addie wünschte sich wie immer, ihre Kleine würde mehr reden. Die Sprachtherapeutin gab sich die größte Mühe, doch seit Dempsey die Familie vor vierzehn Monaten verlassen hatte, war es schwer, an Michaela heranzukommen.

Als Addie mit ihrer Tochter aus dem Haus trat, das ihre Großeltern aus einfachen Brettern gebaut hatten, blieb sie kurz stehen und betrachtete die lange Einfahrt zu dem Neubau auf der anderen Straßenseite. Das große, zweistöckige Haus mit den grünen Fensterläden und dem Türmchen war in den letzten zwei Monaten entstanden und hinter den vielen Eichen, Espen und Nadelbäumen kaum zu sehen. Nur an manchen Stellen konnte man zwischen den Stämmen einen Blick auf die umlaufende Veranda werfen.

In der Stadt kursierten Gerüchte über den Besitzer: ein reicher Typ vom Festland, hieß es, der sich hier seinen Sommersitz errichtete.

Doch warum baute er dann nicht am Wasser, wo er gleich einen privaten Liegeplatz für seine Jacht dazubekam? Warum hatte er ein Grundstück mitten in der Wildnis gekauft, wo es außer einer holperigen Landstraße nur Bäume gab?

Zum Glück war das nicht Addies Problem. Es interessierte sie nicht, wer in das Haus einzog, solange sich die neuen Nachbarn um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten und endlich wieder Ruhe einkehrte. Vom nervtötenden Sägen und Hämmern der letzten Monate hatte sie wirklich genug.

In das fünf Kilometer von der Inselstadt Burnt Bend gelegene Haus ihrer Großeltern war sie Anfang des Jahres kurz nach der Scheidung gezogen. Sie brauchte mit ihrer Tochter schließlich ein Dach über dem Kopf, und hier wohnte sie wenigstens mietfrei.

Dempsey hatte sie verlassen, „um sich selbst zu finden“. Ihre Mutter Charmaine war fest davon überzeugt, dass er zu seiner Familie zurückkehren würde, doch für Addie stand fest, dass sie ihn dann hochkant rauswerfen würde.

„Er ist doch nur ein großer Junge, der seinen Weg noch finden muss“, pflegte Charmaine dann zu sagen, ungeachtet der Tatsache, dass der Mann zweiundvierzig war. Eine recht überraschende Aussage von einer Mutter, die ihrer Tochter vor dreizehn Jahren geraten hatte, „eine erwachsene Entscheidung zu treffen“, als sie noch vor dem Highschool-Abschluss schwanger wurde.

Womit Addie mit ihren Gedanken wieder bei Skip war – ihrer ersten großen Liebe und dem Vater ihrer Tochter.

Heute würde sie ihn wiedersehen, weil der alte Trainer des Highschool-Footballteams seinen Job nach über dreißig Jahren an seinen früheren Starspieler Skip Dalton übergab.

Und nicht nur heute. Als neuer Trainer würde Skip auf der Insel wohnen und ihr ständig über den Weg laufen. In der Schule, in der Post, im Café, im Laden seiner Mutter.

Ganz gleich, was Addie auch tat: Sie konnte ihm nicht entkommen.

Auf dem Schulgelände wimmelte es von Schülern und Ehemaligen, die alle gekommen waren, um Coach Henry McLane zu verabschieden. Einige waren sogar Tausende von Kilometern angereist, um das letzte Kapitel in der dreißigjährigen Trainergeschichte nicht zu verpassen.

Skip war ein Teil dieser Geschichte, auch wenn er das heute lieber verdrängt hätte. Damals hatte er auf dem Footballfeld gestanden und den Mädchen in den Zuschauerrängen zugewinkt. Jetzt stand er neben seinem früheren Trainer an der Tür und begrüßte Leute, die er dreizehn Jahre lang nicht gesehen hatte. Viele seiner früheren Mitschüler erkannte er sofort – jedenfalls die Männer – obwohl sie sich verändert hatten: Der eine hatte jetzt eine Glatze, der andere schon graue Haare.

Bei den Mädchen – jetzt den Frauen – sah das anders aus. Erst wenn sie ihren Namen nannten, konnte er eine Verbindung herstellen, und das war ihm etwas peinlich. Denn immerhin war er mit fast jeder der Frauen, die um ihn und den Trainer herumstanden, während der Schulzeit mindestens einmal ausgegangen.

Kein Wunder, dass viele ihn kühl und distanziert betrachteten. Sie hatten seine Überheblichkeit als Star-Quarterback der Fire Highschool nicht vergessen. Außerdem merkten sie natürlich sofort, dass er sie nicht mal wiedererkannte – ein sicheres Zeichen dafür, wie unwichtig sie ihm damals gewesen waren.

Doch viel schlimmer war, was er ihr angetan hatte.

Um das wiedergutzumachen, hätte er sogar seine neun Jahre als Footballspieler in der Profi-Liga hergegeben.

„Skip, erinnerst du dich an Cheryl Mosley?“ Der Coach stellte ihm eine hochgewachsene Rothaarige vor. „Sie hat Keith Bartley geheiratet und ist jetzt Fachbereichsleiterin für Naturwissenschaften. Du wirst dir mit ihr die Chemieklassen teilen.“

Skip nickte der Frau kurz zu. Zum Glück hatte er einen ordentlichen Abschluss gemacht, bevor er Football-Profi wurde. Schließlich konnte eine Sportkarriere von heute auf morgen enden. Und so war es ja auch gekommen – vor zwei Jahren war er bei einem Spiel so schwer an der Schulter verletzt worden, dass er auch nach etlichen Operationen noch Schmerzen hatte.

Also konnte er sich glücklich schätzen, jetzt als Trainer und Chemielehrer einen neuen Lebensinhalt zu finden.

Lächelnd schüttelte er der Frau die Hand. Cheryl, richtig. Sie war die Anführerin der Cheerleader gewesen und hatte ihm bei jedem Spiel zugejubelt. Fünf Monate hatte die Beziehung gehalten – und dann hatte er Addie Wilson kennengelernt. Sie war die einzige Frau aus seiner Vergangenheit, die er bis jetzt noch nicht hier gesehen hatte.

Und sie kommt auch nicht, sagte seine innere Stimme. Warum sollte sie? Du hast sie sitzen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein.

„Ich freue mich drauf, mit dir zusammenzuarbeiten.“ Cheryls Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. „Wir sollten uns mal zusammensetzen, bevor die Schule wieder anfängt. In der naturwissenschaftlichen Abteilung stehen ein paar Veränderungen an.“

„Klar, kein Problem. Der Coach hat meine Nummer. Ruf mich einfach an.“

„Sehr schön. Na dann, willkommen an Bord.“ Es klang nicht besonders enthusiastisch.

Nach ihr kamen weitere Frauen: Mütter, Schülerinnen, Ehemalige und Lehrerkollegen, und sie alle hatten eins gemeinsam: Sie verabschiedeten sich tränenreich vom Coach und begrüßten Skip recht halbherzig.

Frauen vergessen nicht so leicht, dachte er beschämt. Was erwartete ihn dann erst bei Addie?

Eine Stunde später hatte jeder einen Platz gefunden, und es folgten die Abschieds- und Lobreden. Der alte Trainer übergab ihm offiziell den Schlüssel zum Trainerraum, und die Menge skandierte „Coach Wilson“ und schließlich, verhaltener, „Coach Dalton“.

Und da endlich entdeckte er Addie.

Sie stand ganz hinten, in der Nähe einer Gruppe, die zu spät gekommen war und keinen Platz mehr gefunden hatte. Addie klatschte und jubelte auch nicht, sondern lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Hallenwand – und beobachtete ihn.

Unwillkürlich musste er lächeln, so freute er sich, sie zu sehen. Am liebsten wäre er von der Bühne gesprungen und direkt auf sie zugelaufen. Er wollte sie aus der Nähe betrachten, ihre Hand nehmen, über ihr dichtes, weiches Haar streichen und ihr tief in die blauen Augen blicken. Er wollte ihren Namen flüstern …

Und dann was? Sie um Verzeihung bitten? Ihr sagen, was du getan hast, warum du hier bist, und was du erreichen willst?

Wusste er überhaupt, was er bei Addie erreichen wollte? Immer wieder hatte er sich darüber den Kopf zerbrochen, als er vor zehn Monaten beschloss, auf die Insel zurückzukehren. Als er von den Ruhestandsplänen des alten Trainers hörte, hatte er einfach in der Schule angerufen und sich um die Nachfolge beworben. Der Schulrat hatte freudig zugestimmt und Skip einen Fünf-Jahres-Vertrag angeboten, den dieser sofort unterschrieb.

Denn schließlich ging es hier vor allem um seine Tochter.

Er warf einen verstohlenen Blick zu der Zwölfjährigen, die in der ersten Reihe saß und ihm mit strahlenden Augen zujubelte. Unglaublich, wie sehr er dieses Kind liebte. Jedes Mal, wenn er Becky ansah, konnte er sein Glück kaum fassen: dass er sie wiedergefunden hatte und sie jetzt bei ihm lebte.

Manchmal bedauerte er die verlorenen Jahre. Doch er konzentrierte sich lieber aufs Hier und Jetzt, und das bestand darin, ihr ein liebevolles Zuhause zu geben. Einschließlich einer guten Schule, netten Freunden und einer Familie, der sie sich zugehörig fühlte.

Wenn es nach ihm ging, würde Becky das alles auf Firewood Island finden – mit Hilfe von Addie.

Allerdings musste er da äußerst behutsam vorgehen. Nach allem, was er in den letzten Tagen auf der Insel gehört hatte, konnte Addie sehr gut für sich selbst sorgen und ließ so leicht niemanden an sich heran. Sogar über die Entfernung meinte er ihren trotzigen Gesichtsausdruck zu erkennen, der ihm zu verstehen gab: Ich bin zur Verabschiedung von Coach McLane hier; nicht deinetwegen.

Als der Applaus verebbte, verließen er und der Trainer die Bühne. Nun begann die Party, und er konnte sich unters Volk mischen und über seine Pläne für das Footballteam sprechen.

Und endlich Addie treffen, um ihr Becky vorzustellen.

Seine Tochter erwartete ihn schon. „Du warst toll da oben, Dad“, strahlte sie. „Sie sind begeistert von ihrem neuen Trainer.“

Ihr Vertrauen machte ihn stolz, und noch immer rührte es ihn, wie selbstverständlich sie ihn „Dad“ nannte. Als er ihr vor zehn Monaten die Lage erklärt hatte, hatte sie sich in ihrer Sehnsucht nach einer richtigen Familie so schnell und vollständig angepasst, dass es ihm fast das Herz brach. Doch ihr die Wahrheit über Addie zu sagen, hatte er bisher nicht gewagt.

Er legte seiner Tochter einen Arm um die Schultern und ging mit ihr in Richtung Ausgang. Draußen war das Festzelt mit dem Büfett aufgebaut. Dabei hielt er angestrengt Ausschau nach Addie, doch trotz ihres auffälligen gelben Kleides konnte er sie nirgends entdecken. Vielleicht hatte er sich nur eingebildet, sie zu sehen? Schon möglich.

Schließlich hatte er in den letzten dreizehn Jahren fast ständig an sie gedacht. Nachts träumte er von ihr – manchmal gute, manchmal schlechte Träume. Auf jeden Fall wurde es höchste Zeit, einen Abschluss zu finden. So oder so.

„Komm, lass uns das Büfett stürmen“, sagte er zu seiner Tochter.

Zusammen traten sie hinaus auf den Schulhof.

Manchmal konnte es Addie kaum fassen, dass sie mal zu fünft in dem nicht sehr geräumigen Haus gelebt hatten, in dem ihre Mutter immer noch wohnte. Von den drei Schwestern war sie diejenige, die Charmaine fast täglich besuchte. Lee hielt sich als Charterpilotin oft tagelang nicht auf der Insel auf, und Kat hatte mit ihrer Frühstückspension gerade im Sommer alle Hände voll zu tun.

Doch es lag auch daran, dass Addie, die Jüngste der drei, als Einzige ihren leiblichen Vater kannte. Er war vor zwei Jahren gestorben und hatte die Vaterrolle für alle drei Schwestern übernommen, aber noch immer überschatteten diese Familiengeheimnisse Kat und Lees Verhältnis zur Mutter. Lees Vater hatte Frau und Tochter verlassen, als Lee noch klein war, und Kat wusste überhaupt nicht, wer ihr Vater war, und ob er noch lebte. Charmaine weigerte sich standhaft, irgendetwas darüber preiszugeben.

Wozu? fragte sie immer. Das ist alles lange vorbei und vergessen.

Tja, Mom, dachte Addie bitter. Manchmal holt die Vergangenheit einen trotzdem ein. Skip Dalton ist das beste Beispiel dafür.

Als sie ihn vorher auf der Bühne gesehen, seine tiefe, warme Stimme gehört hatte, stand ihr sofort wieder alles deutlich vor Augen. Es kam ihr wie gestern vor, als er sie am Rande des Footballfelds geküsst und in einer Mondnacht am Ufer des Silver Lake entjungfert hatte. Und dann hatte er sie geschwängert, hier in ihrem Elternhaus, ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo sie jetzt in ihrem alten Pick-up saß.

Entschlossen verdrängte sie diese Erinnerungen und stieg aus. Sie führte längst ihr eigenes Leben. Sollte Skip Dalton sich doch eine andere Frau suchen – was ihm sicher nicht schwerfallen würde. Schließlich hatte er nach allem, was sie dank Dempsey so aus der Footballszene gehört hatte, noch nie etwas anbrennen lassen.

„Liebe Güte, du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen“, begrüßte sie ihre Mutter an der Tür.

„Schön wär’s. Wie geht’s meiner Kleinen?“, lenkte Addie ab.

„Sehr gut.“

Addie ging ins Wohnzimmer, wo sie Michaela unter einer Wolldecke fand, die mit Hilfe von Stühlen zu einem Zelt geworden war. Vor dem „Eingang“ lagen mehrere Barbiepuppen.

Addie zupfte liebevoll an Michaelas Haar. „Hey, Süße, kommst du mit nach Hause?“

„K-k-k-ann ich n-n-n-och b-bl-bleiben?“

Michaela verkroch sich noch weiter unter der Decke und sah Addie bittend an. Sie kniete sich auf den Boden und nahm die Hände ihrer Tochter.

„Sprich langsam, Liebes.“

„Kann … ich … noch … bleiben?“

„Grandma hat heute noch etwas anderes zu tun.“

Zwar wusste Addie nicht sicher, ob das stimmte, aber jedenfalls wollte sie so schnell wie möglich nach Hause. Sie brauchte die Geborgenheit ihrer eigenen vier Wände, um sich zu beruhigen und zu verinnerlichen, dass Skip Dalton nicht ihre ganze Welt durcheinanderbringen würde.

Michaela verzog das Gesicht. „Aber … ich … will … weiterspielen.“

„Ich weiß. Vielleicht kommen wir morgen wieder her, okay?“

Addie stand auf und streckte ihrer Tochter die Hand hin, ein Zeichen, dass die Diskussion beendet war.

Michaela packte ihre Barbies ein und kroch aus ihrem Versteck. „T-tschüss, Grandma.“

Nachdem Charmaine ihr noch Kekse zugesteckt hatte, beeilte sich Addie, wieder zum Wagen zu kommen.

Doch ihre Mutter hielt sie zurück und flüsterte: „Was ist auf der Party denn passiert, dass du so durcheinander bist?“

„Nichts. Der neue Coach wurde vorgestellt, und Harry bekam die übliche goldene Uhr überreicht. Und das war’s auch schon.“

„Und war Skip Dalton da?“

Addie beobachtete, wie Michaela ins Auto stieg. „Tu doch nicht so, als ob du das nicht wüsstest. Es stand schließlich zweimal in der Zeitung.“

Charmaine kniff die Augen zusammen. „Hast du mit ihm geredet?“

„Nein.“

„Aber du hast ihn gesehen.“

„Ja.“

Die Fragen standen Charmaine förmlich ins Gesicht geschrieben: Wie sah er aus? Waren die Leute beeindruckt? Hat er sich verändert?

„Ich muss jetzt los.“ Addie ging die Stufen hinunter.

„Addie … dein Vater wollte doch nicht, dass du so … unter der Sache leidest.“

Unter der Sache. Ein neutraler Ausdruck für die Gehirnwäsche, die Cyril Watson seiner Tochter verpasst hatte, um sie dazu zu bringen, den Mann aufzugeben, den sie liebte. Und einige Monate später das Kind von ihm.

Sie drehte sich zu ihrer Mutter um. „Fang nicht davon an, Mom. Ich weiß schon, warum Dad so einen Druck auf mich ausgeübt hat. Er wollte nicht, dass seine wunderbare Tochter abrutscht.“

Erschrocken riss Charmaine die Augen auf. „Aber nein, so darfst du das nicht sehen. Er wollte, dass du eine Chance hast, er wollte …“

„Genau. Er wollte. Und was er wollte, hat er immer bekommen.“

„Aber das stimmt doch gar nicht. Dein Vater hat das getan, was er für das Beste hielt …“

„Das Beste für wen? Für mich? Für dich? Für die Familie? Mach dir doch nichts vor. Er wollte nur seinen Ruf schützen; das wissen wir alle. Alle außer dir. Und wann wirst du dir das eingestehen?“

„Du nimmst dir Skips Rückkehr zu sehr zu Herzen, aber das ist er nicht wert.“

Addie lachte verächtlich. „Irgendetwas muss er schon wert sein. Immerhin war er mal der beste Quarterback in der Liga.“

Ihre Mutter senkte den Blick, wahrscheinlich aus Schuldgefühl. Aber Addie kümmerten Charmaines Gefühle schon lange nicht mehr. Im Laufe der Jahre hatte sie sich ein dickes Fell zugelegt, und das hatte auch Dempsey zu spüren bekommen.

„Waren Kat und Lee auch da?“, fragte Charmaine.

„Keine Ahnung, ich habe sie nicht gesehen. Ich bin sofort wieder gegangen, als der Coach seine Uhr hatte.“

Charmaine seufze vernehmlich.

„Was? Hast du etwa erwartet, dass ich mich dort amüsiere, Skip treffe und ihn herzlich willkommen heiße?“ Als Charmaine nicht antwortete, schüttelte Addie ungläubig den Kopf. „Ja, das hast du tatsächlich.“

„Immerhin werdet ihr an derselben Schule sein.“

„Ja, und darauf freue ich mich wirklich nicht. Das kannst du mir glauben.“

„Warum trefft ihr euch nicht vorher mal? Vielleicht hilft es dir, über deine Probleme hinwegzukommen.“

Probleme? Als Dad mich gezwungen hat, die Papiere zu unterzeichnen, wollte ich nur noch sterben. Sterben, verstehst du?“

„M-m-mom!“, rief Michaela ängstlich aus dem Wagen.

„Ich muss los. Bis später.“

Mit schnellen Schritten ging Addie zum Auto.

Charmaine eilte ihr nach. „Und was willst du nun unternehmen?“

„Nichts. Rein gar nichts. Der Mann ist mir völlig egal.“

Sie stieg ein, startete den Wagen und ließ ihre Mutter einfach stehen.

Nichts. Rein gar nichts. Vergiss das nicht, Addie.

Skip Dalton war nichts weiter als ein kleines Schlagloch in ihrem Lebensweg. Sie würde ihn einfach ignorieren.

Aber warum war sie dann noch immer so aufgewühlt?

2. KAPITEL

Am Montag nach der Willkommensparty in der Schule stellte Skip seinen Pick-up neben dem Prius auf der Einfahrt seines neuen Hauses ab und stieg aus. Gestern hatte die Umzugsfirma die Möbel gebracht, und heute würden er und Becky die Umzugskisten auspacken.

Über die Motorhaube lächelte er Becky an. „Tja, da sind wir. Unser neues Zuhause.“

Er hoffte sehr, dass ihr das Haus, die Insel und die Schule, auf die sie nach den Sommerferien gehen würde, gefielen. Immerhin machte sie schon mal große Augen, als sie das Haus zum ersten Mal sah.

„Es ist riesig! Ich war noch nie in einem so großen Haus! Wohnen wir da ganz allein drin?“

„Nur wir beide.“ Im Moment jedenfalls. Skip konnte natürlich nicht in die Zukunft sehen, aber er hoffte sehr, dass er und die Nachbarin von gegenüber irgendwann Freundschaft schließen würden. Um Beckys willen. Und vielleicht ergab sich dann ja mehr daraus …

Auf einmal war ihm Beckys Staunen etwas peinlich. Immerhin war dies hier nur eins der drei Häuser, die er besaß – und nicht einmal das größte.

„Wenn du dich draußen etwas umsehen willst, nur zu. Ich fange schon mal an, auszupacken. Komm einfach rein, wenn du Lust hast.“

Dankbar lächelte sie ihn an. „Gern. Es ist so still hier. Ich wusste vorher gar nicht, dass mir das so gut gefällt.“

„Du meinst die viele Natur?“

„Ja.“ Staunend betrachtete sie einen Buntspecht, der auf einen Baumstamm in der Nähe einhämmerte.

Skip erwiderte ihr Lächeln. „Das hier ist zwar nur eine kleine Insel, und sie ist 1892 einmal komplett abgebrannt – daher der Name. Aber die Natur hat sich den Ort zurückerobert, und jetzt gibt es hier wieder mindestens genauso viele Tiere wie früher. Viel Spaß beim Entdecken.“

Damit ging er die Verandastufen hinauf. Auch er hatte vorher gar nicht gewusst, wie sehr er die Insel vermisst hatte.

Wie im Traum ging Becky über das Grundstück. Alles war so grün und riesig, und die Luft roch frisch und nach Salz. Manchmal konnte sie noch gar nicht glauben, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte. War es wirklich erst zehn Monate her, dass ihr Dad sie gefunden hatte?

Ihr richtiger Dad …

Er war so cool. Freundlich und geduldig und einfach nett. Ganz anders als ihr anderer Dad. Ihn vermisste sie kein bisschen – aber dafür ihre Mom. Kaum zu fassen, dass diese jetzt schon vier Jahre tot war. Becky versuchte, sich die Frau vorzustellen, die sie so sehr geliebt hatte – ihre blonden Haare und ihr liebevolles Lächeln. Wie sie ihr beim Einschlafen vorgelesen oder bei den Hausaufgaben geholfen hatte.

Doch das Bild blieb verschwommen, als würde sie ihre Mutter durch dichten Nebel sehen. Und an die Stimme konnte sie sich überhaupt nicht mehr erinnern.

Vielleicht war es ja besser so. Wenn sie nicht mehr wusste, wie ihre Mutter aussah, dann konnte sie vielleicht auch jenen schrecklichen Tag vergessen.

Sie hob den Kopf und merkte, dass sie schon recht weit in den dichten Wald hineingelaufen war.

Konzentrier dich auf dein neues Leben. Denk nicht an damals.

Becky kam in den Vorgarten. Auf der anderen Seite der Straße führte ein langer Feldweg zu einem Holzhaus. Ein Kind saß auf der Türschwelle.

Auf der Suche nach neuen Freunden überquerte Becky die Straße und ging den Feldweg hinauf.

„Hi!“, rief sie, als sie näherkam.

Das Mädchen trug Shorts und ein rosafarbenes T-Shirt und hatte lange, dunkle Zöpfe.

Becky schätzte es auf sechs oder sieben. Weil die Kleine etwas verängstigt aussah, stellte sie sich gleich vor. „Ich bin Becky. Ich wohne gegenüber.“

Aus großen braunen Augen sah die Kleine sie an. Ihr Mund bewegte sich, doch sie sagte nichts. Becky setzte sich neben sie und ihre Barbiepuppen.

„Ich hatte auch mal eine Prinzessin-Barbie“, sagte sie und griff nach der Puppe mit der kleinen Krone. „Aber das ist schon lange her. Dann ist meine Mom gestorben, und ich habe die Prinzessin irgendwo verloren.“

Becky ließ die Barbie ein paar Tanzschritte machen und summte dazu. Das Mädchen schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

„Wie heißt du?“, fragte sie.

„M-m-michaela.“

„Ein schöner Name“, bemerkte Becky und überhörte das Stottern.

„M-m-meine Mom und ich g-g-ehen gleich z-z-u den B-b-bienen. Willst du m-m-itkommen?“

„Bienen?“ Becky sah sich um. „Gibt es hier irgendwo einen Bienenstock?“

„Ja. M-m-meine Mom v-v-erkauft den Honig.“

„Oooh – dann gehören diese weißen Bienenkästen euch?“

Die Augen des Mädchens strahlten. „Ich … kann … Mom fragen … ob du … mitkommen … darfst.“

„Hey, das wäre cool.“

Hinter ihnen ging die Tür auf. „Michaela?“

Eine schlanke Frau in Jeans und T-Shirt blickte auf sie hinunter.

Das Mädchen sprang auf und nahm ihre Hand. „Mom, das ist B-b-b-ecky. Sie ist unsere N-n-nachbarin.“

Becky sprang auf. „Ich wollte nicht stören, Ma’am.“

„Tust du auch nicht.“ Die Stimme der Frau war warm und weich. Sie strich dem Mädchen übers Haar, und Becky dachte daran, wie ihre Mutter das immer bei ihr gemacht hatte.“

„B-b-becky gefällt die P-p-prinzessin-Barbie am besten, g-g-genau wie mir.“

„Sprich langsam, Schatz.“

Becky lächelte. „Ich bin auch immer aufgeregt, wenn ich neue Leute kennenlerne.“

Die Frau schien sich zu entspannen. „Ich bin Addie Malloy.“

„Und ich bin Becky Dalton.“

Jetzt runzelte die Frau auf einmal die Stirn. „Du bist die Tochter von Skip Dalton?“

„Ja.“ Ist das schlimm? „Kennen Sie ihn?“

Die Frau starrte sie so lange an, dass Becky ganz warm wurde. Dann blickte sie zu ihrem Haus und sah auf einmal wirklich böse aus. „Ja, ich kenne Mr Dalton.“

Au weia, die neue Nachbarin mochte ihren Dad offenbar nicht. Aber warum? Becky trat den Rückzug an. „Ich muss jetzt gehen. Mein Dad fragt sich bestimmt schon, wo ich stecke. Tschüss, Micky.“

„Sie heißt Michaela. Den Spitznamen Micky mag sie nicht“, korrigierte die Frau kühl.

„Oh. ’Tschuldigung.“ Becky beeilte sich, die Stufen hinunterzukommen.

Was für ein Pech – ein nettes Mädchen mit einer unausstehlichen Mutter. Aber so war es ja immer. Vielleicht stotterte Michaela ja deshalb: Sie sehnte sich nach Freunden, aber ihre Mutter ließ niemanden an sie heran.

Becky warf einen Blick über die Schulter zurück. Die beiden waren nicht mehr zu sehen, und sie rannte so schnell sie konnte nach Hause.

Skip war dabei, das große Doppelbett ans Fenster zu schieben, damit er jeden Morgen als Erstes die hohen Bäume sah, die sein Grundstück umstanden. Er hörte die Haustür zuschlagen und kurz darauf seine Tochter die Treppe hinaufkommen.

„Dad?“

Wie immer, wenn Becky ihn so nannte, konnte er sein Glück kaum fassen, dass seine Tochter ihn so schnell als Vater akzeptiert hatte. Wie hatte er damals sein ungeborenes Kind einfach so aufgeben können, nur weil sein Vater ihn dazu gedrängt hatte?

„Ich bin hier!“, antwortete er.

Mit geröteten Wangen stürzte Becky ins Zimmer. „Ich habe die Nachbarn von gegenüber getroffen – Mrs Malloy und ihre Tochter Michaela.“

Verflixt. „Hey, sag das nächste Mal Bescheid, wenn du das Grundstück verlässt, okay?“

„Warum? Stimmt irgendetwas nicht mit ihnen?“ Unbehaglich sah sie zum Fenster.

„Nein. Aber wir wohnen hier ziemlich weit draußen, deshalb würde ich gern wissen, wo du steckst. Dann brauche ich mir nicht ständig Sorgen zu machen.“

„Jesse hat es nie gekümmert, wo ich hingehe.“

Jesse Farmer, ihr Adoptivvater.

„Ich bin aber nicht Jesse, Liebes.“ Skip machte einen Schritt auf sie zu und strich ihr die Ponyfransen aus dem Gesicht. „Sieh mal, ich bin ja noch nicht so lange Vater, also hab ein wenig Geduld mit mir, okay? Wenn ich manchmal zu besorgt bin, dann nur, weil du mir so viel bedeutest.“

Becky zuckte die Achseln, dann ging sie zu den offenen Kartons, die in einer Ecke standen. „Ich glaube sowieso nicht, dass wir Freunde werden.“

„Ach nein?“

„Mrs Malloy ist nicht sehr nett.“

„Wie, nicht nett?“ Hatte sie seiner Tochter etwa die Tür vor der Nase zugeschlagen?

„Na ja, sie wirkt ziemlich zugeknöpft. Vielleicht, weil ihre Tochter stottert oder so.“

Er hatte davon gehört, dass Addie ein Kind hatte und geschieden war.

„Woher weißt du, dass sie stottert?“

„Sie hat vor dem Haus gespielt, und wir haben uns über ihre Barbies unterhalten, als ihre Mutter rauskam.“

„Oh.“

„Die Kleine ist wirklich nett. Und ziemlich schüchtern. Sie hat riesige braune Augen. Wahrscheinlich ist ihre Mutter so überbesorgt, weil sie wegen des Stotterns oft gehänselt wird. Hey, vielleicht können wir sie ja mal zum Essen einladen und …“

„Langsam, langsam.“ Skip hob die Hände. „Eins nach dem anderen. Wir müssen hier erst mal Ordnung schaffen.“

Und vor allem musste er vorher Kontakt zu Addie finden.

„Warum warten wir nicht noch ein paar Tage, bis wir alles eingeräumt haben? Du hast dir ja noch nicht mal dein neues Zimmer angesehen.“

Was ihm deutlich zeigte, wie wichtig Becky Nachbarn und Freunde waren. Die Leute in dem Trailerpark, in dem sie mit ihren Adoptiveltern gelebt hatte, waren wirklich kein guter Umgang für sie gewesen.

„Welches ist denn mein Zimmer?“, fragte sie.

„Vier sind noch frei, du kannst dir eins aussuchen.“

„Ehrlich?“

Zufrieden sah er zu, wie Becky alle vier Zimmer besichtigte, bis sie beim letzten rief: „Das hier! Kann ich das hier haben?“

„Klar. Dann bringe ich dir mal deine Kisten.“

Nacheinander brachte er die Umzugskartons mit ihrem Namen in ihr Zimmer und stellte die Möbel nach ihrer Anweisung auf. Als er fertig war, sagte er: „Na, dann mal los. Du kannst es einrichten, wie du magst. Sag Bescheid, wenn du noch etwas brauchst.“

Sie breitete die Arme aus und drückte ihn, was selten vorkam, und was er deshalb umso mehr genoss. „Danke, Dad!“

„Gern. Kommst du eine Weile allein zurecht? Ich werde mal rübergehen und mich Mrs Malloy vorstellen.“

„Oh. Soll ich mitkommen?“

„Nein, tob dich hier ruhig aus. Ich bin nicht lange weg.“

„Aber lass dich von ihr nicht erschrecken.“

Lächelnd hob er die Augenbrauen. „Warum? Ist sie so hässlich?“

Wenn er sich letztens bei der Abschiedsfeier nicht getäuscht hatte, sah Addie noch genauso aus wie damals – zierlich und wunderschön.

Becky schüttelte den Kopf. „Sie hat böse Augen.“

Das konnte er sich kaum vorstellen. Addies Augen waren tiefblau, das schönste Blau, das er je gesehen hatte. Und sie hatte sie ihrer erstgeborenen Tochter vererbt.

Während Addie das Geschirr vom Mittagessen spülte, musste sie immer wieder daran denken, wie Skips Tochter Michaela angelächelt hatte. Er hatte also eine Tochter, die ihm ähnlich sah und etwa so alt war wie ihr gemeinsames Kind jetzt. Offenbar hatte er keine Zeit verloren. Wie hatte sie nur so dumm sein und glauben können, dass auch er den Verlust ihrer Tochter betrauerte? Stattdessen hatte er sich sofort eine neue Frau gesucht und …

Sie stellte den letzten Teller so heftig ab, dass es schepperte, und biss sich auf die Zunge, um nicht laut loszuschreien.

Von wegen reicher Typ, der sich hier ein Ferienhaus baut. Er war dieser Kerl. Verdammt, was fiel ihm nur ein? Er hatte doch bestimmt gewusst, dass sie hier wohnte.

„Mommy?“

Ganz ruhig, Addie. Deine Tochter ist das Einzige, was zählt.

„Was ist denn, Liebes?“

„Kann ich H-h-honig vom L-löffel lecken, wenn wir zu den B-bienen gehen?“

„Ach Liebes.“ Addie umfasste Michaelas Gesicht und küsste sie auf die Nasenspitze. „Klar kannst du das. Jetzt geh dich waschen. Wir wollen gleich los.“

„Hurra!“

Lächelnd blickte Addie ihr nach, als sie aus der Küche hüpfte. Michaela, dachte sie. Mein Sonnenschein.

Kurz darauf gingen sie gemeinsam zum Schuppen, wo sie die Imkersachen aufbewahrte. Ihr Vater hatte früher achtzig Bienenstöcke unterhalten, doch neben ihrem Lehrerjob hatte Addie ja noch Michaela zu versorgen. Sie war mit zwölf Bienenvölkern vollkommen ausgelastet. Der meiste Honig wurde Anfang August geerntet; trotzdem dauerte es meist bis September, bis die Völker ganz in Winterruhe gingen.

„Mom, ich habe F-f-felicity vergessen!“, rief Michaela auf einmal aufgeregt.

Lächelnd schüttelte Addie den Kopf. „Das geht natürlich nicht. Lauf, hol sie schnell.“

Addie nahm Michaela mit zu den Bienen, seit sie alt genug dafür war, und das Mädchen hatte keine Angst vor den Insekten und liebte Honig.

Während sie ihre Puppe holte, brachte Addie die hölzernen Wabenrahmen zu ihrem Wagen, in denen die Bienen frischen Honig sammeln würden.

Das wäre cool, hatte Becky Dalton gesagt, als Michaela ihr anbot, mit zu den Bienenstöcken zu kommen. Wie alt mochte sie sein? Elf? Zwölf? Verdammt. Also hatte er nichts anbrennen lassen, nachdem er Addie verlassen hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können?

Zähneknirschend stampfte sie mit dem Fuß auf – und dann kam ihr ein noch schlimmerer Gedanke. Was, wenn er nicht nur sie, sondern zur gleichen Zeit auch ein College-Mädchen auf dem Festland geschwängert hatte?

Oh Gott.

Wie oft hatte sie in den vergangenen Jahren vor den Zuschauerrängen des Footballfelds gestanden und an die Zeit gedacht, als sie Skip von dort oben zugejubelt hatte? Hatte sich dabei gefragt, ob ihr Kind ihm ähnlich sah oder ihr? Und ob es je erfahren würde, wie sehr Addie es gewollt hatte?

Aber sie hatte ihre Tochter im Stich gelassen.

Verzeih mir, meine Kleine.

„Hallo, Addie.“

Erschrocken hielt sie inne, und ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Seine Stimme, die sie früher so geliebt hatte. Einen Moment lang konnte sie sich nicht rühren. Er ist hier, dachte sie atemlos.

Langsam hob sie den Kopf und drehte sich um.

Skip stand zwei Meter entfernt, die Hände in den Taschen seiner beigefarbenen Cargoshorts vergraben. Groß war er immer schon gewesen, doch in diesem Moment, dreizehn Jahre später, schien er sie um mehrere Köpfe zu überragen.

Hin und wieder hatte sie ihn natürlich doch im Fernsehen gesehen und verfolgt, wie aus dem Jungen ein Mann wurde. Früher waren die jungen Mädchen hinter ihm her gewesen, und heute war er zweifellos ein Frauenschwarm. Nicht, weil er so gut aussah, sondern weil er mit seinen ausgeprägten Wangenknochen und dem kantigen Kinn, den dunklen Augenbrauen und der markanten Nase eine ursprüngliche, sehr erotische Männlichkeit ausstrahlte.

Ein Windstoß zauste seine braunen Haare, und Addie dachte daran, wie sie ihm früher diese widerspenstige Strähne zärtlich aus der Stirn gestrichen hatte. Früher …

„Wir haben uns lange nicht gesehen“, bemerkte er, als sie ihn weiterhin nur stumm anstarrte.

Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. „Was willst du?“

„Ich wollte nur Hallo sagen“, erklärte er.

„Tja, das hast du ja nun.“

„Ich …“ Nervös sah er sich um. Seinen Augen hatten dieselbe Farbe wie früher, ein warmes Honigbraun.

Dann deutete er zu seinem Haus hinüber. „Meine Tochter und ich sind heute dort drüben eingezogen.“

„Ja. Ich habe die Möbelwagen gesehen. Und Becky hat meine Tochter schon kennengelernt.“

Unwillkürlich betonte sie das „meine“. Seine Tochter kam ganz nach ihm, so wie Michaela mehr ihrem Vater ähnelte. Doch niemand würde ihr jemals ihre zweite Tochter nehmen.

„Ich weiß.“ Er bückte sich, um einen Stapel der Wabenrahmen aufzuheben. „Deshalb bin ich ja gekommen. Ich wollte nur sichergehen, dass sie nicht gestört hat.“

Aha, daher weht also der Wind, dachte Addie. Er will nicht fragen, wie es mir geht, oder mir seine Familie vorstellen. Nein, er will nur sichergehen, dass es nicht auf ihn zurückfällt, wenn seine Tochter etwas anstellt.

Das sah Skip ähnlich. Vor dreizehn Jahren hatte er die Stadt verlassen, und nun kehrte er zurück, als wäre nichts gewesen. Dass es sie damals beinah umgebracht hatte, als er sie sitzen ließ, interessierte ihn wohl nicht.

Kümmerte es ihn überhaupt, dass sie dreiundzwanzig Stunden lang in den Wehen gelegen hatte, nur damit man ihr das Kind aus den Armen riss, kaum, dass sie einen Blick darauf geworfen hatte?

„Ich habe zu tun“, erklärte sie und nahm ihm die Rahmen ab. „Und du musst sicher auch wieder nach Hause zu deiner Familie.“

Bestimmt fragte sich seine Frau schon, was er drüben bei der Nachbarin zu tun hatte, die an einem heißen Sommertag verblichene Jeans, ein langärmliges T-Shirt und alte Lederstiefel trug.

„Becky und ich sind allein. Und sie ist dabei, ihr Zimmer einzurichten. Du weißt ja, wie Mädchen sind. Sie können sich mit so etwas stundenlang beschäftigen.“

Als sie ihn weiterhin finster anstarrte, trat er einen Schritt zurück. „Addie, ich …“

Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein. Das ist kein sentimentales Wiedersehen. Ich will nicht, dass du herkommst.“ Und mir von deinem Kind und deinem Leben erzählst.

Als er den Mund aufmachte, hob sie eine Hand. „Keine Diskussionen. Du hast dich vor dreizehn Jahren entschieden. Bleiben wir dabei.“

„Es tut mir leid.“

Sie lachte bitter. „Was tut dir leid? Dass du auf die Insel zurückgekehrt bist? Dass du vorbeischaust, als wäre nie etwas gewesen? Dass deine Tochter unverhofft vor meiner Tür steht?“

„Alles“, erwiderte er und schluckte schwer. „Von Anfang an.“

Wenn er nicht bald ging, würde sie ihm einen der Rahmen an den Kopf werfen. „Bitte geh nach Hause. Geh zurück zu deinem Landsitz und … tu, was du eben so machst.“

Damit drehte sie sich um und marschierte zum Schuppen, um weitere Rahmen zu holen, bis ihr einfiel, dass bereits alle im Wagen lagen. Auch egal; sie würde schon etwas anderes finden, was sie mitnehmen konnte.

Skip blieb an ihrer Seite. „Addie, wir sind jetzt Nachbarn, und ich habe nicht vor, so bald wieder umzuziehen. Können wir die Vergangenheit nicht einfach hinter uns lassen?“

Wütend drehte sie sich zu ihm um. „Na, das ist ja mal eine tolle Idee. Und verrätst du mir vielleicht auch, wie das gehen soll? Wie vergisst man die Vergangenheit, he? Du bist doch ein wahrer Meister darin. Macht man das in zwölf Schritten, wie die Anonymen Alkoholiker? Oder gibt’s noch einen besseren Trick?“

Normalerweise war sie nicht zynisch, doch in diesem Fall störte es sie nicht, wenn sie seine Gefühle verletzte.

Er blinzelte erschrocken, und ihr fiel wieder einmal auf, wie lang und dunkel seine Wimpern waren. „Du hast dich verändert.“

„Oh ja, da kannst du Gift drauf nehmen. Man nennt es ‚erwachsen werden‘.“ Addie stieß die Schuppentür so heftig auf, dass diese an die Wand krachte. „Solltest du auch mal versuchen.“

„Glaubst du, mein Leben war ein Zuckerschlecken?“

Sie hörte den ärgerlichen Unterton sehr wohl, doch da war er bei ihr an der falschen Adresse. „Mir ist dein Leben so was von egal. Jedenfalls, solange du dich aus meinem raushältst.“

Mit seinen breiten Schultern füllte er den ganzen Türrahmen aus. „Wie ich höre, unterrichtest du an der Highschool.“

Sein Ärger schien verflogen zu sein. Stattdessen sprach Skip jetzt sanft, fast bittend.

Addie angelte vier weitere Holzrahmen von einem Regal. Die Stöcke standen in einem Kleefeld, wo die Bienen viel zu tun hatten. Vielleicht würde sie die zusätzlichen Rahmen ja sogar wirklich brauchen.

„Warum hast du ausgerechnet gegenüber von mir gebaut?“, fragte sie brüsk.

„Das Land stand zum Verkauf.“

„Genau wie drei weitere Grundstücke am Wasser. Leute wie du, die Geld wie Heu haben, bauen mit Meerblick, nicht in der Wildnis.“

„Ich mag die Wälder.“

„Das allein ist kein Grund.“ Sie drängte sich an ihm vorbei nach draußen.

„Was soll ich denn machen, Addie, vor dir auf die Knie fallen?“ Er nahm ihr die vier Holzrahmen ab, und sie bemerkte, wie seine Schulter dabei leicht nachgab.

Sie hatte von der schweren Verletzung gehört, die seine Karriere beendet hatte, und es versetzte ihr einen Stich. Warum wollte er ihr auch unbedingt beim Tragen helfen?

„Wenn du dich danach besser fühlst, tue ich auch das“, fuhr er fort. „Aber es würde doch für uns nichts ändern, es würde …“

„Uns?“, fiel sie ihm ins Wort. „Es gibt kein ‚uns‘. Nicht mal damals, als wir zusammen waren. Das hast du ja sehr deutlich gemacht, als du gegangen bist.“

Seine Worte hatte sie nie vergessen. Ich muss es versuchen, Addie. Ich muss einfach wissen, ob ich es bis in die Profi-Liga schaffe. Das darfst du mir nicht übel nehmen.

Und das hatte sie auch nicht. Allerdings verstand sie einfach nicht, wie er sich einfach so aus der Verantwortung für ihr Kind stehlen konnte. Zuerst hatte er ihr geschworen, dass er zurückkommen würde. Wir stehen das gemeinsam durch, hatte er gesagt. Und dann hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört.

Dieser Verrat tat doppelt weh, und das würde sie ihm nie verzeihen. Aber nun wusste sie ja, warum er keinen Gedanken mehr an sie verschwendet hatte: Es wartete bereits eine andere Frau auf ihn auf dem Festland. Eine, die auch schwanger war.

Sie biss sich auf die Lippe und ging zum Truck. Auf den Stufen zum Eingang saß Michaela mit ihrer Puppe.

„Willst du nicht einsteigen, Schatz? Wir fahren jetzt!“, rief Addie.

Michaela bewegte die Lippen, bekam aber kein Wort heraus. Dabei sah sie ängstlich zu Skip.

Besorgt eilte sie zu ihrer Tochter. „Was ist denn los, Liebes?“ Hatte Michaela ihren Streit gehört? „Ganz ruhig, niemand tut dir etwas.“

Dann spürte sie, wie Skip sich neben sie hockte. Sein Knie streifte ihre Wade, und der Kontakt brachte ihr ganzes Bein zum Kribbeln. Sie bemühte sich, weiter zu lächeln, und hoffte, dass ihre Augen sie nicht verrieten. Auf keinen Fall sollte Michaela an eine der unangenehmen Szenen mit Dempsey erinnert werden.

„Hallo Michaela“, sagte Skip leise. „Ich bin der Vater von Becky. Becky war ja heute schon bei dir und hat sich vorgestellt.“

Ängstlich schaute Michaela zu Addie auf.

„Langsam, Liebes“, flüsterte sie. „Alles ist gut. Skip ist unser neuer Nachbar. Er wird uns nichts tun; er wollte sich nur vorstellen.“

Sie spürte, wie Skip das Gewicht verlagerte, sodass sich ihre Beine nicht mehr berührten.

„Genau“, bekräftigte er. „Und wenn Becky ihr Zimmer eingerichtet hat, dann zeigt sie es dir gern mal. Wenn deine Mom nichts dagegen hat.“

„I-ich m-mag B-b-becky“, piepste Michaela.

Addie schluckte. „Das weiß ich doch, mein Schatz.“

„K-k-kann sie m-mal z-zum Spielen k-kommen?“

„Bestimmt mal irgendwann.“ Sie strich ihrer Tochter das Haar aus dem Gesicht. „Kommst du jetzt mit zu den Bienen?“

Michaela nickte schnell.

„Na, dann los.“ Sie stand auf, streckte Michaela die Hand hin und achtete darauf, dass sie zwischen ihr und Skip ging. Als ihre Tochter eingestiegen war, schnallte Addie sie an, schloss die Tür und ging dann zur Ladefläche, um die restlichen Rahmen aufzuladen. Doch Skip hatte das schon erledigt.

„Wie lange stottert sie schon?“, fragte er. In seiner Stimme klangen weder Neugier noch Verachtung mit, sondern nur ernsthafte Besorgnis – und das machte Addie zu schaffen.

Wieso tat er das? Sie wollte nicht, dass er sich verändert hatte. Sie wollte ihn nicht besorgt, freundlich, verantwortungsvoll oder liebevoll erleben. Dennoch entschloss sie sich schließlich, ihm die Wahrheit zu sagen – hauptsächlich, weil er es sonst irgendwann von anderen hören würde. Bei nur zweitausend Einwohnern auf der Insel blühte der Klatsch an allen Ecken.

„Sie hatte von Anfang an Sprachschwierigkeiten, aber es wurde schlimmer, als ihr Vater beschloss, dass er doch keine Familie haben wollte.“

Ruhig sah sie ihm in die Augen. So wie du damals.

„Das tut mir leid.“

Na klar. Sie klimperte mit dem Autoschlüssel. „Adieu, Skip.“

Einen Moment lang sah er sie ernst an, dann nickte er. „Wir sehen uns.“ Damit drehte er sich um und ging den Feldweg hinunter zu seinem Haus zurück.

3. KAPITEL

Burnt Bend, der Hauptort der Insel, hatte sich nicht sehr verändert, seit Skip das letzte Mal hier gewesen war. An der Hauptstraße, die am Fähranleger begann, lagen sämtliche Geschäfte – unter anderem ein Friseur, die Post, eine Tankstelle, ein Café, drei Restaurants, ein Kino und eine Bar. Außerdem Dalton Lebensmittel, der Laden seiner Eltern.

Er parkte vor dem Heimwerkerladen und blickte die Straße hinunter zu dem Geschäft, in dem seine Mutter im Büro über dem Verkaufsraum saß. Irgendwann würde er auch ihr Becky vorstellen, doch er wollte seine Tochter nicht überfordern. Sie musste sich im Moment an so viele neue Dinge gewöhnen.

„Können wir außer dem Briefkasten auch ein Vogelhaus kaufen?“, fragte Becky beim Aussteigen.

„Klar, warum nicht?“ Wenn sie ihn mit ihren großen blauen Augen bittend ansah, konnte er ihr nur schwer etwas abschlagen.

„Hey, da drüben sind Mrs Malloy und Michaela.“

Skip blickte in die Richtung und sah die beiden vor der Bücherei stehen und zu ihnen hinüberschauen. Grüßend hob er die Hand, woraufhin Addie Michaela hastig ins Gebäude zog.

„Michaela!“, rief Becky.

Die Kleine winkte, bevor sie hineinging.

„Ich laufe schnell rüber und sage Hallo.“

Bevor Skip antworten konnte, hatte Becky bereits die halbe Straße überquert. Er seufzte und folgte ihr. Nach dem Tod ihrer Adoptiveltern hatte seine Tochter in verschiedenen Pflegefamilien gelebt und war für ihr Alter ziemlich selbstständig. Manchmal fiel es ihm schwer, damit umzugehen.

Als er die Bücherei betrat, versetzte ihn der typische Geruch sofort zurück in die Vergangenheit, als er selbst ein Teenager gewesen war und keine Sorgen hatte – außer dem nächsten Footballspiel, und welches Mädchen gerade auf ihn stand.

Doch das war vorbei. Nun, mit dreiunddreißig, war er Vater einer fast dreizehnjährigen Tochter und ausgemusterter Profi-Footballer – mit einer Schulter, die ihm wahrscheinlich für den Rest seines Lebens Probleme bereiten würde.

In der Kinderabteilung entdeckte er Addie, die neben Becky und Michaela auf dem Boden kniete. Die beiden Mädchen steckten die Köpfe zusammen und sahen zusammen Bücher durch.

Als er sich zu ihnen gesellte, hob Addie den Kopf. „Hi.“

Natürlich würde sie hier vor den Kindern keine Szene machen, doch er hörte den missbilligenden Unterton in ihrer Stimme.

„Hallo.“

Sie beugte sich zu ihrer Tochter hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann stand sie auf.

„Wir kommen schon klar, Mrs Malloy“, sagte Becky, während Addie auf ihn zuging und eine Kopfbewegung zur Erwachsenenabteilung hin machte, wo die Kinder sie nicht hören würden.

„Wolltest du dir Bücher ausleihen?“, fragte sie kühl. Er hörte ihre eigentliche Frage heraus: Warum bist du mir gefolgt?

„Becky wollte Michaela Hallo sagen.“

„Oh.“

„Weißt du, wir …“

„Nein, fang gar nicht erst an. Ich weiß, dass wir uns in der Stadt öfter über den Weg laufen werden, sie ist ja klein genug. Aber genau darum geht es. Die Leute reden hier viel. Verstehst du, was ich meine?“

„Du willst nicht, dass sie über uns …“

„Wie gesagt, es gibt …“

„… kein ‚uns‘“, vollendete er ihren Satz. „Ich weiß.“

Addies Augen, deren Blau jetzt dem eines Gewitterhimmels glich, faszinierten ihn. Damals hatte er ihr mal gesagt, dass er das Gefühl hätte, in ihnen zu ertrinken. In ihren Augen und in ihrer Seele. Bis sein Vater ihn herausgezogen und an Land geschleppt hatte.

Er atmete tief durch. „Können wir uns nicht vertragen? Was damals passiert ist … wir können doch die Zeit nicht zurückdrehen.“

Ihre Miene wurde noch abweisender, und er wusste, dass seine Worte ganz falsch rüberkamen.

„Was ich sagen will, ist … wenn ich es nur könnte, würde ich zurückgehen und alles anders machen. Du warst für mich …“

„Entschuldige, meine Tochter ist fertig.“ Sie ließ ihn stehen und ging zu Michaela und Becky, die am Ausleihschalter warteten.

Als sich die Mädchen kurz darauf voneinander verabschiedet hatten und die Malloys gegangen waren, flüsterte Becky ihrem Vater zu: „Was ist denn los?“

„Nichts, wieso?“

„Doch. Zwischen dir und Mrs Malloy stimmt irgendetwas nicht. Das merke ich ganz genau.“ Becky sah ihn nachdenklich an. „Du kennst sie, oder? Von früher, als du hier gewohnt hast. Seid ihr zusammen zur Schule gegangen oder so?“

Oder so. Aber er wollte seine Tochter nicht anlügen. „Ich kenne sie von klein auf. Aber ich würde jetzt lieber nicht darüber reden, okay?“

„Klar. Wie du meinst.“

Er seufzte. „Das ist eine komplizierte Geschichte.“

„Schon gut.“ Sie zuckte die Schultern. „Es bringt nichts, über die Vergangenheit nachzudenken. Hat Jesse jedenfalls immer gesagt.“

Skip gefiel es nicht, wenn sie ihren Adoptivvater erwähnte, aber diesmal musste er ihm recht geben.

„Hast du dir etwas Schönes ausgesucht?“, fragte er.

Becky hob ihre Bücher hoch, und er trat mit ihr an den Ausleihschalter.

„Wir brauchen auch noch eine Bücherei-Karte“, sagte er zu der Frau hinter der Theke – derselben, die schon zu seiner Schulzeit dort gesessen hatte.

„Na, so was, Skip Dalton“, sagte sie mit hochgezogenen Brauen. „Ich habe gehört, dass du zurück bist. Und deine Tochter mitgebracht hast.“

Was sie nicht sagte, las er deutlich in ihrem Blick: Du hast Nerven, hier mit deinem Kind aufzutauchen, nachdem du Addie gezwungen hast, ihrs herzugeben.

Als sie endlich wieder draußen standen, atmete Skip tief die würzige Seeluft ein.

Auf dem Weg zum Eisenwarenladen fing Becky wieder damit an. „Dad, ich möchte wirklich gern wissen, was zwischen dir und Mrs Malloy vorgeht. Und sag nicht wieder ‚nichts‘. Ich habe doch gesehen, wie sie dich angeguckt hat.“

„Nämlich?“

„Als wollte sie dir den Kopf abreißen.“

Und das war noch milde ausgedrückt.

„Das ist eine lange Geschichte. Eines Tages erzähl ich sie dir, versprochen.“

„Und warum nicht jetzt?“

„Weil sie und ich uns erst über ein paar Dinge einig werden müssen.“

„Warst du auf der Highschool mit ihr zusammen?“

Lächelnd zupfte er an ihrem Pferdeschwanz. „Du gibst wohl nicht so leicht auf, was? In absehbarer Zeit wirst es du erfahren. Das verspreche ich dir.“

„Wusstest du, dass sie zwei Schwestern hat, die auch hier auf der Insel wohnen? Michaela ist echt ein Glückspilz; sie hat gleich zwei Tanten.“

„Hat Michaela dir das erzählt?“

„Ja. Das und noch andere Dinge.“

„Zum Beispiel?“

Becky lachte. „Von wegen. Das sage ich dir erst, wenn du mir dein Geheimnis erzählst.“

„Wie gesagt …“

„Du wirst es mir sagen, wenn es so weit ist.“

„Kluges Kind. Und jetzt kaufen wir einen Briefkasten.“

Becky stieß die Tür zum Laden auf und schaute ihn über die Schulter an. „Und ein Vogelhaus?“

„Auch das.“

Hauptsache, sie fragte ihn nicht mehr nach Addie aus. Becky war eine scharfe Beobachterin – und er noch nicht bereit, sich ihr gegenüber diesem Teil seiner Vergangenheit zu stellen.

Jetzt, wo er fast Tür an Tür mit Addie wohnte, bekam er doch so langsam kalte Füße.

Addie stand auf der hinteren Veranda und rief nach Michaela. Als keine Antwort kam, umrundete sie das Haus und rief im Vorgarten noch einmal. Wo steckte ihre Tochter nur? Normalerweise spielte sie entweder im Garten oder auf der vorderen Treppe.

Vom Haus auf der anderen Straßenseite hörte sie lautes Hämmern. War der Bau immer noch nicht abgeschlossen? Und dann fiel Addie plötzlich ein, wo Michaela sein könnte.

Das Vogelhaus.

Der Bausatz, den Becky und Skip am Vortag in der Stadt besorgt hatten, nachdem sie ihr und Michaela in der Bücherei begegnet waren. Becky hatte Michaela alles haarklein am Telefon beschrieben – die Mädchen hatten bereits ihre Nummern ausgetauscht.

Eigentlich mochte Addie Skips Tochter. Sie war höflich und freundlich, und Michaela schien in ihrer Gegenwart aufzublühen. Aber genau das machte ihr auch Angst, denn wenn die beiden enge Freundinnen wurden, würden auch sie und Skip immer öfter miteinander zu tun haben. Und das wollte sie ja gerade vermeiden.

„Warum hast du Angst vor ihm?“, hatte ihre Schwester Kat am Vortag mit großen Augen gefragt, als sie zu dritt am See joggten.

„Nicht vor ihm, vor ihren eigenen Gefühlen“, hatte ihre andere Schwester Lee eingeworfen. „Sie empfindet noch immer etwas für ihn.“

Und obwohl Addie vehement widersprochen hatte, war sie seitdem noch unruhiger, denn es war immerhin möglich, dass Lee recht hatte …

Sie schüttelte diesen erschreckenden Gedanken ab und ging entschlossen zur Landstraße. An der Einfahrt zu Skips Haus stand jetzt ein nagelneuer weißer Briefkasten auf einem Holzpfahl. Der Name „DALTON“ war in großen schwarzen Lettern aufgemalt, und ihr Herz schlug auf einmal schneller.

Es war ein prägnanter Name für einen entschlossenen Mann. Er hatte immer das getan, was er wollte, oder was seiner Karriere diente. Früher hatte sie seinen Namen geliebt, ihn hundertmal in ihre Schulhefte gemalt und ihn neben ihren eigenen in eine Baumrinde geschnitzt.

A.W. + S. D., umrahmt von einem Herzen.

Wie albern. Sie war ein dummes Gör gewesen mit romantischen, unerfüllbaren Träumen. Doch jetzt war sie eine unabhängige Frau, die ihre Entscheidungen logisch und mit gesundem Menschenverstand traf, und daher passte Skip Dalton ganz eindeutig nicht in ihr Leben.

Als sie den Garten betrat, waren Michaela und Becky gerade dabei, auf dem Rasen Handstand zu machen, während Skip konzentriert eine Anleitung las, die sich offenbar auf das halbfertige Vogelhaus bezog. Um ihn herum lagen Sperrholzstücke verstreut.

Sprachlos betrachtete Addie die Szene, die so gar nicht ihrem Bild von Skip entsprach. Skip als Familienvater, der sich handwerklich betätigte, während seine Tochter und eine Freundin spielten. Fehlte nur noch ein Hund, der schnarchend in der Sonne lag.

Und eine Frau …

Hastig verdrängte sie das Bild. Sie wollte gar nicht wissen, wer die Frau war, die Skip diese Tochter geschenkt hatte … und wann.

„Mommy!“ Michaela hatte sie entdeckt und kam auf sie zu. „Becky und ich können Handstand!“ Sie nahm Addies Hand und zog sie mit sich. „Und Rad schlagen! Guck mal!“

Als Skip Michaelas Stimme hörte, hob er den Kopf und sah Addie so intensiv an, dass ihr ganz heiß wurde. Sie widerstand Michaelas Bemühungen, sie weiter in den Garten zu ziehen und sagte stattdessen: „Wir müssen nach Hause, Süße, nach den Bienen sehen.“

Michaela schüttelte den Kopf. „A-aber ich w-w-will hierbleiben.“

„Das ist schon okay, Mrs Malloy“, sagte Becky und kam näher. „Micky kann hierbleiben, bis Sie wieder da sind. Oder, Dad?“

„Natürlich“, bestätigte Skip. „Sie ist jederzeit willkommen.“

Micky. Hatte sie Becky nicht erst vor ein paar Tagen erklärt, dass Michaela den Spitznamen nicht mochte? Dempsey hatte sie immer „Stottermicky“ genannt, wenn sie über die Worte stolperte. Heute jedoch schien sie der Kurzname nicht zu stören, denn sie strahlte, als Becky sie so nannte.

„Bitte, bitte“, bettelte sie. „Ich w-w-will hierbleiben und noch m-m-mehr Handstand machen. B-b-becky bringt es mir bei.“

Addie ging vor ihrer Tochter in die Hocke. „Du kannst ein andermal wieder herkommen, okay?“

Michaela schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf, dass ihre dunklen Zöpfe flogen. In ihren Augen standen Tränen.

„B-b-bitte“, flehte sie. „Becky ist meine F-f-freundin.“

Wie sollte Addie da widerstehen? Ausgerechnet Skips Tochter bot Michaela etwas, was ihr fehlte – den Kontakt mit anderen Kindern.

„Wir passen gut auf sie auf“, bestätigte Skip, der nun ebenfalls herangekommen war. „Verlass dich drauf.“ Seine tiefe Stimme ging ihr durch und durch.

Verlass dich drauf? So, wie sie sich auf ihn hatte verlassen können, als es wirklich zählte? Als er ihr gesagt hatte: „Ich habe das nicht gewollt“?

„Ich verlasse mich auf nichts und niemanden.“

Damit stand sie auf und hoffte, dass auch ihr Gesichtsausdruck widerspiegelte, was sie meinte. Sie war schon sehr, sehr lange nicht mehr von einem Mann abhängig gewesen, und das würde sich jetzt nicht ändern. Schon gar nicht mit Skip Dalton.

„Verstehe“, antwortete er, und sie sah, dass er tatsächlich zwei und zwei zusammenzählte.

„Kann Micky denn jetzt bleiben?“, fragte Becky.

„Bitte, Mommy.“ Michaela schmiegte sich an sie.

Mir wär’s lieber, du würdest eine andere Freundin finden, dachte Michaela. Aber wen? Ihre Mitschüler hänselten sie manchmal, weil sie stotterte.

„Na gut“, gab sie nach.

„Hurra!“ Michaela lief zu ihrer neuen Freundin und nahm ihre Hand. „Ich darf hierbleiben!“

„Prima. Wollen wir reingehen und ein Eis am Stiel essen?“

„Mom!“, rief Michaela strahlend. „Ich bekomme ein Eis am Stiel!“

„Das habe ich gehört, Liebes. Aber nur eins, okay?“

„Klar, sonst bek-k-komme ich Bauchschmerzen.“ An Beckys Seite hüpfte sie in Richtung Haus.

Addie sah zu Skip. „Hast du einen Stift hier? Ich will dir meine Handynummer aufschreiben, damit du mich erreichen kannst, falls etwas passiert.“

„Was soll denn passieren? Die Mädchen sind die ganze Zeit hier bei mir.“

„Aber ich habe ein besseres Gefühl, wenn du meine Nummer hast.“ Stirnrunzelnd stellte sie fest, wie zweideutig das klang, und sie fügte schnell hinzu: „Nur zur Sicherheit.“

„Na schön.“ Er zog einen kleinen Notizblock und einen Zimmermannsbleistift aus seiner Jeanstasche und notierte sich die Nummer, die sie ihm sagte.

„Danke. Ich bin so schnell wie möglich zurück.“

Skip begleitete sie zurück zur Einfahrt. „Es ist doch prima, dass die Kinder sich gut verstehen, findest du nicht?“

Stur ging sie weiter. „Das heißt aber nicht, dass wir Freunde werden.“

„Ich weiß. Ich wünschte nur …“

Jetzt blieb sie doch stehen und starrte ihn entrüstet an. „Was? Dass wir die Vergangenheit einfach vergessen und ich dich nicht mehr hasse für das, was du gesagt und getan hast?“

Addie sah, wie er schwer schluckte, bevor er den Kopf abwandte, und wünschte, sie könnte die Worte zurücknehmen. Sie hatte ihm gar nicht zeigen wollen, wie verletzt sie war. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte sie auch ihn nicht verletzen wollen.

Stumm ging sie weiter. In einer Stunde würde sie zurück sein und ein ernstes Wort mit Michaela reden – dass sie nicht ohne Erlaubnis das Grundstück verlassen durfte. Was, wenn sie auf der Straße einem Fremden begegnete, der nichts Gutes im Sinn hatte?

„Addie?“

Seine eindringliche Stimme durchdrang ihre düsteren Gedanken.

Seufzend drehte sie sich zu ihm um.

„Bienenstich“, sagte er leise.

Bienenstich. Es war ihr Codewort gewesen, als sie jung und verliebt waren. Immer, wenn sie mit ihrem Vater gestritten hatte, weil er so streng und engstirnig war, und sich bei Skip ausgeweint hatte. Das Wort hatte ihr geholfen, so etwas nicht so wichtig zu nehmen. Ein Bienenstich war viel schlimmer als ein Streit mit ihrem Vater.

Jedenfalls für Skip.

Auch jetzt verstand sie, was er meinte. Dass sie jetzt Nachbarn waren, dass ihre Kinder sich gut verstanden – das war alles nicht so schlimm wie die allergische Reaktion auf das Insektengift, die Skips Luftröhre zuschwellen ließ und ihn in Todesgefahr brachte. Wie damals, als er zwölf war, sich am Boden wand und langsam blau anlief. Die Erinnerung jagte Addie noch immer einen Schauer über den Rücken. Ganz gleich, was später passiert war – sie war noch immer froh, dass er jenen Tag überlebt hatte.

Sie nickte ihm kurz zu und ging dann weiter.

Was wünschst du dir? Dass ich dich nicht hasse für das, was du gesagt und getan hast?

Addies Worte brannten wie Feuer in ihm, als er ihr nachschaute. Skip wusste genau, auf welchen Moment sie anspielte, auf welchen schrecklichen Regentag.

Er hatte sie an jenem Abend zum Kino abgeholt. Doch als sie in seinen alten Chevy stieg, war sie schweigsam gewesen, in sich gekehrt, und hatte überhaupt nicht auf seine außerordentlich gute Laune reagiert. Normalerweise spürte sie immer, was in ihm vorging, doch damals nicht. Sie war eingestiegen, hatte sich angeschnallt und aus dem Fenster gestarrt.

„Hi, mein Schatz. Ich habe dich heute vermisst.“

Er versuchte, sie zu küssen, bevor er den Wagen anließ, und hatte dabei gemerkt, dass sie anders war als sonst. Doch er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, weil er selbst viel zu aufgekratzt war. Vor einer Stunde hatte der Scout der Profi-Liga angerufen.

Vielleicht war Addie so abwesend, weil sie sich wieder mit ihrem Vater gestritten hatte. Aber darüber wollte er jetzt nicht reden. Er wollte sie mit einem schönen Abendessen überraschen und mit ihr auf seinen Erfolg anstoßen. Und dann zu ihrem Lieblingsplatz am See fahren und ihr auf dem breiten Rücksitz seines Trucks zeigen, wie sehr er sie liebte.

„Wo möchtest du essen?“, fragte er, als er losfuhr.

Als sie nichts sagte, sah er zu ihr hinüber, und sie starrte immer noch aus dem Fenster in den Regen hinaus.

„Addie?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich will nichts essen. Ich habe keinen Hunger.“

„Stimmt irgendetwas nicht?“ Als sie weiterhin schwieg, wurde er langsam nervös. „Bist du sauer auf mich?“

„Nein“, stieß sie hervor, und er glaubte zu hören, wie sie leise hinzufügte: Ich bin sauer auf mich selbst, aber ganz sicher war er nicht, weil das Radio lief.

„Wohin fahren wir also?“ Ihm knurrte der Magen, aber er würde auch einfach einen Hamburger essen, wenn sie keine Lust auf ein Restaurant hatte.

„Ist mir egal.“

Jetzt wurde er langsam etwas ärgerlich. Das hier war sein großer Abend. Merkte sie nicht, wie aufgeregt er war?

Er schaltete den Scheibenwischer ein, weil es immer stärker regnete, und fuhr zu einem Hamburger-Lokal mit Drive-in. Als er den Motor abstellte, lauschten sie beide dem Regen, der aufs Dach trommelte, und dann sagte Addie schließlich unvermittelt die Worte, die ihrer beider Leben veränderte.

„Ich bin über die Zeit.“

Er wusste sofort, was sie meinte. Wie in Zeitlupe sah er seine wunderbaren Pläne in sich zusammenfallen und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach.

„Bist du sicher?“, brachte er hervor.

Noch immer sah sie ihn nicht an, sondern starrte stattdessen in den Regen hinaus.

„Ich habe heute Morgen den Drogerietest gemacht. Zweimal.“

Dann gab es wohl keinen Zweifel. Sie hatten ein Kind gezeugt. Natürlich benutzten sie immer Kondome, aber manchmal, manchmal passierte es eben doch. Und einmal, ein einziges Mal hatten sie sich direkt spüren wollen …

Skip ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken, als ihn die düsteren Zukunftsvisionen überrollten. Eine winzige, schäbige Wohnung. Hilfsarbeiter auf Baustellen. Rechnungen. Gläubiger.

„Ich werde es behalten“, flüsterte sie, und er hob den Kopf. „Und du brauchst deswegen nicht hierzubleiben.“ Zum ersten Mal sah sie ihn an. „Ich will dein Leben nicht ruinieren.“

Unglaubliche Erleichterung überkam ihn, bevor er anfing, sich zu schämen, und ihre kalten Hände in seine nahm. „Wir werden einen Weg finden“, flüsterte er.

„Aber wie?“ Ihre Stimme klang so hoffnungsvoll, dass er fast in Tränen ausbrach.

„Keine Ahnung, aber wir werden es schaffen. Ich verspreche es dir.“ Er zog sie in die Arme, küsste sie auf die Stirn. „Alles wird gut, Darling. Wir schaffen es.“

Und er hatte es ernst gemeint. Dies war sein Kind, und er würde ein besserer Vater werden als sein eigener.

Drei Wochen später hatte er mit Addie wieder in seinem Wagen gesessen und gesagt: „Ich habe das nicht gewollt“. Und bevor er ihr erklären konnte, wie er das meinte, und welche Macht sein Vater letztendlich über ihn hatte, war sie aus dem Wagen gesprungen und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen.

Am nächsten Tag hatte er Firewood Island für immer verlassen.

4. KAPITEL

Becky wollte unbedingt mehr über Mrs Malloys Bienen wissen. Michaela hatte ihr erzählt, wie sie den Honig aus den Waben schleuderten, und Becky wollte gern zusehen. Sie wusste, dass Mrs Malloy und Michaela zweimal in der Woche nach den Bienenstöcken sahen. Heute war es wieder so weit.

Sie klopfte an der Haustür und lächelte freundlich, als Addie öffnete. „Hallo, ich wollte fragen, ob ich bei den Bienen helfen darf.“

Addie sah sie stirnrunzelnd an. „Wo ist dein Vater?“

„Zum Einkaufen in der Stadt. Wir grillen heute Abend. Sie und Michaela könnten doch rüberkommen und mit uns essen“, fügte sie eilig hinzu.

„Ich glaube nicht …“

„Oh, Mommy, sag ja!“ Michaela kam angerannt und umarmte ihre Mutter. „Hi, Becky.“

„Hi Micky. Was hast du da?“

„Meine neue Barbie. Willst du sie sehen?“

„Darf ich reinkommen?“, fragte Becky.

„Weiß dein Vater, dass du hier bist?“

„Ich habe ihm einen Zettel hingelegt.“

Sie verschwieg, dass sie hoffte, er würde erst zurückkommen, nachdem sie schon bei den Bienenstöcken gewesen waren. Zwar hatte er ihr nicht verboten, zu den Bienen zu gehen, ihr aber erzählt, wie allergisch er auf Stiche reagierte. Was normalerweise bedeutete „es ist gefährlich, also halt dich fern davon“.

Doch Becky hatte in ihrem Leben schon einige gefährliche Situationen überstanden. Einen Bienenstock zu besichtigen, kam ihr vergleichsweise harmlos vor.

„Kann ich Becky mein Zimmer zeigen?“ Michaela hüpfte aufgeregt auf und ab.

„Ja, aber nur kurz. Wir müssen zu den Stöcken, bevor es zu regnen anfängt.“

Becky sah ihre Chance. „Dürfte ich mitkommen? Ich möchte wirklich gern sehen, wie Sie den Honig herausholen.“ Sie schenkte Addie ihr strahlendstes Lächeln.

„Na ja, dein Vater ist …“

„Ich bleibe auch im Wagen“, versicherte sie eifrig. „Ich störe Sie bestimmt nicht. Und ich bin nicht allergisch.“

„Ich will auch, dass Becky m-m-mitkommt.“ Michaela zog an Addies Hand. „Sie ist meine F-f-freundin. Bitte, ich will ihr die Bienen zeigen.“

„Na gut.“ Addie blickte noch einmal die Straße hinunter – wahrscheinlich hoffte sie, dass Beckys Vater zurückkam. „In zwei Minuten fahren wir los.“

Das Haus der Malloys war alt, aber gemütlich. Michaelas Zimmer lag zum Garten hinaus, und es war ganz in Weiß und Rosa eingerichtet. Ihre Barbiepuppen saßen auf einem langen Regal über einer weiß-rosa gestrichenen Kommode. Michaela plapperte die ganze Zeit wie ein Wasserfall, als sie Becky alles zeigte, und sie kam dabei kein einziges Mal ins Stottern.

Becky fragte sich, ob Mrs Malloy, die sie in der Küche hantieren sah, es bemerkte.

Kurz darauf rief sie die Mädchen, und sie beluden den Truck mit Holzrahmen und fuhren zu einem Kleefeld. Dort zogen Addie und Michaela weiße Overalls und Handschuhe an und setzten sich Imkerhüte auf.

„Warum ist alles weiß?“, fragte Michaela.

„Weil es uns unsichtbar macht. Richtig, Mom?“, antwortete Micky.

„Ehrlich?“

„Wenn die Bienen sich gestört fühlen, suchen sie nach einem Platz, wo sie sich hinsetzen und stechen können. Dunkle Sachen ziehen sie an, aber weiße nehmen sie nicht wahr.“

„Wow.“ Als sie klein war, hätte Becky alles dafür gegeben, sich unsichtbar zu machen, wenn ihre Eltern sich stritten.

In der nächsten halben Stunde sah sie fasziniert zu, wie Micky und ihre Mutter die Bienen mit einem Räuchergerät beruhigten und dann die honiggefüllten Waben aus den Stöcken zogen. Einige ließen sie als Winterfutter für den Schwarm zurück.

„Dann sammeln sie jetzt keinen Honig mehr?“, fragte Becky.

„Die Saison ist fast vorbei. Im September bereiten sich die Bienen auf die Winterruhe vor.“

„Oh.“ Becky versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Sie wollte auch gern einen weißen Overall tragen und wirklich mithelfen, aber damit musste sie jetzt wohl bis zum nächsten Sommer warten. Wer weiß, vielleicht war das auch ganz gut so. Bis dahin mochte Mrs Malloy sie vielleicht genug, um sie mitmachen zu lassen.

Sie stiegen alle wieder in den Truck und fuhren zu einem anderen Feld. Als sie gerade angekommen waren, näherte sich ein Wagen, den Becky sofort erkannte.

„Au weia, das ist mein Dad.“

Er fuhr nicht auf den Feldweg, der zu den Bienenstöcken führte, sondern blieb auf der Landstraße stehen. Doch auch über die Entfernung konnte Becky seinen Gesichtsausdruck sehen, und der sagte ihr, dass sie Mist gebaut hatte.

„Du hast ihm geschrieben, dass du mit zu den Bienen willst, oder?“, fragte Addie.

„Ich dachte, wir wären zurück, bevor er zurückkommt.“

Addie seufzte, und Becky schämte sich schrecklich. Dieser Dad war richtig liebevoll. Er hatte sie nach Hause geholt, in ein richtiges Haus, und bot ihr ein Leben, von dem sie nie zu träumen gewagt hätte. Und er hatte sie wirklich lieb. Sie hätte nicht versuchen dürfen, ihn auszutricksen.

Addie stieg aus, während Micky mit großen Augen ihre Barbie an sich drückte. „I-i-ist d-d-dein Dad b-b-böse?“

„Nein, aber ich sollte mit ihm reden. Kommst du kurz allein klar?“

Die Kleine nickte. „P-p-pass auf, d-d-dass er dir n-n-nichts tut.“

Becky schlang die Arme um sie und drückte sie. „Mein Dad ist nett. Er liebt mich.“

„M-m-mein Dad h-h-hat mich n-nicht geliebt.“

Wie Jesse, dachte Becky, und ihr Herz krampfte sich zusammen. „Wir reden später, okay?“

„Okay.“

Hinter Addie ging Becky zum Wagen ihres Vaters, der die Scheibe einen winzigen Spalt hinunterließ.

„Geht es dir gut?“, fragte er besorgt.

„Ja, alles okay. Es tut mir leid. Ich hätte dich auf dem Handy anrufen sollen, statt einen Zettel hinzulegen.“

Misstrauisch betrachtete ihr Vater die Bienenstöcke. Der Notfallinjektor mit dem Gegengift, den er immer am Gürtel trug, lag auf dem Beifahrersitz. Becky schämte sich noch mehr. Wie hatte sie nur so gedankenlos sein können? Ihr Vater hatte die Veranda mit Fliegengitter bespannt und darauf geachtet, dass im Garten nur Gräser und Grünpflanzen wuchsen, weil Bienen ihm so gefährlich werden konnten.

„Becky ist mitgekommen, um Michaela Gesellschaft zu leisten“, meldete Addie sich zu Wort. „Sie hat im Wagen gewartet, während wir bei den Stöcken waren.“

Und dann sah Becky, wie Mrs Malloy die Hand in Richtung des Wagenfensters ausstreckte und ihr Vater zuerst auf ihre Hand und ihr dann ins Gesicht schaute. Sie spürte eine seltsame Schwingung zwischen den beiden, bis Mrs Malloy hastig einen Schritt zurücktrat. „Du solltest jetzt mit deinem Vater nach Hause fahren, Becky.“

„Kann ich mich noch von Michaela verabschieden?“

Ihr Vater nickte, und sie rannte zum Truck zurück. „Micky, überrede deine Mom dazu, dass ihr heute zum Grillen kommt, okay?“

„Kriegst du Ä-ä-ärger?“

„Ach was“, antwortete Becky schnell, damit sich Micky keine Sorgen machte. „Bis dann.“

Auf dem Rückweg zum Wagen kam ihr Mrs Malloy entgegen. „Denk dran, was das für deinen Vater bedeutet“, sagte sie leise.

„Ja, Ma’am. Bienen sind gefährlich für ihn. Ich muss vorsichtiger sein.“

Addie wirkte überrascht und schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Darum nickte sie nur.

Auf der Rückfahrt sagte ihr Dad kein Wort, ein Zeichen dafür, wie enttäuscht er von ihr war. Es war das erste Mal in den zehn Monaten, die Becky nun bei ihm lebte, und sie schämte sich so sehr, dass sie sich am liebsten unter dem Sitz verkrochen hätte.

Bin ich zu hart zu Becky gewesen? fragte Skip sich selbstkritisch. Aber andererseits hatte er sich große Sorgen um sie gemacht. Allein der Gedanke, sie in der Nähe der Bienenstöcke zu wissen!

Addie hätte nicht zugelassen, dass ihr etwas passiert. Du hast überreagiert.

Ja, das hatte er wohl. Und jetzt kam Becky nicht mehr aus ihrem Zimmer, zum ersten Mal seit vielen Monaten. Sie war sofort hinaufgerannt, als sie ins Haus kamen, und hatte nicht geantwortet, als er versuchte, mit ihr durch die geschlossene Tür zu reden.

Draußen begann es zu regnen, und er schmierte in seiner Verzweiflung ein paar Brote und trug den Teller die Treppe hinauf.

„Becky?“, rief er durch die Tür. „Ich habe uns etwas zu essen gemacht.“

„Hab’ keinen Hunger“, kam es gedämpft zurück.

„Okay. Aber können wir trotzdem miteinander reden?“

Schweigen.

Autor

Mary J Forbes
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