Julia Extra Band 396

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LIEBESSOMER AUF SIZILIEN von SMART, MICHELLE
"Du spielst mit dem Feuer." Bei Francescos Worten überläuft Hannah ein Schauer: Sie weiß nichts über den Sizilianer, außer dass er gefährlich sexy ist! Leichtfertig schlägt sie seine Warnung in den Wind. Doch schon sein erster feuriger Kuss stellt ihre Welt auf den Kopf …

WAS KOSTET DEIN HERZ? von MARSH, NICOLA
Wo Glamour-Girl Liza auftaucht, wimmelt es vor Paparazzi. Niemand ahnt, warum sie das verhasste Leben führt: So bekommt sie Geld für ihre kranke Schwester. Aber alle Sorgen wären vorbei, wenn sie das unmoralische Anbot des millionenschweren Wade annehmen würde …

VERFÜHRT VON EINEM PLAYBOY-SCHEICH von RAYE HARRIS, LYNN
Längst hat Emily aufgehört zu zählen, wie viele Damen morgens das Luxusapartment von ihrem sexy Boss Kadir al-Hassan verlassen haben. Aber als Kadir erfährt, dass sein Vater im Sterben liegt, ändert sich alles. Der Playboy-Scheich will heiraten - ausgerechnet sie!

RÜCKKEHR NACH CORNWALL von GILMORE, JESSICA
Niemals hätte Lawrie gedacht, dass sie ihren Geburtstag mit ihrem Ex-Mann Jonas feiern würde! Ihre Ehe zerbrach, weil Lawrie damals Cornwall verließ. Aber jetzt ist sie zurück, und Jonas macht ihr das ungeheuerliche Angebot, in sein Geschäft einzusteigen! Oder meint er in sein Leben?


  • Erscheinungstag 07.04.2015
  • Bandnummer 0396
  • ISBN / Artikelnummer 9783733704445
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Smart, Nicola Marsh, Lynn Raye Harris, Jessica Gilmore

JULIA EXTRA BAND 396

MICHELLE SMART

Liebessommer auf Sizilien

Seit Francesco Calvetti ihr Leben gerettet hat, will Hannah mit ihm die Leidenschaft entdecken! Obwohl sie weiß, dass sie in der gefährlichen Welt des Sizilianers untergehen könnte …

NICOLA MARSH

Was kostet dein Herz?

Er sollte nicht an die Nacht mit der Fremden denken, weil er gleich einen Vertrag mit Glamour-Girl Liza Lithgow machen wird! Aber als Liza sein Büro betritt, ist Medienmogul Wade verblüfft: Liza ist die schöne Fremde …

LYNN RAYE HARRIS

Verführt von einem Playboy-Scheich

Er soll den Thron von Kyr besteigen? Das kommt für den Playboy- Prinzen Kadir nicht infrage! Aus Selbstschutz beschließt er, eine ganz und gar falsche Braut zu heiraten: seine widerspenstige Assistentin Emily …

JESSICA GILMORE

Rückkehr nach Cornwall

Jonas hat ihr nie vergeben. Aber sie auch nie vergessen! Und als der Zufall ihn mit seiner Exfrau Lawrie zusammenführt, muss er sich entscheiden: ihr für immer zu vertrauen – oder für immer Goodbye zu sagen?

1. KAPITEL

Erneut wurde Francesco Calvettis Ritt auf seiner MV Agusta F4 CC von einer roten Ampel unterbrochen. Ungeduldig hielt er an und setzte den linken Fuß auf den Asphalt. Unglaublich, was um sieben Uhr früh schon auf Londons Straßen los war!

Sehnsüchtig dachte er an seine Heimat Sizilien. Dort könnte er jetzt ungestört entlang grüner Wiesen seine Motorradfahrt genießen. Stattdessen musste er sich hier durch die graue Millionenstadt quälen. Frühlingsgefühle kamen dabei nicht auf. In Sizilien waren sogar die Winter sonniger!

Francesco konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, sich nach einer so langen Nacht von Mario nach Hause chauffieren zu lassen. Doch Francesco hielt nun mal lieber selbst das Steuer in der Hand – und zwar in jeder Beziehung.

Die Ampel schaltete auf Grün. Bevor Francesco Gas gab, wischte er schnell das Visier trocken. Was für ein Land! Francesco kam es vor, als würde er sich inmitten einer dicken grauen Regenwolke befinden.

An der nächsten roten Ampel fiel sein Blick auf eine Radfahrerin mit neongelbem Helm.

Die Frau stand vor ihm an der weißen Haltelinie, direkt neben einem riesigen Geländewagen.

Abwesend bewunderte Francesco das unglaublich dichte, in allen möglichen Blondtönen schimmernde Haar der unbekannten Radfahrerin. Es reichte ihr fast bis zur Taille!

Kaum zeigte die Ampel Grün, radelte die Frau los und streckte den linken Arm aus, zum Zeichen, dass sie links abbiegen wollte. Auch der Geländewagen bog links ab, gefolgt von Francesco.

Und dann passierte alles ganz schnell.

Ohne zu blinken, scherte der Geländewagen urplötzlich vor ihm aus, um die Radfahrerin zu überholen. Dabei hatte der Typ offensichtlich nicht bedacht, wie breit sein Angeberauto war, denn es touchierte das Rad und katapultierte die Fahrerin über die Lenkstange und kopfüber an den Straßenrand.

Sofort bremste Francesco, stellte hastig sein Motorrad ab und lief los. Wütend musste er beobachten, dass der Fahrer, der den Unfall verursacht hatte, davonraste und aus dem Blickfeld verschwand.

Zögernd bückte sich ein Fußgänger nach der reglos am Boden liegenden Radfahrerin.

„Nicht bewegen!“, herrschte Francesco den Mann an und nahm den Motorradhelm ab. „Vielleicht ist ihre Wirbelsäule verletzt! Wenn Sie helfen wollen, alarmieren Sie den Rettungswagen.“

Eingeschüchtert wich der Mann einen Schritt zurück, um Francesco Platz zu machen. Dann zückte er sein Handy.

Die Frau lag auf dem Rücken – halb auf dem Bürgersteig, halb auf der Straße, das lange blonde Haar ausgebreitet wie ein Fächer. Der geborstene Fahrradhelm war ihr über die Stirn gerutscht. Das Fahrrad war nur noch ein Schrotthaufen.

Francesco zog die Lederhandschuhe aus, kniete sich hin und tastete nach dem Puls der Verletzten.

Schwach, aber immerhin. Erleichtert richtete Francesco sich auf, stellte fest, dass der Passant mit der Rettungsleitstelle telefonierte, zog sich die Lederjacke aus und deckte die reglos am Boden liegende Frau behutsam damit zu. Unter einer khakifarbenen Regenjacke trug die Frau eine elegante graue Hose und eine schwarze Bluse. An einem ihrer bloßen Füße trug sie einen weißen Ballerinaschuh. Der andere Schuh fehlte.

Leider durfte die Verletzte nicht bewegt werden, sonst hätte er sie längst auf seine Jacke gebettet, zum Schutz vor dem kalten, nassen Boden.

„Geben Sie mir Ihren Mantel!“, forderte er einen anderen Passanten auf, der unschlüssig herumstand. Inzwischen hatten sich mehrere Schaulustige versammelt. Hyänen, dachte Francesco abfällig. Hilfe hatte keiner angeboten.

Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass er die Menschen so eingeschüchtert haben könnte, dass sie nicht wagten, ihm zu helfen.

Wortlos schlüpfte der Angesprochene aus seinem Woll-Trenchcoat und reichte ihn Francesco, der sofort die Beine der Verletzten damit zudeckte.

„Der Rettungswagen ist in fünf Minuten da“, sagte der Passant, der zuerst am Unfallort stehen geblieben war? und klappte sein Handy zu.

„Gut.“ Erst jetzt spürte Francesco den eisigen Wind und fröstelte. Behutsam umfasste er das Gesicht der Frau am Boden. Ihre Wangen fühlten sich eiskalt an.

Auf den ersten Blick konnte er keine äußeren Verletzungen feststellen. Vorsichtig schob er ihr Haar zur Seite. Die Ohren wirkten unversehrt. Keine Spur von Blut. Das wertete er mal als gutes Zeichen.

Wie hübsch sie ist, dachte er plötzlich. Nicht im klassischen Sinne schön, aber sehr hübsch. Die Nase war gerade, aber vielleicht ein bisschen zu lang. Die Frauen, mit denen er es üblicherweise zu tun hatte, hätten das sofort vom Schönheitschirurgen verbessern lassen …

Francesco fiel ein, dass er beim Zudecken einen Ausweis bemerkt hatte, der an einer Kordel hing. Behutsam zog er ihn hervor und warf einen Blick darauf. Dr. H. Chapman, Oberärztin, las er auf dem Mitarbeiterausweis eines der Londoner Krankenhäuser.

Die Frau war Ärztin? Sie wirkte kaum älter als achtzehn Jahre. Er hatte sie für eine Studentin gehalten.

In diesem Moment schlug die Verletzte die Augen auf – und Francescos Gedanken waren wie weggewischt.

Zuerst lag ein Ausdruck des Schocks in den wunderschönen haselnussbraunen Augen der Frau. Dann schlossen sich ihre Lider, und als sie kurz darauf erneut zu Francesco hochschaute, tat sie dies mit einem Ausdruck tiefsten Seelenfriedens. Francesco blieb fast das Herz stehen. Dann beugte er sich tiefer über sie, um ihre gehauchten Worte aufzufangen.

„Dann gibt es also wirklich ein Paradies.“

Hannah Chapman lehnte ihr nagelneues Fahrrad an die Hauswand und betrachtete die silbern glänzende Markise über dem Eingang. Calvetti’s stand darauf. Wohl damit gar nicht erst Zweifel darüber aufkamen, wem dieses Etablissement gehörte: Francesco Calvetti.

Der Club öffnete zwar erst um zehn Uhr abends, also in vier Stunden, aber die beiden muskulösen, ganz in Schwarz gekleideten Türsteher hatten bereits ihren Posten bezogen. Hannah schloss daraus haarscharf, dass der Chef im Haus sein musste. Denn die vorherigen drei Male, die sie hier vorbeigeradelt war, hatte sich keine Menschenseele blicken lassen.

„Entschuldigung“, sagte sie zu den Männern in Schwarz. „Ist Francesco Calvetti da?“

„Er ist nicht zu sprechen.“

„Aber er ist da?“

„Ja, aber er will nicht gestört werden.“

Super! Endlich hatte sie ihn aufgespürt. Francesco Calvetti war ständig auf Reisen. Jetzt war er aber hier. Nun musste sie es nur noch schaffen, zu ihm vorgelassen zu werden.

Hannah setzte ihr gewinnendstes Lächeln auf.

Darauf reagierten die furchteinflößenden Männer erst recht mit Misstrauen. Abweisend verschränkten sie die Arme vor der breiten Brust und bauten sich vor der Tür auf.

„Ich weiß, dass Sie ihn nicht stören wollen, meine Herren. Könnten Sie ihm bitte trotzdem sagen, dass Hannah Chapman ihn kurz sprechen möchte? Er weiß, wer ich bin. Wenn er mich nicht empfangen will, verschwinde ich sofort wieder. Ehrenwort.“

„Das geht nicht. Wir haben unsere Anweisungen.“ Unnachgiebig maß der etwas Größere des Duos sie mit Blicken.

„Da kann man wohl nichts machen.“ Traurig ließ Hannah den Kopf hängen. Sie war sehr enttäuscht. Zu gern hätte sie sich persönlich bei dem Mann bedankt.

Was soll’s? dachte sie und streckte den Männern einen großen Blumenstrauß mit anhängender Karte entgegen. Den hatte sie bereits mehrere Kilometer in ihrem Fahrradkorb bis hierher transportiert und wollte ihn nun unbedingt loswerden. „Dann sorgen Sie bitte dafür, dass er die Blumen bekommt“, bat sie resigniert.

Keiner der Männer machte Anstalten, den Strauß anzunehmen. Ihre Mienen wurden noch misstrauischer.

„Bitte! Es ist bereits mein dritter Versuch, einen Strauß zu übergeben. Es wäre doch schade um die schönen Blumen. Ich hatte vor sechs Wochen einen Unfall, und Mr Calvetti hat mich gerettet, und …“

„Moment mal.“ Der Mann auf der linken Seite musterte sie fragend. „Was war das für ein Unfall?“

„Irgend so ein Typ hat mich angefahren und dann Fahrerflucht begangen.“

Die Männer tauschten einen Blick aus, dann steckten sie die Köpfe zusammen und diskutierten. Es klang wie Italienisch. Vielleicht schloss Hannah aber nur darauf, weil sie bereits wusste, dass Francesco Calvetti aus Sizilien stammte.

Inzwischen wusste sie wohl mehr über ihren Lebensretter, als ihm lieb sein konnte. Internet-Suchmaschinen waren Segen und Fluch zugleich. Beispielsweise hatte Hannah herausgefunden, dass Francesco sechsunddreißig Jahre alt und ledig war, seine glamourösen Freundinnen wie die Hemden wechselte und stolzer Besitzer von sechs Nachtclubs und vier Casinos in verschiedenen europäischen Staaten war. Seiner Familie wurden enge Verbindungen zur sizilianischen Mafia nachgesagt und seinen – inzwischen verstorbenen – Vater Salvatore hatten sie Sal il Santo – Sal, den Heiligen – genannt. Angeblich weil er über seinen Mordopfern gerne das Kreuzzeichen machte …

Aber selbst wenn dieser Mann der Teufel persönlich gewesen wäre, hätte es für Hannah keine Rolle gespielt, denn für sie zählte nur sein Sohn Francesco. Und der war ein guter Mensch.

Er hatte ihr das Leben gerettet!

Der kleinere der beiden Türsteher wandte sich ihr wieder zu. „Wie war doch gleich Ihr Name?“

„Hannah Chapman.“

„Eine Sekunde, ich sage ihm Bescheid. Aber ich kann nicht versprechen, dass er Sie empfängt“, fügte er achselzuckend hinzu.

„Schon okay, wenn er zu beschäftigt ist, verschwinde ich wieder.“

Der Türsteher öffnete die Flügeltür und betrat das Haus.

Hannah legte sich den Strauß in den Arm und hoffte, Francesco fände das Geschenk nicht unpassend. Aber Hannah wusste nicht, wie sie ihre Dankbarkeit anders ausdrücken sollte. Der Mann hatte alles für sie getan. Dabei kannte er sie nicht einmal.

Kaum eine Minute später schwangen die Türen wieder auf, und ein Mann, der noch größer war als seine ziemlich beeindruckenden Türsteher, kam heraus.

Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wie unglaublich groß er war!

Aber sie hatte ja auch nur sein wunderschönes Gesicht gesehen, als sie damals kurz die Augen aufgeschlagen hatte, während er sich über sie beugte. Sie hatte gedacht, sie wäre tot, und ihr Schutzengel geleitete sie in den Himmel, wo Beth auf sie wartete. Von so einem fantastisch aussehenden Mann begleitet zu werden, hatte sie sofort über ihren vermeintlichen Tod hinweggetröstet.

Als sie später wieder das Bewusstsein erlangte, war sie im ersten Moment richtig enttäuscht gewesen, sich in einem Krankenhausbett wiederzufinden, statt mit Adonis im Paradies.

Nur langsam war ihr bewusst geworden, dass sie tatsächlich noch am Leben war. Immer wieder tauchte das hinreißende Gesicht ihres Lebensretters vor ihrem geistigen Auge auf. Verwundert hatte Hannah sich eingestehen müssen, dass sie sich zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren wieder richtig lebendig fühlte.

All die Jahre war sie wie in Trance gewesen. Sie hatte hart gearbeitet, sich in jeder freien Minute weitergebildet, aber am Leben hatte sie nicht teilgenommen.

Als sie sich langsam von der schweren Gehirnerschütterung erholte, die sie bei dem Sturz erlitten hatte, kam sie zu dem Schluss, sich nur eingebildet zu haben, wie fantastisch ihr Lebensretter aussah. Die Fotos, die sie im Internet von Francesco Calvetti fand, enttäuschten sie jedenfalls.

Doch nun stand er leibhaftig vor ihr. Er war noch schöner als in ihrer Erinnerung! Und wahnsinnig männlich …

Sein perfekter Körper steckte in maßgeschneiderten grauen Hosen, die Ärmel seines blütenweißen Hemdes waren lässig aufgerollt. In seinem Ausschnitt, direkt auf Hannahs Augenhöhe, blitzte ein schlichter goldener Kreuzanhänger auf seinem schwarzen Brusthaar. Bei dem sexy Anblick durchströmte Hannah ein ihr vollkommen unbekanntes heißes Gefühl.

Verwirrt sah Hannah schnell auf und begegnete dem undurchdringlichen Blick aus Francescos faszinierenden dunkelbraunen Augen. Unwillkürlich erhellte ein breites Lächeln Hannahs Gesicht. Sie reichte Francesco den Strauß und erklärte schnell: „Ich bin Hannah Chapman. Und die Blumen sind für Sie.“

Er warf einen schnellen Blick auf die Blumen, griff aber nicht danach.

„Ich möchte mich damit bei Ihnen bedanken“, erklärte sie, leicht atemlos. „Es ist natürlich nur ein kleines Zeichen meiner unendlichen Dankbarkeit. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.“

Francesco zog eine dichte schwarze Augenbraue hoch. „In meiner Schuld?“

Beim Klang der tiefen sexy Stimme mit dem hinreißenden italienischen Akzent lief Hannah ein Schauer der Erregung über den Rücken. „Ja, denn selbst wenn ich die reichste Frau der Welt wäre, könnte ich nicht wiedergutmachen, was Sie alles für mich getan haben.“

Francesco musterte sie. Dann hielt er ihr die Tür auf. „Kommen Sie kurz herein!“

„Gern.“ Sein Befehlston machte ihr nichts aus.

Die beiden Bodyguards machten ihr tatsächlich Platz. Offenbar hatten sie sich inzwischen davon überzeugt, dass kein Maschinengewehr im Strauß versteckt war …

Durch einen großen Empfangsbereich führte Francesco sie in den eigentlichen Club.

Hannah staunte. So viel Glamour hätte sie nicht erwartet. Weinrot und Silber waren die dominierenden Farben. Sie kam sich vor wie in einem alten Hollywoodfilm. Bisher hatte sie nur ein einziges Mal einen Nachtclub besucht. Damals war sie achtzehn gewesen, und die ganze Schulklasse feierte das bestandene Abitur im Club des verschlafenen Badeorts, wo Hannah aufgewachsen war. Selten hatte sie so einen öden Abend verbracht wie damals.

„Gefällt es Ihnen hier?“

Unter seinem Blick wurde ihr wieder heiß. „Ja, es ist alles sehr elegant und geschmackvoll.“

„Sie müssen mal einen Abend hier verbringen“, schlug er vor.

„Ich? Nein, das ist nichts für mich.“ Oje, hoffentlich hatte sie ihn jetzt nicht beleidigt! Vorsichtshalber fügte sie schnell hinzu: „Aber für meine Schwester Melanie. Am Freitag ist ihr Junggesellinnenabschied. Ich werde ihr vorschlagen, hier zu feiern.“

„Tun Sie das.“ Francesco hatte sofort erkannt, dass Hannah Chapman nicht zu den Frauen gehörte, die gern auf Partys gingen und Nachtclubs besuchten, um sich einen reichen, berühmten Mann zu angeln. Die Frau war Ärztin.

Er registrierte den eher praktischen als verführerischen BH, den sie unter der weißen Bluse trug, die bei der Beleuchtung im Club nahezu durchsichtig war. Die blonde Mähne war zerzaust, Make-up fehlte völlig.

Verführen will sie mich wohl nicht, dachte Francesco amüsiert, schob sich hinter den Tresen, beobachtete, wie die Besucherin den Strauß darauf ablegte, und fragte: „Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?“ Blumen hatte er noch nie geschenkt bekommen …

„Ich könnte einen Kaffee vertragen.“

„Nichts Alkoholisches?“

„Ich trinke keinen Alkohol. Außerdem hat meine Schicht heute Morgen um sieben Uhr begonnen. Wenn ich nicht bald Koffein bekomme, werde ich womöglich noch ohnmächtig.“

Ihre Selbstironie gefiel ihm. Er fand sie irgendwie erfrischend. Die meisten Frauen, mit denen er sonst zu tun hatte, wirkten immer etwas gelangweilt.

„Sie arbeiten schon wieder?“, fragte er erstaunt.

„Ja. Zwei Wochen nach dem Unfall hatte ich mich so weit von der Gehirnerschütterung erholt, dass ich meine Arbeit wieder aufnehmen konnte.“

„Hatten Sie noch andere Blessuren?“

„Ein gebrochenes Schlüsselbein. Es heilt ganz gut. Ach ja, ein Mittelfinger war auch gebrochen. Aber der scheint auch wieder heil zu sein.“

Francesco musterte sie erstaunt. „Sind Sie denn nicht sicher, dass der Finger wieder ganz ist?“

Hannah schob sich auf einen Barhocker. „Er tut nicht mehr weh. Also gehe ich davon aus, dass der Bruch verheilt ist.“

„Ist das Ihre professionelle Diagnose?“

Hannah lächelte amüsiert. „Klar.“

„Dann sollte ich mich wohl hüten, mir bei Ihnen ärztlichen Rat zu holen“, meinte Francesco trocken und betätigte die Kaffeemaschine.

„Sie sind etwa zwanzig Jahre zu alt für mich.“

„Wie soll ich das verstehen?“, fragte er pikiert.

Sie lachte fröhlich. „Entschuldigung. Ich meinte, Sie sind zu alt, um von mir behandelt zu werden. Ich bin nämlich Kinderärztin.“

Die Frage, warum sie ausgerechnet Kinder behandelte, lag ihm auf der Zunge. Doch noch brennender interessierte ihn der Grund ihres Besuchs. Francesco füllte zwei Tassen und wandte sich kurz um. „Nehmen Sie Milch und Zucker?“

„Bitte nur zwei Teelöffel Zucker. Wenn schon, denn schon.“

Das konnte er nur unterstreichen. Auch er trank seinen Kaffee schwarz, stark und süß.

Schweigend servierte er ihr das heiße Getränk und musterte sie erneut unauffällig. Sein erster Eindruck war richtig gewesen. Hannah war bildhübsch! Schlank, mittelgroß – und die sportliche Hose brachte ihren sinnlichen Po einfach perfekt zur Geltung. Schade, dass sie sich hingesetzt hatte …

Je länger Francesco die Frau vor sich ansah, desto mehr genoss er Hannahs Anblick. Und Hannah schien es mit ihm ebenso zu gehen.

Dieser unverhoffte Besuch von Dr. Chapman könnte vielversprechend werden.

Francesco nippte an seinem Kaffee und platzierte die Tasse neben Hannahs, bevor er sich zu seiner stattlichen Größe aufrichtete, die Arme verschränkte und unverblümt fragte: „Warum haben Sie mich aufgesucht?“

Sie hielt seinem forschenden Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. „Weil Sie wissen sollen, wie unendlich dankbar ich Ihnen bin. Sie haben dafür gesorgt, dass ich bis zum Eintreffen des Rettungswagens nicht völlig auskühle. Sie haben mich ins Krankenhaus begleitet und es erst verlassen, nachdem ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Sie haben den flüchtigen Fahrer ausfindig gemacht und ihn überredet, sich der Polizei zu stellen. Noch nie hat sich jemand so um mich gekümmert. Dabei kannten Sie mich nicht einmal.“

Am liebsten hätte er ihr beruhigend die rosigen Wangen gestreichelt, doch er unterdrückte den Impuls. Woher wusste sie das eigentlich alles? Sowie sie wieder bei Bewusstsein gewesen war, hatte er doch das Krankenhaus verlassen. Sehr mysteriös!

„Ich würde Sie gern zum Abendessen einladen, um mich richtig bei Ihnen zu bedanken.“ Verlegen senkte sie schnell den Blick. Sie hatte noch nie einen Mann zum Essen eingeladen.

Sprachlos schaute Francesco sie an. „Sie wollen mich zum Essen einladen?“, erkundigte er sich, als er sich von der ersten Überraschung erholt hatte. Normalerweise ließen Frauen sich von ihm einladen … und reich beschenken. Er fand das in Ordnung. Es war eine Art Gegenleistung dafür, von einer schönen Frau begleitet zu werden. Diese Frau ergriff nun selbst die Initiative … unfassbar!

In Francescos Machowelt dienten Frauen lediglich als Zierrat – und dazu, das Bett warm zu halten.

Hannah umfasste ihre Tasse und nickte. „Das ist ja wohl das Mindeste“, sagte sie leise und schaute ihn mit ihren wunderschönen haselnussbraunen Augen an.

Hat sie doch Hintergedanken? überlegte Francesco. Aber das konnte er sich kaum vorstellen. Der Frauenkenner in ihm spürte allerdings, dass Hannah sich durchaus für ihn interessierte.

Er war drauf und dran, der Versuchung nachzugeben. Warum denn nicht? Wie oft hatte er in den vergangenen Wochen schon den Hörer in der Hand gehalten, um Hannah anzurufen. Jedes Mal hatte er es sich dann doch anders überlegt. Schließlich kannte er Hannah gar nicht. Trotzdem hatte es ihn wütend gemacht, dass die Polizei den flüchtigen Fahrer angeblich nicht ausfindig machen konnte. Also hatte Francesco die Angelegenheit auf seine Weise geregelt. Dank seines fotografischen Gedächtnisses konnte er seinem Team eine genaue Beschreibung des Geländewagens und seines Fahrers liefern. Innerhalb von zwei Stunden hatten die Männer ihrem Boss die Anschrift des Mannes mitgeteilt. Francesco musste ihn dann nur noch überzeugen, sich der Polizei zu stellen. Dafür hatte er genau fünf Minuten gebraucht. Der Typ hatte ihn förmlich angefleht, ihn zur Polizeiwache zu bringen. Francesco hatte ihm den Gefallen getan.

Nun war Hannah also zu ihm gekommen, um ihn einzuladen. Er war versucht, die Einladung anzunehmen. Bezahlen würde natürlich er. In seiner Welt beglich der Mann die Rechnung, wenn er mit einer Frau ausging. Punkt.

Bei jeder anderen Frau hätte er keine Sekunde lang gezögert. Doch diese Frau war anders. Erstens, weil Hannah Ärztin war und damit das Gute in einer schlechten, grausamen Welt verkörperte. Zweitens, weil sie so unschuldig und völlig arglos wirkte. So eine Frau sollte sich nicht mit Typen seines Kalibers einlassen.

Ein anderer Mann hätte ihr offensichtliches Interesse ausgenutzt. Salvatore hätte Hannah ganz sicher nicht abgewiesen. Francesco presste die Lippen zusammen. Zum Glück besaß er mehr Anstand als sein verstorbener Vater.

Wenn eine Frau aus seinen Kreisen gesagt hätte, sie stünde tief in seiner Schuld, hätte er gelacht und ihr unverblümt vorgeschlagen, wie sie die Schulden begleichen konnte: Nackt in seinem Bett.

„Sie schulden mir gar nichts“, presste er schließlich ausdruckslos hervor.

„Doch.“

„Nein. Was ich getan habe, war eine Selbstverständlichkeit. Es freut mich, dass es Ihnen wieder so gut geht, dass Sie Ihren geliebten Beruf ausüben können. Das ist mir Lohn genug.“

Leicht enttäuscht schaute sie ihn an. „Dann darf ich Sie nicht zum Essen einladen?“

„Sehen Sie sich doch hier um! Sie gehören nicht in diese zwielichtige Welt, Dr. Chapman. Vielen Dank für Ihren Besuch. Jetzt muss ich leider wieder an die Arbeit.“

„Sie werfen mich hinaus?“

Bedauernd zuckte Francesco die Schultern. „Ich habe viel zu tun.“

Sie hielt seinen Blick fest. Dann lächelte sie strahlend und … beugte sich über den Tresen und hauchte einen Kuss auf Francescos Lippen.

Schockiert hielt er still. Die zarte Berührung der unglaublich weichen Lippen ging ihm durch und durch. Der Kuss schmeckte nach Kaffee. Kaum hatte Francesco das festgestellt, da richtete Hannah sich bereits wieder auf und setzte sich wieder auf den Barhocker.

„Vielen Dank für alles“, sagte sie leise, trank ihren Kaffee aus und stand auf. „Ich werde niemals vergessen, was du für mich getan hast, Francesco.“ Noch ein tiefer Blick in seine dunklen Augen, dann griff sie nach ihrer Handtasche und wandte sich zum Gehen.

Francesco rief ihr nach: „Deine Schwester Melanie – heißt sie auch Chapman mit Nachnamen?“

Hannah nickte.

„Gut, dann sage ich meinen Leuten Bescheid, dass Melanie Chapman am Freitag hier ihren Junggesellinnenabschied feiert.“

Hannah zog verwirrt die Brauen zusammen.

Francesco musste sich ein Lächeln verkneifen. Offensichtlich hatte Hannah keine Ahnung, wovon er sprach. „Richte Melanie einfach aus, dass sie auf der Liste steht. Dann weiß sie Bescheid.“

Jetzt schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. „Auf der Liste! Sogar ich weiß, was das bedeutet. Das ist total nett von dir, Francesco. Vielen Dank!“ Beschwingt zog sie von dannen.

Wie in Trance schaute er ihr nach und berührte dabei mit den Fingern fast andächtig die Lippen, die sie vorhin geküsst hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Francesco völlig selbstlos gehandelt. Nun wusste er nicht, ob sich das gut oder schlecht anfühlte.

2. KAPITEL

Hannah stöhnte unterdrückt, als sie die lange Schlange vor dem Calvetti’s bemerkte, die sich bis um die nächste Straßenecke zog. Vielleicht war das ein Omen, dass sie ganz schnell wieder verschwinden sollte.

Nein, sie dachte gar nicht daran zu kneifen. Nicht nach ihrer denkwürdigen Begegnung mit Francesco, drei Tage zuvor. Sie musste ihn unbedingt wiedersehen. Schon jetzt raste ihr Puls vor Aufregung.

„Die Schlange muss uns nicht interessieren, Han“, flötete Melanie fröhlich und zog ihre Schwester mit sich. „Wir stehen doch auf der Liste, das heißt, wir brauchen uns nicht anzustellen.“

Wenig später sahen drei in schwarze Trenchcoats gehüllte Türsteher sich einem Dutzend kichernder, als rosa Plüschhäschen kostümierter Frauen gegenüber.

Mutig sprach Melanie die furchteinflößenden Männer an. „Wir stehen auf der Liste“, verkündete sie stolz und so würdevoll, wie es eben ging, wenn man als Häschen verkleidet war und den Schriftzug „Mucky Mel“ auf dem Rücken trug.

Bevor Melanie ihr vor Freude um den Hals gefallen war, als sie ihr von der Einladung ins Calvetti’s erzählt hatte, war Hannah nicht bewusst gewesen, dass es sich um den exklusivsten Club im ganzen Land handelte.

Zum Glück hatte Melanie in ihrem Freudentaumel vergessen, ihre Schwester über den Mann auszuquetschen, dem sie die bevorzugte Behandlung verdankte. Zum Glück! Denn auf gar keinen Fall durfte sie auf den Gedanken kommen, dass Hannah den Clubbesitzer auf irgendeine Weise attraktiv finden könnte!

Ihre gesamte Familie ging davon aus, dass Hannah eine verkappte Lesbe war. Sobald Hannah auch nur das leiseste Zeichen von Interesse an einem Mann zeigte, würden sämtliche Familienmitglieder sofort alles daransetzen, Hannah schnellstmöglich unter die Haube zu bringen.

Einer der Türsteher studierte die Liste auf seinem Klemmbrett. Dann gab er den Weg für die Gruppe frei. „Viel Spaß!“, gab er den Frauen lächelnd mit auf den Weg.

Drinnen übernahm ein Kollege, der die staunenden Frauen an der vollen Tanzfläche vorbei eine Treppe mit glitzernden Stufen hinaufführte. Hannah erkannte einen der Türsteher von neulich. Er bewachte jetzt eine Tür, auf der „Privat“ geschrieben stand.

Dann muss Francesco hier sein, dachte Hannah aufgeregt.

Ein Kellner führte die Gruppe zu einem großen runden Tisch, auf dem bereits sechs Champagnerflaschen in Kühlern bereitstanden.

„Sind die für uns?“, fragte Melanie überrascht.

„Selbstverständlich.“ Der Mann entkorkte bereits die erste Flasche. „Rufen Sie mich, wenn Sie etwas wollen. Heute Abend geht alles aufs Haus.“

„Ich hätte gern ein Glas Limonade“, bat Hannah.

Sofort erhob sich Protestgeschrei. „Du wirst doch wohl ein Glas Champagner mit uns trinken“, rief Melanie.

Eigentlich wollte Hannah ablehnen, doch dann erinnerte sie sich an ihren Vorsatz, das Leben zu genießen.

Erst durch den Unfall war ihr bewusst geworden, dass sie seit ihrem zwölften Lebensjahr eigentlich nur existiert und gar nicht richtig am Leben teilgenommen hatte. Die Begegnung mit Francesco hatte sie erst recht darin bestärkt, jetzt auch mal an sich zu denken.

Also probierte sie den Champagner. Wie erregend der auf der Zunge prickelte! Trotzdem beschränkte Hannah sich auf wenige Schlucke. Sie fühlte sich erstaunlich wohl in der Gesellschaft ihrer Schwester und deren Freundinnen, die sie bisher nur flüchtig kennengelernt hatte. Alle genossen begeistert den für sie ungewohnten VIP-Status, den sie Hannah zu verdanken hatten.

Sosehr Hannah sich auch – möglichst unauffällig – den Hals verrenkte, Francesco konnte sie nirgends entdecken. Dafür aber einige Mitglieder des britischen Königshauses, die in der Thronfolge allerdings weit unten standen. Fußballer aus der Premier League und ein Boxweltmeister ließen es am Nebentisch krachen. Etwas weiter entfernt hatten sich glamouröse Hollywoodstars versammelt.

„Vielen Dank, dass du vom Rad gefallen bist!“ Melanie fand sich auf einen Schluck Champagner wieder am Tisch ein, nachdem sie ausgelassen getanzt hatte. Stürmisch umarmte sie ihre Schwester. „Ich freue mich so sehr, dass du doch noch mit hergekommen bist.“

Hannah lächelte vergnügt. Melanie musste ja nicht wissen, dass sie sehr wohl mit dem Gedanken gespielt hatte, nach dem Essen beim Chinesen direkt nach Hause zu fahren. Die Aussicht, womöglich Francesco wiederzusehen, war dann jedoch stärker gewesen. Sie bedauerte nur, dass ihre Schwester Beth nicht dabei sein konnte. Auch die Hochzeit musste ohne sie stattfinden.

Die Hochzeit … daran mochte sie gar nicht denken. Schuldbewusst gestand sie sich ein, dass sie nach Beths Tod wohl kläglich versagt hatte in ihrer Rolle als große Schwester. Die arme Melanie musste sich sehr alleingelassen gefühlt haben. Doch was sollte ein Mensch tun, wenn er einen wesentlichen Teil seines Lebens verloren hatte? Hannah hatte sich in ihre Bücher vergraben und gelernt, gelernt, gelernt. Das war seit Beths Tod ihre einzige Konstante im Leben gewesen.

Doch plötzlich hatte ihr Schwerpunkt sich verlagert – absolut ungewöhnlich für Hannah, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand und seit ihrem zwölften Lebensjahr nur ein Ziel gekannt hatte: Kinderärztin zu werden, um Kindern das Leben zu retten und Familien zu ersparen, nach dem Verlust ihres Kindes in ein tiefes schwarzes Loch zu fallen.

Dieses Ziel verfolgte sie natürlich noch immer. Zugleich kreisten ihre Gedanken seit dem Unfall aber auch ständig um den Mann, der ihr das Leben gerettet hatte. Den unwiderstehlichsten Mann des Universums …

Natürlich passte sie nicht in seine Welt! Darüber machte sie sich keine Illusionen, seit sie im Internet über ihn recherchiert hatte. Francesco Calvetti war ein gefährlicher Mann, dem man lieber nicht in die Quere kam, und ein Herzensbrecher. Ihr hatte er jedoch das Leben gerettet. Niemals würde sie vergessen, wie warm ihr geworden war, als sie auf dem nasskalten Boden gelegen, die Augen aufgeschlagen und direkt in Francescos schönes Gesicht geblickt hatte. Das musste doch etwas zu bedeuten haben.

„Komm, Han! Wir tanzen.“ Melanie zog sie an der Hand.

„Ich kann nicht tanzen.“ Viel lieber hätte sie das Calvetti’s nach dem Boss abgesucht. Sie spürte, dass Francesco ganz in ihrer Nähe war.

„Das können die da auch nicht.“ Kichernd zeigte ihre Schwester auf eine Gruppe von jungen Männern, die in der Tat äußerst seltsame Verrenkungen auf der Tanzfläche machten.

Aufmerksam betrachtete Francesco die Überwachungsmonitore an seiner Bürowand. Sein Sicherheitsteam erhielt die gleichen Livebilder aus jedem Winkel des Clubs, doch Francesco verließ sich lieber auf seine eigenen Augen. Morgen wollte er Club und Casino in Palermo einen unangekündigten Kontrollbesuch abstatten, anschließend stand das gleiche Programm in Madrid auf dem Plan.

Zwei Typen, die er in Verdacht hatte zu dealen, waren auf Einladung einiger Banker mit im VIP-Bereich aufgekreuzt. Francesco überlegte, ob er die Typen gleich an die Luft setzen lassen oder warten sollte, bis er sie auf frischer Tat ertappt hatte.

Auf einem der Monitore tanzte sich ein Plüschhase mit langer blonder Mähne ins Bild. Hannah! Wahrscheinlich hatte ihre Schwester sie auf die Tanzfläche gezerrt. Zumindest sah die junge Frau neben ihr Hannah so ähnlich, dass es sich wohl nur um Melanie handeln konnte – die Braut, die ihren Junggesellinnenabschied bei ihm feierte.

Hannah passt überhaupt nicht hierher, dachte Francesco mürrisch, musste dann aber amüsiert lächeln, denn sie schien überhaupt kein Rhythmusgefühl zu haben. Das Lächeln verging ihm sofort wieder, als er den Slogan auf ihrem Rücken entdeckte: „Hot Hannah“. Okay, die anderen Frauen trugen ähnliche Aufschriften, aber bei Hannah irritierte ihn dieser billige Scherz.

Ärgerlich trank er seinen Kaffee aus, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Wieso verrenkte Hannah sich eigentlich ständig den Hals? Wartete sie auf jemanden?

Seit sie ihn vor drei Tagen aufgesucht hatte, spukte sie ihm im Kopf herum. Dabei konnte er gerade überhaupt keine Ablenkung gebrauchen, denn das Casino in Mayfair, auf das er schon so lange scharf war, stand endlich zum Verkauf. Es war wohl das älteste in Europa und hatte sich den altehrwürdigen Charme bewahrt. Gentlemen hatten es damals für Gentlemen gebaut. Inzwischen fanden auch Damen Einlass, doch das ehrwürdige, gediegene Flair war bis zum heutigen Tag erhalten geblieben. Schon sein Vater hatte ein Auge auf dieses vornehme Etablissement geworfen, doch es war ihm nie gelungen, es seinem Imperium einzuverleiben. Diese Niederlage hatte Salvatore bis zum letzten Atemzug gefuchst.

Annähernd vierzig Jahre befand sich das Casino nun im Besitz von Sir Godfrey Renfrew. Jetzt stand es zum Verkauf.

Seit zwei Monaten versuchte Francesco nun schon, Sir Godfrey dazu zu bewegen, an ihn zu verkaufen. Doch der englische Aristokrat hatte so einen Hass auf Salvatore Calvetti – über den Tod hinaus – dass er sich einen Monat lang geweigert hatte, Francesco überhaupt zu empfangen.

Dass auch sein ehemaliger Geschäftspartner Luca Mastrangelo am Casino interessiert war, machte die Sache auch nicht leichter.

Doch statt sich auf die Verhandlungen mit Sir Godfrey zu konzentrieren, saß Francesco nun wie gebannt vor den Monitoren und ließ Hannah keine Sekunde lang aus den Augen. Verflixt, wieso hatte er diese Plüschhasenmeute überhaupt eingeladen? Normalerweise ließ er nur VIP-Gäste gratis in den Club, denn die sorgten für Publicity. Und was hatte Hannah bewogen, mitzufeiern?

Vergeblich versuchte Hannah, sich rhythmisch zu bewegen, doch es war einfach nicht ihr Ding. Es schien jedoch niemanden zu stören, denn immer wieder wurde sie von Typen angetanzt, die versuchten, sie zu begrabschen.

Einer war besonders lästig. Immer wieder betatschte er ihren Po. Beim dritten Mal reichte es ihr. Sie trat ihm absichtlich auf den Fuß. Das wirkte genau zehn Sekunden lang. Dann schob der Typ sich von hinten an sie und umfasste ihre Brüste. Schade, dass sie keine High Heels trug. Mit den spitzen Absätzen hätte sie dem unverschämten Kerl richtig wehtun können …

Hannah überlegte verzweifelt, wie sie diesen lästigen Typen endlich loswerden konnte, als sie aus dem Augenwinkel bemerkte, wie Francesco die Tanzfläche betrat. Sofort wurde ihm Platz gemacht.

Melanie und ihre Freundinnen hielten in der Bewegung inne und starrten den imposanten Mann an, der alle anderen um mindesten einen Kopf überragte.

Seine Miene hatte etwas Bedrohliches. Hannah nahm das nicht wahr. Sie strahlte übers ganze Gesicht, als sie Francesco entdeckte. Heiße Sehnsucht durchströmte ihren Körper. Ihr sehnlichster Wunsch war in Erfüllung gegangen. Hätte Francesco sich nicht blicken lassen, hätte sie versucht, ihn aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Ob ihr das gelungen wäre, würde sie nie erfahren, denn nun war er ja in ihrer Nähe. Allerdings nickte er ihr nur kurz zu, bevor er den Mann ins Visier nahm, der sie belästigt hatte.

Dem Typ brach der Schweiß aus, als Francesco ihm zuzischte: „Wenn Sie die Frau noch ein einziges Mal anfassen, kriegen Sie es mit mir zu tun. Kapiert?“

Ohne eine Reaktion abzuwarten, wandte Francesco sich ab und verschwand wieder von der Tanzfläche. Enttäuscht sah Hannah ihm nach. Blitzschnell überlegte sie hin und her. Wenn sie ihn jetzt ziehen ließ, würde sie ihn vielleicht nie wiedersehen. So oft, wie er in der Weltgeschichte unterwegs war. Eigentlich beneidenswert. Ihr Tagesablauf war dagegen genau festgelegt, mal abgesehen von der einen oder anderen Nacht- oder Wochenendschicht.

Vielleicht würde Francesco noch heute Abend abreisen … Das gab den Ausschlag. Entschlossen lief Hannah ihm nach. „Francesco!“, rief sie, leicht panisch. „Warte doch!“

Er wollte gerade die Tür zu seinem Privatbereich aufstoßen, zögerte jedoch und drehte sich um. Seine Miene war undurchdringlich.

Hannah blieb so dicht vor ihm stehen, dass sie seine schwarzen Brusthärchen erkennen konnte. Tief atmete sie Francescos anziehenden Duft ein. Sofort begann ihr Puls zu rasen. „Was sollte das eben?“, fragte sie laut, um sich über die dröhnende Musik hinweg verständlich zu machen.

Er zog nur die Augenbrauen zusammen, stieß die Tür auf und ließ Hannah höflich den Vortritt, bevor er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ und sich dagegen lehnte.

Hier war die Musik schon bedeutend leiser, wie Hannah erleichtert feststellte.

„Nun sag schon! Warum hast du das getan?“, erkundigte sie sich noch einmal.

„Was meinst du? Warum ich den Typen verwarnt habe?“

„Du hast ihm gedroht.“

„Ich spreche keine Drohungen aus. Ich mache lediglich Versprechungen.“

„Aber warum?“

„Weil der Typ ganz offensichtlich nichts anderes versteht. Ich lasse es nicht zu, dass meine Gäste belästigt werden.“

„Schreitest du bei solchen Situationen immer persönlich ein?“

Unwirsch musterte er sie.

Verzweifelt suchte Hannah nach einer witzigen Bemerkung. Als ihr nichts einfiel, sagte sie leise: „Vielen Dank, dass du mich gerettet hast. Wieder mal.“

„Gern geschehen.“ Francesco machte Anstalten, die Tür wieder zu öffnen. „Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest.“

„Willst du mich wieder wegschicken?“

„Ich bin sehr …“

„ … beschäftigt. Ich weiß.“ Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. „Bitte gib mir fünf Minuten, Francesco. Ich bin heute Abend nur mitgekommen, um dich wiederzusehen. Schenk mir doch diese fünf Minuten. Wenn du mich dann fortschicken willst, werde ich das akzeptieren und dich nie wieder aufsuchen.“

Mit angehaltenem Atem wartete sie auf seine Reaktion. Francesco spannte sie so lange auf die Folter, dass sie fast erstickt wäre. Doch dann nickte er und öffnete eine andere Tür.

Hannah atmete erleichtert auf und folgte ihm in das wohl aufgeräumteste Büro, das sie je gesehen hatte. Wie gebannt starrte sie auf die gegenüberliegende Wand, an der sich unzählige Monitore befanden. Schon hatte sie ihre Schwester entdeckt, die mit ihren Freundinnen wieder um den Tisch herum saß und sich angeregt unterhielt.

Ich bin weggelaufen, ohne ihr Bescheid zu sagen, dachte Hannah schuldbewusst.

„Dann schieß mal los! Du hast exakt fünf Minuten.“ Ostentativ blickte Francesco auf seine – sicher sehr teure – Armbanduhr.

Hinter seiner coolen Maske verbarg sich jedoch ein Fünkchen Neugierde, wie Hannah feststellte. Sie atmete tief durch. „Der Unfall hat mich zum Nachdenken gebracht“, erzählte sie. „Ich habe mich seitdem sehr verändert.“

„Was hat das mit mir zu tun?“

Unsicher blickte Hannah um sich. Sollte sie sich Francesco wirklich anvertrauen? Dann fiel ihr Blick auf die Karte, die sie ihm mit dem Blumenstrauß überreicht hatte. Francesco hatte sie aufgehoben! Hannah fasste neuen Mut.

„Ich denke seitdem jede Minute an dich“, gestand sie leise.

Abweisend verschränkte er die Arme vor der Brust. „Was genau willst du von mir?“

Hannah ließ sich nicht beirren. Er hatte die Karte aufgehoben, und er hatte sie gerade erneut gerettet. Sie hatte sich das Knistern zwischen ihnen also doch nicht eingebildet. Francesco fand sie ebenso anziehend wie sie ihn.

Nervös biss sie sich auf die Lippe. Dann schaute sie ihm in die Augen und sagte mit fester Stimme: „Ich will, dass du mich entjungferst.“

3. KAPITEL

Francesco starrte sie an. Zum ersten Mal in seinem Leben war er sprachlos.

Entsetzt schlug Hannah die Hände vors Gesicht. „Oh Mann, so direkt wollte ich gar nicht damit herausplatzen.“ Sie zog die Hände wieder zurück. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. „Sag doch bitte etwas!“

Noch immer schockiert, schüttelte er den Kopf, als ließen sich dadurch die Gedanken ordnen. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“, fragte er schließlich konsterniert.

„Nein.“

„Du bist noch Jungfrau?“

„Ja.“

Noch immer hatte er das Gefühl, im falschen Film zu sein. War er am Schreibtisch eingeschlafen und träumte?

Seit er vor zehn Monaten die Tagebücher seiner Mutter entdeckt hatte, stand er ständig unter Strom. Tag und Nacht arbeitete er, weil er irgendwohin musste mit seiner grenzenlosen Wut. Selbst wenn es ihn seine Gesundheit kosten mochte: Er würde erst ruhen, wenn von Salvatore Calvettis unseligem Imperium nichts mehr übrig geblieben war!

Nicht auszudenken, wenn er die Tagebücher übersehen hätte! Er hatte sie nur gefunden, weil er vor dem Verkauf noch einmal durchs Haus gegangen war. Ein letztes Mal wollte er sich seiner Mutter nahe fühlen und hatte ihre Räume nach zwanzig Jahren erstmals wieder betreten. Hinter einer Tapetentür im Ankleidezimmer war er auf Kartons voller Tagebücher gestoßen.

Ihre Lektüre hatte ihn bis ins Mark getroffen. Der Respekt, den er seinem Vater bis zu dessen Tod entgegengebracht hatte, machte abgrundtiefem Hass Platz. Francesco wünschte sich nichts sehnlicher, als die Bücher noch zu Lebzeiten Salvatore Calvettis gefunden zu haben. Dann hätte er ihn für jede Stunde büßen lassen, die er seine Mutter misshandelt hatte.

So konnte er nur von ganzem Herzen hoffen, dass dieser Mann in der Hölle schmorte – wie er es verdiente.

Francescos monatelanger Rachefeldzug zehrte an seinen Kräften. Es war also durchaus möglich, dass er gerade eingeschlafen war und träumte.

Allerdings klopfte sein Herz normalerweise nicht zum Zerspringen, wenn er schlief. Er rieb sich den Nacken und schaute die Frau an, die ihm ein so verblüffendes Angebot gemacht hatte. Trotz des albernen Plüschhasenkostüms hatte sie etwas erfrischend Natürliches an sich. Sie unterschied sich wohltuend von den anderen Frauen, die sich allesamt zuerst mit Make-up zukleisterten und in High Heels zwängten, bevor sie seinen Club besuchten.

Er hatte ihre Einladung zum Abendessen abgelehnt, weil Hannah so anders war. Sie passte nicht in seine Welt. Sollte er sich wirklich so grundlegend getäuscht haben?

Wer war diese Frau, die ihm gerade ihre Unschuld dargeboten hatte? Und warum wäre er fast ausgeflippt, als der Typ vorhin sie belästigte? Warum hatte er nicht einen seiner Angestellten angewiesen, den Kerl an die Luft zu setzen, wie es normalerweise Praxis in allen seinen Clubs war? Dann hätte er sich diese bizarre Situation hier erspart.

Sein Rachefeldzug setzte ihm offenbar mehr zu, als er sich eingestehen wollte.

Francesco straffte sich. „Ich habe keine Ahnung, was du da ausheckst, aber auf mich kannst du bei einem so verrückten Spiel nicht zählen. Deine fünf Minuten sind um. Geh jetzt bitte!“

Vermutlich hatte Hannah Chapman herausgefunden, wie wohlhabend er war und hatte sich dieses Spiel ausgedacht, um Zugang zu seinem Geld zu bekommen. Er war unglaublich enttäuscht von ihr.

„Das ist kein Spiel.“ Sie atmete tief durch. „Bitte hör mich an, Francesco! Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und hatte noch nie Sex. Du bist der erste Mann, den ich zu küssen gewagt habe. Langsam wird es mir lästig, immer noch Jungfrau zu sein. Ich will nicht als Jungfrau sterben. Bitte, eine Nacht mit dir, damit ich weiß, wie es sich anfühlt, eine richtige Frau zu sein. Ich weiß wirklich nicht, wen ich sonst fragen könnte.“

„Wieso muss es denn unbedingt ich sein?“

Mit diesen unglaublich sanften haselnussbraunen Augen hielt sie seinen Blick fest. „Weil ich weiß, dass du mir nicht wehtun wirst.“

„Wie kannst du dir dessen so sicher sein? Du kennst mich doch überhaupt nicht.“

„Außer dir kenne ich nur Kollegen – und die Väter meiner kleinen Patienten. Die sind absolut tabu. Bei dir weiß ich, dass du meine Wünsche respektierst und niemals herumerzählen würdest, dass ich noch Jungfrau bin.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich weiß es einfach. Als du dich nach dem Unfall über mich gebeugt hast, dachte ich, ich wäre tot und du würdest mich in den Himmel begleiten. Die ganze Zeit denke ich darüber nach, was ich bisher aus meinem Leben gemacht habe. Nichts. Ich will jetzt aber endlich auch mal leben.“

„Du hast es geschafft, Ärztin zu werden. Das ist ja nun eher das Gegenteil von Nichts“, widersprach er.

„Okay, aber ich habe unglaublich hart dafür gearbeitet und überhaupt kein Privatleben gehabt.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich will nicht als alte Jungfer sterben.“

Wieder rieb Francesco sich den Nacken. Hannah schien es wirklich ernst zu meinen. Oder spielte sie ihm etwas vor, um sich in sein Leben zu schleichen und an sein Geld zu kommen? Nein, das war völlig abwegig. Er erinnerte sich, wie sie ihn angeschaut hatte, als sie nach dem Unfall wieder zu sich gekommen war. Tiefer Seelenfrieden hatte sich in ihrem Blick widergespiegelt. Dieser Blick hatte etwas in ihm ausgelöst, was er noch nicht ganz begreifen konnte. Irgendetwas war in diesem Moment zwischen Hannah und ihm geschehen. Und damals hatte sie gar nicht wissen können, wer er war. Vermutlich wusste sie es immer noch nicht ganz genau, denn sonst wäre er wohl der letzte Mann, dem sie ihre Unschuld auf dem Silbertablett servieren würde!

Wie auch immer – das Angebot war natürlich schon verlockend. Welcher heißblütige Mann hätte sich nicht darüber gefreut? Aber er durfte es nicht annehmen.

„Du hast keine Ahnung, wer ich bin“, gab er schließlich ausdruckslos zu bedenken.

„Spielst du auf diese Gangstersache an?“, fragte sie.

Gangstersache? War sie wirklich so naiv? Glaubte sie, sein Leben glich einem Krimi, den man gemütlich vom Sofa aus im Fernsehen betrachten konnte?

Francesco musterte sie scharf. Sie hatte wirklich keine Ahnung von seinem Leben. Er fühlte sich an das Hochzeitsfoto seiner Eltern erinnert. Damals hatte auch seine Mutter noch diesen verträumten, unschuldigen Blick gehabt, der ausdrückte, dass sie an die große Liebe glaubte und in Salvatore ihren Traummann gefunden hatte. Von seiner wahren Natur und seinen dunklen Machenschaften hatte sie damals nicht einmal den Hauch einer Ahnung gehabt.

Als Francesco sie nur anstarrte, erklärte Hannah verlegen: „Ich habe gelesen, was über dich und deine Familie im Internet steht.“

„Ach so ist das. Nimmst du für bare Münze, was du im Internet liest?“

„Nicht unbedingt.“

Er kam auf sie zu und beugte sich vor, sodass ihre Nasen sich fast berührten. „Das solltest du aber“, stieß er leise hervor. „Jedes Wort entspricht der Wahrheit. Ich bin kein Umgang für dich, Dr. Hannah Chapman.“

Sie zuckte nicht mit der Wimper. „Was soll das heißen?“

„Du bist Ärztin. Du hast in meiner Welt nichts verloren.“

„Ich will ja auch nur eine einzige Nacht mit dir in deiner Welt. Es interessiert mich nicht, was über dich im Internet steht. Ich weiß nur, dass du mir niemals wehtun würdest.“

„Bist du sicher?“ Woher nahm sie nur diesen unerschütterlichen Glauben an ihn? Den musste er unbedingt zerstören, damit sie sich wieder in ihre Klinik flüchtete und ihn fortan in Ruhe ließ!

Entschlossen richtete Francesco sich wieder zu seiner imposanten Größe auf, die bisher selbst den abgebrühtesten Mann eingeschüchtert hatte. Dann schob er eine Hand in Hannahs blonde Mähne, zog den rosa Plastikhaarreif mit den Hasenohren aus ihrem Haar und warf ihn auf den Boden. Dann setzte er einen Fuß auf das lächerliche Teil und trat so fest darauf, dass es mit einem Knirschen zerbrach.

Gelassen sah Hannah zu.

Behutsam drehte er sie herum, sodass sie ihm den Rücken zuwandte, und drängte sich an sie. „Wie stellst du dir deine Entjungferung denn vor?“, raunte er und hörte zufrieden, wie sie hastig nach Luft schnappte. Er barg das Gesicht in dem duftenden weichen Haar. „Soll ich dich gleich hier nehmen?“

Spielerisch ließ er den Daumen über eine Brustwarze gleiten, die sofort hart wurde.

„Ich …“ Ihre Stimme bebte.

„Du musst doch irgendeine Vorstellung haben, wie ich es machen soll“, flüsterte er an ihrem Ohr. „Erwartest du ein Vorspiel? Oder willst du, dass es schnell vorbei ist?“

„Ich … ich weiß genau, was du damit bezweckst“, stieß sie heiser hervor.

„Ach ja? Ich versuche lediglich herauszufinden, wie genau du deine Unschuld loswerden willst. Wenn du willst, kann es gleich passieren.“ Er rieb sich an ihr, um sie spüren zu lassen, wie bereit er für sie war. „Auf dem Schreibtisch? An der Wand? Auf dem Fußboden? Wie hättest du es denn gern?“ Heiße Erregung durchströmte ihn bei der Vorstellung, Hannah zu nehmen. Er hasste sich dafür. Entschlossen hielt er die Lust in Schach. Es kam nicht infrage, der Versuchung nachzugeben!

Die gute Frau Doktor würde schon merken, wie sehr sie sich in ihm getäuscht hatte. Hannah Chapman war eine ganz besondere Frau. Auf keinen Fall würde er sie in irgendeiner Weise beschmutzen! Und wenn er noch so heiß auf sie war! Und sie auf ihn …

Er würde beweisen, dass er nicht so ein Schuft war wie sein Vater. Der hätte Hannah sicher schon längst flachgelegt. Niemals würde er in seine Fußstapfen treten! Mit allen Mitteln wollte er versuchen, Hannah abzuschrecken.

„Du versuchst, mir Angst zu machen.“

Francesco erstarrte. Verdammt, sie hatte ihn durchschaut! Widerstrebend löste er sich von ihr und drehte sie zu sich herum.

Die Wangen gerötet, schaute sie ihn mit vor Erregung dunklen Augen an.

„Du spielst mit dem Feuer, Hannah“, sagte er leise.

Sie lächelte trocken. „Ich weiß, wie man Verbrennungen behandelt.“

„Aber nicht diese. Tut mir leid, aber du musst dir einen anderen Mann suchen. Ich stehe nicht zur Verfügung.“ Allerdings konnte er kaum die Vorstellung ertragen, sie könnte sich womöglich mit dem Typ einlassen, der sie auf der Tanzfläche begrapscht hatte.

Nun legte sie den Kopf schief und schaute Francesco wissend an. „Langsam gewinne ich den Eindruck, ich mache dir Angst.“

„Umgekehrt wird ein Schuh draus, Hannah. Du solltest dich vor mir fürchten.“

„Niemals! Ich fühle mich in deiner Gesellschaft sehr wohl. Dein Ruf ist mir egal. Mir geht es nicht um eine Beziehung, nur um eine Nacht. Ich vertraue dir blind, Francesco. Wie sollte es auch anders sein, nach allem, was du für mich getan hast?“

Fassungslos schüttelte Francesco den Kopf. Sollte er Hannah hinauskomplimentieren lassen? Was war das nur mit ihr? Vielleicht … Lag es daran, dass er sie in einer Stresssituation gut behandelt hatte? Fühlten sie sich deshalb einander so verbunden, obwohl sie einander zuvor noch nie begegnet waren? Genau, das musste es sein!

Nun war es seine Pflicht, diese Verbindung zu kappen.

„Du hältst mich also für vertrauenswürdig?“, fragte er und wickelte sich unbewusst eine ihrer wunderschönen Locken um den Finger.

„Du bist vertrauenswürdig.“ Zärtlich berührte sie seine Wange und sah ihm tief in die Augen. „Sonst würdest du nicht versuchen, mich in die Flucht zu schlagen, sondern hättest mich längst genommen.“

Francesco sehnte sich danach, sie an sich zu ziehen.

„Zu einer Beziehung habe ich wegen meiner hohen Arbeitsbelastung keine Zeit. Aber ich möchte wenigstens ein einziges Mal fühlen, wie es ist, eine richtige Frau zu sein“, wisperte Hannah und schmiegte sich zärtlich an ihn. „Ich möchte eine Nacht mit dir verbringen, in deinen Armen liegen, Liebe mit dir machen. Mit dir, Francesco, weil du der einzige Mann bist, bei dem ich mich lebendig fühle, ohne dass du mich auch nur berührst.“

Reglos stand Francesco einfach nur da, während heißes Verlangen durch seinen Körper pulsierte. Wann war er jemals derartig erregt gewesen, dass es ihn schmerzte? Es war unglaublich. Lange hielt er das nicht mehr aus.

„Ich würde sofort einen Rückzieher machen, wenn ich den Eindruck hätte, dass du nichts für mich empfindest“, flüsterte Hannah an seinem Hals. „Aber es ist unübersehbar, dass du mich willst.“

Abrupt löste Francesco sich von ihr und funkelte sie wütend an. „Ich bin aber kein Sexspielzeug für eine Nacht!“, zischte er.

Erschrocken zuckte sie zusammen. „Natürlich nicht! Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Entschuldige bitte. Es fällt mir schwer, meine Gefühle zu beschreiben. Ich fühle mich zu dir hingezogen, Francesco. Wenn ich dich anschaue, sehe ich ein aufregendes Leben, Reisen … Erfahrungen, von denen ich bisher nicht einmal zu träumen wagte. Doch jetzt möchte ich auch etwas davon erleben. Mit dir.“

„Du kennst mich nicht, Hannah. In meinem Leben gibt es Gewalt und andere hässliche Dinge. Du solltest dich fernhalten.“ Er versuchte, sie zum Nachgeben zu bewegen. Doch wacker hielt sie seinem Blick stand.

„Dann zeig mir doch, wie schlecht du für mich bist“, forderte sie schließlich leise.

Francesco dachte angestrengt nach.

Hannah spukte ihm seit Wochen im Kopf herum, dabei musste er sich gerade jetzt auf den Mayfair-Deal konzentrieren! Vielleicht sollte er doch zumindest teilweise auf ihre Bitte eingehen? Danach würde er sich hoffentlich wieder aufs Wesentliche konzentrieren können!

Er atmete tief durch. „Also gut. Du willst wissen, wer ich wirklich bin? Dann werde ich dir das ein Wochenende lang zeigen.“

Hannah strahlte.

„Und zwar dieses Wochenende. Anschließend willst du bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben, geschweige denn, mir deine Unschuld opfern.“

4. KAPITEL

Aufgeregt hatte Hannah in der vergangenen halben Stunde immer wieder aus dem Fenster gelugt, bevor Francesco endlich auf einem schweren Motorrad vor ihrem Haus hielt. Der Motorlärm hatte bestimmt die gesamte Nachbarschaft geweckt.

Stoisch blieb er auf der Maschine sitzen und wartete, bis Hannah hinauskam. Beim Abschied im Club hatte er ihr knapp mitgeteilt, er werde sie um sieben Uhr am nächsten Morgen abholen und sie solle ihren Reisepass einstecken.

Die Reise ging in seine Heimat Sizilien. Hannah war unglaublich aufgeregt, als sie das Haus verließ. Es war ein herrlicher sonniger Morgen.

Immerhin hat Francesco zur Begrüßung den Helm abgenommen, dachte sie erfreut.

„Guten Morgen.“ Sie strahlte und bewunderte die schwere Maschine. Beim Anblick des sexy Mannes in enger Ledermontur, der rittlings darauf saß, wurde ihr heiß. „Fahren wir mit dem Motorrad nach Sizilien?“

Francesco musterte sie kühl. „Nein, nur bis zum Flugplatz. Vorausgesetzt, du hast es dir inzwischen nicht anders überlegt.“

Das hätte er wohl gern, dachte Hannah. Sie musste allerdings zugeben, dass sie in den sechs Stunden, seit sie den Club verlassen hatte, mehrfach drauf und dran gewesen wäre, einen Rückzieher zu machen. Sie wusste aber auch, wie sehr sie das eines Tages bedauern würde. So eine Gelegenheit wie diese bot sich ihr ganz sicher kein zweites Mal.

„Nein, ich will unbedingt mit“, erklärte sie und musste sich das Lachen verkneifen, als seine Miene noch mürrischer wurde. Francesco versuchte wirklich alles, sie von ihrem Entschluss abzubringen, doch das bewies nur einmal mehr seine Integrität.

Francesco begehrte sie. Es war unglaublich erregend gewesen, seinen harten Körper an ihrem zu spüren, der sofort mit heftigem Verlangen reagiert hatte. Eine völlig neue Erfahrung für sie. Dieses heiße Pulsieren in ihrem Schoß hätte sie fast überwältigt, aber gerade durch diese Reaktion fühlte Hannah sich in ihrem Glauben bestätigt, genau das Richtige zu tun.

Francesco zog eine zweite Ledermontur und einen Motorradhelm aus einer Seitentasche und reichte sie Hannah mit mürrischem Blick. „Zieh die Sachen an!“

Hannah nahm sie ihm ab. „Möchtest du mit ins Haus kommen, während ich mich umziehe?“, fragte sie höflich. „Das Motorrad ist hier sicher. Die Spitzbuben in dieser Gegend schlafen noch tief und fest.“

„Ich warte hier.“

„Ich könnte dir einen Kaffee anbieten.“

„Danke, ich warte lieber hier.“

„Wie du willst.“

„Du hast genau fünf Minuten zum Umziehen.“

Im Haus zwängte Hannah sich eilig in die enge Lederhose und zog sich auch die Jacke über. Unter dem Gewicht des Leders geriet sie fast ins Stolpern.

Als sie aufsah und ihrem Spiegelbild im Schlafzimmerschrank begegnete, verzog sie das Gesicht. Wer hatte behauptet, schwarzes Leder wäre sexy? Schaudernd wandte sie sich ab.

Schnell überprüfte sie noch, ob die Hintertür verschlossen war, dann griff sie nach ihrem kleinen Reisekoffer und stürmte hinaus.

„Für den Koffer ist kein Platz.“ Ungehalten schüttelte Francesco den Kopf.

„Und jetzt? Du wolltest mich doch unbedingt mit dem Motorrad zu einem romantischen Wochenende entführen.“

„Von wollen kann keine Rede sein“, widersprach er sofort.

„Ach, du weißt schon, was ich meine.“

„Übrigens habe ich auch nie gesagt, dass wir nur übers Wochenende bleiben. Wir kehren zurück nach England, wenn ich so weit bin.“

„Solange ich pünktlich am Montagmorgen um neun Uhr wieder in der Klinik bin, soll es mir recht sein.“

„Wir richten uns nach meinen Terminen, nicht nach deinen, Hannah.“

„Jetzt erwartest du wohl, dass ich doch nicht mitkomme, oder?“

„Genau.“

„Pech gehabt. Ich komme mit. Und du wirst mich rechtzeitig zum Arbeitsbeginn am Montag zurückbringen.“

„Das klingt ja sehr selbstsicher.“

„Überhaupt nicht. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass du kranke Kinder unnötig leiden lassen willst, weil die Ärztin nicht zum Dienst erschienen ist.“

Unnachgiebig musterte er sie. „Willst du das Risiko wirklich eingehen?“

„Das brauche ich gar nicht, Francesco. Ich weiß nämlich, dass du mich pünktlich zurückbringen wirst.“

„Dann weißt du mehr als ich“, brummte er. „So, was ist nun? Packst du die Sachen in einen kleineren Koffer, steckst du sie in einen Rucksack, oder lässt du das Zeug hier?“

Unschlüssig blickte sie vor sich hin. Weder hatte sie einen noch kleineren Koffer noch einen Rucksack. „Gib mir eine Minute!“ Sie hastete zurück ins Haus, griff nach ihrer größten Handtasche und packte das Allernötigste schnell um. Den Forschungsbericht, den sie eigentlich noch bis Montag hatte durcharbeiten wollen, ließ sie im Koffer.

Vielleicht war es nach fünfzehn Jahren an der Zeit, mal ein Wochenende zu verbringen, ohne die Nase in Lehrbücher und Berichte zu stecken und stattdessen einfach nur das Leben zu genießen.

„Mehr nimmst du nicht mit?“ Erstaunt nahm Francesco ihr die leichte Tasche ab.

„Für mehr hast du ja angeblich keinen Platz.“

Francesco verdrehte nur wortlos die Augen.

Hannah lachte amüsiert. „Um mich abzuschrecken, musst du dich schon etwas mehr anstrengen.“

Frustriert verstaute er die Tasche im Seitenfach und reichte Hannah wortlos den Motorradhelm.

Wie kann man nur so früh am Morgen schon so gut gelaunt sein? überlegte Francesco. Das war doch nicht normal, oder? Was musste er tun, damit Hannah das fröhliche Lächeln verging?

Widerstrebend half er ihr, den Helm zu befestigen, und fing durch das getönte Visier ihr anziehendes Lächeln auf. Das soll ihr vergehen, noch bevor wir das Flugzeug besteigen, schwor er sich.

„Hast du schon mal auf einem Motorrad gesessen?“

Hannah schüttelte den Kopf.

„Leg fest die Arme um mich und leg dich mit mir in die Kurven!“ Erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie sicher hinter ihm saß, ließ Francesco den Motor an und gab Gas.

„Das war ja unglaublich!“ Begeistert nahm Hannah den Helm ab, als Francesco die Maschine auf einem Privatparkplatz am Flugfeld abstellte.

Francesco sah auf. Die blonde Mähne war noch zerzauster als sonst. Normalerweise hätte er den Anblick wohl entzückend gefunden, doch er war zu frustriert. Während der halbstündigen Fahrt hatte Hannah sich eng an ihn geschmiegt und ihn mit jeder Minute mehr erregt – so sehr, dass es schmerzte. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Fest hatte sie die Beine an ihn gepresst. Lange sexy Beine in schwarzem Leder … unwiderstehlich.

Die ganze Fahrt über hatte sie sich vertrauensvoll an ihn geschmiegt, als wüsste sie genau, dass sie bei ihm in Sicherheit war. Woher nahm sie nur dieses grenzenlose Vertrauen?

Eigentlich hatte er sich ja vorgenommen, sie mit einem wilden Ritt das Fürchten zu lehren. Doch das hatte er nicht übers Herz gebracht. Fast gemächlich war er zum Flugplatz gefahren.

Seine Bodyguards warteten bereits. In Großbritannien konnte er sich noch ohne den Schutz der Sicherheitskräfte fortbewegen. In Italien mussten sie stets dabei sein – und in Sizilien waren sie jede Sekunde um ihn herum.

Unwirsch zog Francesco die Handtasche aus dem Seitenfach und drückte sie Hannah in die Hand, bevor er einem der Leibwächter den Zündschlüssel zuwarf.

„Was tust du da?“, fragte er gleich darauf pikiert, als er bemerkte, dass Hannah ihr Handy in der Hand hielt. Überrascht stellte er fest, dass es sich um das neueste Modell auf dem Markt handelte. Komisch, die jungfräuliche Hannah in ihren schlichten, praktischen Klamotten hätte er eher mit einem klassischen Handy assoziiert.

„Ich beantworte meine E-Mails“, antwortete sie.

„Von wem sind die?“

„Aus der Klinik.“

„Heute ist Sonnabend.“

Sie sah kurz auf. In der schweren Lederjacke wirkte sie fast verloren. Aber die Hose saß perfekt. Diese Beine … dieser Po … Francesco riss sich schnell zusammen und wandte den Blick ab, als Hannah erklärte: „Der Klinikbetrieb läuft auch am Wochenende weiter! Ich bin gleich fertig. Nur noch eine Mail.“

Ihm war unerklärlich, warum es ihn ärgerte, wenn Hannah sich mit etwas anderem beschäftigte, statt sich voll und ganz auf ihn zu konzentrieren. Aber irgendwie fühlte er sich dadurch zurückgesetzt – wie zweite Wahl.

„Das war’s.“ Sie schob das Handy wieder in die Handtasche und lächelte strahlend.

Kurz darauf durften sie in Francescos Privatjet steigen, nachdem alle Sicherheitstests zur Zufriedenheit der Crew durchgeführt worden waren.

„Du besitzt ein eigenes Flugzeug?“ Hannah staunte.

Francesco nickte wortlos, setzte sich und bedeutete ihr, gegenüber von ihm Platz zu nehmen. „Bevor ich das Zeichen zum Abflug gebe, muss ich noch einen Blick in deine Handtasche werfen.“

„Wozu?“

„Mein Flugzeug, meine Regeln.“ Gespannt wartete er auf ihre Reaktion. Inständig hoffte er, Hannah würde ihre Tasche nehmen und das Flugzeug verlassen, bevor sie weiter in sein gefährliches Leben hineingezogen wurde. Aha, ihre Augen glitzerten wütend. Oder hatte er sich getäuscht?

Offensichtlich eine Täuschung, denn Hannah zuckte nur die Schultern und reichte ihm wortlos die Tasche.

Er öffnete sie und wühlte in ihrer Wäsche herum. Wenn er sie jetzt herauszog und sich darüber lustig machte, würde Hannah dann endlich aus seinem Leben verschwinden? Er sah kurz auf und begegnete ihrem neugierigen Blick.

Nein, er brachte es nicht übers Herz, sie zu erniedrigen.

Er lockerte den Griff und tastete weiter. Dann zog er eine abgenutzte schwarze Geldbörse heraus, um sie zu inspizieren. Geldscheine, Kleingeld, Quittungen, Kreditkarten und ein Foto. Das wollte er sich näher ansehen. Aus dem Augenwinkel registrierte er Hannahs Unmut und freute sich. Sie würde schon noch einsehen, dass er kein guter Umgang für sie war.

Zwillingsschwestern im Teenageralter mit wallender blonder Mähne, haselnussbraunen Augen und unglaublich fröhlichem Lächeln.

Erstaunt sah Francesco auf. „Du hast eine Zwillingsschwester?“

Hannah schluckte. „Ja.“ Sie war blass geworden und wich seinem Blick aus.

„Wieso war sie gestern Abend nicht bei der Party?“

In tiefem Schmerz ballte Hannah die Hände zu Fäusten und lockerte sie wieder. „Beth ist schon lange tot.“

Francesco erstarrte.

„Sei bitte vorsichtig mit dem Foto. Es ist das letzte gemeinsame Bild von Beth und mir“, bat sie leise.

Wenn er das Foto jetzt in kleine Fetzen riss, würde sie doch bestimmt verschwinden, oder? Doch sosehr er es auch versuchte, seine Hände versagten ihm den Dienst. „Kann ich meine Tasche zurückhaben?“, hörte er wie von ganz weit her.

Behutsam schob er das Bild zurück und reichte Hannah wortlos die Tasche. Was er gerade erfahren hatte, erschütterte ihn zutiefst. Er musste sich erst mal wieder fangen. Dann stand er hastig auf. „Ich muss kurz mit der Crew sprechen. Leg schon mal den Sitzgurt an!“

Hannah sah ihm nach. Einen Moment lang hatte es so ausgesehen, als wollte er das Foto in seinen Händen zerknüllen. Das hätte sie ihm nie verziehen! Doch Francesco hatte den Impuls überwunden. Sein Anstand hatte gesiegt. Und sein Mitgefühl. Denn sonst hätte er sie wohl mit Fragen über Beth bombardiert.

Fünfzehn Jahre nach Beths Tod fiel es Hannah immer noch sehr schwer, über ihren Zwilling zu reden. Der schwere Verlust tat noch immer unbeschreiblich weh, als wäre ein Teil von ihr selbst für immer verloren. Verzweifelt hatte sie immer versucht, sich in der Öffentlichkeit nichts anmerken zu lassen. Aber zu Hause in ihrem Zimmer, das sie mit Beth geteilt hatte, weinte sie viele Nächte durch. Sie schottete sich regelrecht ab. Auch ihre Eltern und Melanie kamen nicht mehr an sie heran. Hannah igelte sich in ihrem Zimmer ein und suchte Zuflucht bei Schulbüchern und nachher bei ihren Lehrbüchern. Wenn sie unter Menschen war, versteckte sie ihren großen Kummer hinter einem besonders fröhlichen Lächeln.

Das schenkte sie nun auch Francesco, der nach einigen Minuten wieder auftauchte.

„Wir starten in fünf Minuten. Wenn du es dir anders überlegt hast, musst du es jetzt sagen.“

„Ich habe es mir aber nicht anders überlegt.“

„In Sizilien bestimme ich allein, wo es langgeht.“

„Was du nicht sagst. Trotzdem denke ich nicht daran, meine Meinung zu ändern.“

Seine Augen glitzerten gefährlich. „Also gut. Du hast es ja nicht anders gewollt.“

„Was für eine Hitze.“ Hannah hatte das Gefühl, gegen eine heiße Wand zu laufen, als sie hinter Francesco die Gangway hinunterging. Einen Moment lang blieb sie stehen, schloss die Augen und atmete tief ein. Jetzt roch sie die Meeresbrise und fühlte sich sofort heimisch, denn der Geruch erinnerte sie an ihre alte Heimat Devon.

„Was hast du erwartet?“, fragte Francesco süffisant.

Hannah lachte. Sie war froh, sich vor der Landung in Sizilien umgezogen zu haben. In den schweren Lederklamotten wäre sie hier umgekommen. Das leichte Sommerkleid war dagegen genau richtig. Nicht dass Francesco Notiz davon genommen hätte. Während des gesamten Fluges hatte er am Laptop gearbeitet und sie keines Blickes gewürdigt. Nur einmal war er kurz aufgestanden und war im Schlafzimmer verschwunden, um sich umzuziehen. Ein Schlafzimmer im Privatjet! Hannah kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Jedenfalls war Francesco in schwarzer Freizeithose, blütenweißem Leinenhemd und Blazer wieder aufgetaucht.

Eine elegante graue Limousine stand bereit. Der Chauffeur stieß die Beifahrertür auf. Das Sicherheitsteam zwängte sich in eine identisch aussehende Limousine, die ebenfalls vorgefahren wurde. Nachdem Francesco und Hannah auf dem Rücksitz und ein Leibwächter neben dem Fahrer Platz genommen hatte, ging die Fahrt sofort los.

Kaum waren sie unterwegs, drehte der Leibwächter sich um und drückte Francesco einen grauen Metallgegenstand in die Hand.

„Ist das eine Pistole?“, fragte Hannah entsetzt.

Gelassen schob Francesco die Waffe in die Innentasche des Blazers. „Wir befinden uns hier in Sizilien“, antwortete er ausdruckslos.

„Ist es hier legal, eine Waffe zu tragen?“ Das trug ihr einen vernichtenden Blick ein, von dem sie sich selbstverständlich nicht beeindrucken ließ. „Hoffentlich ist sie nicht geladen, zumal du sie ja direkt überm Herzen trägst.“

„Ich habe ja eine Ärztin bei mir“, bemerkte Francesco trocken.

„Da kannst du mal sehen, wie nützlich ich bin“, flachste sie. Ganz wohl war ihr bei dem Gedanken allerdings nicht, dass Francesco so selbstverständlich mit einem Revolver umging wie andere Leute mit einem Füllfederhalter. Das macht er nur, um mich einzuschüchtern, dachte sie.

„Wohin fahren wir eigentlich?“, erkundigte sie sich, als ihr das Schweigen auf die Nerven ging.

„Zu meinem Nachtclub.“

Tatsächlich hielten sie wenig später vor einem im gotischen Stil erbauten Gebäude mit Säulen am Portal. „Das ist ein Nachtclub?“, fragte Hannah erstaunt.

„Genau.“

Umringt von muskulösen Leibwächtern betraten sie das imposante Gebäude. Das Calvetti’s in Palermo war mindestens viermal so groß wie Francescos Londoner Nachtclub. Das Ambiente war gleich, die Atmosphäre jedoch deutlich kosmopolitischer.

Das hübsche Mädchen hinter der Bar, das gerade damit beschäftigt war, alles auf Hochglanz zu polieren, hätte fast salutiert, als sie den Boss bemerkte.

„Zwei Kaffee ohne Milch in mein Büro“, rief er der Barfrau im Vorbeigehen zu und verschwand durch eine Tür, auf der unübersehbar „Privat“ stand.

Die beiden Männer, die Hannah vor dem Londoner Club angesprochen hatte, folgten ihnen ins makellos saubere, perfekt aufgeräumte Büro.

Francesco drückte auf den Rahmen eines kleinen Porträts an der Wand, das aufsprang.

„Noch ein Klischee“, bemerkte Hannah frech.

„Genau. Wir wollen es den Dieben ja nicht zu leicht machen“, erklärte Francesco lässig, gab einen Code ein und zog die Safetür auf. Hannah staunte über die Größe. Noch mehr staunte sie, als Francesco im Safe verschwand und kurz darauf mit Segeltuchtaschen wieder auftauchte, die offensichtlich voller Geld waren.

Fasziniert sah sie zu, wie Francesco und seine beiden Angestellten Geldbündel auf eine elektronische Waage legten und die Beträge in einem abgegriffenen DIN-A4-Notizbuch vermerkten.

Es gab nur eine kurze Unterbrechung, als die junge Barfrau den Kaffee brachte. Francesco nahm ihr an der Tür das Tablett ab, stellte es auf den Schreibtisch, versenkte jeweils zwei Stücke Würfelzucker in den Tassen, rührte um und reichte eine Tasse Hannah, die es sich auf der Fensterbank bequem gemacht hatte.

„Danke.“ Es rührte sie, dass er sich gemerkt hatte, wie sie ihren Kaffee trank: Schwarz mit zwei Stück Zucker – genau wie er selbst.

Dieser Gedanke schoss Francesco offensichtlich auch gerade durch den Kopf. Konsterniert schaute er sie an, wandte dann aber hastig den Blick wieder ab. Hannah musste sich ein belustigtes Lächeln verkneifen.

Das verging ihr sowieso, als sie das viele Geld auf dem Schreibtisch sah und dann bemerkte, dass nicht nur Francesco bewaffnet war, sondern mindestens einer der Leibwächter ebenfalls eine Waffe bei sich zu tragen schien.

Ganz geheuer war Hannah das alles nicht. Um sich abzulenken, zückte sie ihr Handy und beschäftigte sich mit den neuen E-Mails. Auch Melanie hatte sich gemeldet. Begeistert schrieb sie, sich endlich für ein Hochzeitsmenü entschieden zu haben. Hannah antwortete mit einigen herzlichen Worten, ertrug es aber nicht, den Anhang mit dem Menü zu öffnen. Stattdessen widmete sie sich einer Mail aus der Klinik. Schon bei dem Gedanken an die bevorstehende Hochzeit packte sie das nackte Grauen.

„Was tust du da?“

Hannah war ganz vertieft gewesen und sah verwirrt auf, als Francesco sie plötzlich ansprach. „Ich lese meine E-Mails.“

„Schon wieder?“

„Ja, mir ist wichtig, auf dem Laufenden zu bleiben, was meine Patienten betrifft.“ Sie beendete das Programm, klappte das Handy zu und steckte es wieder ein.

„Sogar am Wochenende?“

„Wieso nicht? Du arbeitest ja auch, Francesco.“

„Das gehört zu meinem Job.“

„Genau wie das Überleben und die Genesung meiner Patienten zu meinem Job gehören.“

Diese Antwort missfiel ihm sichtlich, wie Hannah verwundert feststellte.

Minuten später schien die Arbeit getan zu sein, denn die beiden Sicherheitsleute verstauten die Geldbündel in einem großen Koffer.

„Bevor du das Geld zur Bank bringst, zeigst du der verehrten Frau Doktor bitte mal deine Hand, Mario“, sagte Francesco langsam und deutlich auf Englisch, nachdem sie sich die ganze Zeit in ihrer Muttersprache unterhalten hatten. Nachdem das Tragen von Pistolen Hannah nicht sonderlich beeindruckt zu haben schien, musste er wohl stärkere Geschütze auffahren.

Gehorsam streckte Mario ihr die Hand entgegen.

Nach fast unmerklichem Zögern tastete Hannah sie behutsam ab.

„Was siehst du?“, fragte Francesco schließlich harsch.

„Hand und Finger wurden mehrfach gebrochen. Als wäre etwas Schweres darauf gefallen.“

„Eine ausgezeichnete Beschreibung! Nun erzähl Frau Dr. Chapman, wer deine Hand so zugerichtet hat, Mario!“

Der Mann wirkte sichtlich überrascht. Er sollte über einen Vorfall reden, der seit fast zwanzig Jahren mit keinem Wort erwähnt worden war? Erst als Francesco ihm aufmunternd zunickte, sagte Mario zögernd: „Signor Calvetti hat das getan.“

Hannah sah Francesco an. „Dein Vater?“

Francesco verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein.“

Schockiert riss sie die Augen auf. „Du warst das?“

Si. Ich habe ihn auf frischer Tat ertappt, als er meinen Vater bestohlen hat. Sieh dir die Hand genau an! Mit Dieben machen wir hier kurzen Prozess.“

5. KAPITEL

Gespannt wartete Francesco auf Hannahs Reaktion. Jetzt siehst du selbst, wie brutal und gefährlich ich bin, bedeutete er ihr mit Blicken.

Schockiert schloss Hannah kurz die Augen, dann sah sie sich Marios Hand noch einmal ganz genau an. „Diese Narben sind alt“, stellte sie schließlich fest.

„Fast zwanzig Jahre alt. Ist okay, ich selbst schuld“, erklärte Mario in gebrochenem Englisch.

„Was soll das heißen?“ Verständnislos musterte Hannah den Mann.

„Er will damit sagen, dass er wusste, welche Strafe auf Diebstahl steht“, sagte Francesco ausdruckslos.

„Interessant.“ Hannah nickte wissend vor sich hin. „Trotz allem besteht ganz offensichtlich ein Vertrauensverhältnis zwischen euch. Sonst würde er kaum für dich arbeiten, und du würdest ihm wohl auch nicht gerade diese Unsummen hier anvertrauen und ihm erlauben, eine Waffe bei sich zu tragen, die er aus Rache für damals auf dich abfeuern könnte.“

Erneut hatte sie den Spieß herumgedreht!

„Das ist reiner Eigennutz“, behauptete Francesco schroff und schickte Mario und dessen Kollegen hinaus.

Hannah blieb auf der Fensterbank sitzen, die Beine gekreuzt. Ihr hellblaues Kleid bedeckte kaum die Oberschenkel. Das sackartige, durchgeknöpfte Kleid musste wohl das hässlichste Kleidungsstück sein, das Francesco je gesehen hatte. Gleichzeitig reizte es ihn aber auch herauszufinden, was sich darunter verbarg.

„Was hat Mario eigentlich gestohlen?“

„Er hat als Kellner in einem der Restaurants meines Vaters gearbeitet und in die Kasse gegriffen.“

„Wie hoch war denn der Schaden?“

Das hat sie richtig erschüttert, dachte Francesco und freute sich, Hannahs schier unerschütterlichen Glauben an ihn nun doch ins Wanken gebracht zu haben.

„So genau weiß ich das gar nicht mehr. Umgerechnet waren es vielleicht hundert Pfund Sterling.“

„Wegen eines so lächerlichen Betrags hast du dem armen Mann die Hand gebrochen?“

Francesco richtete sich zu seiner imposanten Größe auf. „Er kannte das Risiko“, versuchte er, sich zu rechtfertigen.

„Na dann …“ Fassungslos schüttelte Hannah den Kopf. Dann sah sie Francesco direkt in die Augen. „Warum habt ihr nicht einfach die Polizei gerufen?“

Er lachte abfällig. „Die Polizei? Wir haben hier unsere eigenen Methoden.“

„Und wieso musstest du ihn bestrafen? Schließlich hatte er ja nicht dich, sondern deinen Vater bestohlen.“

Leider erinnerte Francesco sich nur zu gut an den Tag, damals vor knapp zwanzig Jahren. Er hatte Mario auf frischer Tat ertappt und musste ihn wohl oder übel zur Rede stellen. Widerstrebend leerte der junge Kellner gerade seine Taschen, als Salvatore unvermutet auftauchte und wissen wollte, was los war.

Francesco war übel geworden, als Mario die Tat gestand und Salvatore unerschrocken in die Augen sah. Als Salvatore sich dann zu ihm umdrehte und lakonisch sagte: „Du weißt, was zu tun ist, mein Sohn“, hätte er sich beinahe übergeben.

Schon Marios Vater hatte für Salvatore gearbeitet. Und dann das! Zwar hatte Francesco schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, sich den Respekt seines Vaters zu verschaffen, aber doch nicht so! Sich dem Befehl seines Vaters zu verweigern, war allerdings schlichtweg unmöglich. Hannah würde das allerdings nicht verstehen. Also konnte er sich jeden Erklärungsversuch sparen. Ein Francesco Calvetti war niemandem eine Erklärung schuldig!

Seit er sich nach der brutalen Bestrafung damals im Badezimmer eingeschlossen und sich heimlich übergeben hatte, war es vorbei gewesen mit irgendwelchen Erklärungen.

An jenem Abend war Francescos Kindheit endgültig beendet worden. Seitdem erlaubte er sich keine Gefühle mehr und schon gar keine Schwächen. Seine Kindheit war eigentlich schon an dem Tag vorbei gewesen, als seine Mutter an einer Überdosis gestorben war.

„Mir blieb nichts anderes übrig, weil ich ja derjenige gewesen war, der ihn auf frischer Tat erwischt hatte“, sagte er leise.

Hannah ließ ihn nicht aus den Augen. Francesco hätte erwartet, Vorwürfe oder Abscheu darin zu lesen. Stattdessen schaute sie ihn mitfühlend an. „Du musst damals noch ein halbes Kind gewesen sein.“

„Ich war siebzehn.“

„Und Mario?“

„Genauso alt.“

„Also noch Kinder.“

„Nach dem Abend nicht mehr.“

Gewalt hatte seit der Kindheit sein Leben begleitet. Immer wieder hatte seine Mutter versucht, ihn vor den Gewaltausbrüchen seines Vaters zu schützen. Immer war es ihr nicht gelungen. Eine Szene hatte sich ihm schon als ganz kleiner Junge ins Gedächtnis geprägt: Er stand am Fenster seines Kinderzimmers und musste beobachten, wie sein Vater auf einen wehrlosen Mann einprügelte, der von zwei anderen auf der Motorhaube einer Limousine festgehalten wurde. Entsetzt, dass ihr kleiner Sohn so etwas ansehen musste, hatte sie ihm die Augen zugehalten und ihn weggezogen.

Nun hatte er vor zehn Monaten aus den Tagebüchern seiner Mutter erfahren, dass auch sie ein Opfer von Salvatores Gewaltexzessen gewesen war.

Als er das gelesen hatte, verlor Francesco sämtliche Illusionen über seinen Vater, der bis zu diesem Zeitpunkt sein Vorbild gewesen war – trotz der Vorfälle, die ihm immer zu schaffen gemacht hatten. Er hatte Liebe und Respekt für ihn empfunden.

Bereits nach Salvatores Tod vor vier Jahren hatten diese Gefühle sich abgekühlt, als Francesco erfuhr, dass sein Vater in großem Stil Drogen ins Land geschmuggelt und vertrieben hatte. Dann die Tagebücher seiner Mutter … Nach der Lektüre war eine Welt für ihn zusammengebrochen.

Allein bei dem Gedanken daran brach Francesco der Schweiß aus, er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen.

Forschend sah Hannah ihm in die wunderschönen braunen Augen. In jahrelanger Praxis mit ihren Patienten hatte sie gelernt, hinter die Fassade zu blicken. Hinter Francescos cooler Fassade verbarg sich tiefer Schmerz.

„Francesco? Was an mir macht dir solche Angst?“, fragte sie leise.

Blitzschnell schoss er auf sie zu. „Bildest du dir wirklich ein, ich hätte Angst vor dir?“ Er lachte höhnisch.

„Warum sonst versuchst du mit allen Mitteln, mich loszuwerden? Warum willst du, dass ich dich hasse?“

Francesco verschlug es die Sprache.

Behutsam legte Hannah ihm eine Hand auf die Brust und fühlte, wie das Herz raste. „So behandelst du Frauen sonst sicher nicht, oder?“

„Wie denn?“, stieß er heiser hervor, beugte sich vor und legte seine Stirn an Hannahs. „Du hast mich romantisch verklärt. Ich will dir nur zeigen, dass du dich in mir getäuscht hast und nicht in meine Welt gehörst.“

„All das, um mir die Augen zu öffnen?“

„Wir hatten eine Abmachung, Dr. Chapman.“ Er zog ihre Hand von seiner Brust und verschränkte seine Finger mit Hannahs, bevor er sie leicht drückte. Wie um sie zu warnen, dass er ihr wehtun konnte, wenn er wollte. „Ich habe dir garantiert, dass du es sehr bedauern wirst, ausgerechnet mir deine Unschuld geschenkt zu haben.“

Hannah drückte nun seine Hand und sah unverwandt in Francsos Augen. „Dann tu mir weh, wenn du dir wirklich etwas beweisen willst. Rede nicht drum herum, tu es! Du bist mir körperlich überlegen, ich habe dir nichts entgegenzusetzen.“ Natürlich spielte sie mit dem Feuer. Das war ihr bewusst. Andererseits hatten die vergangenen Stunden in Francescos Nähe aber auch Hannahs instinktive Gewissheit bestätigt, dass Francesco ihr niemals etwas zuleide tun würde.

Wütend funkelte er sie an, doch gleichzeitig vergrößerten sich seine Pupillen, wie die erfahrene Ärztin erleichtert feststellte. „Siehst du, ich wusste, dass du mir nicht wehtun kannst“, flüsterte sie an seinem Mund.

„Woher nimmst du nur dieses unerschütterliche Vertrauen?“, fragte er heiser.

Sie zog die verschränkten Hände an die Brust. „Mein Herz gibt es mir. Ich sehe das Gute in dir. Vielleicht wird es Zeit für dich, selbst an dich zu glauben.“

„Ich mache mir keine Illusionen. In deinem Leben dreht sich alles darum, kranke Kinder zu heilen, in meinem geht es um Macht und Geld und alles Schlechte, was damit verbunden ist.“

„Macht und Geld bedeuten mir nichts, Francesco.“

Er stöhnte leise, zog sie dann mit der freien Hand fest an sich und begann, Hannah zu küssen.

Dieser Kuss entfesselte in Hannah augenblicklich das Verlangen. Nur ein Kuss, und sie stand in hellen Flammen!

Francesco zog die andere Hand weg, drängte sich hart an Hannahs weichen Körper, ließ die Zunge in ihrem Mund spielen, küsste diese unwiderstehliche Frau mit einer Leidenschaft, die ihn schier überwältigte.

Er schmeckt fantastisch, dachte Hannah verträumt. Nach Abenteuer, nach Kaffee und nach etwas, das sie nicht beschreiben konnte. Sie hoffte inständig, dieser Kuss würde nie aufhören. Tief in ihrem Körper spürte sie wieder dieses heftige Pulsieren, das sie schon vor einigen Tagen in Francescos Londoner Büro überrascht hatte.

Unvorstellbar, dass sie diese Erfahrung erst mit siebenundzwanzig Jahren machte! Was war ihr entgangen?

Zärtlich streichelte sie seine Wangen, den Hals, den Nacken, hingerissen von der Kraft, die in Francescos Körper schlummerte. Diese unglaubliche, kraftvolle Männlichkeit hatte sie von Anfang an fasziniert.

Bevor sie sich weiter in diesen überwältigenden Gefühlen verlieren konnte, beendete Francesco den Kuss und löste sich widerstrebend von ihr. Er war völlig außer Atem und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, als wollte er Hannahs Geschmack wegwischen. „Ich weiß, dass dir mein Geld und meine Macht nichts bedeuten“, stieß er keuchend hervor. „Deshalb ist es auch absolut falsch, dich mit mir einzulassen.“

Enttäuscht über die plötzliche Zurückweisung funkelte Hannah ihn an. „Hast du mir eigentlich mal zugehört? Wie oft soll ich es dir denn noch sagen, dass ich mich nicht mit dir einlassen will? Mir geht es nur um die Erfahrung, die andere Frauen meines Alters schon lange hinter sich haben.“

„Die Erfahrung sollst du ja auch machen. Aber nicht ausgerechnet mit mir, sondern mit einem Mann, der dir eine Zukunft bieten kann.“

„Die Medizin ist meine Zukunft.“

„Und für einen Mann ist da kein Platz?“

„Nein. Ich bin mit meiner Arbeit verheiratet, Francesco. Ich will es unbedingt zur Professorin bringen. Darauf arbeite ich seit Jahren hin. Von diesem Ziel lasse ich mich nicht abbringen. Meine Arbeit füllt mich aus, wie kein Mann es jemals könnte.“

Francesco hatte Mühe, bei dieser zweideutigen Phrase ernst zu bleiben. „Woher willst du das wissen? Ohne jede Erfahrung …“

Auf so eine Diskussion war sie nicht vorbereitet. „Ich weiß es eben, okay?“

„Dein Job kann aber nicht dein Bett wärmen“, gab Francesco spöttisch zu bedenken.

„Aber meine Wärmflasche. Was gibt dir eigentlich das Recht, mir solche Fragen zu stellen? Wenn man den Berichten im Internet glauben kann, hast du doch selbst Bindungsängste. Ausgerechnet du hältst mir einen Vortrag über die Vorteile einer Beziehung?“ Gerade sein offensichtliches Desinteresse an einer festen Bindung war für Hannah ja ein wichtiger Punkt gewesen, Francesco für ihr „Projekt“ zu gewinnen. Ein Mann hatte auf Dauer keinen Platz in ihrem Leben.

„Ich habe meine Gründe, nicht zu heiraten“, antwortete er finster.

„Ich auch. Bitte respektier das!“

Das hätte er ja gern getan. Eigentlich könnte er jetzt mit Hannah zu sich nach Hause fahren und sie nehmen – immer wieder, bis sie vor Erschöpfung in seinen Armen einschlief. Nichts leichter als das. Dann hatte sie, was sie wollte, und sie könnten wieder getrennte Wege gehen. Doch so einfach war das nicht, denn Francesco widerstrebte es noch immer, diese durch und durch gute junge Frau zu besudeln. Und das würde ein Sohn Salvatore Calvettis automatisch tun. Irgendwie musste er sie davon überzeugen, unverrichteter Dinge nach England zurückzukehren.

„Lass uns aufbrechen“, sagte er unvermittelt. Keine Sekunde länger wollte er mit Hannah allein im Büro bleiben, wo er plötzlich zu ersticken meinte. „Wir gehen einkaufen.“

„Wozu?“

„Du brauchst ein Kleid für heute Abend.“

„Was hast du denn heute Abend mit mir vor?“

„Wir gehen in mein Casino. Dort findet ein internationales Pokerturnier statt. Meine Anwesenheit ist erforderlich, und ich habe keine Lust, mich mit einer Frau an meiner Seite zu zeigen, die an eine Vogelscheuche erinnert.“

Der Hieb hatte gesessen! Hannah wurde blass. Doch Francesco dachte gar nicht daran, sich für seine gemeinen Worte zu entschuldigen. Dabei fand er ihren unaufdringlichen, unbekümmerten Stil insgeheim sogar sehr sexy. Zu sexy …

Ich erinnere ihn also an eine Vogelscheuche, dachte Hannah betroffen. Natürlich ließ sie sich nichts anmerken. Sie zuckte auch nicht mit der Wimper, als Francesco sie in eine Luxusboutique führte, wo er sie einem der Leibwächter mit den Worten überließ: „Kauf, was dir gefällt und lass es auf meine Kreditkarte setzen! Wir sehen uns später in meiner Villa. Viel Spaß!“ Innerlich kochte sie aber vor Wut.

Kritisch betrachtete Hannah ihr Spiegelbild. Mittlerweile probierte sie das wohl zwölfte Kleid an. Irgendwann hatte sie die Übersicht verloren. Noch immer nagten Francescos gemeine Worte an ihr. Kleidete sie sich wirklich so schlecht? Okay, sie legte wenig Wert auf Kleidung. Die Sachen mussten passen und praktisch sein. Mehr verlangte sie nicht. Offensichtlich zu wenig für Francescos Geschmack. Aber sie hatte nun mal wenig Zeit zum Einkaufen. Deshalb bestellte sie ihre Klamotten auch meistens online. Beim Friseur war sie auch ewig nicht gewesen. Sie zermarterte sich das Hirn, wann sie zuletzt einen Salon von innen gesehen hatte. Schließlich fiel es ihr ein. Vor fünfzehn Jahren! Damals durften Beth und sie sich zum ersten Mal professionell die Haare schneiden lassen. Bisher hatte ihre Mutter den Job mit der Küchenschere mehr schlecht als recht gemacht.

Wie stolz waren Beth und sie damals über den schicken Schnitt gewesen. Doch dann war Beth gestorben, und Hannah hatte sich all die Jahre – unbewusst – geweigert, ohne ihren Zwilling einen Frisiersalon zu betreten. Das Ergebnis sah sie jetzt im Spiegel.

So kann ich wirklich nicht mehr herumlaufen, dachte Hannah entschlossen. Schnell entschied sie sich für ein Kleid, passende Schuhe und Clutch – und für hauchzarte Dessous, deren Anblick sie erröten ließ. Dann ging sie zur Kasse und zückte ihre eigene Kreditkarte.

„Aber Signor Calvetti wollte doch die Rechnung übernehmen“, protestierte die Boutiquebesitzerin.

„Ich zahle selbst.“

„Die Sachen sind sehr teuer“, gab die Frau zu bedenken.

„Ich kann mir das leisten“, beharrte Hannah. Sie verdiente gut, gab aber kaum Geld aus. Selbst wenn sie einmal im Monat ihre Eltern in Devon besuchte, nahmen Melanie und ihr Verlobter sie im Wagen mit. Über die Jahre hatte sich also eine stattliche Summe auf dem Konto angesammelt.

„Trotzdem wäre es besser, wenn Signor Calvetti die Rechnung übernehmen würde.“ Die Frau ließ einfach nicht locker.

Und dann fiel bei Hannah der Groschen. Offensichtlich befürchtete die Boutiquebesitzerin Ärger mit Francesco, wenn er merkte, dass seinen Anweisungen zuwidergehandelt worden war!

Lächelnd beruhigte Hannah die arme Frau. „Keine Panik, ich werde es ihm erklären. Er merkt langsam, dass ich meinen eigenen Willen habe.“

Widerstrebend nahm die Frau die Karte schließlich an.

Ein einziger Einkauf kostete Hannah mehr, als alle Klamotten zusammen, die sie seit Unterzeichnung ihres Arbeitsvertrags mit der Klinik erworben hatte!

„Ach, sagen Sie, wissen Sie hier in der Nähe einen Friseur, der mich kurzfristig annehmen könnte?“, fragte Hannah, einer spontanen Eingebung folgend.

Die Frau lächelte wissend. „Für Signor Calvettis Geliebte hat jeder Friseur in Palermo Zeit. Ich mache Ihnen gern einen Termin.“ Sie hielt den Hörer schon in der Hand.

Signor Calvettis Geliebte … Hannah wurde es warm bei den Worten. Sie strahlte. „Ja, bitte tun Sie das“, bat sie. „Ich werde Signor Calvetti erzählen, wie hilfsbereit Sie waren.“

Fünf Minuten später begleitete eine Angestellte der Boutique sie persönlich zum Friseursalon. Der Leibwächter folgte ihnen auf dem Fuße.

Was nun passierte, kam Hannah surreal vor – der ganze Tag war ja irgendwie unwirklich. Im eleganten Salon, wo offensichtlich nur die Reichen und Schönen Siziliens verkehrten, erhielt sie die Vorzugsbehandlung einer berühmten Persönlichkeit.

Unablässig schwänzelten Friseure und Stylisten um sie herum und bemühten sich, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Als sie schließlich die exorbitant hohe Rechnung erhielt, hatte Hannah allerdings große Mühe, nicht einen lauten Entsetzensschrei auszustoßen. Doch während sie erneut ihre Kreditkarte zückte, tröstete sich Hannah bereits mit dem Gedanken, dass es das wert gewesen war. Immerhin würde Francesco sie nach dieser Aktion wohl kaum noch mit einer Vogelscheuche vergleichen!

6. KAPITEL

Hannahs Einkaufsbummel in Palermo dauerte ungewöhnlich lange. Francesco schöpfte schon Hoffnung, sie hätte es sich doch noch anders überlegt und säße bereits im Flieger nach London.

Ein Anruf beim Bodyguard, den er zu ihrem Schutz abgestellt hatte, hätte ihm Gewissheit gebracht. Doch seit zwei Stunden schob er dieses Gespräch immer wieder auf.

Autor

Nicola Marsh
Als Mädchen hat Nicola Marsh davon geträumt Journalistin zu werden und um die Welt zu reisen, immer auf der Suche nach der nächsten großen Story. Stattdessen hat sie sich für eine Karriere in der Gesundheitsindustrie entschieden und arbeitete dreizehn Jahre als Physiotherapeutin

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