Julia Ärzte zum Verlieben Band 74

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WER ZÄHMT DR. HUNTER? von MARINELLI, CAROL
Die Frauen liegen ihm zu Füßen, aber zähmen konnte Dr. Leo Hunter noch keine. Bis die neue Oberschwester vor ihm steht: Lizzie ist so sexy - aber leider nicht an einer Affäre interessiert! Leo muss um jeden Kuss kämpfen - eine ganz neue, prickelnde Erfahrung für den Chirurgen …

FEURIGES SPIEL DER LEIDENSCHAFT von CLAYDON, ANNIE
Nichts ist Reece so wichtig wie seine Unabhängigkeit! Daran wird sogar die bezaubernde Sara nichts ändern. Auch wenn ihr Lächeln den Arzt plötzlich von einer glücklichen Familie träumen lässt - noch ist ihm die Freiheit wichtiger als echtes Gefühl …

MIT DIR AN MEINER SEITE ... von MCARTHUR, FIONA
"Du hast versprochen, auf mich zu warten!" Rory ist tief enttäuscht von Kate: Als er damals die Stadt verließ, schwor sie ihm ewige Liebe. Und machte kurze Zeit später Schluss! Warum hat sie ihn hintergangen? Rory muss wissen, ob Kate ihn wirklich nicht mehr will …


  • Erscheinungstag 24.04.2015
  • Bandnummer 0074
  • ISBN / Artikelnummer 9783733702823
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli, Annie Claydon, Fiona McArthur

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 74

CAROL MARINELLI

Wer zähmt Dr. Hunter?

Sofort wird Lizzie klar, was für ein Typ ihr neuer Chef ist: Kaum betritt sie die „Hunter Clinic“, sieht sie Dr. Leo Hunter, der sich von einer schönen Frau anhimmeln lässt. Leo ist zwar unverschämt attraktiv, aber auch ein Playboy, wie er im Buche steht! Niemals wird sie sich mit ihm einlassen – auch wenn ihr Herz bei jedem seiner Blicke Purzelbäume schlägt …

ANNIE CLAYDON

Feuriges Spiel der Leidenschaft

Auf seinen Armen rettet er sie aus dem flammenden Inferno – ohne Reece Fletcher wäre Sara im australischen Buschfeuer verloren gewesen! Hals über Kopf verliert sie ihr Herz und zieht in seine Villa – obwohl sie ahnt, dass sie und Reece keine gemeinsame Zukunft haben: Ihr Traummann ist ein Abenteurer, den es nicht lange an einem Ort und bei einer Frau hält …

FIONA MCARTHUR

Mit dir an meiner Seite …

Seite an Seite kämpfen sie um das Leben der werdenden Mutter – und Kate vergisst für einen Moment, dass sie den Mann neben sich einst heiraten wollte. Ihre große Liebe Rory ist zurück in Jabiru – und wie gern würde sie wieder seine Lippen auf ihrer Haut spüren! Aber Rory ist für sie tabu: Er darf nie erfahren, was sie seit zehn Jahren vor ihm verbirgt …

PROLOG

Für Unterbringung ist gesorgt … das Versprechen ihres neuen Arbeitgebers bekam überraschend eine völlig neue Bedeutung!

Lizzie Birch fuhr in den fünften Stock, sicher, dass es sich um einen Irrtum handelte. Das hier konnte unmöglich ihr neues Zuhause sein.

Als sie die Adresse im schicken Londoner Stadtviertel Marylebone bekommen hatte, war sie überzeugt, dass man ihr ein möbliertes Zimmer oder höchstens ein winziges Ein-Zimmer-Apartment in einem klotzigen Altbau zur Verfügung stellte. Was Schwesternunterkünfte betraf, hatte sie oft genug trostlose Löcher gesehen.

Das hier war nichts dergleichen.

Lizzie schloss die Tür auf und betrat eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung mit hohen, stuckverzierten Decken. Ein zarter blumiger Duft stieg ihr in die Nase. Sie sah sich um und entdeckte einen herrlichen Strauß frischer Blumen neben einem Präsentkorb mit Pralinen und Wein.

Sie steckte die Nase in die Blüten, atmete den Frühlingsduft tief ein. Welch ein Luxus an einem kalten Januartag! Das Bouquet musste ein Vermögen gekostet haben.

Und diese Wohnung ein Vermögen wert sein … Lizzie nahm sich einen Champagnertrüffel, biss hinein und seufzte wohlig, als die köstliche Schokolade weich und samtig auf ihrer Zunge schmolz. Überwältigt blickte sie sich um. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, was für einen Coup sie mit ihrer neuen Position gelandet hatte: Pflegedienstleiterin der Hunter Clinic, an der noblen Harley Street im Herzen von London.

Neben dem edlen Willkommensgruß lag eine Notiz mit dem Hinweis, dass die Kleidung, die nach ihren Maßen angefertigt worden war, in der Klinik auf sie wartete. Lizzie war schlichte weiße Schwesterntracht und unförmige OP-Kittel gewohnt, Einheitsgrößen, die mal mehr, mal weniger gut saßen. Aber ein maßgeschneidertes Outfit … das klang vornehm und kultiviert wie die volltönende tiefe Stimme des Mannes, den sie bisher nur am Telefon gehört hatte.

Leo Hunter.

„Sie wurden mir sehr empfohlen“, hatte er zu ihrer Verwunderung mit einem seltsamen Unterton gesagt. Schließlich war es sein eigener Bruder gewesen, der ihr die Stelle angeboten hatte.

„Danke“, antwortete sie zögernd. „Ethan sagte, ich solle Sie anrufen und einen Termin für ein Bewerbungsgespräch mit Ihnen vereinbaren …“

„Der Job gehört Ihnen“, unterbrach Leo sie. „Ein Bewerbungsgespräch ist nicht nötig, es sei denn, Sie möchten einen Ausflug in die Schweiz unternehmen.“

Lizzie war nicht sicher, ob das ein Scherz war. Im Hintergrund hörte sie Stimmen und Gelächter. Da entschuldigte sich Leo für den Lärm und erklärte, dass er – wie alle guten Schönheitschirurgen nach dem Weihnachtsrummel – hier seinen Skiurlaub verbrächte. Zum Schluss sagte er nur noch, er freue sich, sie im neuen Jahr zu sehen.

Das war’s.

Er hatte nicht einmal nach ihrem Lebenslauf gefragt! Es schien ihn nicht zu interessieren, dass Ethan sie nur als Agenturschwester kennengelernt hatte oder dass sie Fachkrankenschwester für Notfallpflege war.

So leicht hatte sie noch nie eine Stelle bekommen.

„Ach, eins noch“, sagte er, als sie schon dachte, er würde auflegen. „Brauchen Sie eine Unterkunft? Ihnen als Pflegedienstleiterin der Hunter Clinic können wir eine anbieten.“

„Anbieten?“

„Eine möblierte Wohnung …“

Lizzie umklammerte das Telefon fester, hörte, wie er sich bedankte, anscheinend, weil ihm jemand einen Drink gebracht hatte. Das feine Klingeln von Eiswürfeln drang durch die Leitung. „Wir haben einige in Fußnähe zur Klinik.“ Sie war drauf und dran, abzulehnen, denn alles, von wo aus die Harley Street No. 200 zu Fuß zu erreichen war, lag astronomisch weit außerhalb ihres Budgets. Da fuhr er fort: „Falls Sie jedoch schon etwas haben, können wir uns wegen der Kosten sicher …“

„Danke, ich nehme die Wohnung gern“, unterbrach Lizzie ihn. Mit einer möblierten Unterkunft nahe der Klinik würde sie viel Geld sparen, nicht nur an Miete, sondern auch an Fahrtkosten. Lizzie war vor zwei Jahren von Brighton nach London gezogen und fand die Stadt horrend teuer. Sie musste sowieso schon jeden Penny umdrehen, um die Pflegekosten für ihre Eltern zu bezahlen.

„Gut“, kam die knappe Antwort. „Gwen, die Klinikmanagerin, wird sich bei Ihnen melden, und wir sehen uns im neuen Jahr.“

Frohes neues Jahr, dachte Lizzie, während sie jetzt aus dem Fenster auf den winterlichen Regent’s Park blickte und ihr Glück kaum fassen konnte.

Leos Bruder Ethan war einer ihrer Patienten gewesen. Bei einem Afghanistan-Einsatz verwundet, brauchte er besondere Pflege, und Lizzie hatte regelmäßig Hausbesuche bei ihm gemacht. Zwar wusste sie, dass er Arzt war, aber er sprach kaum, ein in sich gekehrter, düsterer Mann, der mit seinen Gedanken oft weit weg zu sein schien. Da sie ahnte, was er durchgemacht hatte, nahm Lizzie es nicht persönlich und füllte die Stille stattdessen mit ihren Geschichten.

Sie erzählte von ihren Eltern, von der Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter, von den Sorgen, die sie sich um beide machte, obwohl sie in einem Seniorenheim untergebracht waren. Oder davon, wie schwer ihr die Entscheidung gefallen war, das Elternhaus zu verkaufen. Wie teuer alles war. Wie sie versuchte, an ihren freien Tagen so oft wie möglich nach Brighton zu fahren, um die Eltern zu besuchen.

Wie weh es tat, dass die Mutter sie kaum erkannte.

„Ihre Eltern können sich glücklich schätzen, dass sie Sie haben“, hatte er eines Tages überraschend sein Schweigen gebrochen.

„Nein“, antwortete sie lächelnd, froh darüber, dass er überhaupt Interesse an etwas zeigte. „Ich bin glücklich, dass ich sie habe.“

Da fing er an, von sich zu reden, von seinen Plänen, bei der Schönheitsklinik seines Bruders einzusteigen und den karitativen Bereich zu übernehmen. Lizzie stellte viele Fragen, mehr um das Gespräch aufrechtzuerhalten.

Nie hätte sie auch nur im Traum daran gedacht, dass er sie als Pflegedienstleiterin empfehlen würde. Geschweige denn, dass sie die Stelle bekam. Insgeheim fürchtete sie immer noch, dass Leo Hunter es sich anders überlegte, sobald er sie vor sich sah.

Sie betrat das luxuriöse Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Hellbraunes welliges Haar, braune Augen, ein ungeschminktes Gesicht – nichts Besonderes und vielleicht nicht das, was sich Leo Hunter vorstellte, wenn er eine leitende Mitarbeiterin für seine Schönheitsklinik suchte. Lizzie dachte an all die Berühmtheiten und Schönheiten, denen sie ab Montag täglich begegnen würde.

Und an Leo.

Natürlich hatte sie sich informiert, und seitdem schien er überall aufzutauchen: ein hochgewachsener, umwerfend gut aussehender Mann mit rabenschwarzem Haar, leuchtend blauen Augen und markanten Gesichtszügen. Auf den Gesellschaftsseiten der Regenbogenpresse entdeckte sie ihn in Gesellschaft von Royals vor der atemberaubenden Kulisse schneebedeckter Berge, bei glamourösen Bällen an einem Tisch mit Prominenten, oder wenn er in Begleitung eines langbeinigen Models einen Nachtklub verließ.

Dr. Leo Hunter war ein Herzensbrecher, ein hoch talentierter Chirurg, ein unverbesserlicher Playboy und … ab Montag ihr Boss.

1. KAPITEL

„Ich habe sie eingestellt. Warum sollte ich nicht nett zu ihr sein?“

„Du weißt, was ich meine, Leo.“ Ethan wandte sich ab.

Obwohl er sich über seinen Bruder ärgerte und trotz der immer präsenten Rivalität zwischen ihnen, konnte Leo kaum mit ansehen, wie Ethan unter Schmerzen versuchte, aus dem Zimmer zu marschieren.

Er hatte keine Ahnung, wie schwer Ethans Beine verletzt waren. Der sprach nie darüber, und alles was Leo wusste, hatte er aus anderen Quellen erfahren. Die Erinnerung an den Moment, als er in der Zeitung las, dass sein Bruder sich im Krankenhaus von einer Kriegsverletzung erhole, setzte ihm immer noch zu.

So viel dazu, dass sie Brüder waren.

Ethan hatte bisher kein Wort über seine Zeit in Afghanistan verloren, und Leo wünschte, er würde darüber reden, sich helfen lassen.

Doch sie hatten einander nie wirklich nahegestanden.

Dafür hatte ihr Vater schon vor langer Zeit gesorgt.

„Dir würde kein Zacken aus der Krone brechen, wenn du Gehhilfen benutzt, Ethan.“

„Wenn ich eine zweite Meinung brauche, wende ich mich an jemanden, der …“ Sein jüngerer Bruder ließ das Ende des Satzes bedeutungsvoll ungesagt. Es war auch nicht nötig. Leo wusste genau, dass Ethan seine Arbeit verachtete.

„Denk, was du willst“, sagte er, als Ethan sich zu ihm umdrehte. „Aber eins solltest du wissen: Wenn meine Patienten diese Klinik verlassen, fühlen sie sich deutlich besser als vorher. Außerdem möchte ich dich daran erinnern, dass meine Arbeit und mein Ruf den Namen Hunter aus dem Dreck gezogen haben – während du damit beschäftigt warst, Soldat zu spielen …“ Kaum waren die Worte ausgesprochen, bereute er sie zutiefst. Nicht nur in Leos Augen war Ethan ein Held. „Entschuldige, das war unter der Gürtellinie.“

„Stimmt, genau wie der Granatsplitter.“

Leo schwieg kurz. „Wenn du mich schon wegen der Schönheitschirurgie schräg ansehen musst, vergiss bitte nicht den karitativen Aspekt, den ich mit meiner Arbeit erst ermögliche“, betonte er dann. „Ohne das Geld, das in die Hunter Clinic fließt, wäre die günstige Behandlung im Lighthouse Hospital und im Princess Catherine’s nicht möglich, und du würdest hier nicht arbeiten.“

„Ist mir klar.“ Das klang schroff.

„Und auch wenn du all das hier verabscheust …“ Leo blickte bedeutungsvoll zu der schweren Kristallkaraffe, die auf dem Walnussholztischchen stand. „… so hast du anscheinend nichts gegen ein bisschen Extravaganz, wenn du dich bei dem hundertjährigen Malt bedienst.“ Er trat an den Tisch und hob die Flasche hoch. „Ich muss beim nächsten Mal den Glasstopfen fester aufsetzen“, meinte er mit wohldosiertem Sarkasmus. „Das Zeug verflüchtigt sich in Lichtgeschwindigkeit.“

Ethan schwieg.

„Hast du kein Zuhause, Ethan? Du siehst aus, als wärst du gestern Abend wieder einmal hier versackt.“

Sein Bruder trug dieselben Sachen wie gestern, während Leo selbst tadellos gekleidet und frisiert war, obwohl die Nacht für ihn kurz gewesen war. Erst die Promi-Veranstaltung, an der er teilgenommen hatte, dann ein paar heiße Stunden mit einer attraktiven Blondine in seinem Bett. Trotzdem war Leo bei Sonnenaufgang aufgestanden, hatte seinen täglichen Jogginglauf hinter sich gebracht, geduscht, sich angezogen und war zur Arbeit gefahren.

„Ich habe bis spätabends gearbeitet.“ Ethans Standardantwort zu diesem Thema, seit er in der Hunter Clinic angefangen hatte.

Leo spürte, wie seine Anspannung wuchs. Ethan mochte ein Held sein, aber die körperlichen Wunden waren nicht die einzigen, dessen war Leo sich sicher. Und auf keinen Fall würde er es zulassen, dass sich die Geschichte wiederholte. Noch heute war die Erinnerung wie ein scharf gestochenes Bild: Ihr Vater James, wie er sturzbetrunken eine Szene machte – vor den Augen von Klienten.

Natürlich hatte man ihn nach Hause geschickt, doch anstatt seinen Rausch auszuschlafen, trank er weiter, erlitt einen Kreislaufkollaps und starb. Das hohe Ansehen, das der Name Hunter damals genossen hatte, fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Es hatte Leo viel Zeit, Mühe und Energie gekostet, es wiederaufzubauen.

Er hatte zu viel geopfert, um diesen Erfolg aufs Spiel zu setzen.

„Wenn du jemals …“, begann er, aber Ethan unterbrach ihn.

„Das wird nicht passieren.“

„Sicher?“ Leo führte einen dekadenten Lebensstil, doch seine blauen Augen waren klar wie der Ozean. Anders als die braunen, blutunterlaufenen Augen seines Bruders, der tatsächlich aussah, als hätte er die Nacht auf dem Sofa verbracht. Auch wenn es ein teures Designerstück war. „Ich werde dich nicht in Schutz nehmen.“

„Hast deine Lektion gelernt, was?“

Wenige Worte, die einen Haufen Fragen zusammenfassten. Warum hast du alles unter den Teppich gekehrt? Warum hast du ihn nicht zur Rede gestellt? Wie konntest du zusehen, wie er immer mehr außer Kontrolle geriet?

Schon immer hatte Leo, der ältere von ihnen, versucht, heikle Situationen mit Esprit und Humor zu entschärfen – dem Vater sogar manchmal einen Drink eingeschenkt, um ihn umzuhauen, damit sie ihre Ruhe hatten.

Ethan hätte das lieber auf andere Weise erledigt. Mit den Fäusten.

„Es ist weder der richtige Zeitpunkt noch der Ort, um das zu diskutieren.“

„Das ist es nie.“ Ethan beschränkte sich auf das naheliegende Problem. „Aber im Moment ist mir viel wichtiger, dass du nett zu Lizzie bist.“

„Kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen.“ Obwohl er das Gespräch lieber jetzt als später beenden wollte, konnte er sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. „Muss ja eine tolle Frau sein, wenn sie dein kaltes schwarzes Herz erobert hat.“

„Ich habe dich nur gebeten, sie gut zu behandeln. Lizzie ist nicht wie deine Flittchen.“

„Du scheinst was für sie übrig zu haben. Ist sie so gut im Bett?“

Hätte Ethan ihm dafür eine verpasst – wozu er nicht übel Lust hatte –, es wäre nicht nur wegen Lizzie gewesen. Unsichtbar und doch gegenwärtig befand sich Olivia mit ihnen in diesem Raum. Die Frau, die immer noch zwischen den beiden Brüdern stand. Es war, als hörte sie zu, hörte sie streiten wie damals, fast auf den Tag genau vor zehn Jahren.

„Bemitleidenswert, dass du Frauen nur danach beurteilst“, antwortete Ethan.

„Sehe ich aus, als müsste man Mitleid mit mir haben?“ Leo lächelte nachsichtig. „Ich verkrieche mich nicht wie ein Einsiedler. Ich gehe jeden Abend aus, ich lebe …“

„Wirklich?“ Ethan hatte genug. Warum bin ich überhaupt zurückgekommen? Schlimmer noch, warum setzte er Lizzie dieser vergifteten Atmosphäre aus? Unter der Oberfläche brodelte es, und es war nur eine Frage der Zeit, bis es zur Explosion kam. Er blickte Leo an, der so arrogant und selbstsicher dastand und dennoch, obwohl er es nie zugegeben hätte, voller Probleme steckte.

„Das ist kein Leben, Leo. Du existierst nur. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“ Bevor Ethan endgültig das Zimmer verließ, warf er seinem Bruder noch über die Schulter zu: „Lass wenigstens ein Mal deine Hosen zu. Lizzie hat Besseres verdient.“

Krachend fiel die Tür ins Schloss. Leo starrte gedankenvoll auf das dunkle Edelholz. Sie hatten kaum die Stimmen erhoben, und die Wände der Klinik waren dick. Trotzdem musste die Spannung zwischen den Brüdern auch schon beim Personal spürbar sein. War es ein Fehler gewesen, Ethan zu fragen, ob er den karitativen Bereich der Hunter Clinic übernehmen wollte? Leo wusste es nicht. Ohne Zweifel war sein Bruder ein brillanter Chirurg, und seine Fähigkeiten wären von hohem Nutzen, aber konnten sie auf Dauer zusammenarbeiten? Nach allem, was passiert war?

„Leo …“ Gwens Stimme drang aus der Wechselsprechanlage. „Ich habe hier …“

„Schicken Sie sie rein“, unterbrach er sie und machte sich darauf gefasst, die heilige Lizzie kennenzulernen, die Frau, die seinem Bruder unter die Haut ging.

„Hallo, Leo.“

Beim Klang der leisen, sinnlichen Stimme fuhr er herum. Nein, es war nicht die neue Pflegedienstleiterin, die sein Büro betreten hatte, sondern jemand, von dem er sich längst verabschiedet hatte. Für immer. Abgesehen davon war Flora Franklin von einer Heiligen so weit entfernt wie die Erde von der Sonne!

Hinreißend schön, in einem langen eleganten Mantel und auf sexy High Heels stöckelte sie auf ihn zu. „Du hast nicht zurückgerufen“, schmollte sie.

„Weil es nichts mehr zu sagen gibt.“ Leo wiederholte sich nicht gern, und dies war das dritte Mal und damit ein Mal zu viel. „Es ist vorbei, das habe ich …“

„Das wird deine Meinung ändern“, unterbrach sie ihn, öffnete den Mantel und ließ ihn von den Schultern gleiten.

Darunter war sie nackt. Fast nackt. Die verführerischen roten Dessous zeigten viel Haut und überließen nichts der Fantasie. Flora hatte einen atemberaubenden Körper, welcher Mann wäre bei diesem Anblick nicht in Versuchung geraten?

Auch sein Körper war empfänglich für ihre Reize, doch für Leo war es endgültig vorbei. Nur daran konnte er denken, als Flora ihn mit Küssen überhäufte und mit ihren geschickten Händen zu Werk ging. Ja, Leo hatte eine tolle Zeit mit ihr gehabt, aber damit war schon lange Schluss. Er hatte versucht, sich behutsam von ihr zu trennen, aber nun musste er anscheinend deutlicher werden.

„Flora“, begann er kühl. „Du solltest jetzt wirklich …“ Er unterbrach sich, als jemand leise an die Tür klopfte. Im nächsten Moment betrat Lizzie Birch sein Zimmer, und Leo konnte nur noch an eins denken: Dass er sich die erste Begegnung mit der neuen Pflegedienstleitung so nicht vorgestellt hatte.

„Dr. Hunter, nehme ich an?“

Ihr Lächeln wirkte bemüht, die runden Wangen röteten sich, und obwohl sie sich eine kritische Bemerkung verkniff, so sprachen ihre Augen eine klare Sprache.

„Sie müssen Lizzie sein“, erwiderte er und lächelte genauso angespannt, während er versuchte, sich aus Floras nackten Armen zu befreien.

Nicht dass Lizzie sich das lange mit ansah. Sie schüttelte kurz den Kopf, machte auf dem Absatz kehrt und schloss die Tür. Leiser als sein Bruder, kaum hörbar fast, aber wie bei Ethan hing Missbilligung in der Luft wie ein schlechter Geruch.

„Wo waren wir stehen geblieben?“, hauchte Flora lasziv.

Die Szene schien ihr nicht im Mindesten peinlich zu sein.

Leo, den nichts so leicht erschüttern konnte, schon.

„Da, wo wir vor zwei Minuten auch schon waren“, antwortete er barsch. „Es ist aus.“

„Leo …“ Flora griff nach seinem Arm, als Leo sich abwenden wollte, aber er schüttelte sie ab.

„Zieh dich wieder an, und sieh zu, dass du verschwunden bist, bevor ich zurückkomme.“ Damit marschierte er aus dem Zimmer und holte Lizzie vor den Umkleideräumen ein.

„Sie sind gerade richtig gekommen“, erklärte er mit einem schiefen Lächeln, während er sich das Hemd in die Hose stopfte. „Das meine ich ernst“, fügte er hinzu, als sie ihn ungläubig ansah. „Ich war noch dabei, sie loszuwerden.“

„Tatsächlich?“

Sie hatte eine sanfte, aber außerordentlich klare Stimme, doch wie vorhin schon, sagte sie mehr mit den Augen. Vor allem, als ihr Blick tiefer glitt. Lizzie schürzte die Lippen und sah Leo vielsagend an. Er brauchte sich nicht zu vergewissern, er wusste genau, was sie entdeckt hatte … seine Hose stand offen.

Rot werden?

Fluchen?

Den peinlichen Umstand zumindest ignorieren?

Leo tat nichts dergleichen.

Stattdessen lachte er. Schamlos und aus tiefer Kehle.

Lizzie lachte nicht.

Sie war unglaublich … Leo fand nicht sofort das richtige Wort, um sie zu beschreiben. Als einer von Englands Top-Schönheitschirurgen konnte er das Aussehen einer Frau auf Anhieb beurteilen und wusste, weshalb sie zu ihm kam. Wenn eine Klientin sein Sprechzimmer betrat, brauchte er nicht lange, um zu wissen, was in ihrem Kopf vorging.

Bei Lizzie gelang ihm das nicht.

Weiße Zähne, weiche, volle Lippen. Helle, makellose Haut, ein samtiger Teint, der nicht aus der Tube kam, und ein Körper … Leo hatte keine Ahnung, was er von der neuen Pflegedienstleiterin erwartet hatte, aber ganz sicher hatte er nicht mit einem so berückend femininen Wesen gerechnet.

„Flora und ich haben uns vor Kurzem getrennt“, erklärte er. „Sie hat sich noch nicht daran gewöhnt.“

Lizzie hatte wenig Lust, weitere Einzelheiten über sein Liebesleben zu hören. Ihre Wangen brannten, und das nicht allein, weil sie aus der kalten Januarluft in die warme Klinik gekommen war. Sie war aufgeregt gewesen wegen der neuen Stelle und hätte mit allem gerechnet, nur nicht damit, ihren neuen Chef in den Armen einer halb nackten Frau vorzufinden.

Jetzt wollte sie nur eins: Leo Hunter wenigstens für die nächsten zehn Minuten loswerden, um sich wieder zu fangen. „Wenn Sie mich entschuldigen, ich muss mich umziehen. Danach werde ich mich vorstellen, und wir können hoffentlich noch einmal von vorn beginnen – etwas professioneller diesmal.“

„Sicher.“ Leo war beeindruckt. Lizzie Birch hatte sich mit wenigen Worten klar ausgedrückt. Allerdings blieb ihm keine Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Lautes Schluchzen verriet ihm, dass Flora nicht vorhatte, sich leise und diskret zu verabschieden.

Lizzie betrat den Umkleidebereich. Nichts verriet, dass sie sich in einer Klinik befand. Riesige Spiegel, geräumige Duschen, flauschige Badelaken – die lichten Räume hätten auch Teil eines exklusiven Fitnessstudios sein können. Fast erwartete sie, dass aus einer der Türen ein Bademeister auftauchen und ihr den Mantel abnehmen würde.

Zum Glück war hier außer ihr niemand. Lizzie atmete tief durch. Die Szene im Büro war ja nicht das Einzige, was sie erschüttert hatte.

Musste Leo Hunter so attraktiv sein? So überwältigend männlich?

Natürlich hatte sie Fotos von ihm gesehen. Doch die spiegelten nicht einmal andeutungsweise wider, wie atemberaubend gut der Mann aussah und was für ein unwiderstehliches Charisma er ausstrahlte.

Lizzie hatte eine etwas ältere Ausgabe von Ethan erwartet. Stattdessen wirkte Leo jünger, strahlender und draufgängerischer als sein ernster junger Bruder. Und er hatte nicht braune Augen wie Ethan, sondern blaue. Leuchtend blau und mit einem forschenden, leicht herausfordernden Ausdruck, als wollte ihr Besitzer nur eins: die Frau, die er ansah, in sein Bett locken.

„Oh nein!“, entfuhr es ihr. Nach all den Gedanken, die sie sich gemacht hatte, nach den Zweifeln, ob sie den Anforderungen einer leitenden Position überhaupt gewachsen war, da fehlte es ihr gerade noch, dass sie beim Anblick ihres neuen Chefs jedes Mal Herzklopfen bekam.

Sie war hier, um zu arbeiten, um Geld zu verdienen und endlich auf einen grünen Zweig zu kommen.

Für Leo Hunter zu schwärmen, brachte sie nicht weiter. Im Gegenteil.

Nein, dafür war Lizzie viel zu vernünftig.

Gwen hatte ihr gesagt, dass man von ihr erwartete, dass sie Kostüm oder Hosenanzug trug. Lizzie zog den Reißverschluss des Kleidersacks auf und holte einen rauchgrauen Rock, die passende Jacke und eine cremeweiße Bluse mit Wasserfallkragen heraus. Dann schlüpfte sie aus ihren Stiefeln und in schwarze Pumps mit kleinem Absatz.

Als sie fertig war, betrachtete sie sich im Spiegel.

Mit zweiunddreißig fühlte sie sich plötzlich wie ein kleines Mädchen, das die Kleider seiner Mutter anprobierte. Das Kostüm war tailliert, saß perfekt … der Inbegriff schlichter Eleganz.

Normalerweise schminkte sich Lizzie nicht, aber seit sie Gwen und zwei weitere Mitarbeiterinnen gesehen hatte, wünschte sie sich, sie hätte Make-up und wenigstens einen Lippenstift mitgebracht.

Aber das war jetzt auch nicht mehr zu ändern.

Lizzie machte sich auf den Weg zu Leos Büro und überlegte, wie sie sich verhalten sollte.

Wie sich allerdings bald herausstellte, war nicht Leo das Problem, sondern Flora!

„Lass mich dir …“, hörte Lizzie Leo sagen.

Er versuchte gerade, Flora in ihren Mantel zu hüllen. Ob er sie von dem schicken Empfangsbereich weg Richtung Ausgang oder zu seinem Büro lotsen wollte, war Lizzie nicht ganz klar. Störrisch wie ein Maultier stemmte Flora ihre Stilettos in den Boden und beklagte sich bitterlich und unüberhörbar für jeden, der in der Nähe stand, darüber, was für ein hundsgemeiner Kerl Leo sei.

„Nicht hier.“ Leos bemühte sich, sie zu besänftigen.

„Oh doch, genau hier!“

Er hatte sich noch einen Kaffee gemacht, um Flora etwas mehr Zeit für einen würdevollen Abgang zu geben. Die dachte jedoch nicht daran, sondern entschied sich dafür, ihm die Hölle heiß zu machen.

Es hatte etwas Beschämendes und sehr Unattraktives, wenn eine halb nackte Frau sich wie eine Furie ihren teuren Schmuck vom Körper riss und damit einen Mann bewarf, der einfach ruhig dastand.

„Und er hat sich Sorgen gemacht, ich könnte Aufsehen erregen …“, sagte Ethan, der aus seinem Zimmer gekommen war. „Willkommen in der Hunter Clinic, Lizzie. Ich nehme an, Sie haben meinen Bruder schon kennengelernt?“

„Ist es immer so?“

„Kommt darauf an“, antwortete er achselzuckend. „Sie waren ein paar Wochen zusammen, sogar über Weihnachten, was für Leo schon eine reife Leistung ist. Ich hoffe, er bekommt das in den Griff, bevor die ersten Patienten auftauchen.“

Lizzie bezweifelte es.

„Flora, das ist doch lächerlich!“ Auch Leo schien langsam die Geduld zu verlieren.

„Ach, ist es das?“ Sie schleuderte eine Halskette, und Lizzie hielt unwillkürlich den Atem an. „Lächerlich und viel schlimmer ist ja wohl, dass du alles, was wir haben, mit Füßen trittst! Warum können wir nicht an unserer Beziehung arbeiten?“

Er öffnete den Mund, überlegte es sich dann jedoch anders und schwieg.

Flora hingegen war noch lange nicht fertig. „Weißt du, was du gesagt hast, als du mir diesen Ring geschenkt hast?“, fragte sie, während sie sich einen edelsteinbesetzten Goldreif vom Finger zerrte.

„Nein.“ Er machte sich nicht die Mühe, gnädig zu lügen.

„Bastard!“ Der Ring folgte der Halskette. Für einen Diamanten, der Glas schneiden konnte, war Leos Wange leichtes Spiel. Die Haut platzte auf, im selben Moment, als Leo vortrat, um Flora zu bändigen. Wütend hob die Blondine die Hand, zweifelsohne, um Leo zu ohrfeigen, aber Lizzie war schneller.

Sie packte Flora am Handgelenk. „Das wäre nicht besonders klug. Wenn Sie nicht aufhören, muss ich die Polizei rufen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich hier wüste Schlägereien wie in der Notaufnahme erleben muss.“

„Ich bin keine Schlägerin“, protestierte Flora.

„Aber drauf und dran, eine zu werden.“ Lizzie ließ sie los, als sie sah, wie Flora in sich zusammensank, entsetzt, dass sie sich so hatte gehen lassen. „So …“ Schnell half sie ihr in den Mantel, knöpfte ihn zu und band den Gürtel fest. „Ich denke, das Drama ist vorbei.“ Bedeutungsvoll blickte sie zu Ethan und Leo hinüber, dem ein feines Rinnsal Blut über die Wange rann.

Der nickte, sagte jedoch leise zu ihr: „Sorgen Sie dafür, dass sie gut nach Hause kommt.“

„Selbstverständlich.“

Die beiden Brüder verschwanden in Leos Büro.

Mit hängenden Schultern stand Flora da, und plötzlich tat sie Lizzie unendlich leid.

„Fahren Sie nach Hause und beruhigen Sie sich“, riet sie ihr sanft.

„Ich kann nicht glauben, dass es vorbei ist. Er hat mir gesagt …“

„Es ist bestimmt besser, wenn Sie nicht zurückblicken“, unterbrach Lizzie sie.

Flora fing an zu schluchzen. „Ich dachte, wir würden uns verloben! Ich dachte, ich bedeute ihm etwas …“

„Sie sind in einer Klinik“, sagte Lizzie ruhig. „Privates zwischen Ihnen und Leo sollten Sie nicht hier klären. Ich rufe Ihnen ein Taxi.“

„Warten Sie, ich bringe sie nach Hause.“ Gwen kam zu ihnen, lächelte Lizzie dabei flüchtig zu. „Kommen Sie, Flora.“

„Moment noch.“ Lizzie sammelte die verstreuten Schmuckstücke vom Boden auf und ließ sie in Floras Manteltasche gleiten. „Die möchten Sie bestimmt nicht zurücklassen.“

Zu ihrer Freude schenkte Flora ihr ein blasses Lächeln. „Danke.“

Lizzie überlegte, was sie tun sollte, wenn sie Leo jetzt erneut gegenübertrat. So tun, als wäre nichts passiert, und zur Tagesordnung übergehen? Oder den Tatsachen ins Auge sehen? Sie holte tief Luft, klopfte an seine Bürotür und trat ein.

„Sie warten wohl nie ab, bis Sie hereingerufen werden.“ Leos Stimme verriet ihr, dass er nur scherzte. Er saß zurückgelehnt in seinem Lederschreibtischsessel, während Ethan ein Päckchen mit Nahtmaterial aufriss.

„Wozu noch?“, erwiderte sie ungerührt. „Ich habe längst mehr gesehen, als ich wollte.“

„Tut mir sehr leid.“

Er zuckte leicht zusammen, als Ethan die Wunde untersuchte. „Das muss genäht werden.“

„Nicht nötig.“

„Der Schnitt ist ziemlich tief“, warnte Ethan. „Wenn du nicht willst, dass er wieder aufgeht …“

„Okay, dann mach’s“, unterbrach Leo ihn ungehalten und öffnete ein Auge, um Lizzie anzusehen. „Normalerweise ist es hier ruhiger.“

„Er lügt.“ Ethan zog ein Lokalanästhetikum auf. „Mein Bruder neigt dazu, bei einer Frau die schlechtesten Seiten zum Vorschein zu bringen.“

„Hören Sie nicht auf ihn.“

„Dein Problem“, konterte Ethan achselzuckend.

„Warum sagen Frauen immer, dass sie an der Beziehung ‚arbeiten‘ wollen?“, sprach Leo das aus, was er sich vor Flora vernünftigerweise verkniffen hatte. „Arbeiten hebe ich mir für die Arbeit auf.“

„Was genau hast du denn gesagt, als du ihr den Ring geschenkt hast?“

„Dass es kein Verlobungsring ist.“ Er dachte einen Moment nach. „Ja, jetzt weiß ich es wieder … ich sagte, dass ich noch nie so nahe dran war, einen Verlobungsring …“

„Leo!“ Ethans Entrüstung war nicht zu überhören, doch zum ersten Mal, seit Lizzie ihn kannte, sah sie ihn lächeln. Auch wenn Leo nichts davon mitbekam.

„So hatte ich es nicht gemeint. Ich wollte sagen … Ach, verdammt, ich glaube, ich hatte zu viel Goldschläger intus.“

„Was ist das denn?“ Lizzie beobachtete, wie Ethan den zweiten Stich setzte, und griff nach der Schere.

„Schweizer Zimtschnaps“, antwortete Leo mürrisch. „Ein Teufelszeug.“

„Wie war’s in der Schweiz?“, fragte Ethan, während er weiter die Wundräder vernähte.

„Sehr viel romantischer als geplant.“ Sein älterer Bruder seufzte. „Ich werde sie anrufen und mich entschuldigen …“

„Tun Sie es nicht“, riet Lizzie. „Es sei denn, Sie wollen falsche Hoffnungen wecken.“

„Okay.“

„Belassen Sie es einfach dabei, ich glaube, sie hat’s kapiert.“

„Meinen Sie?“

„Oh, ich denke schon, dass sie begriffen hat, was für ein Mistkerl Sie sind.“ Dabei lächelte sie zuckersüß.

„Herzlichen Dank.“

„Gern geschehen.“ Lizzie durchschnitt den nächsten Faden und fasste sich ein Herz. „Tragen Sie solche Auseinandersetzungen nicht bei der Arbeit aus.“

„Leo setzt sich nicht mit seinen Frauen auseinander“, sagte Ethan. „Er macht vorher Schluss.“

„Wie auch immer, ich möchte so etwas nicht noch einmal erleben.“ Sie musste es aussprechen. „Und ich meine nicht nur die Szene am Empfang, sondern auch die in Ihrem Büro. Ich hätte eine Klientin sein können.“

Ein finsterer Blick aus tiefgründigen blauen Augen traf sie. „Sind Sie aber nicht.“

„Trotzdem.“ Lizzie legte die Schere hin, während Ethan ein Wundpflaster auf die Wange seines Bruders klebte und sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen konnte. „Es zeugt nicht von Professionalität.“

„Ich bin sehr professionell“, betonte Leo.

„Ich kann nur beurteilen, was ich gesehen habe.“ Lizzie ließ sich nicht einschüchtern. „Wofür haben Sie mich eingestellt? Dass ich lächelnd alles abnicke oder als Pflegedienstleiterin?“

„Pflegedienstleiterin“, knurrte Leo.

„Dann sorgen Sie dafür, dass sich solche Zwischenfälle nicht wiederholen.“ Sie lächelte ihn an, dann Ethan. „Falls Sie nichts dagegen haben, mache ich jetzt einen Rundgang, um die Räumlichkeiten kennenzulernen.“

Sie verließ das Zimmer, schloss leise die Tür hinter sich und atmete langsam tief aus.

Auf der anderen Seite der Wand tat Leo genau das Gleiche. „Du hast mir nicht erzählt, dass ich einen Drachen eingestellt habe.“ Schlecht gelaunt nahm er den Spiegel zur Hand, der immer für Patienten bereitlag, und inspizierte die Verletzung. „Sorgen Sie dafür, dass sich das nicht wiederholt“, äffte er Lizzies Stimme nach. „Ich komme mir vor, als hätte ich etwas ausgefressen. Der Lausbub wird zum Rektor zitiert … in diesem Fall zur Rektorin.“

„Wenn das so ist … arme Lizzie.“ Ethans Lächeln schwand, als er beobachtete, wie Leo zur Tür sah und Luft holte, wie um Lizzies zarten Duft einzuatmen, der immer noch im Raum hing. Ethan fragte sich, ob er ihr tatsächlich einen Gefallen getan hatte, als er ihr diesen Job verschaffte.

Keine Frage, das Gehalt war fürstlich, aber wenn Leo ihr nachstellte? Wenn sie seinem Charme erlag?

Ethan machte sich Sorgen um Lizzie. Wusste er doch besser als jeder andere, wie weh ein gebrochenes Herz tat.

2. KAPITEL

Lizzie sah sich um, unterhielt sich mit Krankenschwestern und Pflegern und stellte fest, dass sie sehr freundlich aufgenommen wurde.

„Willkommen in der Hunter Clinic“, sagte eine der Schwestern, die sich als Charlotte vorgestellt hatte. „Ich bin auf dem Weg ins Kate’s, sonst hätte ich Sie herumgeführt.“

„Kate’s?“ Den Namen hörte sie hier nicht zum ersten Mal.

„Princess Catherine’s Hospital“, erklärte Charlotte. „Die ambulanten Fälle werden von uns übernommen, aber alles, was über eine leichte Sedierung oder Kurznarkose hinausgeht, wird entweder im Kate’s oder im Lighthouse Hospital, der Kinderklinik, gemacht.“

„Operieren Sie viel im Lighthouse?“, fragte Lizzie.

„Oh ja.“ Charlotte lächelte. „Rafael de Luca, einer unserer pädiatrischen Chirurgen, hat heute Vormittag eine lange Liste dort, und ich …“

„Charlotte!“

Ungeduldig, fast schroff wurde sie von einem gut aussehenden, breitschultrigen Mann unterbrochen. Wie ein Bär aus seiner Höhle steckte er den Kopf aus einem der Behandlungszimmer und fragte mit deutlich schottischem Akzent, ob sie ihm zur Hand gehen könne. Seine Hände steckten in Einmalhandschuhen, und er hielt sie leicht erhoben vom Körper weg.

„Ich bin gerade auf dem Weg zum …“

„Das kann ich übernehmen“, bot Lizzie an, froh darüber, sich nützlich machen zu können.

„Lizzie ist unsere neue Pflegedienstleiterin“, erklärte Charlotte noch und eilte los.

„Hi, Lizzie, ich bin Iain MacKenzie. Ich muss bei Jessica die Fäden ziehen, aber sie ist sehr unruhig.“

Ängstlich hatte sich die Patientin auf der Untersuchungsliege zusammengekrümmt. „Können wir es nicht morgen machen?“, bat sie.

„Je eher die Fäden draußen sind, umso feiner wird später die Narbe“, erklärte Iain. „Es tut nicht weh, es ziept nur ganz leicht. Das ist Lizzie …“

„Hi, Jessica.“ Lizzie lächelte die junge Frau an und wollte schon fragen, was ihr passiert war, da fing sie einen warnenden Blick des Arztes auf.

Also half sie Jessica nur, sich bequem hinzulegen, und bedeckte ihr Gesicht mit einem leichten sterilen Tuch, damit sie das feine Skalpell nicht sah, mit dem Dr. MacKenzie die zahlreichen Fäden an Hals und hinter ihrem Ohr entfernte.

„Sehr gut …“, sagte er gelegentlich, aber mehr auch nicht, während er sich auf seine Arbeit konzentrierte.

Lizzie übernahm es, mit der Patientin zu reden und ihr beschwichtigend zu versichern, dass alles in Ordnung war.

„Wie sieht es aus?“, fragte Jessica immer wieder.

Iain schwieg, und erneut sprang Lizzie in die Bresche. „Noch etwas geschwollen und empfindlich, aber die Wunden …“ Sie zögerte. … sehen toll aus, lag ihr auf der Zunge, doch das konnte sie schlecht sagen. Allerdings hatte sie noch nie derart feine Wundnähte gesehen. „Exzellente Arbeit.“

Als sie aufblickte, lächelte Iain, wenn auch etwas grimmig.

Er war ein schweigsamer Mann, doch seine Arbeit sprach für ihn. Jetzt hielt er seiner Patientin einen Spiegel hin, damit sie die betroffenen Stellen betrachten konnte.

„Es sieht viel besser aus, aber …“

„Haben Sie noch etwas Geduld. In zwei Tagen sehe ich es mir wieder an, und dann fangen wir mit Narbenmassage und Salbenbehandlung an. Fürs Erste aber lassen wir die Wunden so, wie sie sind. Wie geht es Ihnen?“

„Ich weiß nicht“, gab Jessica zu. „Die Sache ist die …“ Sie warf Lizzie einen Blick zu, den diese sofort verstand.

Lizzie entschuldigte sich und verließ das Zimmer, damit die Patientin mit ihrem Arzt unter vier Augen sprechen konnte.

„Wie geht es ihr?“ Leo kam im selben Moment den Flur entlang.

„Wie bitte?“

Stumm deutete er mit dem Kopf auf sein Büro, und Lizzie folgte ihm. Natürlich besprach man so etwas besser nicht im Flur.

„Wie geht es Jessica?“, wiederholte er seine Frage. „Ich wollte sie nähen, aber ich wusste auch, dass es Stunden dauern würde. Leider musste ich zu einer Veranstaltung …“ Ihm entging nicht, dass Lizzie leicht die Lippen zusammenpresste. „Sie sollten nicht überbewerten, was mein Bruder Ihnen über mich erzählt“, meinte er mit einem sarkastischen Lächeln. „Wie auch immer, Iain ist brillant, wenn es um solche Art Verletzung geht. Ich wollte nur wissen, wie Jessica sich fühlt.“

„Die Fäden sind gezogen“, antwortete Lizzie. „Ich hatte den Eindruck, dass sie sich mit Dr. MacKenzie allein unterhalten wollte. Also bin ich gegangen.“

„Sie haben sie nicht erkannt?“

„Sollte ich?“ Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, und sie erinnerte sich an die Schlagzeilen der letzten Woche.

Die Patientin, um die sie sich gerade eben gekümmert hatte, war die Frau eines prominenten Politikers, der nach einem hitzigen Streit mit ihr von der Polizei vernommen worden war.

„Und ich dachte, sie hat einen Autounfall gehabt. So sahen die Verletzungen für mich jedenfalls aus.“ Lizzie seufzte leise. „Mir war nicht klar, dass die Arbeit hier …“ Sie unterbrach sich. Leo war sicher nicht die richtige Adresse, um ihre Gedanken auszusprechen.

„Sie dachten, bei uns geht es nur um Brustvergrößerungen und Faltenstraffung? Häusliche Gewalt zieht sich durch alle Schichten.“

„Ich weiß“, antwortete sie knapp. Sie ärgerte sich über sich selbst. Leo hatte recht. Man nahm schnell an, dass so etwas bei den Reichen und Schönen dieser Welt nicht vorkam, und wenn es dann doch passierte, fand man es umso erschreckender.

„Wenn Sie erst ein paar Monate bei uns sind, wissen Sie es ganz sicher“, sagte er. „So, würden Sie bitte nach draußen gehen und wieder hereinkommen?“ Als sie ihn verwundert anblickte, fügte er hinzu: „Ich möchte noch einmal von vorn anfangen.“

„Das ist nun wirklich nicht nötig.“

„Und ob es das ist. Gehen Sie, klopfen Sie und warten Sie, bis ich Sie hereinrufe.“

„Das ist doch albern.“ Trotzdem tat sie, was er sagte, und schloss die Tür hinter sich. Dann klopfte sie und wartete.

„Herein!“

Als sie sein Zimmer betrat, sah er ihr lächelnd entgegen, und auf einmal machte ihr das Spielchen Spaß.

„Sie müssen unsere neue Pflegedienstleiterin sein.“ Leo stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum und streckte ihr die Hand hin.

„Und Sie Dr. Hunter.“ Lizzie erwiderte sein Lächeln. „Es freut mich, Sie kennenzulernen … oh, was ist mit Ihrer Wange passiert?“

Wieder lächelte er, und ihr Magen machte den gleichen kleinen Salto wie vorhin vor den Umkleideräumen.

„Ach, das … ein kleiner Sturz, beim Skifahren.“

„Sie Ärmster!“

Leo bot ihr einen Stuhl an und setzte sich wieder hinter seinen breiten Walnussholztisch. Es war wirklich ein schönes Sprechzimmer mit Blick auf die altehrwürdigen Häuser der Harley Street. Erst als Leo etwas sagte, ertappte sie sich dabei, wie sie verträumt aus dem Fenster starrte. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass sie hier arbeitete!

„Es wird Ihnen bei uns gefallen. Wir haben ein exzellentes Team, jeder Einzelne persönlich von mir ausgesucht, vom Chirurgen bis zum Empfangspersonal.“

„Außer mir.“

Sie sagt, was sie denkt, dachte Leo. „Richtig, außer Ihnen. Aber ich vertraue der Einschätzung meines Bruders.“ Er verriet ihr nicht, dass Ethan ihm quasi die Pistole auf die Brust gesetzt hatte: Ich fange nur hier an, wenn du auch Lizzie Birch einstellst. „Was hat Sie dazu bewogen, in der Hunter Clinic arbeiten zu wollen?“

Lizzie überlegte, wie aufrichtig sie sein sollte. Es wäre sicher nicht ratsam, zuzugeben, dass das üppige Gehalt sie angelockt hatte. Genau wie die Chance, in einem der reizvollsten Stadtteile Londons eine Wohnung zu bekommen. Ja, unterm Strich bestand der stärkste Anreiz schlicht und einfach darin, finanziell endlich aus der Misere zu kommen.

Natürlich sagte sie das nicht. „Es ist eine sehr angesehene Klinik.“

„Das stimmt.“ Leo betrachtete sie unverwandt. „Allerdings haben Sie noch nie in der kosmetischen oder plastischen Chirurgie gearbeitet, oder?“ Ihm entging nicht, dass ihre Wangen sich röteten. „Was reizt Sie daran?“

„Dass Menschen wie Jessica geholfen werden kann. Solche entstellenden Verletzungen sind …“

„Ich meine vor allem den schönheitschirurgischen Aspekt. Klientinnen, die uns aus rein kosmetischen Gründen aufsuchen, manchmal sogar nur aus purer Eitelkeit.“

„Für mich ist das in Ordnung.“

„Wirklich? Sie klingen nicht gerade überzeugt.“

Lizzie wand sich innerlich. Hätte man sie zu einem offiziellen Vorstellungsgespräch eingeladen, hätte sie sich vorher mit dieser Frage beschäftigt. Doch jetzt traf sie sie völlig unvorbereitet. Unter Leos intensivem Blick fiel es ihr nicht leicht, nach einer überzeugenden Antwort zu suchen.

„Wie kommen Sie darauf?“, ging sie in die Offensive. „Ich habe selbst eine kleine Korrektur vornehmen lassen.“

„Tatsächlich?“ Die dunklen Brauen zogen sich zusammen. „Und was?“

Lizzie lachte auf – etwas zu schrill, wie sie fand. „Erwarten Sie ernsthaft von mir, dass ich Ihnen das verrate?“

Normalerweise sah er einer Frau sofort an, ob sie beim Schönheitschirurgen gewesen war. Die geschärfte Aufmerksamkeit gehörte schließlich zu seinem Job. Prüfend suchte er ihr Gesicht nach Hinweisen ab, ließ den Blick kurz tiefer gleiten, bevor er Lizzie wieder in die Augen sah.

„Darf ich fragen, wer das gemacht hat?“

„Nein.“ Es hatte ihr nicht gefallen, taxiert zu werden, und sie war immer noch verlegen.

„Nun, was auch immer er getan hat, er hat ausgezeichnete Arbeit geleistet.“

„Nicht er – sie.“

„Jetzt bin ich aber richtig neugierig.“ Doch dann wechselte er zur Lizzies Erleichterung das Thema. „Auf meine Arbeit bin ich sehr stolz. Meine Patienten stehen oder standen die meiste Zeit ihres Lebens im Scheinwerferlicht. Ob es einem gefällt oder nicht, man wird ständig beobachtet, bewertet, beurteilt. Deshalb tue ich, was ich kann, damit meine Klienten sich in jeder Situation sicher fühlen. Und Sie haben meinen größten Respekt, weil Sie auf sich und Ihr Äußeres achten“, erklärte er entschieden. „Allerdings nehme ich persönlich weniger Patienten an, da ich mich mehr auf die geschäftlichen Angelegenheiten konzentrieren werde.“

„Darf ich fragen, warum? Sie sind offensichtlich sehr gefragt …“

„In doppelter Hinsicht.“ Leo nickte zustimmend. „Ich möchte den karitativen Bereich der Klinik stärker ausbauen. Deshalb habe ich Ethan gebeten, bei uns einzusteigen. Die Hunter Clinic hat zwar viele vermögende Klienten, die sich für Geld so ziemlich alles leisten können, aber wir geben auch etwas zurück an diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Es geht nicht darum, dass unsere Ärzte einen Teil ihrer Zeit spenden, sondern auch um freie Krankenhausbetten, Reha-Maßnahmen, Betreuung der Familie.“

„Ich verstehe.“

„Fundraising ist mir sehr wichtig. Und ich bin gut darin. Gesellschaftliche Verpflichtungen liegen mir.“

„Davon habe ich gehört.“

„Einer muss sich ja darum kümmern. Ich kann wohl kaum Edward schicken.“

„Edward?“

„Unser großartiger Mikrochirurg, ein absolutes Genie, lebt mit seinen Büchern“, antwortete Leo lächelnd. „Iain wäre auch nicht der Richtige.“

„MacKenzie, der Schotte?“

Er nickte. „Ebenfalls ein brillanter Chirurg, aber für Small Talk absolut nicht zu haben. Und können Sie sich Ethan bei einer Galaveranstaltung auf Spendenwerbung vorstellen? Geringschätzung ist sein zweiter Vorname.“

Lizzie bekam sofort Gewissensbisse, aber sie musste lachen. Leo hatte recht. Unbefangenes Plaudern lag Ethan nicht, und ganz sicher würde er niemandem Honig um den Bart schmieren. Auch nicht für einen guten Zweck.

„Ethan hat mir erzählt, dass Sie Ihre Eltern unterstützen“, bemerkte Leo.

„Das hätte er nicht tun sollen.“

„Es muss sehr belastend für Sie sein.“

„Ich kümmere mich um meine Eltern, so wie sie sich um mich gekümmert haben“, entgegnete sie schärfer als beabsichtigt. Es war ihr unangenehm, mit Leo Hunter darüber zu reden. „Wie Sie vorhin sagten, kommt irgendwann die Zeit, dass man etwas zurückgibt.“

„Okay.“ Er kritzelte etwas auf seinen Notizblock, und Lizzie fragte sich, was. Anscheinend hatte er es ihr angesehen, denn er setzte hinzu: „Damit ich nicht vergesse, um das Thema in Zukunft einen Bogen zu machen.“ Mit einem charmanten Lächeln entspannte er die Situation. „Weiter mit den Formalitäten. Um zwei erwarte ich eine Patientin.“ Leo öffnete eine Aktenmappe.

Lizzie hatte sich von dem unbekümmerten Small Talk täuschen lassen und begriff erst jetzt, dass dieses Gespräch sorgfältig vorbereitet worden war. Die Mappe enthielt alle ihre Bewerbungsunterlagen.

„Die Vertraulichkeitserklärung haben Sie unterschrieben?“

„Ja.“

„Ihnen ist klar, was Sie unterzeichnet haben?“

„Natürlich.“

„Gut, dann sehen wir uns kurz vor zwei. Meine Patientin ist Marianna Dupont. Wissen Sie, wer das ist?“

Überrascht blickte sie ihn an. Man hätte schon hinter dem Mond leben müssen, um nicht mitzubekommen, wer Marianna war. Seit ihre Verlobung mit Prinz Ferdinand von Sirmontane bekannt gegeben worden war, füllte ihre Liebesgeschichte die Klatschblätter. Eines Tages würde Prinz Ferdinand seinem Vater auf den Thron folgen und Marianna damit Fürstin werden. Wenn Lizzie Leo richtig verstanden hatte, sollte sie die junge Frau in Kürze kennenlernen.

„Ich habe von ihr gehört.“ Ihre Stimme klang nicht ganz so nonchalant, wie Lizzie es sich gewünscht hätte. Aber es war ja auch aufregend! Die Hochzeit sollte erst im nächsten Jahr stattfinden, doch wie es schien, wurden bereits jetzt diskrete Vorbereitungen getroffen – für eine Frau, die zeitlebens im Rampenlicht stehen und die Titelseiten zieren würde.

„Sehr schön.“

Lizzie stand auf und ging zu Tür.

„Das Gehalt“, sagte er ruhig und ohne die Stimme zu erheben.

„Verzeihung?“ Sie drehte sich um.

„Sie hätten auch einfach sagen können, dass das Gehalt Sie gereizt hat. Das hätte mich nicht gestört. Es ist nicht verwerflich, sich schöne Dinge zu wünschen.“

„Ich weiß.“

„Viele wissen gar nicht, was in einer Klinik wie unserer vor sich geht, bevor sie nicht in einer gearbeitet haben.“

„Das wird mir allmählich auch klar.“

„Man muss es erlebt haben, um sich dafür begeistern zu können“, sagte Leo.

Oh ja, diese Begeisterung, die spürte sie schon jetzt …

Marianna war eine berückend schöne Frau.

Als Gwen sie ins Sprechzimmer führte, versuchte Lizzie, das nervöse Flattern im Magen zu unterdrücken. Sie sagte sich, dass alle Patienten, ob arm oder reich, nur eins wollten: Dass man sich gut um sie kümmerte.

Trotzdem war sie aufgeregt.

„Leo!“ Mit einem charmanten Lächeln begrüßte Marianna ihn wie einen Freund. „Wie schön, Sie wiederzusehen.“ Da sah sie das Pflaster auf seiner Wange. „Was haben Sie da gemacht?“, fragte sie besorgt.

„Ein kleiner Sturz, beim Skilaufen“, antwortete Leo, während er sie auf beide Wangen küsste. Dabei zwinkerte er Lizzie kaum merklich zu. „Wie geht es Ihnen?“

„Ich muss gestehen, dass ich ein bisschen unruhig bin.“ Deutlich war ihr sinnlicher französischer Akzent zu hören.

„Darf ich Ihnen Lizzie Birch vorstellen? Unsere neue Pflegedienstleiterin.“

„Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Lizzie.“ Sie lächelte, wurde jedoch schnell ernst, als sie sich Leo zuwandte. „Ich bin sicher, dass man mich fotografiert hat.“

„Sind Sie über das Tiefgeschoss hereingekommen?“

„Ja, aber als ich noch im Auto saß …“

„Sie werden die Hunter Clinic durch den Haupteingang verlassen“, sagte Leo. „Haben Sie auf dem Weg hierher eine Sonnenbrille getragen, wie ich es Ihnen geraten hatte?“

Marianna nickte. „Aber wenn irgendjemand herausfindet, dass ich etwas habe machen lassen, wird das Aufsehen erregen.“

„Von uns erfährt niemand etwas“, versicherte er. „Wir sind es gewohnt, äußerst diskret vorzugehen. Allerdings kann ich Ihnen, wie schon besprochen, nicht versprechen, dass es keine Gerüchte geben wird.“

„Natürlich nicht.“ Die attraktive Französin seufzte. „Glaubt man der Presse, dann war ich schon fünf Mal schwanger.“

„Das sieht man Ihrer Figur aber nicht an“, entfuhr es Lizzie und wurde rot, weil sie sich diesen Scherz erlaubt hatte. Doch Marianna lachte nur.

„Wie ist es denn geworden?“ Ein, zwei Klicks mit der Maus, und auf dem breiten Monitor erschienen einige Bilder. Leo warf einen Blick darauf und kam dann zu Marianna herüber.

„Sie haben wundervoll gearbeitet“, schwärmte die zukünftige Fürstin. „Selbst ich kann nicht genau sagen, was an meiner Nase anders ist. Aber sie sieht so viel besser aus als vorher.“

„Marianna hatte vor sechs Wochen am Kate’s eine Nasenkorrektur“, erklärte Leo Lizzie, während er sein Werk inspizierte. Dann machte er ein paar Aufnahmen, die er auf den PC übertrug.

Lizzie war beeindruckt. Die Veränderung war kaum wahrnehmbar, aber sichtlich zum Vorteil.

„Ich habe hier etwas abgetragen …“ Mit dem Kugelschreiber deutete er auf den Punkt. „Und die Spitze optimiert und um einen Millimeter angehoben …“ Mit einem freundlichen Lächeln wandte er sich an Marianna. „Es ist zwar noch leicht geschwollen, aber das Schlimmste haben Sie hinter sich. Den nächsten Eingriff können wir hier in der Hunter Clinic vornehmen. Nur eine örtliche Betäubung und ein schwaches Beruhigungsmittel, mehr ist bei einer Blepharoplastik nicht nötig.“

Als Lizzie ihn verständnislos ansah, übersetzte er: „Eine Lidstraffung.“ Wieder blickte er zum Bildschirm und dann seine Patientin an. „Hauchfein nur, aber sie wird Ihre Augen weiter öffnen, ein beeindruckender Effekt, der sich besonders bei Profilfotos positiv auswirkt.“

Marianna nickte, hatte jedoch Fragen. „Was ist mit den Narben?“

„Mittels Laser können wir die Narbenbildung beeinflussen, eine kleine Narbe wird jedoch bleiben. Die lässt sich mit Make-up problemlos abdecken. Falls Sie allerdings nicht wollen, dass es Ihren Bediensteten auffällt …“

„Ich schminke mich immer selbst“, erklärte Marianna. „Und dabei werde ich es auch belassen.“

„Gut, damit ist das Problem gelöst. Die Narbe liegt sowieso in der natürlichen Lidfalte.“ Leo blickte Lizzie an. „Marianna muss damit rechnen, ständig in Großaufnahme abgelichtet zu werden.“

„Ich komme mir sehr eitel vor“, gab die Patientin zu. „Meine Schwester findet es albern, dass ich mir überhaupt Gedanken um mein Aussehen mache, aber ich stehe so unter Druck …“

„Das verstehe ich vollkommen“, meinte Leo. „Der Aufwand ist minimal, doch für Ihr Selbstvertrauen bedeutet es einen Riesenunterschied.“ Er sah Lizzie an. „Können Sie sich vorstellen, dass die ganze Welt jeden Ihrer Schritte genau beobachtet?“

„Nein. Ich glaube, das wäre furchtbar.“

„Sobald man vor die Tür geht, steht man auf der Bühne.“ Marianna seufzte ergeben. „Vor ausverkauftem Haus!“

„Man sollte sich nicht ohne Hose erwischen lassen“, meinte Leo, und Marianna lachte. Lizzie hingegen errötete und fragte sich, ob das eine Anspielung auf die pikante Szene heute Morgen in diesem Büro sein sollte. „Wann möchten Sie kommen?“, fragte Leo seine prominente Patientin.

„Sobald wie möglich. Am Wochenende fahre ich für vierzehn Tage weg. Ich weiß, wir hatten ursprünglich an Mai gedacht, aber dieser Urlaub wäre ideal. Der Ort liegt abgeschieden, und Ferdinand sagt, dass ich dort keine Kameras fürchten muss. Es tut mir leid, mir ist natürlich klar, dass das für Sie sehr kurzfristig ist.“

„Kein Problem.“ Leo schlug seinen Terminkalender auf. „Morgen früh um sechs Uhr?“

„Großartig.“

„Nach Mitternacht dürfen Sie nichts mehr essen und nichts trinken. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, wir versetzen Sie nur in eine leichte Narkose.“

„Also machen wir es hier?“

„Ja.“ Leo nickte. „Kommen Sie um fünf, dann ist es noch dunkel. Tagsüber behalten wir Sie hier, aber gegen Abend können Sie sicher wieder ins Hotel zurück. Gwen wird sich mit der Hotelleitung in Verbindung setzen …“

Lizzie fand ihn völlig entspannt. Egal, wen er vor sich hatte, Leo Hunter hatte die Situation unter Kontrolle.

„Gut“, sagte er da. „Bevor Sie gehen, möchte ich mir das betroffene Auge noch einmal ansehen.“

Marianna lächelte wissend und lehnte sich im Sessel zurück, während Leo ein Verbandspäckchen öffnete. Lizzie traute sich nicht, zu fragen, ob er etwas brauchte. Sie wusste ja nicht einmal, was er vorhatte!

„Mariannas Verlobter hat ihr einen kleinen Hund geschenkt“, sagte er.

„Wie schön.“ Lizzie hatte immer noch keinen blassen Schimmer, worum es ging. Vielleicht musste er sich ihre Augen noch einmal genau ansehen, bevor er operierte?

„Ein Basset“, erklärte Marianna. „Ich schwöre Ihnen, er redet mit mir.“

„Ich hatte mal einen Papagei, der hat das auch getan.“ Ein alberner Witz, aber Marianna fing an zu lachen, und Lizzie stimmte unwillkürlich ein.

„Sie hatten nicht wirklich einen, oder?“, hakte Marianna nach, als Leo ihr zwei Tropfen Fluorescein in die Augen tropfte. Ein Indikator, der feine Verletzungen wie Kratzer im Auge grün schimmern ließ und damit sichtbar machte.

„Natürlich nicht.“

Das Lachen, zusammen mit den Tropfen, hatte Marianna Tränen in die Augen getrieben, und Lizzie beobachtete, wie die leuchtend orangefarbene Flüssigkeit ihr über die Haut rann.

„Kein Kratzer zu sehen“, verkündete Leo. „Lassen Sie es trotzdem für ein paar Tage bedeckt, nehmen Sie Antibiotikatropfen und ein leichtes Schmerzmittel, wenn nötig. Ein Kratzer auf der Cornea kann sehr schmerzhaft sein. Und hüten Sie sich vor den Krallen Ihres Welpen!“

Lizzie gab es auf. Hatte er nicht gerade eben erklärt, dass sie keinen Kratzer hätte?

Leo klebte ein großes Augenpflaster auf. „Okay, und jetzt die Sonnenbrille wieder auf.“

„Danke.“

Eine feine Spur des Indikators lief Marianna über die makellose Wange, und Lizzie wollte sie schon abwischen, da hielt Leo sie zurück. „Lassen Sie nur …“

Flüchtig nur hatten seine schlanken Finger sie berührt, aber Lizzie spürte seine Wärme immer noch, obwohl sie ihre Hand schnell zurückgezogen hatte. Im selben Moment wurde ihr klar, was Marianna auf sich nahm, damit der wahre Grund für ihren Besuch in der Hunter Clinic ein Geheimnis blieb. Der neue Hund, die Fluorescein-Reste im Gesicht, die Sonnenbrille, alles gehörte zu einem Plan.

„Vielen Dank, Lizzie.“ Marianna lächelte sie an. „Sehen wir uns morgen früh?“

„Natürlich“, antwortete Leo statt ihrer und begleitete seine Klientin ins Foyer.

Das bedeutete, dass sie ihren Wecker um einiges früher stellen musste als heute. Es machte ihr nichts aus. Das wird ein spannender Tag, dachte sie, während sie zu ihrem Büro ging. Eine zukünftige Prinzessin, die sich im Dunkeln in die Klinik schleicht, und ich bin dabei, wenn sie die Medien an der Nase herumführt!

„Ich nehme an, unsere Fürstin in spe war gerade da?“ Ein unverschämt gut aussehender Mann, von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet und mit einem Motorradhelm unter dem Arm, kam auf sie zu. „Ich bin Declan Underwood“, stellte er sich vor und schüttelte ihr die Hand.

„Oh, ja, Leo hat mir von Ihnen erzählt.“ Declan war Leos Stellvertreter. „Und ich bin Lizzie Birch.“

„Ich weiß.“ Er lächelte. „Leo rief mich vorhin an und sagte, dass Sie angefangen haben. Anscheinend hat er Ihnen einen besonderen Willkommensgruß geboten und Flora vor die Tür gesetzt.“

Da sie nicht wusste, was sie sagen sollte, lächelte sie unverbindlich. Da kam Leo zu ihnen herüber.

„War das Marianna? Lizzie wollte es mir nicht verraten.“

„Sie hätten ein Fremder sein können.“

„Da haben Sie recht. Aber ich wusste, dass es jemand Besonderes sein muss, wenn Leo schon die Ärmel hochkrempelt, um einen Patienten zu empfangen. Er pickt sich immer die Rosinen aus dem Kuchen.“ Declan grinste. „Oder sagen wir, er nimmt nur die Rosinen!“

Gutmütiges Geplänkel, mehr steckte nicht dahinter, da war Lizzie sich sicher. Declan bekam bestimmt seinen Teil an Berühmtheiten ab.

Der Chirurg verschwand, um sich umzuziehen, und verließ die Umkleideräume wenig später in einem tadellos sitzenden Anzug.

„Was ist?“ Stirnrunzelnd verfolgte Leo, wie Lizzie Declan erst nachstarrte und dann den Kopf schüttelte.

„Nichts“, wehrte sie erst ab, fühlte sich ertappt und entschied sich doch für die Wahrheit. „Sie haben gesagt, dass Sie jeden Einzelnen für Ihr Team selbst aussuchen … ist gutes Aussehen auch eine Bedingung?“

„Finden Sie mich gut aussehend, Lizzie?“, neckte er.

„Ich glaube, Sie wissen ganz genau, dass Sie gut aussehen.“

Leo lächelte gewinnend. „Nun, falls es zu meinen Auswahlkriterien gehört, dann sollten Sie wissen, dass Sie …“ Er unterbrach sich. Heute war ihr erster Tag, und Leo hatte sich entschlossen, Ethans Rat zu befolgen, und wenigstens vorerst nicht mit ihr zu flirten. Jetzt musste er sich eingestehen, dass es ihm nicht leichtfiel. „Es dreht sich nicht alles um gutes Aussehen, Lizzie.“

„Und das sagt ausgerechnet ein Schönheitschirurg.“

„Verraten Sie es mir, Lizzie.“ Leo konnte seine Neugier nicht mehr zügeln. „Was haben Sie machen lassen?“

Leicht, ganz leicht nur hob er mit einem Finger ihr Kinn an. Nein, es war nicht einmal die winzigste Narbe zu entdecken.

Lizzie spürte seine Wärme und sagte sich, dass es für Leo Hunter völlig normal war, ein Gesicht zu inspizieren. Aber sie war so viel Nähe nicht gewohnt. Warum sonst hatte sie plötzlich Mühe, weiterzuatmen? Warum sonst wurde ihr merkwürdig zittrig zumute?

„Wenn ich richtig rate, sagen Sie es mir dann?“

„Nein.“

Leo ließ die Hand sinken, und Lizzie atmete insgeheim erleichtert auf. Doch dann sah sie Ethan aus dem Augenwinkel, der mit ziemlich grimmiger Miene an ihnen vorbeiging.

„Haben Sie nicht Feierabend?“, fragte Leo.

„Ich wollte gerade …“

„Dann gehen Sie. Ich erwarte Sie morgen früh um vier. Einer unserer Fahrer holt Sie ab.“

„Warum?“

„Zu dieser nachtschlafenen Zeit spazieren Sie mir nicht allein durch London.“

„Sie müssen mir keinen Chauffeur schicken.“

„Dafür kommt der Prinz auf, es geht alles auf seine Rechnung. Ach, und falls morgen früh jemand auf meiner Couch schlafen sollte, haben Sie meine persönliche Erlaubnis, ihn rauszuwerfen.“

„Okay.“

„Nachts ist es hier manchmal wie am Piccadilly Circus“, meinte Leo, ohne genauer zu erläutern, was er meinte. „Willkommen an Bord, Lizzie.“

3. KAPITEL

Der Wecker klingelte früh, aber Lizzie blieb keine Sekunde länger im Bett. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt noch vor Sonnenaufgang aufgestanden war und es trotzdem kaum erwarten konnte, zur Arbeit zu gehen.

Ja, es war nur ein einziger Tag gewesen, und sie mochte den Job durch puren Zufall bekommen haben, doch sie war schon jetzt Feuer und Flamme für ihre neue Aufgabe. Ein Hauch von Glamour umgab die Hunter Clinic, aber Lizzie war mindestens genauso stark beeindruckt davon, wie sehr sich Ärzte und Pflegepersonal für Bedürftige engagierten. Oder wie umsichtig und mitfühlend sie mit Patienten wie Jessica umgingen.

Pünktlich um fünf Minuten vor vier summte ihre Wechselsprechanlage. Lizzie eilte hinunter zum Wagen und ließ sich auf den weichen, duftenden Ledersitz sinken. Für eine unvorstellbar kurze Fahrt zur Klinik.

Sie fühlte sich umsorgt.

Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie das Gefühl, dass sich jemand um sie kümmerte. Und nicht nur sie allein in der Verantwortung war, andere zu versorgen.

Die ungewohnten Gedanken brachten gleich Gewissensbisse mit sich. Denn früher war sie von ihren Eltern sehr behütet worden.

Ihre Mum hatte sogar im Winter ihre Schuluniform auf die Heizung gelegt, bevor Lizzie sie anzog. Sie spürte noch heute die Wärme des Stoffes, und genau so war sie von der Liebe ihrer Eltern umhüllt worden.

Beschützt.

Erstickt.

Ein bisschen vielleicht, gestand sie sich ein, während sie dem Chauffeur dankte und das warme Wageninnere verließ. Frostige Winterluft empfing sie, und auf dem Bürgersteig glitzerten Eiskristalle.

Lizzie tippte den Zugangscode ein, in Gedanken immer noch bei ihren Eltern. Sie waren wundervoll gewesen, hatten sie immer unterstützt, und doch war es ein gewaltiger Einschnitt gewesen, als Lizzie für die Krankenpflegeausbildung ihr Zuhause verließ.

Was hatte sie sich für Sorgen um die Eltern gemacht, hin- und hergerissen zwischen schlechtem Gewissen und dem Drang nach Freiheit. Danach, auf eigenen Füßen zu stehen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie haderte noch mit sich, als sie schon einen Auslandsurlaub mit ihrem Freund plante.

Ihrem ersten Freund.

Der Trip fand nie statt.

Am Flughafen erreichte sie die Nachricht, dass ihre Mutter schwer gestürzt war. Zu Peters Ärger stornierte Lizzie die Buchung und kehrte zu ihrer Familie zurück. Voller Schuldgefühle, dass sie überhaupt daran gedacht hatte, wegzufliegen. Von dem Tag an blieb sie, um ihre Mutter zu pflegen, und wagte erst den großen Schritt weg von zu Hause, als ihre Eltern in ein Pflegeheim übersiedeln mussten.

Familien sind kompliziert, dachte sie, während sie das Licht einschaltete und der Kronleuchter über ihr in voller Pracht zu funkeln anfing.

„Ethan!“

Lang hingestreckt und in tiefem Schlaf lag er auf dem Sofa seines Bruders.

„Ethan!“ Er rührte sich kurz, schlief aber weiter.

Lizzie beschloss, Kaffee zu machen und Ethan so zu wecken, wie sie es während seiner Pflege getan hatte – indem sie sämtliche Lichter anknipste.

„Lizzie …“

„Wie in alten Zeiten, was?“ Lächelnd reichte sie ihm seine Tasse.

„Ich habe gearbeitet. Wirklich“, fügte er hinzu, als sie ihn skeptisch ansah. „Um drei hatte ich eine Telefonkonferenz mit einem Arzt von den Salomonen. Ich dachte, Leos Büro macht sich besser im Hintergrund als meine Behausung …“ Er beobachtete, wie Lizzie Leos Schreibtisch inspizierte, ob auch Untersuchungs- und Verschreibungsnotizblöcke bereit lagen. „Wie finden Sie es hier?“

„Interessant. Gestern, an meinem ersten Tag, habe ich mich wirklich wohlgefühlt, und die Wohnung ist ein Traum.“

„Gut.“

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich für diese Stelle vorgeschlagen haben.“

„Das müssen Sie nicht, Lizzie. Sie haben einen Tapetenwechsel mehr als verdient, und wenn jemand dankbar sein sollte, dann ich.“

„Wofür?“, wehrte sie ab. „Ich habe nur Ihre Beine verbunden.“

„Und geredet.“

Lizzie erinnerte sich, wie verschlossen und in sich gekehrt er gewesen war. Da hatte sie einfach draufloserzählt: von ihrer Familie, ihren Eltern, sogar davon, was sie zum Abendessen kochen wollte. Oft auch nur alltägliche Kleinigkeiten, die ihr in den Sinn kamen. Und eines Tages hatte er angefangen, zu reden.

„Sie haben mir geholfen, die Hölle hinter mir zu lassen.“

„Ganz draußen sind Sie noch nicht.“ Lizzie wandte ihm den Rücken zu und begann, die Vorhänge beiseitezuziehen, damit Ethan die Tränen in ihren Augen nicht sah. Ja, er war einen weiten Weg gegangen, und doch lag noch ein beschwerliches Stück vor ihm.

„Warum sind Sie schon so früh hier?“

„Leo will operieren. Marianna müsste bald hier sein …“

„Ah, die Nacht-und-Nebel-Aktionen“, spöttelte Ethan. „Vielleicht lassen Sie die Gardinen lieber zu.“

Stimmt, dachte Lizzie und drehte sich zu ihm um.

„Der rote Teppich liegt wahrscheinlich in einem Schrank im Foyer.“

Lizzie war der bittere Unterton nicht entgangen. „Sie ist nett.“

„Davon bin ich überzeugt.“ Ethan zuckte mit den breiten Schultern. „Lizzie …“ Unschlüssig, wie er seine Bedenken formulieren sollte, schwieg er kurz. „Ich habe Ihnen nicht viel über meinen Bruder erzählt …“

„Er ist großartig.“ Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee. „Okay, unsere erste Begegnung war etwas … ungewöhnlich.“

„An so etwas sollten Sie sich bei Leo gewöhnen.“ Ethan sah, wie sie leicht errötete, während sie geschäftig vorgab, auf Leos Schreibtisch Ordnung zu schaffen. „Er ist ein Playboy, Lizzie. Er verbraucht Frauen wie …“ Er deutete auf den Rezeptblock in ihrer Hand. „Der neue Block wird länger halten als seine nächste Affäre.“

„Das geht mich nichts an“, betonte Lizzie. „Ich bin hier, um den Pflegedienst zu organisieren, nicht sein Liebesleben.“

„Ich wollte Sie nur warnen. Leo ist, wie er ist. Und ein hervorragender Chirurg – auch wenn er seine Fähigkeiten nicht oft nutzt.“

„Er hat mir erklärt, warum.“

„Leo liebt die Überholspur mehr als alles andere.“

Das konnte Lizzie nicht glauben. Hervorragender Chirurg oder nicht, was Leo erreicht hatte, fiel einem nicht zufällig in den Schoß. Sie war überzeugt, dass sich hinter dem glatten, geschmeidigen Äußeren mehr verbarg.

„Lizzie …“ Ethan mochte sie und beschloss, ihr in aller Deutlichkeit reinen Wein einzuschenken. „Er ist ein Schuft. Leo …“

„Ethan, bitte“, unterbrach sie ihn. „Ich brauche keinen großen Bruder, der auf mich aufpasst.“

Sie hatte recht, er fühlte sich verantwortlich für sie, wollte nicht, dass ihr jemand wehtat. Deshalb ruderte er auch nicht zurück, wie er es bei jeder anderen getan hätte. „Ich kenne keine Frau, die Leo wirklich etwas bedeutet hätte …“ Widerstrebend korrigierte Ethan sich. „Nun ja, eine gab es doch.“ Lizzie blickte auf. „Aber es war für beide nichts Ernstes.“ Ethan wand sich innerlich. Er sprach nicht gern über Persönliches, und auf keinen Fall wollte er Lizzie von Olivia erzählen. „Sie sollten wissen, dass Leo …“

„Ich habe verstanden, was Sie mir sagen wollen“, erlöste sie ihn.

„Gut. Vergessen Sie es nicht.“

Beide schwiegen, als eine Wagentür zugeschlagen wurde. Kurz darauf kam Leo herein.

Sein dunkles Haar schimmerte feucht, als wäre er gerade aus der Dusche gekommen, und er duftete dezent nach einem männlich herben Aftershave.

„Lästerst du über mich?“, fragte er seinen Bruder zur Begrüßung.

„Themen gäbe es genug.“

„Glauben Sie ihm kein Wort.“ Das klang nonchalant, doch er musste sich eingestehen, dass es ihm einen Stich versetzte, zu sehen, wie die beiden einträchtig beim Kaffee plauderten. Nicht zum ersten Mal fragte sich Leo, in welcher Beziehung Ethan zu Lizzie stand.

„Ich hole Ihnen einen Kaffee.“ Lizzie stand auf, als Leo seinen Kaschmirmantel auszog und in den Garderobenschrank hängte.

„Schon wieder hier gestrandet?“, warf er Ethan über die Schulter zu.

„Ich hatte eine Telefonkonferenz. Und du erwartest Marianna zu einem wichtigen Eingriff?“

„Genau.“ Leo ignorierte den Seitenhieb. Sein Bruder war der Meinung, dass er seine Fähigkeiten sehr viel besser nutzen könnte, doch Leo hatte nicht vor, sich zu rechtfertigen. Vor allem nicht so früh am Morgen.

„Sehen Sie sich das an“, sagte er zu Lizzie, die mit einer Tasse Kaffee in der Hand wieder hereinkam. „Frisch aus der Druckerpresse.“

„Interessant.“ Lächelnd betrachtete sie das Foto von Marianna beim Verlassen der Klinik. Die Großaufnahme war mit einem weißen Pfeil versehen, der auf die schmale Spur von Fluorescein auf ihrer Wange hinwies. Im Text wurde lang und breit über Hornhautverletzungen berichtet. Der Sprecher des Fürstenhauses bestätigte nicht, dass Marianna von dem kleinen Hund, den Prinz Ferdinand ihr geschenkt hatte, gekratzt worden war. Allerdings dementierte er die Gerüchte auch nicht. „Da ist sogar ein Bild von dem Welpen!“ Lizzie lachte hell auf.

Unbeeindruckt humpelte Ethan aus dem Raum. In der noch leeren Klinik hörte er sie miteinander lachen und reden, während Lizzie alles für die Operation vorbereitete. Er fragte sich, ob er sich klar genug ausgedrückt hatte und seine Warnung bei ihr angekommen war.

Seine Sorge war sicher nicht übertrieben, er hatte bemerkt, wie Leo sie ansah.

Auch Gwen kam früher zur Arbeit als sonst, und bald danach traf Marianna mit ihrem Leibwächter ein.

Sie war entzückt.

„Das haben Sie gut gemacht“, sagte sie zu Leo, als er mit einem lila Stift ihre Augen für die Prozedur markierte. „Ich habe den Artikel auf dem Weg hierher gelesen.“

Leo lächelte zufrieden. „Die meisten werden ihn erst auf dem Frühstückstisch haben, wenn Sie hier längst fertig sind. Ich sage Ihnen noch Bescheid, wie viele Journalisten angerufen haben, um sich einen Termin bei unserem Augenarzt zu holen.“

„Sie beschäftigen einen Augenarzt?“, fragte Lizzie erstaunt.

„Er hält zwei Mal die Woche Sprechstunden ab. Für solche Fälle ideal. Viele Reporter lassen sich einen Termin geben, um an Informationen zu kommen. Aber hier erfahren sie nichts, was sie nicht erfahren sollen.“

Der Mann überlässt nichts dem Zufall, dachte Lizzie voller Bewunderung.

Leo legte einen intravenösen Zugang, um das Beruhigungsmittel zuzuführen. „Wie fühlen Sie sich?“, fragte er Marianna.

„Gut.“

„Okay. Ich werde jetzt Ihre Augenumgebung lokal betäuben.“

„Was wir so alles auf uns nehmen …“, meinte Marianna, während Lizzie ihr ein paar Tränen abtupfte. „Ich hoffe, dass der Medienrummel sich nach der Hochzeit legt.“

Leo zog die Brauen hoch, und die zukünftige Fürstin lächelte. „Ja, ja, ich weiß. Sobald wir unser erstes Kind erwarten, geht alles von vorne los. Aber genau wie Sie habe ich meine Geheimwaffen.“

„Erzählen Sie.“ Über dem Mundschutz vertieften sich die feinen Fältchen um seine Augen.

„Marco.“

Leo lachte und warf Lizzie einen Seitenblick zu. „Prinz Ferdinands jüngerer Bruder. So etwas wie ein Joker – ich kann mir gut vorstellen, dass er geeignet ist, dem Thronfolgerpaar die Schau zu stehlen.“

„Wenn einer von den beiden Brüdern Schlagzeilen macht, dann ist es Marco.“ Marianna gähnte. Das Beruhigungsmittel machte sie schläfrig.

„In letzter Zeit habe ich allerdings nicht viel von ihm gehört.“ Leo vergewisserte sich, dass die Haut um die Augen betäubt war. „Was treibt er so?“

Marianna antwortete nicht, und Lizzie fragte sich schon, ob sie eingenickt war. Doch sie war wach, sagte Leo, sie fühle nicht das Geringste, als er die Schmerzempfindlichkeit mit einer Nadel testete.

„Gut, dann fangen wir an.“ Leo arbeitete lange genug für Prominente und Royals, um die unsichtbare Grenze zu erkennen, wenn eine Frage ignoriert wurde. Wo auch immer sich Prinz Marco aufhielt, Marianna wollte nicht darüber sprechen.

„Schließen Sie bitte die Augen, Marianna, und öffnen Sie sie nur, wenn ich es Ihnen sage.“

Noch nie hatte Lizzie einen Arzt mit so ruhigen Händen gesehen. Es war unglaublich faszinierend, wie präzise Leo vorging.

„Haben Sie schon einmal daran gedacht, etwas machen zu lassen, Lizzie?“, fragte Marianna schläfrig.

Autor

Fiona McArthur

Fiona MacArthur ist Hebamme und Lehrerin. Sie ist Mutter von fünf Söhnen und ist mit ihrem persönlichen Helden, einem pensionierten Rettungssanitäter, verheiratet. Die australische Schriftstellerin schreibt medizinische Liebesromane, meistens über Geburt und Geburtshilfe.

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