Julia Ärzte zum Verlieben Band 76

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ICH WILL DOCH NUR DICH! von ROBERTS, ALISON
"Ich will doch nur dich!" Dr. Rafael de Luca schaut Abbie in die Augen - aber seine Frau weicht dem Blick verlegen aus. Was ist in den drei Monaten passiert, in denen Abbie mit ihrer kleinen Tochter in Amerika war? Hat Rafael seine Liebste für immer verloren?

KÜSSE FÜR DIE TRAUMFRAU von LENNOX, MARION
So viele Jahre sind vergangen - und immer noch ist Ginny seine Traumfrau! Wie gerne würde Ben seine ehemalige Jugendliebe ohne ein einziges Wort in seine Arme ziehen! Doch die Schatten der Vergangenheit bedrohen sein Glück mit Ginny ein zweites Mal ...

EINE HEIßE NACHT MIT DEM PLAYBOY-DOC von MARINELLI, CAROL
Sex? Ja, gerne und so oft wie möglich. Liebe? Auf gar keinen Fall! Mit diesem Motto ist Dr. Dominic Mansfield bisher immer gut gefahren. Bis er auf Bridget trifft. Die sexy Hebamme bringt sein Blut zum Kochen - und fordert von ihm mehr als nur eine heiße Affäre …


  • Erscheinungstag 10.07.2015
  • Bandnummer 0076
  • ISBN / Artikelnummer 9783733702854
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alison Roberts, Marion Lennox, Carol Marinelli

JULIA PRÄSENTRIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 76

ALISON ROBERTS

Ich will doch nur dich!

Im Operationssaal sind sie das „Dreamteam“ – doch im Leben hat sie Rafael vielleicht für immer verloren! Abbie ist verzweifelt: Nur weil sie ihre Tochter retten wollte, hat sie sich ihrem Mann widersetzt. Und er straft sie dafür mit kühler Distanz! Abbie sehnt sich so sehr nach seiner Zärtlichkeit – aber der stolze Italiener scheint nicht bereit, ihr zu verzeihen ...

MARION LENNOX

Küsse für die Traumfrau

Was will er noch von ihr? Sie hat schon klargestellt, dass Ben sie in Ruhe lassen soll! Ginnys Herz schlägt zwar immer noch für ihren einstigen Jugendfreund, und die Vorstellung von seinen Lippen auf ihrer Haut macht sie fast verrückt. Dennoch muss sie dem Mediziner widerstehen: Wenn er erfährt, was in den letzten Jahren passiert ist, wird er sie verachten ...

CAROL MARINELLI

Eine heiße Nacht mit dem Playboy-Doc

Sein Anblick raubt ihr regelrecht den Atem, und diese raue Stimme jagt ihr einen Schauer über den Rücken: In den Armen von Dr. Dominic Mansfield könnte sich Bridget verlieren. Obwohl sie weiß, dass sie es bereuen wird, wenn sie Dominics Versuchung nachgibt. Der Kinderarzt ist dafür bekannt, dass seine Beziehungen selten länger als eine heiße Nacht dauern …

HUNTER CLINIC

DAS TEAM:

 

Dr. Abble de Luca

Pädiatrische Chirurgin

Dr. Rafael de Luca

Pädiatrischer Chirurg

Dr. Leo Hunter

Schönheitschirurg, Chef der Hunter Clinic

Dr. Ethan Hunter

Chirurg, Leos Bruder

Dr Edward North

Mikrochirurg

Dr. Declan Underwood

Chirurg

Dr. Mitchell Cooper

Chirurg

Lizzie Birch

Braut von Leo Hunter

Nicole

Rafaels Sekretärin

Melanie

Krankenschwester

Nicky

Oberschwester

Gwen

Klinikmanagerin

 

 

PATIENTEN:

 

Ella de Luca

Tochter von Abbie und Rafael

Anoosheh

Afghanisches Mädchen

Lucy

Autounfallopfer, sieben Jahre

Angus MacDonald

Baby mit Geburtsfehler

   

UND:

 

Georgio de Luca

Rafaels Vater

Marcella de Luca

Rafaels Schwester

Señora de Luca

Rafaels Mutter

1. KAPITEL

Eigentlich sollte es doch nur ums Gewinnen gehen.

Oder? Der Zweck heiligt die Mittel, stimmte das etwa nicht?

Natürlich tat er das. Daran konnte in diesem Fall kein Zweifel bestehen. Das kleine, in eine Decke gehüllte Bündel in den Armen von Abbie de Luca war der lebende Beweis dafür. Die Schlacht, die sie hatte schlagen müssen, war schwer genug gewesen und hätte sie um ein Haar vernichtet. Aber sie hatte gewonnen.

Nein, Ella hatte gewonnen. Ihr kostbares Baby, das noch nicht einmal ein Jahr alt war, hatte gegen die mörderische Krankheit akuter lymboblastischer Leukämie in einem Alter gekämpft, in dem ihre größte Herausforderung eigentlich darin bestanden hätte, die ersten Schritte zu machen. Die Tatsache, dass man sie vom einzigen Ort auf der ganzen Welt, wo es die neue, radikale Behandlungsform gab, wieder weggeschickt hatte, damit Ella sich im Lighthouse Children’s Hospital in London erholen konnte, bewies, dass sie die Schlacht gewonnen hatten. Von hier aus war es nicht mehr weit nach Hause.

Aber gab es dieses „Zuhause“ überhaupt noch?

Für Abbie oder ihre Tochter?

Nachdem das Flugzeug aus New York in Heathrow gelandet war, hatten sie vor allen anderen Passagieren als Erste durch den Zoll gehen dürfen – fast, als wären sie Mitglieder der königlichen Familie. Das hätte Abbies Triumph darüber, den Kampf gewonnen zu haben, eigentlich noch verstärken müssen.

Warum hatte sie dann das Gefühl, ein neues Schlachtfeld zu betreten? Eines, das kaum weniger grausam war als der Überlebenskampf der letzten drei Monate, in denen sie mit ihrer kleinen Tochter außer Landes gewesen war?

„Draußen wartet ein Krankenwagen auf Sie, Mrs De Luca.“ Der Zollbeamte warf einen Blick auf den Rollstuhl neben ihr. „Gehört der zu Ihnen?“

„Nein, der geht mit dem nächsten Flieger wieder zurück.“ Abbie wickelte Ella aus der Decke und machte die Elektroden von der Überwachungsausrüstung los. „Das war nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wir haben nicht einmal die Sauerstoffflaschen gebraucht.“ Sie hatten auch keinen medizinischen Begleitschutz benötigt. Das war eine der wenigen Vorteile, die ein Kind hatte, dessen Mutter pädiatrische Chirurgin war. Der gravierende Nachteil war jedoch, dass sie deshalb auch mehr über die Krankheit wusste.

Ella rührte sich in ihren Armen, wachte aber nicht auf. Abbie nahm sich einen Moment lang Zeit, um den Verbindungsschlauch des Zentralvenenkatheters am Schlüsselbein des Babys zu überprüfen, und vergewisserte sich, dass die Medikamente weiterhin ungehindert durch die Spritzenpumpe fließen konnten. Dann wickelte sie Ella wieder fürsorglich in die Decke ein und gab ihr einen Kuss auf den Kopf mit den wenigen Haaren, die ihr nach der Chemotherapie noch geblieben waren.

Bevor die Kleine wieder einschlief, strich sie mit ihrer kleinen Hand leicht über die Wange ihrer Mutter – als wollte sie sich vergewissern, dass sie in Sicherheit war. Vielleicht lächelt sie ja, dachte Abbie. Leider war das nicht zu sehen, weil Ella noch die Maske trug, die sie während des Flugs vor Infektionen hatte schützen sollen.

Die Geste verfehlte ihre Wirkung auf die Umstehenden nicht.

„Oh …“ Der stämmige Zollbeamte lächelte. „Was für ein süßes kleines Ding!“

„Hinreißend“, sagte der Flugbegleiter, der den Rollstuhl geschoben hatte. „Ich freue mich so sehr für Sie, dass sie wieder gesund werden wird.“

„Danke, Damien.“ Abbie hatte einen dicken Kloß im Hals. Sie war mehr als glücklich über die günstige Prognose, die die Ärzte ihrer Tochter gestellt hatten. „Und danke noch mal, dass Sie sich während des Flugs so gut um uns gekümmert haben.“

„Es war ein Privileg für mich. Holt Sie jemand ab?“

Sie nickte. „Ja, auf uns wartet ein Krankenwagen. Er wird uns zum Lighthouse Children’s Hospital bringen, wo ich arbeite.“

Aber der Flugbegleiter schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. „Nein … ich meinte … Sie wissen schon …“

Abbie wusste nur zu gut, was er meinte. Nämlich einen Freund oder nahen Verwandten. Wie zum Beispiel Ellas Vater?

„Vielleicht. Wir haben den Flug erst in allerletzter Minute bekommen. Das Team aus New York hat den Transport organisiert, aber ich habe keine Ahnung, wer sonst noch darüber informiert ist.“

Sie hatte versucht, Rafael anzurufen, jedoch nur den Telefonservice erreicht. Offensichtlich war Mr De Luca den ganzen Tag im OP. Konnten sie ihm etwas ausrichten? Nein, hatte Abbie erwidert. Sie würde ihn noch früh genug sehen.

Würde es zu früh sein? Um diese Schlacht schlagen zu können, hatte sie ihre Ehe aufs Spiel gesetzt. Vielleicht konnte sie den Erfolg ja deshalb auch nicht richtig genießen.

Möglicherweise war der Preis zu hoch gewesen.

„Abbie …“ Der Mann, der gerade auf sie zukam und der Zugang zum Zollbereich hatte, war kein Flughafenangestellter.

„Hallo!“ Damien war sichtlich beeindruckt von dem hochgewachsenen, attraktiven Neuankömmling. „Ist das Ellas Daddy?“

„Nein.“ Abbie schüttelte verwundert den Kopf. „Das ist eher mein Boss.“ Und eine sehr stattliche Erscheinung, auch außerhalb einer medizinischen Umgebung.

„Ethan“, sagte sie erstaunt, „was machst du denn hier?“

„Oh, ich habe zufällig gehört, wann ihr ankommen solltet. Der Anruf war eigentlich für Rafael bestimmt, aber er muss den ganzen Tag operieren. Daher dachte ich, ich hole euch persönlich ab. Als Empfangskomitee, sozusagen.“

Wer hätte für diese Aufgabe besser geeignet sein können als einer der beiden Hunter-Brüder, denen die renommierte Londoner Klinik für plastische Chirurgie gehörte, bei der Ellas Eltern als pädiatrische Chirurgen im Bereich Kinderheilkunde angestellt waren? Die Klinik, die es Ella ermöglicht hatte, in Begleitung ihrer Mutter nach Amerika zu fliegen, um sich dort der experimentellen, riskanten Operation zu unterziehen, die ihre einzige Heilungschance gewesen war.

„Weiß … weiß Rafael, dass wir wieder zurück sind?“

„Nein, noch nicht.“ Ethans Blick war unergründlich. „Er muss heute einen ziemlich schweren Fall operieren und steht sehr unter Stress. Ich … ich wollte ihn nicht ablenken. Aber ich sage ihm Bescheid, sobald er aus dem OP kommt, das verspreche ich dir.“

Abbie nickte. Sie spürte genau, dass es noch um etwas anderes ging. Warum sollte Ethan Rafael vorwarnen, bevor es zu einem Wiedersehen kam? In letzter Zeit hatten sie nur noch über SMS und E-Mails miteinander kommuniziert. Standen die Dinge schon so schlecht zwischen ihnen? Brauchten sie vielleicht einen Mediator, um die Sorgerechtsfragen für ihr gemeinsames Kind zu klären? Das wäre ja wirklich traurig!

„So, Sie können jetzt gehen.“ Der Zollbeamte stempelte ihre Pässe ab. „Draußen wartet der Krankenwagen auf Sie. Wir schicken Ihr Gepäck mit dem Taxi nach, sobald es ausgeladen wurde.“

Ethan griff nach Abbies Reisetasche und betrachtete besorgt das kleine Bündel in ihren Armen. „Geht das für dich? Oder soll ich Ella lieber tragen?“

Abbie schüttelte fest den Kopf. „Nein, kein Problem.“

Sie dachte nicht daran, ihr Baby einem anderen zu überlassen, auch wenn es von Minute zu Minute schwerer zu werden schien. Kein Wunder, denn sie war schließlich total erschöpft. Die letzten Monate forderten ihren Tribut, körperlich wie seelisch, aber sie konnte sich jetzt keine Schwäche leisten.

Schließlich stand sie kurz vor einer neuen Schlacht.

Doch wenigstens hatte sie einen Verbündeten. Ethan war ein Kriegsheld, er hatte sich in Afghanistan durch seinen heroischen Einsatz ausgezeichnet. Das erklärte auch sein leichtes Humpeln, mit dem er sie zum Krankenwagen begleitete. Ihr kleiner Zug erregte einiges Aufsehen, aber Ethan schenkte den neugierigen Blicken der Umstehenden keine Beachtung.

Als sie dann auf dem Weg in die Innenstadt hinten im Krankenwagen saßen, erwähnte er Abbie gegenüber nichts von irgendwelchen Schwierigkeiten, auf die sie sich einstellen musste.

Rafael und er waren zwar befreundet, aber sie waren auch Männer. Ob sie sich in ihrer Abwesenheit nähergekommen waren? Vielleicht hatten sie hin und wieder Karten gespielt und ein oder zwei Gläser Whisky getrunken. Ob es dabei zum Austausch von Vertraulichkeiten gekommen war? Möglicherweise hatte Ethan Rafael ja daran erinnert, dass seine Chancen auf eine glückliche Ehe von Anfang an nicht besonders gut gewesen waren. Zwar hatten Abbie und er sich Hals über Kopf ineinander verliebt, sich aber eigentlich nicht besonders gut gekannt, als sie beschlossen hatten zu heiraten. Der Auslöser dafür war natürlich ihre Schwangerschaft gewesen.

Dieses Baby, das dann zur Welt gekommen war, schlief glücklicherweise in diesem Moment immer noch tief und fest. Ethan saß Abbie gegenüber. Die Crew des Krankenwagens saß vorn, sie unterhielten sich angeregt miteinander.

Der Verkehr beruhigte sich langsam, als sie in die Great Western Road einbogen. Eine perfekte Gelegenheit, um ein paar Informationen aus Ethan herauszuholen, dachte Abbie. Doch sie merkte, wie nervös sie war. Ihr war klar, dass sie nicht einfach aussprechen konnte, was ihr auf dem Herzen lag. Dennoch musste sie einen Vorstoß wagen.

Ihre Stimme zitterte verräterisch, als sie fragte: „Wie sieht’s denn in der Klinik aus?“

„Prima. Wir haben alle Hände voll zu tun. Hast du in der Presse nichts über unseren letzten Fall gelesen?“

„Nein, ich … äh, ich fürchte, ich habe nichts davon mitbekommen. Ist das ein pädiatrischer Fall?“

„Ja. Es geht um Anoosheh, ein zehnjähriges afghanisches Mädchen. Sie kam zu uns, nachdem ihr Waisenhaus evakuiert wurde. Wegen ihrer Krankheit hatte ihre Familie sie schon als Säugling verstoßen. Im Waisenhaus wurde sie als Küchenmädchen ausgenutzt, und man hat sie von allen Besuchern ferngehalten, die Kinder adoptieren wollten. Jetzt hat sie eine Neurofibromatose in der Größe einer Melone, von der die eine Gesichtshälfte befallen ist. Außerdem ist sie auf einem Auge blind, und ihre Atemwege sind beschädigt.“

„Oh, die arme Kleine!“

„Die heutige OP wird nicht die letzte sein, aber wir hoffen, das Ergebnis ist gut genug, um den Leuten zu beweisen, dass sie ein liebenswertes Mädchen ist. Die Presse ist sofort auf den Fall angesprungen, es gab bereits einige Angebote zur Adoption. Wahrscheinlich wartet ein ganzer Haufen Reporter auf Rafael, sobald er aus dem OP kommt. Glücklicherweise hat er ein Händchen für die Medien.“

„Stimmt, darin ist er wirklich gut.“

Hing das damit zusammen, dass er Abstand von seinen Gefühlen hatte und stets in der Lage war, das gesamte Bild zu sehen?

So wie bei der traumatischen Prognose seiner eigenen Tochter?

Abbies Herz pochte dumpf in ihrer Brust. Sie holte tief Atem. „Das heißt, er … geht es ihm gut?“

„Scheint so.“ Erneut gab es eine kleine Pause. Ethan rang offensichtlich damit, ob er noch mehr sagen sollte. Dann warf er Abbie einen kurzen Seitenblick zu. „Ich glaube, ich habe noch nie gesehen, dass jemand sich so komplett in die Arbeit stürzt. Er hat jeden Fall angenommen, den er noch irgendwie in seinen Terminplan hineinquetschen konnte. Daher habe ich ihn auch kaum zu Gesicht bekommen.“

Aha. Wenn er so reagiert hatte, war es unwahrscheinlich, dass Rafael seinen Irrtum zugeben und eingestehen würde, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte. Er hatte Abbie nämlich vor das Ultimatum gestellt, dass es mit ihrer Ehe aus sein würde, wenn sie Ella mit nach Amerika nahm.

Er hatte den Standpunkt vertreten, dass das Risiko zu groß war. Sie hatten nicht das Recht, ihrer kleinen Tochter so viel Leid zuzumuten, wenn die Erfolgschancen so gering waren.

Doch hatte Abbie am Ende nicht recht behalten? Hatte die Tatsache, dass die Behandlung angeschlagen hatte, ihre Entscheidung nicht gerechtfertigt? Und würde Rafael nicht glücklich über die Aussicht sein, dass Ellas Überleben gesichert war?

Vielleicht. Doch es ging noch um mehr. Er war Abbies Ehemann, und er hatte seinen Stolz. Wie viel Schaden hatte sie ihrer Beziehung dadurch zugefügt, dass sie sich gegen ihn gestellt hatte?

Und, was noch viel schlimmer war – sie hatte ihm sein Baby weggenommen. Das Baby, das er vergötterte. Sie hatte den Schmerz in seinem Blick gesehen, als sie ihn mit ihrer Tochter auf dem Arm verlassen hatte. Er war nicht davon ausgegangen, dass er Ella lebend wiedersehen würde. Wie furchtbar wäre es gewesen, wenn er am Ende recht behalten hätte? Nein, Abbie konnte seinen Hass auf sie durchaus verstehen.

Sie hatte Ella in den Armen gehalten und auf der ganzen Fahrt nach New York nur geweint.

Und Rafael hatte sich anscheinend in die Arbeit gestürzt. Das hatte sie schon geahnt, denn er hatte immer äußerst distanziert geklungen, als sie miteinander am Telefon gesprochen hatten. Auch seine E-Mails waren sehr unpersönlich gewesen. Er hatte sich in seiner Arbeit vergraben und ihr die kalte Schulter gezeigt, obwohl sie seine Unterstützung in den schweren Tagen bitter nötig gehabt hätte. Abbie war einsam und verzweifelt gewesen. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass Rafael sich von ihr und Ella abgewandt hatte.

War es mit ihrer Ehe vorbei?

Es wäre nicht fair von ihr, wenn sie Ethan jetzt noch mehr ausquetschte.

Sie musste mit Rafael direkt sprechen.

Nein, sie musste ihn sehen. Ihre Sehnsucht nach ihm wurde von Minute zu Minute stärker, als ob ihr Körper sich an ihn erinnern würde, je näher sie ihm kam. Sie liebte ihren Mann noch immer. Ja, sie hatten sich voneinander abgewendet, und sie hatten einander viel zu verzeihen. Aber die Liebe war noch immer da, und sie würde auch immer da sein.

Rafael würde Ella in seinem Leben willkommen heißen, daran hegte sie keinen Zweifel. Aber würde er auch sie willkommen heißen?

Die Vorstellung, dass der Riss zwischen ihnen nie heilen würde, war schrecklich.

Abbie riss sich zusammen und lächelte Ethan bemüht an. „Was ist sonst noch passiert? Haben Leo und Lizzie sich schon auf einen Termin für die Hochzeit geeinigt?“

„Ja, sie wird am letzten Samstag im April stattfinden.“

„Wirklich? Großer Gott … das ist ja schon in ein paar Wochen!“

„Das musst du mir nicht sagen. Eine kleine Feier wäre leicht zu organisieren gewesen, aber natürlich musste es eine Prunkhochzeit im Claridge’s sein. Ich gebe mir Mühe, mich aus dem Ganzen so gut wie möglich herauszuhalten.“

Abbie lächelte. „Viel Glück!“

Ethan schnaubte. „Naja … bis jetzt hatte ich damit nicht viel Erfolg. Lizzie hat mich überredet, ihr Trauzeuge zu sein. Das bedeutet, ich werde eine Rede halten müssen.“

„Ach, das kriegst du schon hin, auch wenn du bis dahin nicht viel Zeit hast. Aber warum eilt es ihnen denn damit so?“

Er zuckte die Schultern. „Ich glaube, sie wollen einfach nicht länger warten. Sie sind sehr verliebt.“

Etwas in seinem Ton bewirkte, dass das Gespräch an diesem Punkt abbrach. Abbie wusste nicht genau, was die Entfremdung zwischen den beiden Hunter-Brüdern ausgelöst hatte. Aber wie jeder andere, der in der Klinik arbeitete, war ihr die Spannung bewusst, die zwischen ihnen herrschte. Die Tatsache, dass Lizzie Ethan dazu überreden musste, ihr Trauzeuge zu sein, war Beweis genug dafür, dass die Dinge zwischen ihnen immer noch nicht zum Besten standen.

Aber worum mochte es noch gehen? Was hielt Ethan vor ihr zurück? Freute er sich für Leo, oder hatte er Zweifel, dass die Ehe glücklich sein würde? Vielleicht galten Rafael und sie ja als schlechtes Beispiel für eine viel zu übereilte Hochzeit.

Abbie spürte plötzlich den Kloß in der Kehle und versuchte, tief durchzuatmen. Um sich abzulenken, beugte sie sich über Ella und strich ihr sanft über die Wange.

Doch es gelang ihr nicht, das Thema zu verdrängen. Auch Rafael und sie waren einmal so verliebt gewesen. Das war noch gar nicht so lange her. Eigentlich sollten sie noch in den Flitterwochen sein, aber davon war keine Rede mehr.

Ihre perfekte Verbindung, die zudem noch so schnell mit einem Kind gesegnet war, war durch einen grausamen Streich des Schicksals zerstört worden.

Und jetzt kehrte Abbie an den Ort zurück, an dem das alles angefangen hatte.

Jetzt würde sich zeigen, ob es möglich war, die Scherben des Puzzles wieder zusammenzufügen.

Ein Blick durch die getönten Scheiben des Krankenwagens zeigte ihr, dass sie gerade am Regent’s Park vorbeifuhren. Die Doppeldeckerbusse und die schwarzen Taxen waren ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie wieder in London waren. Es tat so gut, wieder zu Hause zu sein. Jetzt kam das große Backsteingebäude an der Ecke der Harley Street in Sicht – direkt daneben lag die Hunter Clinic.

Ethan folgte ihrem Blick. „Hast du es vermisst?“

„Oh ja, sehr.“ Trotzdem spürte Abbie eine gewisse Distanz. Als würde es sich um ein früheres Leben handeln. Wie schwer würde es sein, den Weg zurückzufinden?“

„Glaubst du, du kannst schon wieder arbeiten? Wir brauchen dich so schnell wie möglich. Ich weiß, dass alle es kaum erwarten können, dich wieder an Bord zu sehen.“

„Ich könnte morgen anfangen.“

„Wirklich? Das wäre großartig. Aber wirst du dich nicht zuerst um Ella kümmern müssen?“

Abbie lächelte bitter. „Die Krebsstation im Lighthouse Hospital ist das einzige Zuhause, das Ella wirklich gut kennt. Schließlich hat sie die meiste Zeit ihres Lebens dort verbracht. Und das Personal dort ist für sie wie eine Familie. Je eher wir wieder in das normale Leben zurückfinden, desto besser ist es für uns beide.“

Für uns alle, fügte sie im Stillen noch hinzu.

Rafael de Luca streifte sich die blutigen Gummihandschuhe ab und warf sie in den Mülleimer. Dann zog er an seinem Mundschutz, knüpfte die Bänder auf und entsorgte ihn ebenfalls.

Endlich konnte er wieder frei atmen. Nicht nur wegen der fehlenden Maske, sondern weil die Operation, die ihn heute viele Stunden lang auf den Beinen gehalten hatte, besonders zermürbend gewesen war.

Aber sie hatten einen guten Job gemacht. Jeder Einzelne seines Teams hatte seine Aufgabe zu Rafaels voller Zufriedenheit erfüllt. Das war eine große Leistung, denn es handelte sich nicht unbedingt um Mitarbeiter, die er freiwillig ausgewählt hätte. Aber schließlich hatte er sich nach Abbies Verschwinden mit dem begnügen müssen, was da war.

Sie waren als das „Dream Team“ in der Klinik bekannt. Noch nie zuvor hatte es bessere Partner in einem Operationssaal gegeben. Daher hatte es niemanden überrascht, dass sie sich auch privat gefunden hatten.

Ha …

Das Ganze konnte man nur eine Ironie des Schicksals nennen. Normalerweise verbot Rafael sich, darüber nachzudenken, welchen Verlust er durch Abbies Verschwinden erlitten hatte. Heute war ihm dieser Vergleich nur gekommen, weil er so unglaublich erschöpft war. Sein Rücken schmerzte höllisch, und seine Augen tränten, weil er die ganze Zeit für die Feinarbeit durch mikroskopisch kleine Linsen hatte sehen müssen, und außerdem plagten ihn starke Kopfschmerzen.

Nachdem er den Kittel abgelegt und ebenfalls in den Mülleimer gestopft hatte, stieß Rafael die Türen auf und verließ den OP. Er hatte noch ein bisschen Zeit, bevor er nach der kleinen Anoosheh sehen würde, und im Moment schien es auch keine besorgten Familien zu geben, mit denen er sprechen musste. Daher würde er sich jetzt erst einmal eine heiße Dusche gönnen, und rasieren musste er sich auch noch.

Bestimmt warteten draußen schon die Reporter auf ihn, die wissen wollten, wie die Operation verlaufen war. Aber man konnte es ihm nicht übelnehmen, dass er sich erst einmal frisch machen wollte, bevor er vor die Presse trat. Vielleicht war das ja auch gar nicht nötig. Denn draußen wartete Ethan Hunter auf ihn. Das war der perfekte Gesprächspartner für die Medien. Nicht nur gehörte ihm die Klinik zur Hälfte – er war es auch, der Anoosheh für die Operation nach London geholt hatte, die ihr Leben retten sollte.

„Rafael … wie ist es gelaufen?“

„Gut.“ Er nickte Ethan zu. „So gut, wie wir gehofft haben. Der Tumor konnte entfernt werden. Jetzt hat sie eine Titanplatte im Kiefer, und wir haben ihre nasalen Durchgänge rekonstruiert. Darüber hinaus gibt es noch einiges zu tun, aber dazu muss sie sich erst einmal von der Operation erholen.“ Das betraf vor allem die Feinarbeit wie das Entfernen überflüssigen Narbengewebes und die Neupositionierung der Gesichtszüge. Also genau die Arbeit, in der Abbie Meisterin war.

Rafael seufzte erschöpft und rieb sich die Stirn. Verdammt, wie müde er war!

„Und das Auge?“

„Es sieht so aus, als könnte es gerettet haben. Das werden wir wissen, sobald die Narben geheilt sind.“

„Prima. Das kann ich ja schon einmal der Presse mitteilen.“

„Grazie.“ Rafael lächelte mühsam. „Dafür bin ich dir sehr dankbar. Dann kann ich jetzt schnell duschen und danach nach Hause fahren.“ Plötzlich fiel ihm Ethans eigenartiger Gesichtsausdruck auf. „Was ist? Soll ich mich doch den Kameras stellen?“

„Nein, darum geht es nicht. Es geht um …“

„Was denn?“

„Abbie“, erwiderte Ethan ruhig.

Rafaels Herz machte einen Satz und fing dann heftig zu klopfen an. Es war etwas passiert. Mit Ella? Oh nein … bitte nicht! Bitte nicht das …

„Sie ist hier, Rafael“, verkündete Ethan. „Sie sind beide hier. Ella wurde auf die Kinderkrebsstation verlegt, um sich hier zu erholen.“

Rafael starrte ihn nur an. Warum wusste er nichts darüber? Warum hatte Abbie ihn nicht kontaktiert? Weil sie nicht einmal mehr mit ihm reden wollte? Stand es inzwischen so schlecht um sie?

„Es war offensichtlich eine Entscheidung in letzter Minute“, fuhr Ethan fort. „Der Anruf kam, als du mit der Operation schon begonnen hattest. Ich dachte, es wäre besser, wenn du nichts davon erfährst, damit du nicht abgelenkt wirst. Daher bin ich selbst zum Flughafen gefahren, um sie abzuholen.“

Rafael blieb stumm. Das Ganze war nicht Ethans Schuld. Aber bestimmt war die Entscheidung, Ella nach London zu überweisen, schon vor Tagen gefallen. Abbie hätte ihn darüber informieren müssen. Doch vielleicht hatte sie es ja versucht. Er war so mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, dass er zwei Tage lang nicht dazu gekommen war, seine Mails zu checken. Dasselbe galt für den Telefonservice.

Aber das war jetzt ja auch völlig egal.

Sie waren hier.

Die beiden Menschen, die ihm im Leben am allerwichtigsten waren, waren hier im Gebäude. Was stand er also noch hier herum?

„Ich muss zu ihnen“, sagte er bestimmt. „Ich muss sie sehen.“

Die Dusche war vergessen. Voll neuer Energie lief Rafael die Treppen hoch und eilte im Sturmschritt durch die Gänge. Bestimmt dachten alle, die ihn sahen, es würde sich um einen Notfall handeln.

Erst kurz vor der Tür zur Kinderkrebsstation bremste er ab. Er hatte Abbie erblickt, die im Flur stand. Plötzlich hatte er das Gefühl, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gerannt.

Es war zwölf Wochen her, dass er sie zuletzt gesehen hatte.

Die Frau, die er geheiratet hatte. Die Liebe seines Lebens. Die Mutter seines Kindes.

Aber beim letzten Mal hatte sie ihm dieses Kind weggenommen. Sie hatte sich gegen seinen Wunsch gesperrt und damit das Ende ihrer Ehe riskiert.

Inzwischen wusste er, dass es ein Fehler gewesen war, ihr dieses Ultimatum zu stellen. Es war falsch von ihm gewesen, Ella diese Behandlung zu versagen. Dieses Wissen war wie ein Messer, das sich in seine Eingeweide gebohrt hatte. Und als sich herausstellte, dass die Behandlung erfolgversprechend war, hatte es sich noch tiefer hineingebohrt.

Außerdem war ihm klar, dass Abbie ebenfalls durch die Hölle gegangen war und dass er nicht da gewesen war, um sie zu beschützen. Er hatte sie im Stich gelassen, weil sein Stolz ihm nicht gestattet hatte, sich bei ihr zu entschuldigen.

Bestimmt hasste sie ihn jetzt dafür.

Bis jetzt hatte sie ihn noch nicht gesehen. Sie blickte durch eine Glasscheibe in das Zimmer vor ihr. Wahrscheinlich sah sie Ella beim Schlafen zu.

Rafael fiel auf, dass sie abgenommen hatte.

Die weiblichen Kurven, die ihm als Erstes aufgefallen waren, als sie begonnen hatten, im Lighthouse Hospital miteinander zu arbeiten, waren fast verschwunden. Ihre Jeans schienen viel zu groß, und selbst ihr goldblondes Haar, das jetzt zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden war, hatte an Volumen verloren.

Abbies ganze Haltung wirkte gebückter, als er es in Erinnerung hatte. Sie sah nicht mehr aus wie die starke, unabhängige Frau, in die er sich verliebt und die er geheiratet hatte.

Wie schwer mochte das alles für sie gewesen sein?

Rafael brach es das Herz. Sein erster Impuls war, zu ihr zu eilen und sie in die Arme zu schließen. Er wollte sie an seine Brust drücken und ihr Versprechungen machen. Wollte ihr versichern, dass alles gut sein würde. Dass er sie immer lieben würde. Dass er nie wieder zulassen würde, dass das Leben so mühsam für sie war.

Aber wie sollte er das anstellen? Die Distanz zwischen ihnen konnte durch eine einfache Umarmung nicht überbrückt werden. Und was sollte er tun, wenn sie ihn wegstieß? Seit sie ihn verlassen hatte, war sein Stolz schwer angeschlagen. Außerdem gab es nur ein Versprechen, dass er ihr ehrlichen Herzens machen konnte.

Dass er sie immer lieben würde.

Würde ihr das genügen?

Vielleicht fand er es jetzt ja heraus.

So nervös wie in diesem Moment war er nicht einmal vor einer Operation gewesen, selbst wenn er wusste, dass er vor einer gewaltigen Aufgabe stand.

Seine Stimme wollte ihm kaum gehorchen. Er konnte nur ein einziges Wort sagen.

„Abbie …“

2. KAPITEL

„Abbie …“

Noch bevor sie sich umdrehte, wusste sie, dass es Rafael war. Niemand sprach ihren Namen so aus wie er. Das hing nicht nur mit seinem italienischen Akzent zusammen oder mit seiner tiefen, vollen Stimme. Es schwang immer ein Hauch von … Verwunderung darin mit. Vielleicht sogar von Verehrung? Als wäre sie die tollste Frau auf der ganzen Welt, etwas ganz Besonderes.

Einzigartig. Unverwechselbar. Genau wie er.

Abbie wappnete sich innerlich für den Anblick ihres Mannes. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie lange sie sich nicht mehr gesehen hatten. Ziemlich lange, wie es schien.

Drei Monate.

Aber in diesem Moment kam es ihr wie drei Jahre vor.

Was würde sie in seinem Gesicht sehen? Die Freude darüber, dass sie ihre Tochter zurückgebracht hatte? Wut über ihr eigenmächtiges Handeln oder wenigstens Verstimmung?

Einen Widerhall des furchtbaren Schmerzes, den sie in seinen Augen gesehen hatte, bevor sie ihm Ella weggenommen und mit ihr verschwunden war?

Als sie sich schließlich umdrehte und sah, dass er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, musste sie sich ein zweites Mal wappnen.

Wie hatte sie nur vergessen können, welche Wirkung dieser Mann stets auf sie hatte? Nicht nur rein körperlich oder emotional. Es war ein Gefühl, das tief aus dem Bauch heraus kam und sie bis in die Eingeweide erschütterte.

Es raubte ihr den Atem. Ihr Herz machte einen Satz.

„Rafe …“

Abbie versuchte zu lächeln, aber es wollte ihr nicht gelingen. Ihre Lippen verweigerten ihr den Dienst. Sie konnte ihn nur anstarren und versuchen, ihre Eindrücke zu sammeln.

Oh Gott, er sah unglaublich müde aus! Als hätte er seit Wochen nicht mehr geschlafen und sich nur hin und wieder rasiert. Beim Friseur war er anscheinend auch schon länger nicht mehr gewesen.

Ja, es ließ sich nicht leugnen. Er sah erschöpft aus. Und misstrauisch, aber nicht wütend.

Er sah … wunderbar aus.

Hochgewachsen, schmal und genauso attraktiv wie beim ersten Mal, als sie ihn gesehen hatte. Trotz allem, was geschehen war, spürte Abbie eine Reaktion in ihrem Körper, ein Ziehen im Unterleib, wie eine Antwort auf seine Nähe. Gleichzeitig war ihr klar, dass es um sehr viel mehr ging als nur um die körperliche Anziehungskraft.

Sie kannten sich so gut. Auf so vielen Ebenen. Sie waren zwei Hälften eines Ganzen.

Sie liebten sich.

Oder wenigstens hatten sie sich einmal geliebt.

Wenn Rafael doch nur lächeln würde! Oder näher kommen würde! Wenn er nur die Arme ausbreiten würde, damit sie in eine Umarmung sinken konnte, die auf magische Weise all den Schmerz auslöschen würde, den sie einander zugefügt hatten!

Aber er rührte sich nicht, sondern starrte sie nur an – ein Spiegelbild ihrer eigenen intensiven Prüfung seiner Erscheinung.

„Wie geht es dir, Abbie?“

„Mir geht’s …“ Sie versuchte, „gut“ zu erwidern, aber das Wort wollte ihr nicht über die Lippen kommen. Es ging ihr gar nicht gut, im Gegenteil. Sie fühlte sich überfordert und verunsichert. „Ich … ich bin okay. Nur ein bisschen müde. Es war ein anstrengender Tag.“

Es waren anstrengende drei Monate gewesen.

Eine traumatische Reise, die sie allein hatte unternehmen müssen. Abbie schluckte und spürte, wie ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzog. „Und du? Wie geht es dir, Rafe?“

„Ich … ich bin auch okay … denke ich.“ Nervös strich er sich durchs Haar, mit einer vertrauten Geste, die ihr durch und durch ging. Das Wiedersehen überwältigte ihn anscheinend genauso sehr wie sie. Er wusste offensichtlich nicht, was er sagen sollte.

„Ich … das kommt jetzt alles ein wenig unerwartet. Es ist …“

„Sehr plötzlich, ich weiß.“ Eigenartig – Abbie war so verletzt von seinem Handeln, doch gleichzeitig verspürte sie großes Mitgefühl mit ihm. „Ich hätte dir gern früher Bescheid gesagt, aber … es ist einfach so passiert.“

Er schien ihr nicht zu glauben, was sie gut nachvollziehen konnte. Die Entscheidung, Ella wieder nach London in die Klinik zu bringen, damit sie sich hier erholen konnte, war erst in den letzten Tagen gefallen. Die Kleine war noch immer ziemlich angegriffen, und Abbie hatte jede Minute damit verbracht, den Transport zu organisieren.

„Wir hatten Glück, dass wir gestern noch einen Flug erwischen konnten und dass gleichzeitig ein Bett hier im Lighthouse Hospital frei wurde. Ellas Werte waren so gut, dass Dr. Goldstein glaubte, das Risiko des Flugs eingehen zu können. Plötzlich ging alles ganz schnell und …“

Abbie brach ab, weil sie merkte, dass ihre Stimme ihr nicht mehr gehorchen wollte. Konnte sie Rafael beichten, woran sie als Erstes gedacht hatte, als feststand, dass sie abreisen würden? Nämlich dass sie sich unglaublich danach sehnte, ihn wiederzusehen? Dass die Vorstellung, er könnte seine Tochter in den Armen halten und erkennen, wie viel besser es ihr ging, ihr Herz mit so viel Liebe erfüllt hatte, dass sie dachte, es würde platzen?

Nein. Das konnte sie ihm nicht sagen, weil er gerade selbst zu sprechen begonnen hatte. Rafael musste seine Frage wiederholen.

„Wie ist das Ergebnis? Wie sind die Tests ausgefallen?“

War das jetzt noch wichtig? Diese Frage stellte der Arzt, nicht der Vater. War er emotional immer noch so distanziert? Das hatte im Grunde ja ihre Trennung ausgelöst. Die Art, wie er es schaffte, sich der Elternrolle zu entziehen und alles nur durch die professionelle Brille zu betrachten.

„Sie haben gestern eine Knochenmarkbiopsie gemacht und die Blutwerte getestet. Wir wussten schon, dass sie das gefährliche Zytokin-Freisetzungssyndrom überwunden hatte, das eine Nebenwirkung der Behandlung war. Ob aber die T-Zellen-Therapie funktionieren würde, wussten wir nicht.“

„Und …“ Es sah so aus, als ob Rafael einen großen Kloß im Hals hätte, „sieht es jetzt gut aus?“

Das war typisch für den Arzt, der genaue Zahlen haben wollte. Abbie hatte natürlich eine Kopie der Testresultate für ihn in der Tasche. Aber was war mit dem Vater? Zu wissen, dass es eine echte Heilungschance gab, würde doch eine so unglaubliche Erleichterung sein, dass die Zahlen überhaupt keine Rolle mehr spielten.

Sie nickte und gab sich einen Ruck. „Ihr Immunsystem muss immer noch gestärkt werden, und in drei Monaten wird es eine weitere Knochenmarkbiopsie geben, aber …“ Sie holte tief Luft und versuchte, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. „Es sieht gut aus, Rafe. So gut, wie ich gehofft hatte. Die Behandlung war erfolgreich.“

So gut, wie sie gehofft hatte?

Durch die Wahl des Pronomens stieß sie ihn wieder weg – genau in dem Moment, als er sie eigentlich in die Arme schließen wollte, damit sie Ellas wundersame Heilung feiern konnten.

Aber letztlich hatte sie ja recht. Er war derjenige gewesen, der sich diese Hoffnung nicht gestattet hatte. Als Abbie von der neuen Behandlungsmethode gehört hatte, bei der es darum ging, dem Blut T-Zellen zu entnehmen und sie dann im Labor so umzustruktieren, dass sie dem Körper erneut zugeführt werden konnten, um dann die krebserregenden Leukämiezellen zu zerstören, hatte sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Licht gesehen.

Alles, was Rafael hatte sehen können, war der experimentelle Charakter dieser Behandlungsmethode. Die Erfolgsraten bei Erwachsenen waren äußerst schwankend, und nie zuvor war die Methode bei einem Baby angewendet worden. Die Risiken waren enorm, und die Behandlung war mit solchen Schmerzen verbunden, dass Ella möglicherweise davon sterben konnte. Und er hatte recht gehabt – die neuen T-Zellen hatten zu einer Krankheit geführt, der das Baby um ein Haar erlegen wäre. Wochenlang hatte sie auf der Intensivstation zwischen Leben und Tod geschwebt.

Natürlich hätte er dort sein, hätte seiner Frau und seiner Tochter beistehen müssen. Aber er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, so weit zu reisen, nur um Ella beim Sterben zuzusehen. Und ein Teil von ihm war auch davon überzeugt gewesen, dass das eine gerechte Strafe für Abbie war, weil sie es gewagt hatte, ihm sein Kind wegzunehmen.

So viel Leid. Auf beiden Seiten.

Was würde sie wohl tun, wenn er jetzt versuchte, sie zu umarmen? Ob sie ihn wegstoßen würde?

Das hätte Rafael nicht ertragen.

Doch irgendwie musste er eine Brücke zu ihr finden.

„Es war so lange, Abbie. So … schwer …“

So schwer. Es war ein Albtraum gewesen, von Anfang an. Von dem Moment an, als man bei Ella akute lymphatische Leukämie festgestellt hatte – sehr ungewöhnlich bei einem so kleinen Baby. Monatelang hatte sie danach die Chemotherapie über sich ergehen lassen müssen, die jedoch nicht angeschlagen hatte. Und als plötzlich seine Tochter und seine Frau verschwunden waren, hatte Rafael das Gefühl gehabt, dass sein Leben zur Hölle geworden war. Natürlich plagte ihn auch sein schlechtes Gewissen, und er hatte viele schlaflose Nächte damit verbracht, sich zu fragen, ob er das Richtige getan hatte.

Tagelang hatte er sich davor gefürchtet, dass der Anruf kommen würde, in dem man ihm mitteilte, dass sie die Schlacht verloren hatten. Nur die Arbeit hatte ihn davor bewahrt, verrückt zu werden.

Jetzt sah Abbie ihn an, und der Schmerz in ihren Augen traf ihn wie ein Schlag.

„Woher willst du das wissen? Du warst ja gar nicht … da.“

Würden sie jemals über diesen Punkt hinwegkommen?

„Aber jetzt bin ich da.“ Seine Stimme klang rau. „Reicht das nicht?“

Sie starrte ihn nur an, und er sah, wie ihre Lippen zitterten. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.

„Nein“, flüsterte sie. „Nein, ich glaube nicht.“ Sie holte tief Luft. „Wir … haben dich gebraucht. Und du … du warst nicht da.“

Dio mio, wie schwer das war! Mussten sie das alles noch einmal durchkauen? In seinem ganzen Leben war Rafael noch nie so müde gewesen.

„Du weißt, warum.“

„Ja.“ Ihre Stimme war kühl. „Ich weiß, warum. Aber ich verstehe es immer noch nicht. Wie konntest du nicht da sein, wenn du jemand wirklich liebst?“ Tränen liefen ihre Wangen herab, doch er konnte sie nicht wegwischen. Er hatte das Recht dazu verloren, weil er ihr solches Leid zugefügt hatte.

„Du warst nicht da“, wiederholte sie noch einmal. „Für mich oder Ella. Und es war furchtbar, Rafe. Du kannst dir ja nicht vorstellen …“

„Nein, das stimmt nicht“, unterbrach er sie harsch. „Ich kann mir das nämlich sehr gut vorstellen. Deshalb wollte ich ja auch nicht, dass du mit ihr in die Staaten gehst. Ich wollte nicht, dass Ella das alles durchmachen muss.“

Plötzlich musste er an den kleinen Freddie denken, einen krebskranken Patienten, den er verloren hatte. Rafael hatte am Anfang seiner Karriere als pädiatrischer Onkologe gearbeitet. Aber er hatte einsehen müssen, dass er dem emotional nicht gewachsen war.

„Wenn ich nicht gegangen wäre, wären wir jetzt nicht hier. Ella wäre nicht mehr am Leben.“

„Nein …“ Rafael brach ab. Was sollte das bringen, dieses Argument hatten sie beide hundertmal ins Feld geführt. Was zählte, war, dass ihre Tochter lebte. Sie lag im Zimmer nebenan, und er erkannte, dass er nicht einen Moment länger von ihr getrennt sein wollte. Er machte einen Schritt auf Abbie zu.

Plötzlich konnte er durch die Scheibe sehen.

Er konnte Ella sehen.

Sie saß auf ihrem kleinen Bett und spielte vergnügt mit Ears, ihrem Stoffkaninchen.

Ein Stoffkaninchen mit ungewöhnlich langen Ohren. Er selbst hatte es ihr geschenkt, als sie zum ersten Mal in die Klinik gekommen war.

Ella hielt Ears in der einen Hand, kniete sich hin und zog sich mit der anderen Hand an den Streben des Kinderbetts hoch. Rafael konnte die Nasenbrille sehen, die ihr Sauerstoff zuführte, und er sah auch, dass ein Arm verbunden war, um sie daran zu hindern, am Infusionsschlauch zu ziehen, der mit dem Port an ihrem Schlüsselbein verbunden war.

Unglaublich … sie war schon kräftig genug, um zu stehen?

In diesem Moment sah sie auf und blickte ihm direkt in die Augen.

Einen endlos langen Moment starrten sie sich nur an. Rafael musste an das erste Mal denken, als er dieses Baby in den Armen gehalten hatte. An das überwältigende Gefühl, sie beschützen zu wollen. An den Geruch ihrer Haut, nachdem sie gebadet worden war. An den Klang ihrer Stimme, an ihre Babysprache.

Aber würde sie sich überhaupt an ihn erinnern?

Es sah ganz danach aus. Ihre Augen wurden noch größer, und ihr süßer kleiner Mund verzog sich zu einem Lächeln. Dann streckte sie die Arme aus, was zur Folge hatte, dass sie das Gleichgewicht verlor und auf den Po fiel. Doch noch immer lächelte sie ihn an.

Noch immer streckte sie ihrem Vater die Arme entgegen.

Nichts anderes zählte mehr.

Ohne Abbie auch nur noch einen Blick zuzuwerfen, stürzte Rafael ins Zimmer.

Abbie blieb im Flur stehen und beobachtete die beiden durch die Scheibe.

Noch vor ein paar Minuten war sie es gewesen, die ihr Kind von draußen beobachtet hatte, um zu sehen, wie es ihm ging. Dann hatte sie … ja, was hatte sie eigentlich machen wollen? Zur Toilette gehen? Sich einen Kaffee holen?

Was immer es gewesen war, sie hatte es in dem Moment vergessen, als Rafael erschienen war und ihren Namen gesagt hatte. Sie hatte versucht, sich für ihr Wiedersehen zu wappnen.

Und jetzt war es vorbei.

Sie hatten sich wiedergesehen, sie hatten miteinander gesprochen.

Aber hatten sie damit irgendetwas geklärt?

Abbie fühlte sich unsicherer denn je.

Die Tränen liefen ihre Wangen herunter, als sie dabei zusah, wie Rafael seine Tochter hochhob und sie an seine Brust drückte. Er hatte die Augen geschlossen, konnte also nicht sehen, dass sie ihn beobachtete. Und … war es möglich, dass er ebenfalls weinte? Nein, das würde er nie zulassen. Aber wenn es jemals passierte, würde er genauso aussehen wie jetzt.

Die Liebe für seine Tochter war deutlich zu erkennen. Er hatte schließlich nicht damit gerechnet, sie je noch einmal in den Armen zu halten.

Oder sie lächeln zu sehen. Die Geräusche zu hören, die sie von sich gab, wenn sie wirklich glücklich war – eine Mischung zwischen Gurren und Kichern, die so klang, als würde Wasser aus einem Spülstein rinnen.

Wie ein Abfluss, so hatten sie das immer genannt. Ella hört sich schon wieder wie ein Abfluss an, hatten sie zueinander gesagt und sich angelächelt, weil sie genau gewusst hatten, dass es ein glückliches Zeichen war trotz all der Schmerzen. Dieses verschworene Lächeln und die stille Kommunikation durch Blicke waren Momente der Verbundenheit gewesen, die Abbie und Rafael die Kraft gegeben hatten, weiterzumachen. Dass sie diese herzzerreißende Reise zusammen machten, stärkte ihre Beziehung. Aber am Ende, als der Stress und die Anstrengung zu groß geworden waren, hatten sie der Belastung nicht mehr standhalten können.

Ja, Rafael vergötterte seine Tochter. Abbie konnte sehen, wie er sie jetzt schaukelte und Italienisch mit ihr sprach. Sie hörte undeutlich das Wort fiorella, Blümchen. Das war sein Kosename für sie. Jetzt sang er sogar leise für sie, ebenfalls in seiner Muttersprache. Abbie liebte diese Eigenschaft an ihrem Mann: Dass er so leidenschaftlich sein und seine Gefühle offen zeigen konnte.

Für ein paar Minuten, als er vorhin mit ihr im Flur gewesen war, hatte sie das Gefühl gehabt, als würde er sie noch lieben.

Doch dann hatte er idiotischerweise hinzufügen müssen, wie schwer das Ganze für ihn gewesen war.

Dabei war er ja gar nicht da gewesen! Hatte nicht stundenlang vor den zahllosen Monitoren auf der Intensivstation gesessen und gebangt, ob jeder Atemzug, den Ella nahm, nicht der letzte sein würde.

Vielleicht hätte sie den Köder nicht schlucken, hätte ihren alten Konflikt nicht wieder aufflammen lassen sollen, aber … es tat immer noch weh, verdammt!

Und es würde nicht so einfach von selbst weggehen.

Am selben Ort zu sein, reichte nicht, denn es fühlte sich so an, als hätten sie keinen gemeinsamen Boden mehr.

Jetzt gab es nur noch einen Verbindungspunkt zwischen ihnen – ein kleines Baby namens Ella.

3. KAPITEL

„Ich finde es unglaublich, dass Sie schon so früh wieder arbeiten“, sagte Melanie, die heute Ellas betreuende Krankenschwester sein würde. Aufmerksam sah sie Abbie beim Füttern des Babys zu. „Sie sind doch gerade erst zurückgekommen.“

„Ich will einfach, dass alles so schnell wie möglich wieder normal wird.“ Abbies Lächeln war ein bisschen bemüht. Ella wieder nach London zu bringen, war ein großer Schritt in diese Richtung gewesen. Doch in Wirklichkeit hatte sie keine Ahnung, was „normal“ ab jetzt bedeuten würde.

Sie erwischte gerade noch einen kleinen Klecks Porridge, der ihr vom Löffel rutschen wollte, und wartete geduldig, bis sie ihn Ella in den Mund schieben konnte. „Und ich war lange genug weg“, fuhr sie fort. „Wenn ich nicht langsam wieder arbeite, komme ich aus der Übung.“

Melanie, die gerade dabei war, die Medikamente für Ellas Spritzenpumpe vorzubereiten, sah hoch. „Aber Sie werden doch nicht gleich Vollzeit arbeiten, oder?“

Abbie schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall konnte sie sofort mit dem vollen Programm loslegen: die langen Arbeitstage im Lighthouse Hospital, die Runden der ambulanten Pflege und die Beratungsstunden in der Hunter Clinic. Rafael hatte dieses Pensum in ihrer Abwesenheit anscheinend bis zum Exzess betrieben. Man konnte wohl kaum von einer gesunden Balance zwischen Arbeit und Privatleben sprechen. Aber irgendwie verstand sie diese Art, vor der Realität zu fliehen. Ihr eigenes Leben war ja auch lange sehr einseitig verlaufen.

„Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt Vollzeit gearbeitet habe“, sagte sie laut. „Als ich im sechsten Monat schwanger war, habe ich mein Arbeitspensum reduziert. Und nach Ellas Geburt gerieten die Dinge noch mehr durcheinander, wie Sie sich wahrscheinlich vorstellen können.“

Melanie nickte voller Mitgefühl. Sie schloss die Spritze an die Pumpe an. „Die Arbeit hat Ihnen bestimmt gefehlt, oder? Man wird schließlich nur so gut, wenn man das, was man tut, auch liebt. Sind Sie heute im OP?“

„Nein, heute muss ich erst einmal in die Poliklinik. Sie lassen es langsam mit mir angehen.“

„Das ist gut.“ Melanie zog ein Gesicht und brachte Ella so zum Lachen. „Na, meine Kleine, fertig gegessen? Jetzt müssen wir uns nur noch waschen und anziehen, dann kann der Tag beginnen.“

Abbie wischte Ellas Gesicht mit einem feuchten Tuch ab. „Ich glaube, das gilt für uns beide.“ Sie knuddelte ihre Tochter noch einmal kurz und reichte sie dann Melanie. „Hab einen schönen Tag, mein Liebling“, sagte sie zu Ella zum Abschied. „Ich bin so schnell ich kann wieder zurück.“

Als Abbie sich auf den Weg in die Poliklinik des Lighthouse Hospital machte, merkte sie, wie nervös sie war. Vielleicht hing es damit zusammen, dass sie endlich einmal etwas anderes als Jeans trug. Für ihren ersten Arbeitstag hatte sie sich für eine Bluse, einen langen, schwingenden Rock und Stiefel entschieden. Darüber trug sie einen weißen Kittel mit einem Sticker. Auf dem Sticker war eine Blume zu sehen, deren Gesicht ein Smiley zierte. Darauf stand „Doktor Abbie“.

Vielleicht war der Grund für ihre Nervosität aber auch, dass sie über das Schicksal fremder, kranker Kinder entscheiden musste. Sie allein musste die Risiken gegen die Chancen einer Operation abwägen, und zwar in dem vollen Bewusstsein, wie schwierig das für Eltern war.

Also, komm schon, ermahnte sie sich selbst. Es ist doch nur die Poliklinik. Hier geht es nicht um Leben und Tod.

Aber sie wusste, dass man ihr nur eine Schonzeit gewährte. Bald würde sie wieder unter Hochdruck arbeiten müssen, und das war auch gut so, damit sie ihre herausragenden Fähigkeiten nicht verlor, die ihr den guten Ruf als Spezialistin eingebracht hatten. Das erwarteten nicht nur die Hunter-Brüder von ihr oder der Chef der Kinderchirurgie im Lighthouse Hospital.

Nein, Abbie selbst war es, die es von sich erwartete. Deshalb hatte sie Ethan auch gesagt, dass sie so früh wie möglich wieder anfangen wollte.

Die Leidenschaft für ihre Arbeit und ihre Karriere gehörte einfach zu ihr. Natürlich war es genauso wichtig, Frau und Mutter zu sein. Aber um glücklich zu sein, musste Abbie ihren Beruf ausüben. Nur dann konnte sie das Beste aus sich herausholen.

Diese Nervosität, die Magengrimmen verursachte, war ihr neu. Und sie verstörte Abbie ein bisschen. Erneut rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie heute nur in die Poliklinik des Lighthouse Hospitals fuhr. Normalerweise liebte sie diesen Teil ihrer Arbeit, denn hier konnte sie Zeit mit ihren jungen Patienten und deren Familien verbringen.

Was war nur los mit ihr?

Hatte sie etwa Angst, zu sehr aus der Übung zu sein? Diese Angst wäre wohl gerechtfertigt, wenn sie mit einem Skalpell in der Hand im OP stand. Aber das war normal, denn dadurch war sie gezwungen, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Mit der Praxis würde auch ihr Selbstvertrauen zurückkehren, das wusste Abbie genau.

Nein, hier ging es um etwas anderes. Zum ersten Mal seit dem Ultimatum, das Rafael ihr damals gestellt hatte, würden sie wieder zusammenarbeiten. Wie würde das wohl sein? Würde es die Lage verbessern? Würde es ihnen gelingen, die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken?

Sie bezweifelte es.

Rafael war bereits vor Abbie eingetroffen und war gerade dabei, mit Nicky, der Oberschwester, die Akten durchzusehen. Genau wie Abbie trug auch er einen weißen Kittel über seiner professionellen Uniform, einer Hose mit Bügelfalten und einem Hemd mit Schlips. Auch er hatte einen Sticker, der aber wesentlich seriöser wirkte als ihre Blume. Darauf waren das Logo der Klinik und sein voller Name zu sehen.

Rafael und die Oberschwester sahen bei Abbies Eintreten hoch.

„Abbie.“ Nicki schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Wie schön, Sie zu sehen! Ich habe mich so gefreut, als ich hörte, dass Sie wieder bei uns sind. Ich wette, Ihrer Assistenzärztin ging es nicht anders.“

Rafaels Lächeln war längst nicht so strahlend wie das der Oberschwester, aber wenigstens lächelte er.

Sein Blick hingegen war vorsichtig, fast misstrauisch. War er etwa genauso nervös wie Abbie? Das konnte sie sich nicht vorstellen.

Eigentlich war er nie nervös. Aufgeregt, ja, das war er gewesen, als sie entdeckt hatten, dass Abbie schwanger war. Und natürlich war er besorgt gewesen, als sie feststellen mussten, dass etwas mit ihrem kleinen Baby nicht in Ordnung war. Auch zornig hatte Abbie ihn erlebt, als sie sich gegen ihn gestellt und auf Ellas Behandlung bestanden hatte.

Aber nervös? Das verunsicherte sie. Sie musste sich zwingen, Nickys Lächeln zu erwidern.

„Man hat mir gesagt, dass ihr hier alle Hände voll zu tun habt. Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Nicky.“

„Ich habe gehört, dass es Ella wieder besser geht. Das sind fantastische Neuigkeiten!“

„Auf jeden Fall!“ Abbie warf Rafael einen verstohlenen Seitenblick zu, aber er schien in der Betrachtung der Patientenliste völlig versunken zu sein. Dann legte er die Notizen zur Seite.

„Wann können Sie sie denn wieder nach Hause bringen?“

Bei dieser Frage zuckte Rafael zusammen und sah Abbie scharf an. Sein Blick wirkte anklagend, und ihr fiel auf, dass sie darüber gestern gar nicht gesprochen hatten. Aber wie hätte sie diesen Punkt auch ansprechen können? Sie wusste ja gar nicht, ob Ella und sie überhaupt noch ein Zuhause hatten.

„Hm … in ein paar Wochen, denke ich. Wir müssen sehen, wie sich alles entwickelt. Eine Entscheidung können wir erst nach der Untersuchung ihrer T-Zellen in drei Monaten treffen.“

Das würde ihnen eine kleine Atempause verschaffen. In dieser Zeit konnten sie herausfinden, wie es um ihre Ehe stand. Und in welcher Form sie sich die Elternpflichten für Ella teilen würden.

Draußen im Wartezimmer wurde es immer lauter. Zwei Kinder stritten sich um die Kiste mit dem Spielzeug, andere Kinder weinten. Eine Frau mit einem kleinen Baby im Arm stand an der Tür und sah so aus, als würde sie am liebsten gleich wieder gehen. Ihr Partner versuchte, sie zum Bleiben zu überreden.

Nicky betrachtete die Szene durch die Scheibe und zuckte die Schultern. „Jetzt sollten wir mal loslegen, denke ich. Ich werde die Patienten auf die Sprechzimmer verteilen. Abbie, Sie sind in Raum drei.“

„Danke.“

Nicky ging nach draußen und ließ Abbie und Rafael allein.

„Hallo …“ Sie lächelte ihn zögernd an. „Alles in Ordnung?“

„Mir geht’s gut.“ Er erwiderte ihr Lächeln, obwohl es ein bisschen reserviert war. „Und bei dir? Du hast doch bestimmt nicht viel geschlafen, oder? Dieser Stuhl in Ellas Zimmer kann nicht sehr bequem sein.“

„Ach, daran bin ich gewöhnt. Ich habe schon so lange auf solchen Stühlen geschlafen, dass mir ein Bett jetzt wahrscheinlich ganz komisch vorkommen wird.“

Da war es wieder. Ein Schlag ins Gesicht. Eine Erinnerung daran, wie sie die letzten drei Monate verbracht hatte. Ein Echo des peinlichen Moments am letzten Abend, als Rafael Abbie gefragt hatte, ob sie zum Schlafen nach Hause kommen würde. Sie hatte abgelehnt, denn sie wollte Ella einen so radikalen Schnitt in ihrer Routine nicht zumuten.

„Wie geht es ihr heute Morgen?“

„Gut. Sie hat zum Frühstück Porridge mit etwas gedünstetem Apfel gegessen. Es ist toll, dass sie die meisten Krankenschwestern auf der Station schon kennt. Heute ist Melanie bei ihr. Ich glaube, es ist ihr nicht einmal aufgefallen, dass ich weggegangen bin.“

„Ich werde zu ihr gehen, sobald wir hier fertig sind. Ich war unsicher, ob es richtig wäre, euren gewohnten Ablauf zu stören.“

Wollte er etwa wieder auf Distanz gehen? Abbie unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. „Sie ist deine Tochter, Rafe. Du kannst so viel Zeit mir ihr verbringen, wie du magst.“

Sein Nicken war knapp. Er griff nach den Unterlagen und reichte sie ihr. „Das sind deine Patienten für heute Morgen.“

Sie merkte sofort, dass ihre Liste viel kürzer war als seine, und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Er zuckte die Schultern. „Ich habe dir ein paar abgenommen. Schließlich ist das hier dein erster Tag. Ich möchte nicht, dass du dich gleich wieder übernimmst.“

Sie starrte ihn an. „Wenn ich es mir nicht zutrauen würde, wäre ich jetzt nicht hier.“

Ihre Antwort fiel ein bisschen heftiger aus, als sie beabsichtigt hatte. Aber sie war schon nervös genug und konnte nicht gebrauchen, dass jemand anderes ihre Fähigkeiten anzweifelte.

Rafael zuckte ebenfalls die Schultern, als wollte er ausdrücken, dass es ihm ganz egal war.

Aber das stimmte nicht, denn sonst hätte er ihr ja keine Arbeit abnehmen wollen. Das war sehr großzügig von ihm. Bestimmt hatte er selbst mehr als genug zu tun. Vielleicht konnten sie sich ja auf einen Kompromiss einigen. Abbie sah sich die Liste durch.

„Dieses kleine Mädchen würde ich gern selbst behandeln.“ Sie zeigte auf einen Namen. „Sie hat Mikrotie dritten Grades. Du weißt, das ist meine Spezialität.“

Natürlich wusste Rafael das. Schließlich hatte er mehr als einmal neben Abbie im OP gestanden und ihr dabei zugeschaut, wie sie aus einem kleinen Stückchen Gewebemasse ein neues Ohr geformt hatte. Vorher war dort nur ein kleiner Knubbel in der Größe einer Erdnuss gewesen, ein Geburtsfehler. Bestimmt war das siebenjährige Mädchen deswegen in der Schule oft gehänselt worden. Dieser Eingriff würde ihr Leben zum Besseren wenden.

„Und dann dieser Fall …“ Sie zeigte auf einen anderen Namen. „Ein sieben Monate altes Baby mit einer Gaumenspalte und Verwachsungen. Oh … das ist ja Angus. Ich erinnere mich noch daran, als seine Eltern zum ersten Mal hier waren. Darum würde ich mich auch gern kümmern.“

Sie brach ab. Für solche Korrekturen von Geburtsfehlern bei Kindern waren Rafael und sie bekannt geworden. Seine Spezialität bestand darin, Knochen zu justieren, während Abbie besonders gut in der Feinarbeit war. Sie verstand sich meisterhaft darauf, Blutgefäße und Nerven wieder zu vereinen und sie so zu vernähen, dass praktisch keine Narben mehr zu sehen waren. Gemeinsam waren sie ein unschlagbares Team, und die Leute kamen ihretwegen von weither in die Hunter Clinic.

Aber Abbie fragte sich trotzdem, ob sie sich diesen Fall schon allein zutrauen konnte. „Ich glaube, ich überlasse ihn doch lieber dir“, sagte sie zu Rafael, ohne ihn anzuschauen. „Aber Harriet würde ich gern wieder übernehmen. Ich habe mich die ganze Zeit schon gefragt, ob ihre Brandnarben gut verheilt sind. Bestimmt muss sie demnächst erneut operiert werden.“

Rafael nickte nur. Er schnappte sich seine Liste und ging damit in das erste Sprechzimmer. Abbie folgte ihm und betrat den dritten Raum. Unterschiedliche Listen. Unterschiedliche Zimmer. Vielleicht sogar unterschiedliche OPs? Würde es von nun an immer so sein?

Auch wenn sie sich früher um verschiedene Patienten gekümmert hatten, hatten sie immer beim anderen nach dem Rechten geschaut, denn manchmal konnte eine zweite Meinung sehr wichtig sein. Dass sie von nun an getrennt operieren sollten, fühlte sich für Abbie zwar komisch an, aber es war auch erleichternd für sie. Vielleicht brauchten sie ja noch ein bisschen Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen. Möglicherweise mussten sie auch erst herausfinden, ob sie überhaupt zusammenarbeiten konnten, wenn ihr Privatleben so durcheinander war.

Es gab keinen Grund, warum sie nicht separat arbeiten sollten. Oder?

Nun, anscheinend doch. Denn später an diesem Morgen bekam sie eine Nachricht von der Klinikleitung. Sie wurde gebeten, an einem Treffen teilzunehmen. Auch wenn es nicht direkt ausgesprochen wurde, gab es anscheinend Klärungsbedarf in dieser Frage.

„Eine dringende Nachricht, Mr de Luca.“

„Was gibt es denn, Nicole?“ Der Gesichtsausdruck seiner Sekretärin ließ ahnen, dass die Sache wichtig war.

„Um fünf Uhr soll ein Meeting in der Hunter Clinic stattfinden. Mit Leo und Ethan Hunter. In Leos Büro. Gwen hat mir gesagt, sie hätte in Ihrem Terminkalender nachgeschaut, und Sie wären da frei. Also …“

Sie beendete den Satz nicht, aber das war auch nicht nötig. Es war klar, dass keine Entschuldigungen akzeptiert werden würden, außer im allergrößten Notfall.

„Hat sie denn gesagt, worum es geht?“

„Nein. Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen?“

„Das werden Sie wohl müssen“, erwiderte Rafael stirnrunzelnd. Soweit er wusste, hatte er keine Sprechstunden in der exklusiven Hunter Clinic. Daher war ihm auch schleierhaft, warum es plötzlich so wichtig sein sollte, sich an diesem Nachmittag mit den Hunter-Brüdern zu treffen. Und wenn er wirklich Pausen in seinem Terminkalender hatte, hätte er diese Zeit viel lieber mit seiner Tochter verbracht.

Vorher würde er sich mit dem Sandwich zum Lunch stärken müssen, das er vorhin im Café gekauft hatte. Er packte es aus und legte es auf seinen Schreibtisch, zusammen mit den Geschenken, die er im Souvenirladen neben dem Café erstanden hatte.

„Oh, was ist das denn?“ Nicole strahlte ihn an. „Der ist ja toll!“ Sie griff nach dem großen Teddybären, der ein pinkfarbenes Tanzröckchen und pinkfarbene Ballettschuhe trug, und drückte ihn an die Brust. „Er ist unglaublich weich und knuddelig. Und genauso groß wie Ella jetzt ist, oder?“

„Fast.“ Es war eigentlich kein passendes Spielzeug für ein Baby, aber seine Fiorella wuchs langsam heran, oder?

„Ich habe gehört, dass sie wieder da ist. Und dass es ihr gut geht. Das ist wundervoll, nicht wahr?“

„Auf jeden Fall.“

Nicole legte den Teddybär widerstrebend weg. „Bestimmt will sie Tänzerin werden, wenn sie ihn sieht. Schauen Sie sich nur diese süßen Ballettschuhe an. Oh … wie gern hätte ich so etwas als kleines Mädchen gehabt!“

Ein kleines Mädchen. Kein Baby mehr. Ja … Rafael war schockiert gewesen, als er gesehen hatte, wie sehr Ella sich seit dem letzten Mal verändert hatte. Natürlich hing es auch mit der Verbesserung ihres körperlichen Zustands zusammen, aber im Leben eines Babys waren drei Monate eine lange Zeit. Inzwischen hatte sie mehr Zähne, und ihr Lächeln war anders. Sie konnte jetzt viel mehr mit den Händen machen, und ihr Babygeplapper hörte sich mehr und mehr wie eine richtige Sprache an. Sie konnte aufstehen und sogar ein paar Schritte machen, wenn jemand sie an der Hand hielt. Davor hatte man ihr sogar beim Sitzen helfen müssen.

Er hatte so viel verpasst, und das vergrößerte seine Schuldgefühle Abbie gegenüber noch.

Doch dann schüttelte er diese unangenehmen Gedanken schnell ab. „Bitte, bestellen Sie mir ein Taxi für halb fünf“, wies er Nicole an. Er hob den Bär hoch und stellte ihn in eine Ecke seines Büros. „Ich möchte nicht in den Berufsverkehr geraten. Gibt es sonst noch irgendetwas Wichtiges?“

„Nein.“

„Prima. Dann mache ich hier mit den Klinikberichten weiter.“

Das Problem war nur, dass der pinkfarbene Teddybär ihn aus der Ecke zu beobachten schien. Rafael musste sofort an Ella denken.

Und an Abbie.

Ob sie ihm je verzeihen würde, dass er sie in New York ihrem Schicksal überlassen hatte? Dazu noch mit der Drohung, dass es mit ihrer Ehe vorbei sein würde, wenn sie auf ihrem Vorhaben bestand? Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um das herauszufinden. Abbie war immer noch vollkommen erschöpft und versuchte, sich in das Leben in London wieder einzufinden. Er wollte ihr dabei helfen, wusste aber nicht genau, wie. Jedenfalls hatte sie sein Angebot, ihr Arbeit abzunehmen, gründlich missverstanden. Es hatte sie gekränkt, da sie annahm, er misstraute ihr, was ihre Kompetenz betraf.

Er hatte auch nicht den Eindruck, dass sie sich besonders bemühte, die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. Gestern war sie ja noch nicht einmal nachgekommen, als er ins Krankenzimmer geeilt war, um seine Tochter endlich wieder in die Arme zu schließen. Rafael hatte den Eindruck, als würde sie sich in einer Blase befinden. Sie war zwar körperlich anwesend, aber nicht richtig da.

Das war ganz schön frustrierend.

Genauso frustrierend wie der Berufsverkehr in London um kurz vor fünf auf dem Weg in die Hunter Clinic. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn Rafael nach dem Meeting wenigstens hätte nach Hause fahren können. Er wohnte in Primrose Hill, genau zwischen dem Lighthouse Hospital und der Harley Street, wo sich die Hunter Clinic befand. Aber er musste danach wieder zurück ins Lighthouse, um nach einigen Patienten zu sehen, einschließlich Anoosheh.

Man hatte ihm gesagt, dass ihre Temperatur leicht angestiegen war, und die Schwestern befürchteten, dass sie sich eine Infektion geholt hatte. Rafaels gesamter Zeitplan hatte sich ein wenig nach hinten verschoben, was natürlich damit zusammenhing, dass er Abbie ein paar ihrer Patienten abgenommen hatte.

Dabei wollte er im Grund nur eins – Zeit mit Ella verbringen. So viel Zeit wie möglich. Er wollte ihr den Teddybär geben und hoffte, dass sie ihn mit einem Lächeln in Empfang nehmen würde. Wenn nicht, müsste er etwas anderes für sie finden. Was brachte sie denn jetzt zum Lachen? Was mochte sie am liebsten? Welche Lieder sollte er für sie singen?

Es gab so viel über sie zu lernen.

Sein Zuhause fühlte sich auch nicht mehr wie ein Zuhause an. Seit Abbie ihn verlassen hatte, war das so. Von dem Moment an, als er die schreckliche Drohung ausgestoßen hatte, dass es mit ihrer Ehe vorbei sein würde, wenn sie Ella mit nach New York nähme.

Ihre Kleider hingen zwar noch immer im Schrank, und ihre Bücher standen im Regal. Auch die Wohnung war noch dieselbe wunderschöne Altbauwohnung, in die sie sich beide verliebt und die sie kurz vor der Hochzeit gekauft hatten. Von hier aus hatte man einen wunderschönen Blick auf den Regent’s Canal, und ein kleiner privater Garten gehörte auch dazu.

Darin stand ein Baum, an dem sie eine Schaukel aufgehängt hatten, um Abbies sechsmonatige Schwangerschaft zu feiern. Eine Schaukel, die nie benutzt worden war. Im Herbst fielen die Blätter darauf, und im Winter war der Sitz voller Schnee. Jetzt hing sie einfach nur so da – ein Farbklecks in einem Garten, der sich auf den Frühling vorbereitete. Eine grausame Erinnerung an das, was hätte sein können.

All dies verfolgte Rafael, deshalb verbrachte er auch so wenig Zeit wie möglich in der Wohnung. Falls es mit ihrer Ehe wirklich vorbei sein sollte, würde er sie verlassen müssen. Vielleicht wollte Abbie ja mit Ella dort bleiben. Dann könnte die Kleine wenigstens die Schaukel benutzen …

„Danke, hier ist es gut.“ Er klopfte an die Trennscheibe, um dem Taxifahrer Bescheid zu sagen. „Den Rest werde ich zu Fuß gehen.“

Nachdem er dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatte, nahm er seine Aktentasche und den Schirm und ging die Harley Street hinunter, wobei sein langer Mantel im Wind flatterte. Er sollte ihn besser zuknöpfen, denn angesichts des grauen Himmels und der Wolken, die sich zusammenballten, war mit heftigem Regen zu rechen. Aber dafür war er zu sehr in Eile. Er achtete weder auf die ehrfurchtgebietenden alten Häuser in der Straße noch auf die vielen Messingschilder an den Hauswänden, die von den medizinischen Koryphäen kündeten, die hier einst gewohnt und gearbeitet hatten.

Die Fassade der Nummer 200 Harley Street, die die Hunter Clinic beherbergte, unterschied sich in nichts von ihren gediegenen Nachbarn. Aber innen sah es eher nach einem Luxushotel als einer Klinik aus. Rafael marschierte durch die große marmorne Empfangshalle, vorbei an den schicken Sofas aus weißem Leder, die die Besucher zum Verweilen einluden.

Helen, die Empfangschefin, stand hinter dem Tresen. Sie war Ende vierzig und immer makellos gekleidet. Sie stand genau für das, was die Klinik verkörpern wollte – ruhige, mitfühlende Kompetenz.

„Mr de Luca.“ Helens Lächeln war herzlich, obwohl er zehn Minuten zu spät war. „Wie schön, dass Sie es schaffen konnten! Alle warten auf Sie in Leos Büro.“

Leos Büro? Und alle warteten dort auf ihn?

Was, zum Teufel, war hier nur los?

Leo war der ältere der beiden Brüder. Beide waren Söhne des berühmten Schönheitschirurgen James Hunter. Rafael hatte von dem Skandal gehört, der sich um den Tod dieses Mannes rankte, aber mit den Einzelheiten hatte er sich nie befasst. Die Klinik hatte nur dank Leos unermüdlichen Einsatzes überlebt, und es war ihm gelungen, den guten Namen der Familie wiederherzustellen. Außerdem wusste Rafael, dass sich ein Graben zwischen den beiden Brüdern aufgetan hatte, als Ethan zum Militär gegangen war und es seinem Bruder überlassen hatte, die Klinik zu retten. Aber all das lag jetzt weit zurück, oder?

Ethan war wieder an Bord. Und Leo hatte inzwischen geheiratet.

Dies waren bessere Zeiten für die Hunter-Brüder. Warum wirkten sie dann jetzt alles andere als glücklich?

Und was, zum Teufel, hatte Abbie hier verloren?

Sie sah blass aus. Sogar ein bisschen erschrocken. Beim letzten Mal, als sie so ausgesehen hatte, hatten Rafael und sie auf die Ergebnisse von Ellas Untersuchung gewartet. Was hatten die Hunter-Brüder zu ihr gesagt, um sie derart zu verunsichern?

Rafael verspürte das dringende Bedürfnis, Abbie zu beschützen. Er legte seine Tasche und den Schirm ab, setzte sich aber weder hin, noch zog er seinen Mantel aus. Stattdessen trat er hinter Abbies Stuhl und packte die Lehne.

„Was ist hier los?“, fuhr er die beiden Männer an.

Hatten sie sie gefeuert? Weil sie sich nicht mehr so gut auf ihren Beruf konzentrieren konnte, seit sie Mutter geworden war?

Seit sie seine Frau war?

Aber nein, das konnte nicht sein. All ihre Kollegen, besonders die beiden Brüder, hatten das Bestmögliche getan, um seiner Familie in dieser Krise beizustehen. Sie hatten Abbie unbegrenzten Urlaub gegeben – bezahlten Urlaub! Sie hatten geholfen, Ellas Behandlung in den Staaten zu organisieren, und sie hatten sogar zu den schrecklich hohen Kosten beigetragen, die daraus entstanden waren.

Vielleicht war das ja ein Fehler gewesen, dachte Rafael plötzlich. Er hätte sie nicht so sehr in das Ganze einbinden sollen. Schließlich ging es um seine Familie, und er war sehr wohl in der Lage, seine Frau und seine Tochter zu beschützen.

Auch wenn sie Abbie gefeuert hatten – egal. Er konnte für ihren Lebensunterhalt allein aufkommen. Ja, er würde sie beschützen! Mit seinem Leben, wenn nötig.

Die beiden Brüder warfen sich einen Blick zu. Dann ergriff Leo das Wort.

„Bitte, setzen Sie sich, Rafael. Und ziehen Sie Ihren Mantel aus. Die Unterredung wird nicht lange dauern, das verspreche ich Ihnen.“

„Ich will mich aber nicht hinsetzen“, erwiderte er heftig. „Ich will wissen, was Sie zu meiner Frau gesagt haben und warum sie jetzt so verschüchtert ist.“

Er hörte, wie Abbie nach Luft schnappte. Hatte er etwas Falsches gesagt? Oder hatte sie vielleicht etwas dagegen, dass er sie als seine Frau bezeichnete? War dies zu besitzergreifend?

Rafael atmete tief durch und zwang sich, sich zu beruhigen. Er musste wirklich endlich einmal lernen, sein italienisches Temperament zu zügeln. Daher kam er Leos Wunsch nach und ließ sich langsam in den Stuhl neben Abbie sinken.

Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu – noch immer besorgt darüber, wie blass sie war. Aber Abbie starrte nur stumm auf ihre Hände. Rafael wollte, dass sie ihn anschaute, wollte ihr vermitteln, dass alles in Ordnung war, dass sie keinen Grund hatte, sich zu fürchten, solange er an ihrer Seite war.

Kurz war es still im Zimmer, dann räusperte Ethan sich. „Wir haben Sie beide hierhergebeten“, sagte er, „weil sich eine Angelegenheit ergeben hat, die wir schleunigst klären wollten. Es gab eine Beschwerde, die …“

„Wie bitte?“ Rafael sah Ethan drohend an. „Wovon sprechen Sie überhaupt?“

„Nun ja, nicht direkt eine Beschwerde“, fiel Leo beschwichtigend ein. „Ich würde sagen, es geht eher um die persönliche Enttäuschung eines Klienten, die er uns gegenüber zum Ausdruck gebracht hat und über die wir mit Ihnen sprechen wollten.“

„Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen“, stieß Rafael hervor. „Ist jemand nicht zufrieden mit meiner Arbeit? Und warum ist Abbie hier?“ Seine Stimme überschlug sich und wurde immer lauter. „Niemand kann sich über sie beschwert haben, denn schließlich war sie drei Monate lang außer Landes. Oder ist das vielleicht das Problem? Haben Sie den Eindruck, dass die Qualität unserer Arbeit unter unserer familiären Krise gelitten hat?“

Erneut tauschten die Brüder einen beredten Blick aus.

„So ungefähr“, meinte Leo.

„Nun kommen Sie schon, reden Sie Klartext“, forderte Rafael ihn auf. „Ich habe heute noch viel zu tun, und danach will ich endlich meine Tochter sehen.“

„Natürlich.“ Leo lächelte Abbie an. „Ich habe Ihnen ja noch gar nicht sagen können, wie froh ich darüber bin, dass Ella und Sie wieder hier sind. Dazu noch mit so fantastischen Resultaten!“

„Danke, Leo.“ Abbie nickte steif. Rafael hatte das Gefühl, als wäre sie genauso im Unklaren über den Zweck dieses Treffens wie er.

Jetzt ergriff Ethan wieder das Wort. „Heute Morgen haben Sie sich doch mit der Familie MacDonald unterhalten, stimmt’s? Ihr sieben Monate alter Sohn Angus ist bei uns in der Poliklinik untergebracht und soll wegen seiner Gaumenspalte und einigen Verwachsungen operiert werden, richtig?“

„Das ist korrekt.“ Rafael runzelte die Stirn. Warum, zum Teufel, hätten die MacDonalds sich beschweren sollen? „Sie machten auf mich einen sehr zufriedenen Eindruck. Ich habe ihnen gesagt, dass es voraussichtlich bei der einen Operation bleiben wird.“

„Nun, da bin ich mir nicht sicher“, mischte sich Abbie in die Unterhaltung ein. „Es kann gut sein, dass danach noch einige kosmetische Korrekturen nötig sein werden.“

Sie hatte Angus als Erste gesehen, als seine besorgten Eltern ihr Neugeborenes aus Schottland zu ihnen gebracht hatten. Sie hatte sofort Rafael zur Beratung hinzugezogen und den MacDonalds dann versichern können, dass es gute Heilungschancen für ihren kleinen Sohn gab.

Ethan hatte ihnen aufmerksam zugehört, schüttelte jetzt jedoch den Kopf. Rafael sah ihn zornig an. „Die Familie war sehr froh darüber, dass ihr Sohn schon Ende der Woche operiert werden kann. Was, zum Teufel, ist das Problem?“

„Kurz nach der Geburt sind sie mit Angus zu uns gekommen, um sich von uns privat beraten zu lassen“, sagte Ethan. „Können Sie mir erklären, warum sie diese Mühe und die lange Reise auf sich genommen haben? Sie hätten sich ja auch ohne Probleme an den staatlichen Gesundheitsdienst wenden können.“

„Weil wir eine Menge solcher Fälle behandeln“, entgegnete Rafael prompt. „Wir haben in dieser Hinsicht einen sehr guten Ruf.“

„Nein.“ Jetzt war es Leo, der den Kopf schüttelte. „Keinen sehr guten, sondern den besten. Und wissen Sie auch, warum?“

Rafael erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. „Mein beruflicher Hintergrund in Gesichtschirurgie für Kinder, die an Krebs erkrankt sind, war ein großartiges Training für die Behandlung solcher Defekte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Anders ausgedrückt, ich bin gut in dem, was ich tue. Genau wie Abbie“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. „Sie ist die Beste in ihrem Fach.“

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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