Man nehme: Eine Extraportion Liebe

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"Ich glaube, wir kennen uns, aber ich muss gestehen, dass ich Ihren Namen vergessen habe. Können Sie mir aushelfen?" Im Gegensatz zu Rob Beresford weiß Charlotte leider genau, wo sie sich das erste Mal begegnet sind: Vor drei Jahren hat dieser maßlos arrogante und viel zu gutaussehende Sternekoch sie aus seiner Küche geworfen! Doch diese peinliche Erinnerung an ihr Koch-Desaster erklärt nicht, dass Charlottes Herz jetzt wie verrückt klopft. Nein, dafür gibt es einen anderen Grund: Der sexy Küchenchef schaut sie an, als sei sie ein süßes Dessert - das er liebend gern vernaschen möchte!


  • Erscheinungstag 20.01.2015
  • Bandnummer 0002
  • ISBN / Artikelnummer 9783733701345
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Rob Beresford stieg aus der schwarzen Stretch-Limousine auf den roten Teppich vor der neuesten und angesagtesten Londoner Kunstgalerie, straffte die Schultern und streckte sich zu seiner vollen Größe.

Er fuhr sich mit den Fingern der rechten Hand durch das schulterlange dunkle Haar. Die Geste war perfekt einstudiert und lenkte die Aufmerksamkeit auf das, was die Marketing-Abteilung der Beresford Hotelgruppe sein attraktivstes Merkmal nannte: sein Gesicht.

Nach zwanzig Jahren in der Hotelbranche kannte Rob das Spiel in- und auswendig.

Er gab der Presse das, was sie wollte, und dafür liebte sie ihn. Nur dumm, dass die Paparazzi mehr Geld damit verdienten, wenn er den Bad Boy spielte, als wenn er in der Küche stand und für die Beresford Hotelrestaurants preisverdächtige neue Rezepte entwickelte.

Sie wollten, dass er sich danebenbenahm, eine Szene machte, sich die Kamera schnappte. Jemanden wegen einer achtlosen Bemerkung ins Gesicht schlug oder über eine Beleidigung seines Essens die Beherrschung verlor.

Der Rob Beresford, den sie sehen wollten, war der junge Küchenchef, der mit einem Schlag berühmt geworden war, nachdem er den bekanntesten Restaurantkritiker Chicagos vom Stuhl gehoben und hinausgeworfen hatte, weil der sich darüber beschwert hatte, wie sein Steak gebraten war.

Aber nicht heute Abend.

Heute Abend musste ihn die Öffentlichkeit lieben und den Erfolg der Kunstgalerie pushen. Und die Künstlerin, deren Arbeiten ausgewählt worden waren, die große Eröffnung der Galerie zu begleiten. Adele Forrester. Begnadete Malerin. Und seine Mutter.

Aber in ihm drin? Da sah es ganz düster aus. Rob Beresford war mehr als nur nervös.

Er fürchtete jede einzelne Sekunde der nächsten paar Stunden. Entspannen würde er erst, wenn er mit seiner Mutter wieder im Hotelzimmer war und sie zu ihrer fantastischen Ausstellung beglückwünschte, die sicherlich bald ausverkauft sein würde.

Der Plan war ganz einfach gewesen. Sie würden gemeinsam ankommen, seine Mutter würde lächeln und ein paar Mal winken, woraufhin Rob sie unter dem Applaus ihrer treuen Fans und der versammelten Kunstliebhaber ruhig in die Galerie begleiten würde. Ganz der stolze Sohn. Mit der berühmten Mutter. Gewinner auf ganzer Linie.

So viel zum ursprünglichen Plan.

Die vergangene Woche war voller hektischer Termine gewesen, und dann hatte sich seine Mutter auch noch ein Virus eingefangen, das gerade in Kalifornien grassierte und sie den Großteil des Tages lahmlegte. Gleich danach hatte sie einen akuten Anfall von Lampenfieber bekommen.

Bis vor einer Stunde hatte Rob noch geglaubt, dass seine Mutter es trotzdem schaffen würde. Sie war angezogen, geschminkt und bereit zu gehen. Sie lächelte, weil sie so glücklich war, dass sie nach acht langen Jahren ihre Arbeiten endlich wieder der Öffentlichkeit zeigen konnte.

Doch dann beging sie den Fehler, durch den Hoteleingang zu spähen. Sie sah die Pressemeute und floh bleich wie ein Gespenst in ihr Hotelzimmer zurück. Sie versuchte, ihre Panik zu kontrollieren, während sie so tat, als wäre es an der Zeit, dass sie den roten Teppich allein hinunterlief.

Dabei vergaß sie, dass er sie viel zu gut kannte. Er wusste genau, was mit ihr los war.

Also fuhr die Limousine mit ihm allein vor der Galerie vor, während seine Mutter sich im Hotelzimmer versteckte. Der Gedanke, ein paar Schritte über einen roten Teppich zu laufen und sich fotografieren zu lassen, versetzte sie in Todesangst.

Dass seine Mutter sich für nicht gut genug für diese Leute hielt, machte ihn rasend.

Sie hatten ja keine Ahnung, wie weit Adele in den vergangenen Jahren gekommen war – dass sie überhaupt daran dachte, persönlich zu einer ihrer Ausstellungen zu erscheinen.

Vor fünfzehn Jahren hatte er seiner Mutter ein Versprechen gegeben.

Er hatte ihr versprochen, dass er sie beschützen und sich um sie kümmern würde. Dass er ihr Geheimnis bewahren würde, komme was da wolle. Er hatte sein Versprechen gehalten und würde es weiterhin halten, ganz egal wie sehr es sein Leben und die Entscheidungen, die er gezwungen war zu treffen, beeinflusste.

Er war in Städten geblieben, die sich nahe der großen psychiatrischen Spezialkliniken befanden. Er hatte Angebote abgelehnt, für die andere Köche morden würden, nur damit seine Mutter in einem stabilen Umfeld leben konnte.

Zwar war Adele selten so kreativ wie in ihren dunkelsten Phasen, aber es gab nun mal eine universelle Wahrheit: Auf jeden Höhenflug folgte irgendwann der Absturz. Schnell. Und hart. Manchmal extrem hart.

Einen roten Teppich entlangzuschreiten und dabei zu lächeln, war nur ein kleiner Preis, wenn er seine Mutter damit finanziell und moralisch unterstützen konnte.

Robs Blick überflog die Fotografenmeute, die sich hinter den Absperrungen rechts und links des schmalen Eingangs drängelte. Er erkannte einige Paparazzi, die ihm von Event zu Event folgten, wann immer er in London war, und nickte ihnen zu.

Von allen Seiten traf ihn das Blitzlicht.

Rasch drehte er sich so, dass das riesige Poster, das die Ausstellung mit neuen Arbeiten von Adele Forrester ankündigte, bei jedem Foto deutlich im Hintergrund zu sehen war.

Eine Hand hatte er lässig in die Hosentasche geschoben. Mit der anderen winkte er der Menge zu. Er trug sein typisches weißes Hemd und seinen dunklen Designeranzug. Keine Krawatte. Das wäre zu konventionell gewesen.

Es hatte ihn die vergangenen zehn Jahre gekostet, ein Image zu kreieren, von dem er und die Beresford Familie profitierte. Jetzt hatte er die Gelegenheit, es zu benutzen, um seiner Mum zu helfen.

Langsam lief er den roten Teppich entlang, blieb aber immer wieder stehen, um Kochbücher und Poster seiner TV-Show zu signieren.

Und dann kamen die Fragen.

„Wird Adele heute persönlich auftauchen, oder flüchtet sie wieder wie beim letzten Mal?“

„Wo haben Sie Ihre Mum versteckt, Rob?“

„Haben Sie sie in der Psychiatrie gelassen? Ist das der einzige Zufluchtsort, den sie heutzutage kennt?“

„Was ist dran an den Gerüchten, dass sie sich nach dieser Ausstellung zur Ruhe setzen wird?“

Die Fragen wurden immer lauter, kamen immer näher. Alle wollten wissen, wo seine Mutter steckte.

Sie versuchten, ihn zu provozieren. Ihn immer weiter aufzustacheln.

Sie wollten, dass er explodierte. Dass er jemandem die Kamera abnahm oder noch besser, jemandem ins Gesicht schlug.

Vor ein paar Jahren? Da hätte er ihnen den Gefallen getan und die Konsequenzen getragen. Aber heute Abend ging es nicht um ihn, und deshalb weigerte er sich, die Presse gewinnen zu lassen. Er tat so, als wäre er plötzlich taub geworden und ignorierte sie alle. Was natürlich nur dazu führte, dass sie noch aufdringlicher wurden.

Neun Minuten später war er die ganze Reihe abgelaufen, hatte der wartenden Menge zugelächelt und geduldig gewartet, bis alle ihre Fotos gemacht hatten.

Als die nächste Limousine vorfuhr, wandte die Presse sich plötzlich ab. Rob drehte den Fans und Fotografen den Rücken zu, brachte die letzten Meter des roten Teppichs hinter sich und betrat durch die offene Tür der Kunstgalerie die relative Ruhe des Marmorfoyers, in dem sich bereits andere exklusiv geladene Gäste versammelt hatten.

Diese Vernissage war die einmalige Gelegenheit für Kunstkritiker, die Arbeiten seiner Mutter zu begutachten, ohne die Galerie mit der breiten Öffentlichkeit teilen zu müssen. Das war die gute Nachricht. Die weniger gute Nachricht bestand darin, dass es die Kunstkritiker gewesen waren, die sich wie ein Rudel hungriger Wölfe auf seine Mutter gestürzt hatten, als diese bei ihrer letzten Ausstellung in Toronto zusammengebrochen war.

Es war ja schon schlimm genug, in aller Öffentlichkeit einen Heulkrampf zu bekommen, doch noch schlimmer war es, dass das gequälte Gesicht seiner Mutter am nächsten Tag auf allen Titelseiten geprangt hatte.

Anstatt sie für ihre zerbrechliche Kreativität zu verteidigen, hatte man sie wegen ihres angeblich exzessiven Lebenswandels als Negativbeispiel für junge Künstler gebrandmarkt.

Doch das war jetzt acht Jahre her.

Eine andere Welt. Andere Gesichter. Eine andere Herangehensweise an psychische Krankheiten. Ganz sicher doch, oder?

Rob nahm einem vorbeieilenden Kellner ein Glas Champagner ab und ließ seinen Blick rasch durch den Raum gleiten. Mist, wenn es keinen Hinterausgang durch die Küche gab, dann saß er hier in der Falle. Es sei denn … Ja! Es gab eine Person, die sich tatsächlich die Zeit nahm, die Gemälde zu betrachten, anstatt bei freien Getränken zu plaudern.

Eine hübsche blonde Frau. Berichtigung. Eine sehr hübsche blonde Frau. Sie saß ganz allein am hinteren Ende der Galerie, abseits des Lärms und des Gedränges von der Straße. Sie schien völlig von der Betrachtung der Kunstwerke vor ihr gefangen zu sein.

Rob wandte sich von den anderen Gästen ab, nickte verschiedenen Leuten zu, während er die Galerie durchquerte, und nahm sich dabei die Zeit, ein paar der zweiundzwanzig Gemälde mit Blicken zu streifen. Jedes einzelne kannte er in- und auswendig.

Er konnte den Kritikern die Geschichte zu jedem einzelnen Pinselstrich erzählen. Wo und wann und in welcher Stimmung sich seine Mutter dabei befunden hatte.

Die Verzweiflung, die sie erfasste, wenn das Ergebnis nicht ihren Ansprüchen genügte.

Die Freude darüber, Tag für Tag am Strand entlangzuspazieren. Wodurch die düsteren Tage nur noch dunkler wirkten. Wie damals, als er aus einem wichtigen Meeting gerufen worden war, weil sie sechs seiner Lieblingsbilder auf der Hotelterrasse in Brand gesteckt hatte. Diese Depression hatte wochenlang gedauert.

Die Gemälde hier waren echte Überlebende.

Vor allem das Bild, das die blonde Frau in diesem Moment betrachtete.

Es war gut – daran bestand kein Zweifel.

Aber es war auch offensichtlich, dass seine Mutter es in ihrer schwersten Phase gemalt hatte, als die Depression so groß gewesen war, dass sie beinahe wieder die verhassten Medikamente hatte nehmen müssen.

Es war das einzige Werk, bei dem er seiner Mutter vorgeschlagen hatte, es in der Villa in Carmel in Kalifornien zurückzulassen. Weil es einfach zu persönlich war.

Zu spät.

Aber wer war die Frau, die offensichtlich sofort die beste Arbeit der Ausstellung entdeckt hatte?

Rob stellte sich in eine Ecke des Raumes, nippte an seinem Champagner und beobachtete sie einige Minuten schweigend. Er betrachtete ihre Pose, ihren Körper, ihre Kleidung … nahm alles in sich auf und versuchte, aus dem, was er sah, eine Antwort zu bekommen.

Sie wirkte ganz sicher nicht wie einer der Kunstkritikerfreunde seiner Mutter und noch viel weniger wie eine dieser Presse-Hyänen in Toronto. Das waren alles gescheiterte Künstler. Nein, ganz sicher nicht.

Sie hatte glattes blondes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Sie trug ein trägerloses, aquamarinblaues Kleid, das ihren langen, schlanken Hals besonders gut zur Geltung brachte. Und sie war erstaunlich hübsch.

Völlig gedankenversunken. Ruhig. Ihr Blick war so fest auf das Bild gerichtet, als wäre es das Wichtigste auf der Welt. Sie war gebannt.

Weil sie es verstand. Es war so offensichtlich.

Und zum ersten Mal an diesem Tag – ach was, zum ersten Mal in diesem Monat – spürte er ein echtes Lächeln in sich aufsteigen.

Vielleicht gab es ja doch noch eine Kunstkritikerin in diesem Raum, die ihn dazu bringen konnte, seine Meinung über ihren Berufsstand zu ändern?

Jetzt musste er nur noch ihren Namen herausfinden und …

„Rob! Ich freue mich sehr, dass Sie es einrichten konnten.“ Rob blinzelte, als der Galeriebesitzer mit ausgestreckter Hand auf ihn zukam, ihm die Schulter tätschelte und ihn dann zurück ins Foyer führte, wo er ihn mehreren Pressevertretern vorstellte.

Rasch warf er noch einen Blick über die Schulter auf die blonde Frau, doch die hatte sich leicht abgewandt, um einen Anruf entgegenzunehmen.

Später. Später würde er eine Menge mehr über diese Frau herausfinden.

Charlotte Rosemount lachte in ihr Handy hinein. „Du bist wirklich schamlos, Dee Flynn! Bist du dir sicher, dass es für Sean in Ordnung ist, wenn ich sein Hotel für die Fundraising-Veranstaltung benutze? Damit würde er mir wirklich einen riesigen Gefallen tun.“

„Kein Grund zur Panik, meine große Organisatorin.“ Dees vertraute, warme Stimme drang durch den Hörer zu ihr. „Nenn es eine der vielen Vergünstigungen, die ein Freund, der seine eigene Hotelkette leitet, mit sich bringt. Sean erwartet, dass du die Haute Volée Londons einlädst und sein Hotel bis zum Bersten füllst. Dann können sie auch gleich sehen, wie fantastisch sein neues Hotel ist. Zweck erfüllt.“

„Oh, ist es das? Eine Vergünstigung? Es hat wohl gar nichts mit dem Umstand zu tun, dass Sean zum Mond und zurückfliegen würde, wenn du ihn darum bitten würdest. Oh, nein. Aber ich bin dankbar dafür. Du bist der absolute Star! Vielen Dank, Dee. Und viel Spaß noch auf der Teeplantage.“

„Danke, den werde ich haben, wenn du endlich aufhörst, dir Sorgen zu machen, Süße. Es wird schon alles schiefgehen.“ Plötzlich veränderte sich Dees Stimme. „Tut mir leid, Lottie. Sie rufen gerade meinen Flug auf. Ich vermisse dich. Aber wir brauchen den Tee! Bye, Lottie, bye.“

Charlotte starrte noch ein paar Sekunden auf ihr Handy, ehe sie es zuklappte und ausatmete. Sehr langsam.

Sorgen? Natürlich machte sie sich Sorgen. Oder vielmehr war sie einer Panik nahe.

Was, wenn die Veranstaltung floppte?

Zu schade, dass Dee in dieser Woche in China war. Sie hätte ein bisschen moralische Unterstützung gebrauchen können.

Zumal die Starköchin, die sie als Hauptattraktion des Events gebucht hatte, ihr erst heute Morgen abgesagt hatte. Monatelang hatte sie herumbetteln müssen, ehe Valencia Cagoni schließlich zustimmte, zu dem Spendenmarathon zu kommen.

Und ja, natürlich verstand Lottie, dass Valencia noch bei ihrer Familie in Turin war, weil die beiden vierjährigen Zwillinge die Windpocken hatten und sich wie zwei kleine Tyrannen aufführten. Und nein, Valencia war zu beschäftigt, um in dieser Situation kurzfristig für Ersatz zu sorgen.

Vielen Dank, Valencia, meine alte Chefin und Mentorin. Wirklich vielen Dank.

Erneut drohte die Panik Lottie zu übermannen, doch sie schob sie an den Ort, wohin sie die ganze unterdrückte Furcht verbannte, die damit einherging, eine solch große Verantwortung auf sich zu nehmen.

Die Spendenaktion war von Anfang an ihre Idee gewesen. Wenn es eine gute Sache gab, die ihr Vater sie gelehrt hatte, dann, dass es immer Optionen gab. Sie musste sich nur eine einfallen lassen. Und zwar schnell.

Lottie rutschte auf der harten Bank hin und her, um eine bequemere Position zu finden. Sie saß schon viel länger hier als beabsichtigt – bereits gut zwanzig Minuten!

Erstaunlich.

Das war das erste Mal seit Wochen, dass sie sich ein paar Minuten nur für sich genommen hatte, und das wollte sie genießen. Sehr wahrscheinlich würde das nämlich so schnell nicht mehr vorkommen – dazu nahm es zu viel Zeit in Anspruch, das Café zu managen und die Veranstaltung vorzubereiten.

Die Zeit, sich Kunst anzuschauen, war vermutlich das Einzige, was sie an ihrem neuen Leben vermisste.

Natürlich hatte sie gewusst, dass es kein Nine-to-five-Job war, ein Café mit angegliedertem Teesalon zu führen, aber Himmel, sie arbeitete jetzt noch länger als zuvor in der Bank.

Das meiste davon liebte sie. Es war ein Traum, der wahr geworden war. Trotzdem hatte sie die Gelegenheit sofort ergriffen, als ihr Fotografen-Freund Ian beiläufig erwähnte, dass er einen Caterer brauche, der Kanapees und kleine Desserts für die Eröffnungsfeier einer neuen modernen Kunstgalerie lieferte.

Lotties Kuchenladen und Teesalon brauchte einen Fotografen, der Bilder für die Website machte, und Ian brauchte Essen für die Galerie an diesem Abend. Das war die Art Tauschhandel, die sie liebte.

Das Essen war vorbereitet und konnte jederzeit in der kleinen Küche hinter der Bar angerichtet werden. Die Kellner müssten in etwa zehn Minuten da sein, doch selbst die Künstlerin war noch nicht aufgetaucht.

Insofern konnte sie sich noch ein paar wertvolle Augenblicke nur für sich gönnen, ehe sie sich an die Arbeit machte.

Das hier war ihre ganz spezielle Quality-Time. Wenn sie die Kunst ganz für sich hatte.

Ein Bild hatte es ihr besonders angetan. Es war düster und subtil.

Eine kleine Leinwand in einem breiten roten Rahmen, so wie all die anderen Bilder auch.

Aber dieses hier war anders. Es war schwer zu erklären, aber das Bild hatte etwas an sich, das sie gefangen nahm und nicht losließ.

Lotties Blick schweifte erneut zu dem Gemälde.

Eine schlanke Frau mittleren Alters in einem knielangen roten Kleid stand an einem goldgelben Strand mit Pinien und mediterranen Pflanzen. Die Arme hatte sie in Richtung des Wassers ausgestreckt.

Lottie konnte die Brise, die den Chiffonstoff des Kleids anhob, beinahe spüren.

Die Frau hielt den Kopf hoch erhoben. Auf ihren Lippen lag ein schwaches Lächeln, während sie auf den Ozean blickte und ihn mit beiden Händen zu umfassen suchte – ganz so, als wäre es ihre letzte Chance auf Glück.

Letzte Chance. Oh ja, die kannte sie nur zu gut.

Noch vor drei Jahren war sie ein Business-Klon im Nadelstreifen-Kostüm gewesen, gefangen im käfigartigen Büro derselben Investment-Bank, in der ihr Vater fünfunddreißig Jahre gearbeitet hatte. Alles, was sie tun musste, war, den Kopf einzuziehen, die richtigen Dinge zu sagen und zu tun, was man ihr auftrug, und schon wäre ihr Karriereweg klar vorgezeichnet gewesen. Dazu hatte sie sogar den idealen Freund gehabt, mit den richtigen Referenzen auf dem Papier und nur eine Stufe auf der Karriereleiter über ihr.

Hätte ihr Leben perfekter sein können?

Die Tatsache, dass sie ihren Job so sehr gehasst hatte, dass sie sich fast jeden Morgen übergeben musste, war einer der Gründe, weshalb sie so viel Geld verdiente, nicht wahr?

Bis zu jenem schicksalshaften Tag, als all die Lügen hinweggefegt worden waren, sodass sie sich beraubt und verlassen fühlte. Als sie ganz ähnlich der Frau in dem Gemälde am Strand stand. Die Arme in Richtung Ozean ausgestreckt, während sie nach einer neuen Richtung, einer neuen Identität suchte.

Vielleicht könnte sie am Ende dieses Abends, wenn alle anderen fort waren, mit der Künstlerin sprechen und sie nach der „letzten Chance“ befragen.

Wer weiß? Vielleicht hatte Adele Forrester ein paar Antworten darauf, wie man das Beste aus seinem Leben machte. Und was man tun konnte, wenn all die Leute und Freunde, von denen man geglaubt hatte, dass sie zu einem halten würden, plötzlich deine Anrufe nicht mehr erwiderten, weil sie fanden, dass man keine Gemeinsamkeiten mehr hatte.

Angefangen bei dem ach so perfekten Freund.

Ja, vielleicht hatte Adele ein paar Antworten für sie.

Lottie straffte die Schultern. Es war an der Zeit, dass sie sich an die Arbeit machte. Sie musste 200 Portionen Kanapees auf Platten verteilen.

Los, los.

Ja, sie sollte wirklich anfangen. Ups, zu spät.

Lottie spürte eher, als dass sie es gehört hätte, dass jemand näher kam und sich neben sie stellte. Schweigend starrten sie beide auf die Leinwand. Es kam ihr wie Minuten vor, aber vermutlich waren es nur wenige Sekunden.

„Es ist perfekt, nicht wahr?“, bemerkte eine männliche Stimme.

„Ja, absolut perfekt. Wie schafft sie das nur?“, entgegnete Lottie, ohne sich zu dem Mann umzudrehen. „Wie gelingt es ihr, so viel Gefühl in ein einfaches Bild zu legen? Es ist unglaublich.“

„Talent. Und ein tiefes Verständnis für den Ort. Adele kennt diesen Strand zu jeder Tages- und Jahreszeit. Schauen Sie sich diesen Übergang zwischen Ozean und Horizont an. Das kriegt man nur so hin, wenn man es schon tausendmal betrachtet hat.“

Lottie blinzelte überrascht.

Er verstand es. Dieser Mann äußerte exakt die Gedanken, die ihr durch den Kopf gegangen waren.

Wie schaffte er das? Das Timbre seiner Stimme war beruhigend. Jemand anders sah dasselbe in dem Bild wie sie. Wie war das möglich?

Es war verstörend, dass er genau wusste, was dieses Gemälde ausdrückte, und mit so viel Leidenschaft darüber sprechen konnte.

Doch schlagartig wurde ihr wieder bewusst, wo sie sich befand, und sie kam sich wie eine Närrin vor. Ian hatte ihr gesagt, dass dies eine Vor-Premiere für Kunstkritiker und Presseleute war. Dieser Mann war vermutlich ein Freund von Adele Forrester, der jede Geschichte zu jedem Bild kannte.

Vielleicht konnte er sogar ihre Frage beantworten?

Lottie schob das Kinn vor und veränderte ihre Sitzposition so, dass sie dem Mann ins Gesicht sehen konnte, der neben ihr stand.

Sie erstarrte.

Die Geräusche der elegant gekleideten Gäste, die sich um den Galeriebesitzer geschart hatten, traten völlig in den Hintergrund. Selbst die Luft zwischen ihnen schien plötzlich dicker und kälter. Lottie atmete tief ein.

Das konnte doch nicht wahr sein!

„Rob Beresford“, sagte sie laut und bereute es bereits im nächsten Augenblick bitter.

Es war schon immer ihre schlechteste Angewohnheit gewesen, alles laut auszusprechen, was ihr in den Sinn kam. Eigentlich hatte sie jedoch geglaubt, es sich abgewöhnt zu haben. Offensichtlich nicht. Vor lauter Verwirrung stand ihr der Mund offen.

Und warum nicht?

Rob Beresford. Der Koch, den sie am meisten auf der Welt verachtete. Und der Mann, der ganz allein versucht hatte, ihre Karriere zu zerstören.

2. KAPITEL

„Höchstpersönlich“, erwiderte Rob und setzte sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, neben sie auf die mit Leder bezogene Bank und streckte seine langen Beine in Richtung der Bilderwand aus. „Ich hoffe, dass Ihnen die Ausstellung gefällt. Dieses Gemälde ist wirklich außergewöhnlich.“

Lottie versuchte, das was gerade geschah, zu verarbeiten. Und scheiterte.

Rob Beresford.

Ihn hätte sie in einer Vernissage am allerwenigsten erwartet.

Er wirkte wie der Prototyp des gefeierten Küchenchefs. Schicker Anzug. Tadelloser Haarschnitt. Verwegener Drei-Tage-Bart. Die Stylistin, die seine Kleidung so perfekt ausgewählt hatte, gehörte verflucht.

Seit ihrer letzten Begegnung vor drei Jahren hatte er sich kaum verändert.

Als er sie aus ihrer ersten Stelle in einer professionellen Küche gefeuert hatte.

Allein wenn sie an jenen Tag zurückdachte, wurde ihr übel.

Sie hatte gerade erst drei Monate als Lehrling in dem Beresford-Hotel gearbeitet, als der allmächtige Rob Beresford in die Küche gestürmt war und verlangte, dass der Idiot, der das Schokoladendessert gemacht hatte, rausging und sich persönlich bei dem Hotelgast entschuldigte, der sich an dem knüppelharten Teig beinahe einen Zahn ausgebissen hätte.

Offensichtlich war es für Rob eine totale Demütigung gewesen. Deshalb brauchte er einen Sündenbock, dem er die Schuld für das Desaster geben konnte.

Mit einem einzigen Blick hatte die Pâtissière Debra in ihre Richtung genickt. Lottie wusste gar nicht, wie ihr geschah, denn schon im nächsten Moment packte Rob sie an ihrer Kochjacke und hob sie so hoch, dass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war und sie seinen heißen, wütenden Atem auf ihrer Wange spüren konnte.

„Verschwinde aus meiner Küche und geh zurück auf die Schule, von der du gekommen bist, du erbärmlicher Möchtegern-Koch. Dir fehlt das, was es braucht, um diesen Beruf auszuüben. Deshalb geh jetzt und erspar uns allen die vergeudete Zeit. Ich lasse es niemandem durchgehen, mich zu demütigen.“

Er ließ sie so plötzlich los, dass Lottie beinahe gefallen wäre und sich an der Arbeitsfläche aus Edelstahl festhalten musste, während Rob mit dem Finger auf sie zeigte. „Morgen will ich dich hier nicht mehr sehen. Verstanden?“

Oh, und ob sie verstanden hatte. Sie verstand völlig, wie ungerecht und voreingenommen diese Küchenchefs waren. Sie nahm ihren Mantel und flüchtete aus der Hintertür, ehe die schmuddelige Pâtissière Debra, die so betrunken war, dass sie kaum aufrecht stehen, geschweige denn eine vernünftige pâte sucrée machen konnte, noch ein weiteres Wort herausbrachte.

Damals hatte sie sich geschworen, nur noch ihr eigener Chef zu sein. Komme, was da wolle.

Was die Frage nach sich zog … was er hier machte? Ausgerechnet in einer Galerie? Ob er Kunst für seine Restaurants kaufen wollte? Nein, da war es wahrscheinlicher, dass er jemanden in diesem Raum kannte, der seiner Karriere irgendwie förderlich sein konnte.

Das Demütigende war, dass er sie nicht zu erkennen schien. Vermutlich hatte er sie in die Schublade gepackt, in der alle gefeuerten Lehrlinge verschwanden und schnell vergessen wurden. Sie allerdings hatte auch nicht vor, ihn an ihre frühere Begegnung zu erinnern.

Lottie schob sich das Haar aus dem Nacken, weil ihre Haut plötzlich vor Ärger brannte.

Diesmal würde sie sich nicht von ihm abkanzeln lassen. Ganz sicher nicht.

Autor

Nina Harrington
Nina Harrington wuchs in der Grafschaft Northumberland in England auf. Im Alter von 11 Jahren hatte sie zuerst den Wunsch Bibliothekarin zu werden – einfach um so viel und so oft sie wollte lesen zu können.
Später wollte sie dann Autorin werden, doch bevor sie ihren Traumberuf ausüben konnte, machte sie...
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