Baccara Exklusiv Band 192

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HEISSE LEIDENSCHAFT - KALTE LÜGE? von JANICE MAYNARD

Als Pierce Avery entdeckt, dass er nicht der leibliche Sohn seines Vaters ist, steht seine Welt Kopf. Um Licht ins Dunkel seiner Herkunft zu bringen, engagiert er die Anwältin Nicola. Eine ebenso kluge wie aufregend schöne Frau, die unerwartet heißes Verlangen in ihm weckt ...

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  • Erscheinungstag 03.04.2020
  • Bandnummer 192
  • ISBN / Artikelnummer 9783733726768
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Janice Maynard, Jennifer Lewis, Brenda Jackson5

BACCARA EXKLUSIV BAND 192

1. KAPITEL

Pierce Averys Tag war dermaßen schlecht, dass alle anderen schlechten Tage seines bisherigen Lebens daneben verblassten. Sein Magen drückte vor Anspannung, und sein Kopf fühlte sich an, als würde er in einem Schraubstock stecken. Wahrscheinlich sollte er in seiner gegenwärtigen Verfassung noch nicht mal am Steuer sitzen.

Wenn er sonst schlecht drauf war, fuhr er mit seinem Kajak gern einen Fluss hinunter. An einem heißen Augustnachmittag gab es nichts Schöneres, als sich die Gischt ins Gesicht spritzen zu lassen, während einen gleichzeitig Freude durchströmte und innerer Friede überkam. Schon als Teenager hatte Pierce gewusst, dass er nicht dazu geschaffen war, seine Tage am Schreibtisch zu verbringen. Er vernahm den Lockruf der Natur und wusste, wo sein Platz war.

Als junger Mann hatte ihn das vor die Herausforderung gestellt, einen Beruf zu finden, bei dem er sich weiterhin wie ein verspieltes Kind aufführen durfte und auch noch dafür bezahlt wurde. Da derartige Beschäftigungsverhältnisse eher rar gesät waren, hatte er selbst kurzerhand eine Firma gegründet. Nun verbrachte er seine Tage damit, Studenten, ihrem natürlichen Lebensraum entrissene Manager und abenteuerlustige Senioren durch die Wildnis zu führen.

Er unternahm mit ihnen Abenteuertouren, ließ sich von Felsen abseilen, kletterte in Höhlen und ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach – dem Kajakfahren. Er liebte seinen Job von ganzem Herzen. Genau wie sein Leben. Doch heute bröckelte das Fundament seiner Existenz wie die Erde bei einem heftigen Regensturm.

Er stellte den Wagen in einer ruhigen Seitenstraße von Charlottesville ab. Das Semester an der Universität von Virginia hatte noch nicht begonnen, und die Straßencafés waren nur spärlich bevölkert. Trotz seiner rebellischen Natur hatte die Zeit auf der Universität Pierce’ Charakter geformt. Mit Auszeichnung hatte er hier seinen Magisterabschluss in Betriebswirtschaft erworben, weil sein Vater ihn dazu gedrängt hatte, sein volles Potenzial auszuschöpfen.

Pierce hatte seinem Vater alles zu verdanken. Und nun, Jahre später, wo sein Vater ihn brauchte, konnte Pierce ihm nicht helfen.

Mit zitternden Fingern schloss er den Wagen ab und starrte dann auf den unauffälligen Büroeingang. Vor dem Backsteingebäude standen Tontöpfe mit Geranien in der warmen Sonne. Über der Türklingel befand sich ein eingraviertes Messingschild. Alles Mögliche hätte sich hinter dieser Fassade befinden können: ein Arzt, ein Steuerberater, ein Akupunkteur. Nur ein Zu-Vermieten-Schild im Fenster störte das Bild.

Das städtische Leben in Charlottesville blühte, es gab viele Kunstgewerbeläden, aber auch ganz normale Geschäfte. Eine Exfreundin von Pierce betrieb wenige Straßen entfernt eine Töpferei. Doch heute war er zu abgelenkt, um daran zu denken. Selbst den Duft von frischem Brot, der von der Bäckerei nebenan herüberwehte, nahm er kaum wahr.

Pierce hatte einen Termin bei einer Nicola Parrish. Er läutete an der Tür und wurde sofort eingelassen. Im Vergleich zum blendenden Sonnenschein draußen wirkte der Empfangsbereich düster. Es war kühl und duftete nach Kräutern, die in Töpfen eines Erkerfensters wuchsen. Eine Frau mittleren Alters blickte von ihrem Computerbildschirm auf und lächelte ihn an. „Mr. Avery?“

Pierce nickte hastig. Er wusste, dass er zu früh war, hatte es aber einfach keine Sekunde länger zu Hause ausgehalten.

Die Empfangsdame lächelte ihn an. „Gehen Sie ruhig direkt rein. Miss Parrish ist bereit für Sie.“

Pierce wusste nicht, was ihn erwartete. Seine Mutter hatte den Termin vereinbart. Tatsächlich hätte er einiges darum gegeben, wenn er einfach hätte verschwinden und die ganze Sache vergessen können.

Miss Parrish erhob sich, als er eintrat, und streckte ihm die Hand entgegen. „Guten Tag, Mr. Avery. Mein Name ist Nicola Parrish. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

Er schüttelte ihre Hand und bemerkte ihren festen Händedruck, die schlanken Finger und ihre weiche Haut. „Danke, dass Sie mich dazwischenschieben konnten.“

„Ihre Mutter sagte, es sei dringend.“

Plötzlich schnürte ihm eine große Traurigkeit die Brust ein. „Das ist es. Und auch wieder nicht. Tatsächlich weiß ich eigentlich gar nicht, wie Sie mir helfen können.“

Sie forderte ihn mit einer Handbewegung auf näherzutreten. „Nehmen Sie Platz. Das werden wir bald klären.“

Ihr aschblondes Haar war zu einem kinnlangen Bob geschnitten und perfekt frisiert. Sie war schlank, aber nicht dünn, und trotz ihrer Größe ein paar Zentimeter kleiner als er.

Pierce blickte auf die Wand hinter ihrem Kopf. Harvard Law School. Ein weiterer Abschluss in Naturwissenschaftlicher Forensik. Verschiedene Auszeichnungen und Urkunden. In Kombination mit dem modischen schwarzen Hosenanzug, den sie trug, war die Botschaft klar. Diese Frau war klug, engagiert und professionell. Ob sie ebenso gut darin war, Informationen aufzutreiben und Antworten zu finden, blieb abzuwarten.

Plötzlich erhob sie sich. „Vielleicht haben wir es dort drüben bequemer.“ Mit diesen Worten trat sie hinter ihrem Schreibtisch hervor und ging auf einen kleinen Sitzbereich am anderen Ende des Zimmers zu. Jetzt bemerkte er ihre auffällig schönen Beine.

Pierce folgte ihr und ließ sich in einen Lehnstuhl sinken. Die Anwältin hob eine silberne Kanne vom Tisch. „Kaffee?“

„Ja, bitte. Schwarz. Kein Zucker.“

Sie goss ihm ein, reichte Pierce die Tasse, und ihre Finger berührten sich kurz. An ihrer Hand trug sie keinen einzigen Ring. Pierce trank mit einem Schluck die halbe Tasse leer. Gegen einen Schuss Whisky hätte er auch nichts einzuwenden gehabt.

Der Blick der Anwältin war freundlich, aber distanziert. Sie wartete darauf, dass er das Wort ergriff, als er es nicht tat, seufzte sie. „Die Uhr läuft, Mr. Avery. Ich habe heute nur fünfundvierzig Minuten Zeit.“

Pierce beugte sich vor, seinen Kopf in die Hände gestützt. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“ Er fühlte sich erschöpft und hilflos. Diese Gefühle waren ihm sonst fremd, und sie machten ihn wütend. Er war kurz davor, die Fassung zu verlieren.

„Ihre Mutter hat mir nur gesagt, dass es sich um die Untersuchung eines möglichen Krankenhausbetrugs vor dreißig Jahren handelt. Ich nehme an, es hat etwas mit Ihrer Geburt zu tun?“

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und umklammerte fest die Stuhllehnen. Seine Mutter hatte Nicola Parrish kontaktiert, weil eine gute Freundin von ihr Miss Parrish empfohlen und deren Arbeitsmoral und Erfahrung in den höchsten Tönen gelobt hatte. Die Freundin seiner Mutter hatte Miss Parrish einmal mit einer Adoptionsangelegenheit beauftragt. „So ist es.“

„Reden wir über einen Fall, bei dem Babys vertauscht und versehentlich mit den falschen Eltern nach Hause geschickt worden sind?“

„Ganz so einfach ist es nicht.“ Vielleicht hätte er doch zuerst zu einem Seelenklempner gehen sollen, bevor er sie aufsuchte. Um seine chaotischen Gefühle zu ordnen. Anwälte verfügten zwar gewöhnlich über eine gute Beobachtungsgabe, doch sie konnten keine Gedanken lesen. Und im Grunde wollte er auch nicht, dass irgendjemand den dunklen, tosenden Fluss der Verwirrung sah, der in seinem Inneren anschwoll und kurz vor dem Überlaufen stand.

„Mr. Avery?“

Er sog scharf den Atem ein und grub seine Fingernägel in die dick gepolsterten Lehnen des teuren Möbelstücks. „Mein Vater leidet an Nierenversagen. Es steht sehr schlecht um ihn.“

In ihren blaugrauen Augen stand aufrichtiges Mitgefühl. „Das tut mir sehr leid.“

„Er braucht eine Organspende. Während er auf der Warteliste steht, läuft seine Zeit ab. Ich wollte ihm eine Niere spenden. Wir haben alle notwendigen Tests gemacht, aber dann …“ Er konnte nicht weitersprechen.

„Was dann?“

Pierce sprang vom Stuhl auf und lief im Raum hin und her. Der Boden war von einem teuren Orientteppich bedeckt, der in rosa und grünen Pastellfarben gehalten war. Zwischendurch blitzten immer wieder Teile des glänzenden Parkettbodens durch. Der Kamin musste irgendwann einmal tatsächlich zum Heizen benutzt worden sein, diente jetzt aber wohl eher dekorativen Zwecken.

„Ich bin nicht sein Sohn.“ Beinahe hundert Mal hatte er diese Worte in den letzten drei Tagen im Kopf geprobt. Aber sie laut auszusprechen, machte die Wahrheit nur unerträglicher.

„Sie sind adoptiert worden? Und haben nichts davon gewusst?“

„Meine Mutter sagt, das sei nicht der Fall.“

„Eine Affäre?“

Pierce krümmte sich innerlich. „Das glaube ich nicht. Im Leben meiner Mutter hat es nur einen Mann gegeben, und das ist mein Vater. Außerdem habe ich ihr Gesicht gesehen, als der Arzt es uns gesagt hat. Sie ist aus allen Wolken gefallen. Genauso wie ich.“

„Also ist die einzige andere Erklärung, dass Sie auf der Säuglingsstation des Krankenhauses vertauscht worden sind, richtig?“

„Die Tante meiner Mutter, meine Großtante, war die diensthabende Ärztin in jener Nacht. Ich zweifele sehr daran, dass sie so einen Fehler zugelassen hätte.“

„Was also kann ich für Sie tun?“

Er stützte seinen Unterarm auf das Kaminsims und starrte auf das Porträt von Thomas Jefferson, das über der Feuerstelle an der Wand hing. Der frühere Präsident hatte eine noch immer ungeklärte Anzahl von unehelichen Kindern gezeugt. Sogar heute noch diskutierten die Leute über mögliche Verwandtschaftsverhältnisse.

Pierce hatte nicht ein einziges Mal daran gezweifelt, zu welcher Familie er gehörte. Er stand seinen Eltern sehr nahe. Das Wissen, dass er nicht der leibliche Sohn seines Vaters war, erschütterte ihn im Kern. Wenn er nicht Pierce Avery war, wer war er dann?

„Meine Mutter verbringt jede wache Minute im Krankenhaus bei meinem Vater. Sie hofft, dass die Ärzte ihn hinreichend stabilisieren können, damit er nach Hause gehen kann. Aber selbst dann wird sie sich rund um die Uhr um ihn kümmern müssen.“

„Und Sie?“

„Ich habe meinen stellvertretenden Geschäftsführer informiert, dass ich aus persönlichen Gründen eine Auszeit brauche. Er ist sehr kompetent. Also muss ich mir in dieser Beziehung keine Sorgen machen. Ich werde Ihnen so oft wie möglich zur Verfügung stehen, aber Sie müssen die Untersuchung für uns durchführen. Ich brauche Ihre Hilfe.“

Nikki war noch nie einem Mann begegnet, bei dem es weniger plausibel erschien, dass er auf die Hilfe einer Frau angewiesen sein könnte. Pierce Avery war breitschultrig, über eins achtzig groß und muskulös. Er sah aus, als könnte er einen Berg mit seinen bloßen Händen auseinanderreißen – oder ihn zumindest während eines Schneesturms erklimmen.

Er schien eher dafür geboren, Frauen zu beschützen. Seine männliche Ausstrahlung löste ein Kribbeln in Nikkis Bauch aus. Sie war gebildet, selbstständig und finanziell unabhängig. Warum also bekam sie bei dem Gedanken, sich von einem großen, starken Mann beschützen zu lassen, weiche Knie?

„Unser erster Schritt sollte darin bestehen, Einsicht in die Archivaufzeichnungen des Krankenhauses zu beantragen“, sagte sie betont sachlich. Pierce Avery wollte, dass umgehend Maßnahmen ergriffen wurden. So viel war klar.

Ihr zukünftiger Klient verzog das Gesicht. „Leider war es eine Privatklinik. Sie wurde Mitte der Neunzigerjahre aufgekauft und schließlich geschlossen.“

„Trotzdem müssen die Aufzeichnungen immer noch irgendwo vorhanden sein.“

„Das hoffen wir. Wie lange wird es dauern, bis Sie an sie herankommen?“

Nikki runzelte die Stirn. „Sie scheinen unter dem falschen Eindruck zu stehen, dass Sie mein einziger Fall sind.“

„Geld spielt keine Rolle.“

Nikki fühlte, wie Zorn in ihr aufstieg. „Es gefällt mir nicht, wenn Wohlhabende mit ihrem Geld um sich schmeißen und erwarten, dass jeder sofort springt.“

Er blickte auf die edlen gerahmten Urkunden an der Wand. „Harvard gilt auch nicht gerade als billig, Miss Parrish. Ich bezweifle, dass Sie je von Essensmarken gelebt haben.“

Sie kämpfte ihren Ärger nieder und atmete tief durch, bis sie sicher war, ruhig sprechen zu können. „Sie wären überrascht.“

Er starrte sie an. „Ich habe mir nie viel aus Anwälten gemacht.“

Er brachte sie wirklich auf die Palme. Nikki biss die Zähne zusammen und funkelte ihn an. „Sind Sie immer so unausstehlich?“ Sie stand auf und strich ihren Rock glatt.

Pierce machte einen Schritt auf sie zu und fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles, ein wenig zerzaustes Haar. „Sind Sie immer so anstrengend?“

Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut. Eine Ader war an seinem Hals hervorgetreten und pochte. Seine dunkelbraunen Augen waren fast zu schön für einen Mann. „Ich streite mich selten mit meinen Klienten“, sagte sie leise. „Warum nur mit Ihnen?“

Er wich einen Schritt zurück. Zu ihrer eigenen Irritation war sie enttäuscht. „Ich bin nicht ich selbst“, sagte er plötzlich beschämt.

„Soll das eine Entschuldigung sein?“

„Ich mag immer noch keine Anwälte.“

„Sie können es sich nicht leisten, wählerisch zu sein, nicht wahr?“

In seinen Augen blitzte es. „Das war alles nicht meine Idee.“

„Nein“, sagte sie spöttisch. „Ihre Mom ist schuld.“ Sie reizte ihn absichtlich, neugierig, wie weit sie gehen konnte.

Zu ihrer Überraschung lachte er laut auf. „Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden dafür bezahle, mich beleidigen zu lassen.“

Sie schüttelte den Kopf und wunderte sich über die spontane und merkwürdige Verbindung zwischen ihnen. Eine negative Verbindung zwar, aber nicht zu leugnen, dass da etwas zwischen ihnen war. „Ich fürchte, Sie bringen das Schlechteste in mir zum Vorschein.“

„Schlecht kann auch manchmal positiv sein.“ Er sagte das, ohne eine Miene zu verziehen, doch in seinen Augen blitzte es schalkhaft.

„Warum wollen Sie Ihr Büro vermieten?“

Die Frage erwischte sie unvorbereitet. „Nun, ich …“ Verdammt. Sie war normalerweise eiskalt und effektiv im Gerichtssaal. Aber das erforderte auch Stunden an Vorbereitung. Heute spürte sie jedoch nichts als Treibsand unter ihren Füßen.

Pierce legte seinen Kopf in den Nacken. „Staatsgeheimnisse?“

Sie seufzte. „Ganz im Gegenteil. Ich habe meine Praxis verkauft, wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Ich habe das Angebot erhalten, mich einer Kanzlei außerhalb von D. C. anzuschließen. Bei meinem ehemaligen Juraprofessor.“

„Ich höre da ein Aber.“ Sein neugieriger Blick milderte seine vorherige Schroffheit.

„Ich habe um Bedenkzeit gebeten. Seit meinem Abschluss vor sechs Jahren habe ich pausenlos gearbeitet. Ich fühle mich ausgebrannt.“

„Sie müssen sich Ihrer Entscheidung aber ziemlich sicher sein, wenn Sie Ihre Praxis bereits verkauft haben.“

„Das bin ich ganz und gar nicht. Aber so oder so habe ich Lust auf etwas Neues. Falls aus der Sache nichts wird, würde ich gern als Beraterin für ein Non-Profit-Unternehmen arbeiten.“

„Reich wird man damit nicht.“

„Haben Sie schon mal den Satz gehört: Folge deiner Bestimmung? Ich möchte ein paar Dinge auf meiner Liste abhaken, bevor ich alt und grau bin.“

„Das kann ich verstehen“, sagte er und schob seine Hände in die Taschen.

Sie zweifelte jedoch daran. Man sah ihm zu deutlich an, dass er mit dem Silberlöffel im Mund geboren worden war. Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Wir müssen später weitermachen“, sagte sie. „Ich habe noch einen Termin.“

„Das spielt keine Rolle“, sagte er. „Ich möchte, dass Sie mir Ihre volle Aufmerksamkeit schenken.“

Hörte sie schlecht, oder schwang in seinem Tonfall etwas Zweideutiges mit? „Ich gehe bald in den Urlaub“, sagte sie betont langsam.

„Ja, ich weiß. Um in sich zu gehen. Dabei kann ich Ihnen übrigens helfen. Ich zahle Ihnen jedes Honorar, das Sie verlangen. Damit Sie mir helfen, die Leichen aus meinem Keller zu holen. Auch wenn ich wirklich nicht scharf darauf bin. Und in der Zwischenzeit helfe ich Ihnen, die überarbeitete Anwältin abzustreifen und wieder ein normaler Mensch zu werden.“

„Ich habe noch nicht gesagt, dass ich Ihren Fall übernehmen werde. Und außerdem – was qualifiziert Sie überhaupt dafür, mir beim Entspannen zu helfen?“

Er rückte das Porträt über ihrem Kamin grade, während sie am Rand ihres kostbaren Schreibtischs lehnte. „Das werden Sie schon sehen, Miss Nicola Parrish.“

2. KAPITEL

Ganze sechs Tage lang hatte Pierce sich gedulden müssen, bis Nicola ihre restlichen Termine abgearbeitet hatte und offiziell außer Dienst war. Selbst dann hatte er ihr als Gegenleistung für ein Gespräch unter vier Augen bei ihrem Auszug aus dem Büro helfen müssen. Glücklicherweise war der Zustand seines Vaters momentan stabil.

Auf Nicolas Bitte hin hatte er den Truck mitgebracht, mit dem er und sein Dad normalerweise Fahrradschläuche, Waffen, Verpflegung und Kajaks in die Wildnis transportierten. Das musste Pierce ihr lassen – im Verhandeln war sie ein echter Profi. Er konnte sich einige Dinge vorstellen, die er an einem heißen Sommertag lieber getan hätte, als schwere Kisten durch die Gegend zu schleppen.

Doch seine Laune besserte sich sofort, als Nicola ihm die Tür öffnete. Ein schlichtes Stirnband hielt ihr das blonde Haar aus dem Gesicht, und ihre Wangen waren leicht gerötet. In den kurzen Kaki-Shorts kamen ihre schönen Beine perfekt zur Geltung, und beim Anblick ihrer Brüste in dem engen, weißen T-Shirt bekam er einen trockenen Mund. Die schwarzen Riemchensandalen an ihren Füßen wirkten viel zu jugendlich für eine erfolgreiche Anwältin.

Er räusperte sich. „Der Truck parkt draußen.“

Nicola runzelte die Stirn. „Sie sind spät dran.“

Er hob irritiert eine Augenbraue, schwor sich aber, den Köder nicht zu schlucken. „Es hat einen Unfall auf dem Weg hierher gegeben. Ich musste einen Umweg fahren.“

Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und verzog das Gesicht. „Es ist höllisch heiß hier drin. Jemand hat die Termine verwechselt und mir zwei Tage zu früh den Strom abgestellt.“

„Mist.“ Er trat ins Haus und sah, dass der Empfangsbereich schon nicht mehr existierte. An dessen Stelle stand nur noch ein riesiger Kistenstapel. „Wohnen Sie in der zweiten Etage?“

„Oh nein. Das wäre fatal für einen Workaholic wie mich.“

Er ging hinter ihr die Stufen hoch, ihren wohlgerundeten Po immer auf Augenhöhe. „Die meisten Workaholics geben nicht zu, dass sie welche sind.“ Es war gut, dass er bald auf angemessene Weise zupacken durfte, denn er musste sich dringend von den lüsternen Gedanken ablenken, die diese Frau in ihm weckte.

In der oberen Etage befand sich ein großer, offener Raum mit einem integrierten Badezimmer. Offensichtlich hatte Nicola dieses Zimmer vor allem dazu genutzt, um Sachen zu lagern, doch in der Ecke standen auch ein Sofa, ein Tisch und eine Lampe. Ein Hinweis darauf, dass Nicola vielleicht gelegentlich eine Nacht hier verbracht oder an einem stressigen Tag ein Nickerchen gemacht hatte.

Sie beugte sich hinunter und hob einen Karton mittlerer Größe auf. „Es bringt nichts, sich selbst etwas vorzumachen“, sagte sie trocken. „Ich kenne mich ziemlich gut. Lassen Sie uns loslegen. Bis jetzt habe ich dreiundfünfzig Kisten gepackt.“

Es zuckte um seine Mundwinkel. „Wirklich dreiundfünfzig? Nicht vierundfünfzig oder zweiundfünfzig?“

„Machen Sie sich über mich lustig?“ Sie runzelte die Stirn, und eine winzige Falte bildete sich über ihrer klassisch geformten Nase.

Er nahm ihr die Kiste aus der Hand. „Sie packen weiter und beschriften. Ich lade die Kisten ein, Ms. Parrish. Ich glaube, das macht mehr Sinn, denn ich bin mindestens vierzig Kilo schwerer als Sie. Außerdem bezweifle ich, dass Sie mir zutrauen, die Kartons richtig zu packen.“

Sie schlang die Arme um ihre Taille. „Sie können mich ruhig Nikki nennen. Ich glaube, unsere Anwalt-Klienten-Beziehung ist ohnehin ruiniert.“

Er packte sich eine zweite Kiste auf die erste, prüfte das Gewicht und entschied, dass er vielleicht sogar noch eine dritte schaffen würde. „Du sagst ruiniert, ich sage verbessert. Mir ist es lieber, wenn kein Schreibtisch zwischen uns steht.“ Es sei denn, du liegst drauf, und ich beuge mich über dich und küsse deine …

Er rief sich selbst zur Ordnung. Solche Fantasien würden ihm nicht dabei helfen, seine Probleme zu lösen. „Okay, Nikki. Und du kannst mich Pierce nennen.“

Nikki fühlte sich schuldig. Jedoch nicht schuldig genug, um Pierce Averys Hilfe abzulehnen. Er hatte drei Tage lang immer wieder in ihrem Büro angerufen. Irgendwann war sie völlig genervt gewesen und hatte ihm gesagt, dass er ihr eben beim Umzug helfen solle, wenn er diesen Termin so verdammt dringend haben wolle.

Sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er sich darauf einlassen würde. Doch nun war er hier. Und der Anblick seines Bizeps machte Nikki ebenso schwindelig wie der Duft seines Aftershaves, der im Treppenhaus hing.

Grimmig stopfte sie den letzten Rest ihrer Sachen einfach in eine Mülltüte und warf diese dann aus dem Fenster, wo ein Müllcontainer auf der Straße stand.

Nachdem sie einen letzten prüfenden Blick durchs Zimmer hatte schweifen lassen, stieg sie die Stufen herab. Vorher vergewisserte sie sich allerdings, dass Pierce noch immer draußen war. Auf keinen Fall wollte sie sich auf der schmalen Treppe an ihm vorbeidrücken müssen. Noch nie hatte ein Mann eine derartige Wirkung auf sie ausgeübt.

Als sie genauer darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass seit ihrem letzten Date in Charlottesville beinahe zwei Jahre vergangen waren. Das letzte Mal, dass sie mit einem Mann im Bett gewesen war, lag sogar noch länger zurück.

Für Männer blieb anscheinend nie genug Zeit übrig. Sie besaß einen großen Freundeskreis, und ihr Terminkalender war stets gut gefüllt. Ihre spärliche Freizeit nutzte sie, um Arbeit aufzuholen, die auf ihrem Schreibtisch liegen geblieben war.

Sie liebte ihren Job. Die Urkunden, die an ihrer Wand hingen, waren mehr als Dekoration für sie. Sie bewiesen, wie weit sie es gebracht hatte. Dieselben Urkunden lagen nun verpackt in einem stabilen Pappkarton und würden bald in den Wagen wandern. Die einzige wirkliche Herausforderung blieb ihr Schreibtisch.

Pierce stand unbemerkt im Türrahmen und ließ seinen Blick nachdenklich auf der Frau ruhen, die ihm hoffentlich dabei helfen würde, das Chaos in seinem Leben zu ordnen. Sie arbeitete schnell und methodisch, wobei sie Zipperbeutel benutzte, um Büroklammern, Stifte, Gummibänder und andere notwendige Büroutensilien zu verstauen. Sie wusste, was sie tat. Jede Kiste war in unterschiedlichen Farben markiert und mit Querverweisen beschriftet. Er musste ihre durchdachte Ordnung bewundern. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die gesamte Einrichtung in einem halben Tag zusammengepackt.

Aber Nikki Parrish war viel zu sorgfältig für derartige Hauruckaktionen. Andererseits würde sie niemals um ein Uhr morgens verzweifelt nach einem Handtuch suchen müssen, wie Pierce es in der Nacht getan hatte, als er in sein neues Haus eingezogen war.

Schweigend sah er zu, wie sie in eine Schreibtischschublade griff und einen kleinen Gegenstand hervorholte, der aus der Entfernung wie eine kleine Tierfigur aus Metall aussah.

„Ein Geschenk von einem Exfreund?“, fragte er. Mit einem wohligen Seufzer streckte er sich auf der Couch aus. Das Fenster neben dem Kamin stand offen, und eine angenehme Brise wehte ins Zimmer.

„Ich bin nicht sentimental, Mr. Avery.“

„Pierce. Warum bewahrst du das Ding dann auf?“

Achselzuckend drehte Nikki den Gegenstand in ihren Händen hin und her, ihr Blick war gedankenverloren. „Es ist ein Collie aus Zinn. Ich habe ihn seit meiner Kindheit.“

Er grinste. „Also doch sentimental. Ich wette, du hast immer noch alle Stofftiere, die du als kleines Mädchen besessen hast.“

Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. Es war offensichtlich, dass sie nicht gern über ihre Kindheit sprach.

Was mochte Nicola Parrish wohl erlebt haben? Er erwog, weiter nachzubohren, entschied sich aber dagegen. Auf keinen Fall wollte er sie verstimmen.

Er rollte seine Schultern und spürte schmerzhaft seine Muskeln, doch es war ein angenehmer Schmerz. Obwohl sein Job ihm körperlich viel abverlangte, hatte das zweistündige Kistenschleppen ganz andere Muskelregionen beansprucht. „Die obere Etage ist leer“, sagte er. „Alles, was wir noch haben, befindet sich hier drin.“

„Ich weiß deine Hilfe zu schätzen“, sagte sie etwas steif.

Er zuckte die Achseln. „Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich führ dich heute Abend zum Essen aus, dann kannst du mir erzählen, was du bist jetzt herausgefunden hast.“

Sie beugte sich vor und ließ die Hundefigur in einen Karton fallen. „Ein Abendessen ist sicher nicht notwendig.“

„Du hattest einen langen Tag, und es wird noch eine Weile dauern, bis wir fertig sind. Es ist das Mindeste, was ich tun kann.“

„Zum Ausgehen bin ich nicht richtig angezogen.“

„Spielt keine Rolle. Ich gehe nachher nach Hause und mache mich frisch, und du kannst in der Zeit dasselbe tun. Da gibt es ein neues Restaurant am East Market, das ich gerne ausprobieren würde.“ Er zögerte. „Bringen wir die Kartons zu deinem Haus? Wir werden sicher zweimal fahren müssen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Meine Wohnung ist winzig. Ich habe zwei Wohnblöcke von hier einen Lagerraum gemietet. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich dir den Schlüssel und den Zugangscode geben. Bis du zurück bist, müsste ich fertig sein.“

Als sie ihm die Schlüssel überreichte, streiften ihre Finger seine Hand. Sie beide standen nahe genug, dass er den leichten Duft ihrer Haut einatmen konnte. In diesem Moment schoss ihm ein Bild durch den Kopf, wie er mit Nikki zusammen unter der Dusche stand. Verdammt. Nicht gerade der günstigste Zeitpunkt für eine Erektion.

So lässig wie möglich trat er einen Schritt zurück. Sie reichte ihm einen Streifen Papier mit der Adresse und dem Zugangscode. „Danke.“

Er versuchte, seine niederen Instinkte zu unterdrücken. „Hattest du schon Erfolg mit den Unterlagen?“

Sie setzte sich auf den Rand ihres Schreibtischs und ließ ihre Beine baumeln. „Du hast Glück, dass wir in einem Hochgeschwindigkeitszeitalter leben, Mr. Rastlos. Vor Kurzem habe ich eine E-Mail erhalten. Ich werde die Anhänge ausdrucken und sie zum Abendessen mitbringen. Wir können sie dann gemeinsam durchgehen.“

Seine Erregung verebbte, als wieder einmal die vernichtende Wahrheit über ihm zusammenschlug. Bei seiner Geburt war etwas Schreckliches geschehen. Wollte er die Hintergründe wirklich erfahren? Nein, aber er hatte keine Wahl.

„Es wird nicht lange dauern“, sagte er und ging schnell aus dem Zimmer, bevor sie merkte, wie ihn die Nachricht verstört hatte.

Das Ausladen war ein Kinderspiel. Er musste die Kisten und Kartons einfach nur in den von Nikki gemieteten Lagerraum räumen. Ihm kam der Gedanke, dass sie einen wesentlichen Teil ihrer Persönlichkeit auslagerte, während sie über ihre weitere Zukunft nachdachte.

Sie waren beide im Umbruch. Bis jetzt war sich Pierce völlig sicher gewesen, dass sein Lebensweg vorgezeichnet vor ihm lag, und plötzlich musste er seinem stellvertretenden Geschäftsführer die Leitung übertragen und in die Untiefen seiner Vergangenheit abtauchen.

Während der Fahrt zurück grübelte er mal wieder darüber nach, was damals geschehen sein konnte, doch nichts ergab einen Sinn.

Als er das Büro erreichte, wartete Nikki bereits auf den Treppenstufen vor dem Gebäude auf ihn. Sie hatte das Gesicht der Sonne zugewandt, und eine modische, schwarze Sonnenbrille verbarg ihre Augen. Er stellte den Truck ab und stieg aus. „Fertig?“

Sie nickte und reichte ihm eine Wasserflasche.

Er setzte sich dicht neben sie, sodass ihre Hüften sich beinahe berührten. Ihre Arme und Beine schimmerten weiß im Nachmittagssonnenlicht. Workaholics waren selten sonnengebräunt.

„Ich hoffe, dass ich das Richtige tue. Ich liebe Charlottesville. Aber ich denke immer wieder, dass es doch noch mehr geben muss.“

„Ehe und Kinder?“

Sie schüttelte den Kopf. „Kinder brauchen Zeit und Aufmerksamkeit, und ich weiß nicht, ob ich mein Leben so sehr umstellen kann. Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben hindurch gearbeitet.“

„Für was?“

„Bestätigung. Erfüllung. Miete. Wie sieht es bei dir aus?“

„Mein Dad und ich betreiben eine Firma für Erlebnistouren in der Wildnis. Er hatte mich gedrängt, einen Abschluss in Betriebswirtschaft zu machen, aber das war nur ein Mittel zum Zweck für mich. Ich hätte es niemals ertragen, den ganzen Tag nur am Schreibtisch herumzusitzen. Ich brauche den Adrenalinkick. Überhaupt bin ich eher ein Mensch der Tat, wenn du verstehst, was ich meine.“ Er grinste sie an.

Nikki fragte sich, ob der letzte Teil nur in ihren Ohren so zweideutig klang. Flirtete er etwa mit ihr, oder bildete sie sich das nur ein? Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wie Pierce seine Lebensphilosophie aufs Schlafzimmer übertrug.

Sie beneidete ihn um seine Selbstsicherheit. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr hatte sie unentwegt gearbeitet, immer geplagt von der Furcht, eines Tages mittellos und allein dazustehen. Obwohl ihr auf ihrem Karriereweg ein paar Menschen geholfen hatten, konnte sie den Großteil ihres Erfolges für sich allein verbuchen.

Mittlerweile verfügte sie über durchaus solide Einkünfte und Rücklagen. Aber bei ihrem verzweifelten Streben nach finanzieller Sicherheit war der Spaß oft zu kurz gekommen. Wenn sie mit dem großen, attraktiven Pierce Avery zusammen war, überkam sie ein beinahe unwiderstehliches Verlangen, mal so richtig über die Stränge zu schlagen.

Er war sehr attraktiv, muskulös und perfekt proportioniert. Man sah ihm an, dass er seine Tage im Freien zubrachte. Trotz seiner Größe bewegte er sich mit der anmutigen Eleganz eines Athleten. Da sie gerade dicht neben ihm saß, konnte sie in Ruhe seine Hände betrachten – die langen Finger, die breiten Handflächen und säuberlich geschnittenen Nägel. Unwillkürlich schoss ihr durch den Kopf, dass Pierce kräftig genug war, um eine Frau mühelos hochheben zu können.

Mit einem Mal ging ihr Atem schneller, und sie wusste, dass sie in Schwierigkeiten steckte. „Ich nehme an, wir sollten uns wieder an die Arbeit machen“, sagte sie hastig und zuckte innerlich zusammen, als sie das leichte Zittern in ihrer eigenen Stimme hörte.

Glücklicherweise schien Pierce nichts bemerkt zu haben. In einer fließenden Bewegung erhob er sich und streckte ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. „Ich bin so weit, wenn du es bist.“ Als sie seine warme, große Hand spürte, zitterten ihr die Knie. Wow. Dies war – zum Teufel noch mal – nicht der richtige Zeitpunkt, um sich auf eine ohnehin völlig unpassende Schwärmerei mit einem Klienten einzulassen.

Im nächsten Moment ließ er sie wieder los. Pierce hielt ihr die Tür auf und folgte ihr dann ins Büro.

„Ich nehme an, der Schreibtisch muss zuerst raus, oder was meinst du?“, fragte sie. Sie tat ihr Bestes, möglichst professionell und sachlich zu klingen, nicht wie ein verknallter Teenager, der den Footballstar der Schule anhimmelt.

„Würde ich auch sagen“, stimmte Pierce ihr zu und sah sie dann zweifelnd an. „Ich möchte dein weibliches Zartgefühl nicht verletzen, aber wäre es nicht besser, wenn ich einen Kumpel von mir anrufe, damit er uns hilft?“

„Ich bin stärker, als ich aussehe“, beharrte sie. „Ich nehme dieses Ende des Schreibtischs, du das andere.“

Offensichtlich wollte er ihr widersprechen, doch sie brannte darauf, endlich fertig zu werden und nach Hause zu fahren. Nun, wo der Moment zum Greifen nah war, fühlte sie auf einmal, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie war glücklich hier gewesen, hatte Selbstvertrauen entwickelt und sich zu behaupten gelernt.

Pierce ergriff die Ecke, die ihm am nächsten lag. „Benutz deine Beine, um das Gewicht zu stützten“, riet er, „nicht deinen Rücken. Auf mein Kommando. Eins, zwei, drei …“

In dem Moment, als sie ihr Ende packte, schoss ein kleines, pelziges Nagetier aus seinem Versteck, rannte über ihren nackten Knöchel und verschwand dann im Spalt zwischen Fußleiste und Wand.

Mit einem spitzen Schrei ließ sie den Schreibtisch fallen und stöhnte dann auf vor Schmerz, als ihr das schwere Möbelstück auf den Fuß knallte.

„Verdammter Mist.“ Pierce setzte vorsichtig sein Ende auf dem Boden ab, bevor er Nikki zur Hilfe eilte und den Schreibtisch anhob, um sie zu befreien. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Pierce hob sie auf die Arme und trug sie zum Sofa, dann legte er ihre Beine über seinen Schoß. „Lass mich sehen, wie schlimm es ist“, murmelte er. „Warum in Gottes Namen hast du den Schreibtisch fallen lassen?“

Vor Scham färbte sich ihr Gesicht tiefrot. „Eine Maus ist mir über den Fuß gelaufen. Ich hasse Mäuse.“

Ihr linker Fuß hatte einiges abbekommen. Sanft knotete er ihren Schuh auf und zog behutsam ihren Fuß heraus. Beim Anblick der Wunde sogen beide scharf die Luft ein. Wäre das schwere Möbelstück auch nur einen Zentimeter weiter seitlich gelandet, hätte es mehrere Knochen zerschmettert. So hatte es nur den Rand ihres großen Zehs erwischt und dort die Haut aufgerissen. Ihr Fuß war blutüberströmt.

Pierce hielt ihre Ferse in seiner Hand. „Hast du einen Erste-Hilfe-Kasten? Oder Eis?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe den kleinen Kühlschrank gestern ausgestöpselt. Meine Assistentin wollte ihn für ihre Tochter auf dem College haben. Aber ich habe sowieso nie Medizin darin aufbewahrt.“

Er runzelte die Stirn. „Ich bringe dich in die Notaufnahme.“

„Nein, bitte. Es ist nichts gebrochen. Ich bin mir sicher, es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.“

Pierce hatte über die Jahre mit einer Reihe von Sportunfällen zu tun gehabt. Er hatte mehrmals einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Wenn keine ärztliche Hilfe in der Nähe war, konnte er sogar eine lebensgefährliche Wunde nähen. Schließlich trug er auf seinen Touren durch die Wildnis die Verantwortung für eine ganze Gruppe.

Doch beim Anblick der Wunde, die ihre weiße, schöne Haut zerstörte, wurde ihm übel. Nikkis Füße waren lang, schmal und zart. Erst als sie leicht zusammenzuckte, bemerkte er, dass er mit dem Daumen die Unterseite ihres verletzten Fußes streichelte.

Sofort ließ er sie los und kam sich wie ein Idiot vor. „Ich habe Verbandszeug in meinem Haus, und du könntest eine Pause gebrauchen“, sagte er. „Diskutier nicht mit mir.“

„Ebenso gut kannst du mir das Atmen verbieten“, sagte sie und musste trotz ihrer Verletzung lächeln. „Und außerdem muss ich bis Mitternacht hier raus sein, wenn ich nicht die Miete für den nächsten Monat zahlen will.“

Ihre Sturheit frustrierte ihn. „Ich kenne ein paar Typen, die mir noch einen Gefallen schulden. Du kannst ihnen deine Sachen anvertrauen, das schwöre ich.“

Sie biss sich auf die Lippe. Offensichtlich hatte sie keine Übung darin, jemand anderem das Steuer zu überlassen. Doch schließlich gab sie nach. „Danke“, sagte sie. „Das wäre toll.“

3. KAPITEL

Nikki hatte recht gehabt. Pierce hatte sie mühelos auf seine Arme gehoben, obwohl sie wirklich kein Leichtgewicht war. Und trotz seiner angeborenen Dominanz gab er sich redlich Mühe, auf ihre Wünsche einzugehen. Dafür war sie ihm dankbar.

Pierce Avery hatte einfach alles: Er war klug, witzig, nett und stark. Ihr Herz schlug höher, wann immer er in ihre Nähe kam. Und dennoch durfte sie sich jetzt auf keine aussichtslose Schwärmerei mit einem Klienten einlassen. Sie musste über ihre Zukunft nachdenken, das hatte oberste Priorität.

Vorsichtig bewegte sie ihren Knöchel und sog scharf die Luft ein, als der Schmerz ihr Bein hochschoss. Ihr Fuß begann bereits anzuschwellen. Verdammt. Das konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen.

Missmutig sah sie zu, wie ihr edler Ritter auf und ab ging, während er am Telefon Ersatzleute zusammentrommelte, die den Umzug zu Ende führen sollten. Er sah heute viel entspannter aus als gestern in ihrem Büro. Sein enges, verwaschenes Football-T-Shirt brachte seinen breiten Brustkorb und seine muskulösen Oberarme zur Geltung. Als er sich herabbeugte, um einen Stift vom Boden aufzuheben, erhaschte sie einen Blick auf den Gummizug seiner Boxershorts.

Der Anblick brachte sie durcheinander, und sie zwang sich, ihren Blick abzuwenden. Dann versuchte sie aufzustehen. Vorsichtig setzte sie ihren gesunden Fuß auf und zog ihr anderes Bein langsam nach, während sie ihr Gewicht weiterhin auf das linke stützte. Halb so schlimm.

Pierce beendete sein Telefongespräch und funkelte sie an. „Was tust du da?“

„Ich habe mir nicht den Knöchel verstaucht. Ich bin durchaus in der Lage zu laufen.“ Obwohl die Aussicht, sich von ihm tragen zu lassen, wesentlich verführerischer war.

„Der Bürgersteig draußen ist brennend heiß. Wie willst du zum Auto kommen?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie herausfordernd an.

„Nun, ich …“ Sie verstummte. Daran hatte sie tatsächlich nicht gedacht. „Na schön“, sagte sie und hob ihr Kinn. „Du darfst mich tragen.“

Pierce unterdrückte ein Grinsen. Sie beide schwitzten heftig, und obwohl Nikki sich sehr bemühte, ihn nicht anzufahren, bemerkte er, wie gereizt sie war. In erster Linie lag es wohl daran, dass der Umzug noch immer nicht erledigt war. Sie kam ihm wie die Art von Frau vor, die die Dinge gern unter Kontrolle hatte. Er zwang sich, einen neutralen Gesichtsausdruck aufzusetzen. „Dann lass uns aufbrechen.“

„Wir müssen warten, bis deine Freunde da sind“, protestierte Nikki.

„Sie kommen gleich bei mir vorbei, um sich den Schlüssel abzuholen. Wir schließen vorher das Büro ab und lassen den Truck auf der Straße stehen. Ich kann deinen Wagen fahren und dich später damit nach Hause bringen. Notfalls kann ich auch ein Taxi nehmen.“

„Du hast an alles gedacht, was?“ Ihr war offensichtlich unbehaglich zumute. „Ich schätze, ich sollte dir dankbar sein.“

„Aber du bist es nicht“, bemerkte er trocken.

„Doch natürlich.“

„Aber du hättest den Tag lieber wie geplant beendet.“

„Ist das verkehrt?“

„Nein. Aber manchmal muss man einfach mit dem Strom schwimmen, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ich würde wohl eher versuchen, den Strom nach meinen Wünschen umzuleiten.“

„Wenigstens bist du ehrlich.“

„Ich muss zuerst in meine Wohnung und mir ein paar saubere Klamotten holen. Ist das okay?“

„Natürlich, Eure Hoheit“, sagte er und hob sie auf seine Arme, noch bevor sie protestieren konnte. „Dein Wunsch ist mir Befehl.“

Pierce fühlte, wie sie ihren schlanken Arm um seinen Nacken schlang, und unterdrückte einen Seufzer. Alles an ihr, das seidige Haar, die klassischen Wangenknochen und die Modelbeine, törnte ihn an. In seinen Armen hielt er sie bereits, von da aus war es kein weiter Schritt, sie sich in seinem Bett vorzustellen … nackt … wie sie seinen Namen schrie, während er sie zum Höhepunkt brachte.

Verdammt. Das konnte er im Moment wirklich nicht gebrauchen. Wenn er klug wäre, würde er ihren verführerischen Duft ignorieren und sie wie eine platonische Freundin behandeln. Leider war so gar nichts Platonisches an Nikki Parrish. Und obwohl sie ihr Äußeres nicht zur Schau trug, strahlte sie pure Sinnlichkeit aus – sogar wenn sie die verklemmte Anwältin spielte.

Pierce verdrängte seine Gedanken und konzentrierte sich darauf, mit seiner attraktiven Last nicht die Treppe hinunterzufallen. Beim Auto angekommen, setzte er Nikki vorsichtig auf den Beifahrersitz und schob dann den Fahrersitz zurück, um seine Beine in dem kleinen Senta unterzubringen. Seit er die Bürotür abgeschlossen hatte, hatte Nikki sich komischerweise noch kein einziges Mal beschwert. Er warf ihr einen prüfenden Seitenblick zu. „Was ist los?“

Sie zuckte die Achseln, den Blick fest auf die Tür ihrer Kanzlei gerichtet. „Ich dachte, ich hätte das Richtige getan. Aber ich habe nicht erwartet, mich so zu fühlen.“

„So sentimental?“

Sie schlug nach ihm. „Ich wollte zwiegespalten sagen.“

„Das ist normal. Jeder Wendepunkt im Leben ist eine emotionale Hürde.“

„Wow. Das klingt aber tiefsinnig.“

„Du meinst für einen einfach gestrickten Kerl wie mich?“

„Das hast du gesagt. Nur weil du keinen Schreibtischjob gewählt hast, heißt das noch lange nicht, dass du kein denkender Mensch bist.“

„Manchmal glaube ich, ich denke dadurch umso mehr nach“, gab er zu. „In der Natur fällt der ganze alltägliche Mist weg, und das Leben reduziert sich auf das Wesentliche.“

Sie ging nicht weiter darauf ein, bestrebt, die Unterhaltung oberflächlicher zu belassen, und beschrieb ihm den Weg zu ihrer Wohnung, die nur wenige Kilometer entfernt lag. Nachdem sie ausgestiegen waren, trug Pierce sie wieder, doch ihre Wohnung lag im Erdgeschoss, und so war es nicht weit. Drinnen blickte er sich interessiert um.

„Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne ganz kurz duschen“, sagte sie. „Kannst du dich ein paar Minuten allein beschäftigen?“

„Natürlich“, sagte er und nahm auf einem bequemen Sessel Platz. Er ergriff die Fernbedienung. Während er zerstreut durch die Kanäle zappte, betrachtete er ihre Wohnung. Sie war hübsch eingerichtet, ordentlich, aber winzig. Das Bücherregal war vollgestopft mit juristischer Fachliteratur. Kein Schnickschnack und keine Bilder. Sogar die Einrichtung in ihrem Büro war farbenfroher gewesen. Doch auch dort hatte er keine Fotos entdecken können.

Nikki hielt Wort. In Windeseile war sie aus der Dusche zurück. Nun trug sie eine schwarze Hose und eine ärmellose, weiße Bluse. Sie sah frisch und makellos aus, und plötzlich verspürte er den übermächtigen Drang, sie wieder unordentlich zu machen. „Wie geht es deinem Fuß?“, fragte er, als er bemerkte, dass sie keine Schuhe trug.

„In der Dusche hat er höllisch wehgetan“, gab sie zu. „Aber sobald wir etwas antibiotische Wundsalbe drauf tun, wird er sicher besser.“

„Ich glaube nicht, dass du gerne barfuß ins Restaurant gehen möchtest. Außerdem müssen wir diesen Fuß so bald wie möglich verarzten. In meiner Nähe gibt es ein Steakrestaurant, das auch liefert. Klingt das für dich okay? Oder bist du Vegetarierin?“

Nikki schüttelte den Kopf. „Ich habe so viel Bohnen, Makkaroni und Käse in meiner Jugend gegessen, dass es für ein Leben reicht“, sagte sie und steckte einen Kamm in ihre Handtasche. „Ich liebe Fleisch. Also ja, gerne.“

Ihre Bemerkung machte ihn neugierig, aber er entschied, erst mal nicht nachzuhaken. „Was ist mit den Aufzeichnungen aus dem Krankenhaus?“, fragte er stattdessen.

„Wenn ich in deinem Haus Zugriff auf meine E-Mails habe, kann ich sie mir ausdrucken. Ist das okay?“

„Natürlich. Gib mir eine Minute, dann bestelle ich das Essen, und wir können gehen.“

Nachdem sie ihre Wünsche geäußert und er die Bestellung telefonisch aufgegeben hatte, wollte er sie wieder hochheben. Doch sie wehrte ab. „Die Sonne steht jetzt tief. Der Bürgersteig ist nicht mehr so heiß. Danke, aber ich laufe selbst.“

Er stützte sich mit den Händen am Türrahmen ab und streckte sich. „Haben deine Eltern dir je gesagt, wie stur du bist?“

Ihr Gesichtsausdruck wurde verschlossen. „Nein, das haben sie nicht. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne fahren. Ich bin am Verhungern.“

Er wartete, bis sie die Tür abgeschossen hatte und ihm zum Auto folgte. Obwohl es noch Stunden bis zum Sonnenuntergang dauern würde, fühlten sich die Sonnenstrahlen jetzt merklich kühler an. Nikki sagte nicht viel. Er fragte sich, ob er ihr irgendwie zu nahe getreten war.

Als er im Restaurant eintraf, war das Essen schon fertig. Pierce bezahlte schnell und joggte dann zum Auto zurück. Er stellte das Essen in den Kofferraum, nur eine kleine Tüte behielt er in der Hand. Er stieg an der Fahrerseite ein und überreichte Nikki die Tüte als kleines Friedensangebot.

„Was ist das?“, fragte sie misstrauisch.

„Panierte Zwiebelringe. Du hast doch gesagt, dass du so hungrig bist.“

Nikki wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Er behandelte sie beinahe wie ein quengelndes Kind, das es bei Laune zu halten galt.

Als sie den Beutel öffnete, erfüllte der Duft von frisch frittierten Zwiebeln das Auto. Genüsslich biss sie in einen Ring hinein. „Oh, mein Leibgericht!“

Pierce grinste sie an. „Ich wusste, dass du sie magst.“

Sie aß drei schnell hintereinander und reichte ihm dann beschämt die Tüte. „Nimm lieber schnell auch welche. Ich will nicht schuld sein, wenn sie alle plötzlich verschwinden. Zwiebelringe sind meine Schwäche.“

„Also hast du doch eine“, murmelte er und trat heftig auf die Bremse, um nicht mit einem Auto zusammenzustoßen, das ein Stoppschild ignoriert hatte.

„Was meinst du?“ Sie griff erneut in die Tüte.

„Schwäche.“

„Natürlich habe ich Schwächen. Machst du Witze?“

„Welche denn?“, insistierte er. „Vergisst du beim Wäschefalten ab und zu, die richtigen Sockenpaare zusammenzulegen? Lässt du acht Monate zwischen deinen professionellen Zahnreinigungen vergehen statt sechs? Ist dein Girokonto um zwei Cent überzogen?“

„Sehr witzig.“ Sie griff wieder nach den Zwiebelringen, doch diesmal schlug er ihre Hand weg.

„Der Rest ist für mich“, sagte er und grinste sie an. „Ich habe heute hart gearbeitet.“

„Warum wollen Männer eigentlich immer eine Belohnung?“

„Glaub mir, Nikki. Zwiebelringe stehen auf meiner Liste ganz weit unten.“

Gegen ihren Willen musste sie lächeln. Sie hatten die Innenstadt bereits hinter sich gelassen und fuhren nun über eine Landstraße. Kurze Zeit später bog Pierce in eine von knorrigen Eichen gesäumte Einfahrt hinein, deren Baumkronen sich wie ein Dach über ihren Köpfen wölbten.

Das Anwesen war wunderschön. Es lag kaum drei Kilometer von der Stadt entfernt und wirkte trotzdem ruhig und abgeschieden. Pierce wohnte in einem Steinhaus mit einem Dach aus Zedernholz. Hinter dem Haus war ein Teich zu sehen. Zur Rechten grasten Pferde auf einer Koppel. Riesige, spiegelnde Fenster glitzerten im strahlenden Sonnenlicht. Überall blühten Büsche und Blumen.

Langsam öffnete Nikki die Autotür und stieg aus, ohne Pierce’ Protest zu beachten. Er hatte direkt vor der Eingangstür geparkt. Eine idyllische Sommerlandschaft erstreckte sich vor ihren Augen. „Es ist wunderschön, Pierce“, sagte sie leise.

„Ich bin froh, dass es dir gefällt.“

Er hatte die Tüten mit dem Abendessen aus dem Auto genommen und folgte ihr die Stufen hoch. Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, führte er sie hinein. Das Haus war geschmackvoll und teuer eingerichtet, mit schweren Ledermöbeln, einem steinernen Kamin und orientalischen Teppiche. An den Wänden hingen Grafiken, die wahrscheinlich mehr wert waren als ihr gesamtes Apartment.

Das Wohnzimmer war ein großzügig geschnittener Raum mit einer halb in die Wand eingelassenen Küche. Pierce verschwand für einen Moment darin und tauchte dann mit einem Glas Rotwein wieder auf. „Ich stelle unser Essen zum Warmhalten in den Ofen. Wenn du so lange warten kannst, springe ich schnell unter die Dusche. Auf der Veranda stehen Schaukelstühle. Hinten auch.“ Er drückte ihr das Glas in die Hand. „Entspann dich. Es dauert nicht lang.“

Langsam und vorsichtig ging sie zur Hintertür hinaus, während sie darauf Acht gab, ihren Bordeaux nicht zu verschütten, an dem sie immer wieder nippte. Sie war eigentlich kein großer Rotweinfan, doch dieser schmeckte wunderbar leicht und fruchtig. Hinter dem Haus erstreckte sich eine gepflegte Rasenfläche, die an einen Wald grenzte. Hier befand sich ein zusätzlicher eingezäunter Bereich, wo eine Gruppe von Bassets untergebracht war.

Die Hunde bellten, als sie näherkam, und starrten sie erwartungsvoll an, als erhofften sie sich ein wenig Unterhaltung von ihr. Lächelnd stieg sie die Stufen hinab und streifte durch das üppige Gras. Ihr Fuß tat zwar immer noch weh, aber sie ignorierte ihn einfach. „Hallo, ihr Süßen. Seid ihr Pierce’ Lieblinge?“ Sie ließ sie an ihrer Hand schnüffeln.

Nikki hockte sich vor sie hin. Sie liebte Hunde. Gerne hätte sie sie herausgelassen, war sich aber nicht sicher, ob sie das durfte. Plötzlich tauchte Pierce an ihrer Seite auf.

„Du hast mich erschreckt“, sagte sie und fuhr herum. „Das ging wirklich schnell.“

„Die Jungs haben gerade deinen Schlüssel abgeholt. Sie rufen mich an, sobald sie fertig sind.“ Er hatte sich umgezogen und trug nun dunkle Jeans und ein frisches Baumwollhemd. „Verabschiede dich von den drei Tenören und komm rein.“

„Die drei Tenöre?“

„Pavarotti, Domingo und Carreras.“ Er wies nacheinander auf die Hunde, die prompt einen Chor aus Geheule anstimmten. „Später, Jungs“, versprach er. Er legte eine Hand auf Nikkis Arm, und sie spürte seine Finger warm auf ihrer Haut. „Hier draußen könntest du dir Bakterien einfangen. Lass uns reingehen und erst mal die Wunde säubern.“

„Du kannst das einfach nicht vergessen, oder?“ Es war neu für sie, dass sich jemand so um ihr Wohlergehen sorgte.

„Entzündungen sind eine ernste Sache.“ Im Badezimmer hatte er seine komplette Erste-Hilfe-Ausstattung ausgebreitet. „Roll dein Hosenbein hoch und halte deinen Fuß über die Badewanne. Ich werde ihn mit Desinfektionsspray einsprühen. Es brennt vielleicht ein wenig.“

Ein wenig war eine Untertreibung. Das Desinfektionsmittel brodelte und zischte auf ihrer Haut und wusch alle Verschmutzungen weg, doch als die Flüssigkeit auf das rohe Fleisch traf, tat es genauso weh wie vorhin in der Dusche. Nikki biss sich auf die Lippe und schloss die Augen. Als sie die Augen wieder öffnete, kniete Pierce zu ihren Füßen.

Er nahm ihre nackte Ferse in die Hand, und sie bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Seine Berührungen waren sanft, aber fest. Zuerst tupfte er den Bereich um die Wunde herum mit einem Papiertuch trocken. Dann schmierte er eine dünne Schicht Wundsalbe auf die aufgerissene Haut.

Währenddessen lehnte sie an Pierce’ Schulter. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie ihm mit den Fingern durch sein dichtes Haar fahren können. Mit einem Mal war ihr heiß, und trotzdem zitterte sie.

Mit dem Geschick eines Sanitäters umwickelte er ihren Fuß mit Verbandsmull. „Das sollte reichen.“ Er erhob sich. „Zumindest wird du einen Schuh über deinem Verband tragen können.“

Sie fühlte, wie ihr Puls raste. Er starrte auf ihren Mund, und sie fragte sich, ob sie noch Überreste von Zwiebelringen am Kinn kleben hatte.

„Bist du bereit?“

Leichte Wellen der Erregung durchfluteten ihren Körper. „Wofür?“

Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Fürs Abendessen. Dein Steak.“

Sie schluckte, ihr Mund fühlte sich trocken an wie Sandpapier. „Oh, sicher. Ja. Natürlich.“ So schnell es ihr verletzter Fuß zuließ, flüchtete sie in den Flur. „Danke.“

In der Küche bestand er darauf, dass sie am Tisch Platz nahm, während er Steak, gebackene Kartoffeln und Caesar Salad auf hübschen Steinguttellern servierte. Sobald er sich hingesetzt hatte, sprudelte es aus ihr heraus. „Wir haben die Krankenhausaufzeichnung noch nicht ausgedruckt.“

Sie wollte aufspringen, doch er ergriff ihr Handgelenk und zog sie auf ihren Sitz zurück. „Wir sind nicht im Restaurant. Wir haben noch den ganzen Abend Zeit. Du kannst sie später ausdrucken.“

„Okay.“ Langsam ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken und begann ihr Steak zu schneiden. Es war perfekt zubereitet, und sie aßen mehrere Minuten lang schweigend. Sie hatte fast vergessen, wie schön es sein konnte, mit einem Mann zusammen zu Abend zu essen.

„Wie geht es deinem Vater?“, fragte sie behutsam.

Pierce hatte die Gabel halb zum Mund geführt, doch jetzt legte er sie nieder und nahm stattdessen einen Schluck von seinem Wein. „Sein Zustand ist stabil. Ich war heute Morgen bei ihm. Meine Mutter hofft, dass sie ihn morgen nach Hause bringen kann.“

„Und was dann?“

Pierce runzelte die Stirn, sein Blick war in sich gekehrt und traurig. „Weiter warten.“

„Wann willst du ihm die Wahrheit sagen?“

„Wenn wir wissen, dass er stark genug ist, um es zu verkraften. Und wenn wir mehr wissen. Wie sagt man einem Mann, dass sein einziges Kind nicht wirklich von ihm ist?“

„Er ist trotzdem noch dein Vater.“

Pierce stach die Gabel heftig in ein Stück Fleisch. „Das weiß ich. Aber Blutsbande sind etwas Archaisches, das hat nichts mit Vernunft zu tun. Ich habe nie gewusst, wie wahr das ist, bis es mir genommen wurde.“

Die ernste Wendung des Gesprächs machte Nikki nervös. „In Familien geht es um Liebe. Wenn sich jemand entscheidet, dich zu lieben, bist du mit ihm verbunden. Blut hin oder her. Frag jeden Vater oder jede Mutter, die ein Kind adoptiert haben.“

Sein Blick war voller Reue. „Gott, Nikki, es tut mir leid. Bist du selbst adoptiert worden?“

Die Ironie dieser Frage ließ ihre Kehle eng werden. „Nein. Nein, das bin ich nicht.“

Pierce verzehrte schweigend den Rest seines Abendessens und trank ein zweites Glas Wein dazu. Nachdenklich drehte er den Stiel seines Glases zwischen den Händen, und sein Gesichtsausdruck wurde grimmig. „Wenn es nach mir ginge, würden wir die ganze Sache einfach fallen lassen.“

„Das sagst du jetzt, aber es würde für immer an dir nagen. Manche Fragen lösen sich nicht einfach in Luft auf.“

Er sah sie eindringlich an. „Das klingt, als sprächest du aus Erfahrung.“

Sie zuckte die Achseln. „Anwälte sehen eine Menge Dinge. Vertrau mir, Pierce. Du kannst nicht einfach die Augen davor verschließen. Früher oder später wirst du eine Antwort haben wollen.“

„Deswegen habe ich ja dich.“ Er stand so abrupt auf, dass er beinahe seinen Stuhl umgestoßen hätte. „Mein Büro ist oben. Wenn du Probleme mit meinem E-Mail-Account oder dem Drucker hast, lass es mich wissen.“ Er schwieg. „Brauchst du Hilfe beim Laufen?“

„Nein“, sagte sie. „Das kriege ich schon allein hin.“

4. KAPITEL

Pierce ließ Wasser über das Geschirr laufen und stellte es dann geistesabwesend in den Geschirrspüler. In ein paar Minuten würden sie möglicherweise ein schreckliches Geheimnis aufdecken. Hätte ihn jemand vor ein paar Wochen gefragt, was ihm am meisten Angst machte, hätte er geantwortet, dass es der Gedanke an den Tod seines Vaters war. Nun musste er zur Kenntnis nehmen, dass es weit schlimmere Szenarien gab.

Der selbstsüchtige Teil von ihm wollte der Anziehung nachgehen, die er für Nikki Parrish empfand. Sie war klug, engagiert und unglaublich sexy. Doch er brauchte Nikkis Verstand und ihre Kompetenz weitaus dringender als ihren Körper. Zumindest vorerst.

Dennoch war ihm bewusst, dass er schnell süchtig davon werden könnte, sie zu berühren. Sogar in der eigentlich unerotischen Situation, als er ihren Fuß verarztet hatte, war er sich ihres Geruchs, ihrer weichen Haut und ihres schlanken Körpers ständig bewusst gewesen. Obwohl sie immer wieder betonte, wie stark und kompetent sie war, strahlte sie dennoch so viel Weiblichkeit aus.

Er vernahm ihre Schritte auf der Treppe und ging ihr ein paar Schritte entgegen, bis er auf dem Treppenabsatz mit ihr zusammentraf. „Nun?“

Sie hielt ein ganzes Bündel Papiere in der Hand. „Das wird eine Weile dauern.“

Seufzend wies er zum Sofa. „Dann lass uns anfangen. Je eher ich Bescheid weiß, desto besser.“ Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. „Ich bezahle dich für deine Zeit“, stellte er fest.

Nikki setzte sich und breitete vier Stapel auf dem Tisch aus. „Du hast mir beim Umzug geholfen, weißt du nicht mehr?“

„Unsere Vereinbarung lautete, dass ich dir beim Umzug helfe und du mir dafür den Termin gibst.“

Ihr Lächeln traf ihn mitten ins Herz. Es war gleichzeitig spöttisch und schön und ließ ihr Gesicht erstrahlen.

Vorsichtig setzte sie sich hin. „Keine Sorge, das ist kostenlos. Ich habe ein persönliches Interesse an diesem Fall entwickelt. Außerdem bin ich seit heute Mittag offiziell außer Dienst.“

„Du schuldest mir nichts. Wir kennen uns doch kaum.“

„Nun“, sagte sie langsam, und ihr Lächeln wurde schwächer. „Sagen wir einfach, ich mag gute Geschichten, und diese hier fasziniert mich.“

„Ich freue mich, dass mein Privatleben so unterhaltsam für dich ist.“

Sie klopfte auf den Sitz neben sich. „Hör auf zu schmollen. Die Neuigkeiten sind vielleicht besser, als du denkst.“

„Wie kannst du so was sagen? Mein Dad ist nicht mein Dad.“

„Das stimmt so nicht. Er ist dein Vater. Vaterschaft ist mehr als eine Samenspende. Er hat sich um dich gekümmert, dir Zeit, Liebe und Zuneigung geschenkt. Das macht einen Vater aus.“

„Du klingst wie ein Glückskeks“, sagte er und setzte sich neben sie.

„Vergiss einmal für eine Minute die Gene. Ich weiß, es war ein Schock für dich, aber ich glaube, am Ende wirst du feststellen, dass die Beziehung zu deinem Vater keine Spur anders ist als vorher.“

„Ich kann ihm keine Niere spenden.“ Seine Kehle wurde eng, und seine Augen brannten.

Sie seufzte. „Das ist wahr. Aber selbst wenn du sein leiblicher Sohn gewesen wärst, wäre das nicht unbedingt möglich gewesen. Das Beste, was du im Moment für ihn und deine Mom tun kannst, ist, der Sache auf den Grund zu gehen.“

„Was, wenn er es nicht schafft? Was, wenn sie keinen Spender finden?“

„So darfst du nicht denken. Ich weiß, es ist eine Riesensache. Ich versuche sie nicht kleinzureden. Aber es ist, als wenn man als Kind beim Spielen so heftig hinfällt, dass es einem für einen Moment den Atem verschlägt. Es fühlt sich an, als würde man sterben, und man hat Angst. Aber früher oder später füllen sich deine Lungen wieder mit Luft, und du weißt, dass du okay sein wirst.“

Seltsamerweise tröstete Pierce die schiere Überzeugung, die in ihrer Stimme lag. „Du musst sehr gut in deinem Job sein.“ Er setzte sich gerade hin. „Danke, Nicola Parrish. Du bist ein sehr netter Mensch.“

Ihre Wangen färbten sich hellrosa. „Ich kann knallhart sein, wenn es sein muss.“

„Und wann ist das?“

„Oh, du weißt … im Gerichtssaal. Wenn es um einen Vater geht, der sein Kind vernachlässigt. Einen Drogensüchtigen, der stiehlt, um seine Sucht zu finanzieren. Wenn ich einem chauvinistischen Richter gegenübertreten muss, der meint, Frauen gehörten in die Küche, nicht in einen Gerichtssaal.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Das ist heutzutage immer noch ein Problem?“

„Es kommt vor. Und obwohl man meinen sollte, dass es nur Ältere sind, die kurz vor der Pensionierung stehen, ist es manchmal auch ein junger Mann. Idioten findet man in allen Altersstufen und Milieus.“ Sie schwieg kurz und fuhr dann ernst fort. „Ich muss dich warnen. Ich gebe nie auf, bevor ich eine Antwort habe.“

Er verschränkte die Hände im Nacken und lehnte sich im Sofa zurück. Obwohl er einen Knoten im Magen verspürte, lächelte er. „Ich habe ja so eine Angst.“

„Ich weiß“, sagte sie ernst. „Aber das musst du nicht. Die Wahrheit tut vielleicht weh, aber die Ungewissheit ist sehr viel zerstörerischer. Vertrau mir, Pierce. Du tust das Richtige.“

Pierce hob ein Blatt vom Stapel. „Es bringt nichts, es hinauszuzögern.“ Er klang resigniert.

„Das stimmt.“ Sie klappte ihren Laptop auf und öffnete ein neues Dokument.

„Wofür ist das?“, fragte er misstrauisch.

„Ich mache mir nur ein paar Notizen. Punkte, auf die ich später zurückkommen möchte. Nichts Offizielles.“

„Woher wissen wir, wonach wir suchen sollen?“

„Das wissen wir leider nicht. Wir können nur die Fakten überprüfen. Aber wenn jemand etwas Illegales getan hat, wird er seine Spuren verwischt haben.“

„Großartig“, murmelte er. „Eine Nadel im Heuhaufen, die seit über dreißig Jahren dort verborgen liegt. Das sind ja rosige Aussichten.“

Sie reichte ihm die andere Hälfte des Papierstapels. „Nur Mut, Mr. Avery. Alle guten Detektive müssen sich durch den Dreck wühlen. Du als Naturbursche solltest also ganz in deinem Element sein.“

Pierce las mechanisch, doch es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Einzelheiten waren vermerkt, wie das Geburtsgewicht, Zeitpunkt und Dauer der Geburt, Größe und Gewicht des Neugeborenen. Alles Details, die auch im sorgsam geführten Baby-Buch seiner Mutter festgehalten waren. Er überflog Seite für Seite, Zeile für Zeile in medizinischem Jargon. Nichts schien ihm auffällig.

Nach einer halben Stunde reichte ihm Nikki ihren Stapel. „Lass uns tauschen. Vielleicht sehe ich etwas, was du überlesen hast und umgekehrt.“

Die neuen Seiten waren kaum hilfreicher. Er fand anekdotische Aufzeichnungen über den Verlauf der Geburt. Alles normal. Aber plötzlich kam ihm etwas in den Sinn. „Warum gibt es eigentlich keine Kopien von den Ultraschallbildern?“

Nikki spitzte nachdenklich die Lippen. „Das ist ein guter Punkt. Eine Freundin von mir ist Frauenärztin. Ich werde sie anrufen.“

Während Pierce seine Lektüre fortsetzte, verschwand Nikki für mehr als fünfzehn Minuten im anderen Zimmer. Als sie zurückkehrte, umspielte ein trockenes Lächeln ihre Lippen. „Ich möchte dir wirklich nicht das Gefühl geben, alt zu sein, aber anscheinend gehörten Ultraschalluntersuchungen in den frühen Achtzigerjahren noch keineswegs zur Routine. Sie wurden nur bei Risikoschwangerschaften durchgeführt, und selbst dann nicht immer. Die Technik war noch neu und teuer, außerdem waren sich die Ärzte noch nicht hundertprozentig sicher, ob sie auch wirklich ungefährlich war.“

Pierce war erstaunt. „Wow. Daran habe ich nicht gedacht. Ich habe irgendwie angenommen, es hätte Ultraschall schon immer gegeben. Man kann sich eine Schwangerschaft ohne diese kleinen Schwarz-Weiß-Bilder kaum vorstellen.“

„Jetzt wissen wir zumindest, warum sie nicht in deinen Unterlagen zu finden sind.“

Pierce streckte sich und ließ seinen Kopf hin und her kreisen. „Das hier führt uns anscheinend nicht weiter“, sagte er. Jeder Muskel in seinem Rücken schmerzte. „Hier in der Nähe gibt es einen Aussichtspunkt, von wo aus man einen sehr schönen Blick hat. Wie wäre es mit einer kleinen Spritztour? Ich muss mal ein bisschen frische Luft schnappen.“

„Du solltest allein gehen“, sagte Nikki. „Aber ich wäre dir dankbar, wenn du mich bei mir zu Hause absetzen könntest.“

„Möchtest du so dringend von mir weg?“ Allein der Gedanke an ihren Aufbruch verstimmte ihn. Er war sonst gern allein, besonders nach einem anstrengenden Tag wie heute. Doch mit Nikki war das anders.

„Nein, ich will nicht von dir weg“, sagte sie vorsichtig. „Aber ich möchte deine Gastfreundschaft nicht überstrapazieren.“

Er warf die Blätter auf den Tisch und erhob sich. „Wenn das geschieht, lass ich es dich wissen, versprochen. Nimm die Decke mit. Ich fahre gern mit offenem Verdeck.“

Vielleicht wollte er nur angeben, aber Pierce brannte darauf, ihr seinen Mercedes 300 SL zu zeigen. Er öffnete die Doppeltüren zu seiner Garage und ließ sie eintreten. Obwohl er sich nicht für einen übertriebenen Autofan hielt, besaß er insgesamt sieben Fahrzeuge, darunter einen Oldtimer, eine altmodische Kawasaki und einen Traktor, den er zum Mähen benutzte. Aber besonders gespannt war er, wie sie auf seinen Lieblingswagen reagieren würde.

Glücklicherweise zeigte Nikki sich angemessen beeindruckt. „Der ist unglaublich cool“, rief sie und glitt auf den Beifahrersitz. Sanft strich sie mit den Händen über das weiche, burgunderrote Leder.

Die Geste war so sinnlich, dass Pierce den Blick abwenden musste. „Ich habe mir schon gedacht, dass er dir gefällt. Es ist ein Mercedes-Benz-Sportwagen von 1960. Ein Original. Ich habe ihn bei einer Auktion ersteigert, als ich siebzehn war. Es hat fünf Jahre gedauert, bis ich alle originalen Ersatzteile aufgespürt hatte, um den Motor in Gang zu kriegen. Jedes Wochenende im Sommer haben mein Dad und ich daran gearbeitet.“

Wieder hatte er ohne Absicht das schmerzliche Thema gestreift. Sein Dad war nicht wirklich sein Dad. Er war es gründlich leid, immer wieder dieselben bitteren Tatsachen durchzukauen. Den Rest des Tages würde er einfach Nikkis Gesellschaft genießen.

Vorsichtig fuhr er aus der Garage, und sie runzelte die Stirn. „Welcher Siebzehnjährige kann sich so ein Auto leisten?“

Pierce grinste, als er auf den Highway einbog und beschleunigte. „Zunächst musst du wissen, dass der Motor völlig kaputt war. Der Kerl, der ihn mir verkaufte, hatte das falsche Benzin in den Tank gekippt. Er hatte wirklich keine Ahnung, was für ein Schmuckstück er da hatte.“

„Und das hast du ausgenutzt.“

Pierce zuckte die Achseln. „Er war erwachsen. Ich fand, er hätte es besser wissen müssen.“

„Und deine Eltern haben es dir erlaubt?“

„Nicht wirklich. Ich habe Geld von meinem Sparbuch fürs Studium genommen, ohne sie vorher zu fragen.“

Ungläubig wandte sie sich zu ihm um und hielt sich mit der Hand das Haar aus der Stirn, das ihr der Wind ins Gesicht peitschte. Es leuchtete in der Sonne. „Oh, mein Gott. Ich hätte dich umgebracht, wenn du mein Sohn gewesen wärst.“

Er musste lachen. „Das hätten meine Eltern auch beinahe. Dad hat versucht, den Wagen zurückzugeben, aber der Verkäufer wollte nichts davon wissen. Ich durfte ihn ganze sechs Monate lang nicht anfassen. Außerdem musste ich lauter Einser auf dem Zeugnis haben.“

„Das sollte dir nicht allzu schwergefallen sein. Du kommst mir wie ein ziemlich smarter Typ vor.“

„Ganz im Gegenteil. Ich hatte undiagnostiziertes ADS. Die Schule war die Hölle für mich.“

„Aber du hast mir erzählt, dass du sogar einen Magisterabschluss gemacht hast.“

„Das habe ich nur meinen Eltern zu verdanken. Sie haben viel für mich getan. Ich hatte verdammt viel Glück.“

„Ja, das hattest du.“

Sogar einem weniger aufmerksamen Mann als Pierce wäre die Bitterkeit in ihrem Tonfall nicht entgangen. Pierce nahm die Autobahnausfahrt und fuhr zum Skyline Drive, der nördlich des Blue Ridge Parkway verlief, dann drosselte er das Tempo und warf seiner Beifahrerin einen fragenden Seitenblick zu. „Wir haben viel über mich gesprochen“, sagte er und klappte die Blende herunter, um das einströmende Spätsommerlicht abzuhalten. „Was ist mit dir? Wo bist du aufgewachsen?“

Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie die Wolldecke enger um ihre Schultern zog. „Kein Ort, von dem du je gehört hast – eine winzige Stadt im mittleren Westen. Deswegen liebe ich die Berge hier so sehr.“

„Hast du immer noch Familie dort?“

„Nein.“ Nikkis Tonfall klang reserviert.

Statt sich von diesem leichten Misston die Stimmung verderben zu lassen, beschloss er, das Thema fallen zu lassen. Vielleicht würde sie ihm irgendwann genug vertrauen, um ihre Geheimnis mit ihm zu teilen.

Nikki war im siebten Himmel. Der Wind flatterte in ihren Haaren, und die Sonne schien ihr ins Gesicht. Und neben ihr saß ein interessanter, unglaublich verführerischer Mann. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich wirklich frei. Sie hatte keine Ahnung, wie ihre Zukunft aussehen würde. Wollte sie wirklich Juniorpartnerin in einer der angesehensten Kanzleien von Washington D. C. werden?

Das Angebot ihres ehemaligen Professors schmeichelte ihr natürlich. Außerdem gab es im Grunde nichts, was sie an Charlottesville band. Sie hatte ein paar gute Freunde, aber niemanden, der am Boden zerstört sein würde, wenn sie ging. Also warum sagte sie nicht einfach zu? Warum diese künstliche Sechs-Wochen-Deadline? Würde sie sich danach wirklich besser gewappnet fühlen, um diese Entscheidung zu treffen?

Tatsächlich war sie heilfroh über Pierce’ Fall. Er bot die perfekte Ausrede, um sich von ihrem eigenen Problem abzulenken.

Die Sonne stand schon tief über den Baumwipfeln, als Pierce die Ausfahrt nahm und den Wagen auf einem Parkplatz neben einem großartigen Aussichtspunkt parkte. In der Ferne erstreckte sich das Tal wie eine in der Sonne badende Schönheit. Charlottesville selbst lag friedlich und verschlafen da.

Pierce lief um das Auto herum und öffnete ihr die Tür. „Denkst du, du kannst laufen?“

„Ich weiß, dass ich es kann.“ Nikki stieg aus und folgte ihm zu einem leeren Picknicktisch, von dem aus man eine großartige Sicht hatte.

Pierce klopfte mit der Hand auf die Holzbank. „Komm, setzen wir uns.“

Sie gehorchte und empfand zum ersten Mal so etwas wie Verlegenheit über ihre Bekleidung. Normalerweise kleidete sie sich förmlich, um ihren Klienten einen professionellen Eindruck zu vermitteln. Im Moment sah sie eher aus wie ein Mädchen, mit dem man sich in eine flüchtige Sommeraffäre stürzen konnte.

Pierce hingegen wirkte selbstbewusst und kompetent, ganz egal was er trug. Als Mann in seiner Blütezeit strahlte er eine kraftvolle Männlichkeit aus, die sie schwach werden ließ.

„Es ist wunderschön hier“, sagt sie rau. Es herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit an diesem Tag, obwohl es sich ein wenig abgekühlt hatte, war die Hitze noch immer drückend.

„Du bist schon einmal hier oben gewesen, nicht wahr?“, fragte Pierce sie.

„Natürlich. Aber es ist eine Weile her. Es fällt mir schwer, einfach Auszeiten zu nehmen.“

„Warst du eines dieser Kinder, die immer perfekt sein mussten, damit ihre Eltern zufrieden waren?“

„Nein.“ Er ließ einfach nicht locker. „Aber ich bin ziemlich streng mit mir selbst. Deswegen auch die sechswöchige Auszeit. Vielleicht erfinde ich mich am Ende ganz neu.“

Pierce berührte flüchtig ihr Knie. „Aber ich mag dich, wie du bist.“

Sie starrten beide ins Tal, ihre Hüften und Schultern dicht nebeneinander, doch ohne sich zu berühren. Ihr Nacken war schweißfeucht. Der Geruch von Pierce’ Kleidung und seinem Aftershave war überwältigend verführerisch und männlich.

Sie faltete die Hände auf dem Schoß zusammen. Manchmal waren diese Orte von Touristen überfüllt. Doch es war bereits spät am Tag, und sie und Pierce waren ganz allein. Das machte sie nervös, denn sie traute sich selbst nicht. Eine Frau, die einen völlig zufriedenstellenden Job auf Eis legte, nur um sechs Wochen lang blauzumachen, war offensichtlich zu allem fähig.

„Hast du eine Freundin?“ Die Worte platzten einfach aus ihr heraus, sie war selbst überrascht. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund, und Pierce lachte.

„Im Moment nicht“, sagte er und grinste breit. „Fragst du mich das als meine Anwältin?“

„Natürlich“, sagte sie. „Warum sonst sollte ich es wissen wollen?“

„Vielleicht möchtest du, dass ich dich küsse.“

„Das möchte ich nicht.“ Sie blickte ängstlich in den klaren Himmel über ihnen, um sicherzugehen, dass kein göttlicher Blitzschlag ihre Worte Lügen strafte.

„Tust du wohl.“

Sie sprang auf und vergaß dabei ihren verletzten Zeh. „Autsch.“ Der Schmerz schoss ihren Fuß hoch.

Pierce stand ebenfalls auf und legte seine Arme um sie. „Ich möchte dich auch küssen“, sagte er mit tiefer, heiserer Stimme. Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus, und ihr liefen Schauer über den Rücken. „Leg deine Arme um meinen Hals.“

„Ich kann laufen“, beharrte sie und hörte das gleichmäßige Pochen seines Herzschlags an ihrem Ohr. Sie fuhr mit der Hand über seinen warmen Brustkorb und schlang einen Arm um seinen Hals.

„Aber das musst du nicht, wenn ich hier bin.“ Er hatte den Kopf gesenkt, seine Lippen suchten ihre und streiften sie hauchzart. Sie zitterte, so verzweifelt sehnte sie sich nach mehr.

„Küss mich noch einmal.“ Ihre dominante Seite gewann die Oberhand.

Es zuckte um seine Mundwinkel. „Ich dachte, du willst nicht, dass ich dich küsse.“

„Bilde dir nur nichts darauf ein“, murmelte sie. „Das ist nicht sehr anziehend.“

„Aber du bist anziehend“, flüsterte er. „Sogar sehr. Verdammt anziehend und attraktiv, um genau zu sein.“

Da sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte, schloss sie die Augen, während seine Lippen über ihre Augenbrauen zu ihren Augenlidern glitten, dann über ihre Nase und ihren Mund.

Sie konnte ein leises Wimmern nicht unterdrücken. Der Kuss war keusch, fast brav, zumindest bis ihre Zunge die seine zu umspielen begann. Pierce erschauerte am ganzen Körper, dann zog er sie an sich und küsste sie, wie er seit Jahren keine Frau mehr geküsst hatte. Gierig fielen sie übereinander her.

„Hör auf.“ Irgendwie fand sie die Kraft, ihm Einhalt zu gebieten, bevor man sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaften würde. Pierce, der im Begriff war, ihre Bluse aufzuknöpfen, hielt sofort inne. Schwer atmend und nicht gerade sanft setzte er sie auf dem Picknicktisch ab und trat einen Schritt zurück.

„Ich habe nicht angefangen.“

Seine unverhohlene Anklage brachte sie zum Lachen. „Das habe ich auch nicht gesagt. Fünf Minuten später, und wir beide wären …“

„In flagranti ertappt worden?“

„Du mit deinen juristischen Fachbegriffen.“

„Das habe ich auf der Junior High School gelernt – im Sommer, als mein Nachbar die Playboy-Hefte seines Vaters zu klauen begann.“

Sie hielt abwehrend die Hand hoch. „Sprich nicht weiter. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Straftat schon verjährt ist.“

Pierce verschränkte die Arme vor der Brust und stand breitbeinig vor ihr. „Ich denke, wir sind vom Thema abgekommen.“ Er wirkte streitlustig.

Glücklicherweise fiel ihr das Streiten so leicht wie das Atmen. „Es gibt kein Thema“, sagte sie ruhig. „Nur zwei Leute, die eine schöne Aussicht genossen haben.“

Er richtete seinen Blick auf ihre Brust. „Die ist wirklich wunderbar.“

Sie fühlte, wie ihre Brustwarzen sich schmerzhaft zusammenzogen. Sie biss sich auf die Lippe. Wenn Pierce sie auf diese Weise ansah, fühlte sie sich wie die verführerischste Frau auf der Welt. Mit solchen Situationen hatte sie nicht besonders viel Erfahrung.

Sie zog die Knie eng an die Brust und umschlang sie mit den Armen. „Ich kann dir erklären, was gerade passiert. Es ist ganz einfach.“

5. KAPITEL

Pierce war frustriert. Er hatte eine schmerzhafte Erektion, und er war wütend. „Ich bin ganz Ohr.“

Nikki, die zur Abwechslung einmal wenigstens ein bisschen zerzaust aussah, lächelte ihn versöhnlich an. „Du bist durcheinander. Und für einen Mann ist Sex das einfachste Mittel, um sich von Problemen abzulenken.“

„Ich hatte keinen Sex“, korrigierte Pierce mit einem, wie er fand, übermenschlichen Maß an Geduld. Vor allem wenn man bedachte, wie kurz davor er gewesen war, sie auf den Picknicktisch zu werfen und über sie herzufallen.

Vor Verlegenheit färbten sich ihre Wangen rosa. „Ich würde jetzt gerne nach Hause gehen. Wir können morgen reden. Morgen früh sieht alles anders aus.“

Pierce knirschte mit den Zähnen. „Reden interessiert mich nicht.“

Sie seufzte. „Ich sollte dir eigentlich bei deinem Problem helfen, nicht mit dir flirten.“

„Ich muss mir von dir nicht sagen lassen, wie ich meine Probleme zu lösen habe.“

„Du hast mich beauftragt, weißt du noch?“ Eine kleine Zornesfalte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet.

Die Fahrt zurück in die Stadt verlief in völligem Schweigen. Er fuhr bewusst zu schnell. Beinahe wünschte er sich, von einem Polizisten angehalten zu werden, mit dem er sich anlegen konnte. Alles war ihm recht, um die rastlose Energie loszuwerden, die in seinen Adern tobte.

Nikki starrte stoisch durch die Windschutzscheibe, während der Wind ihr Haar in hundert Richtungen peitschte. Sie sah aus wie eine heiße Bikerbraut. Doch das war reine Fantasie. Nicola Parrish war eine kontrollsüchtige Nervensäge, mit der man keinen Spaß haben konnte.

Sogar während er sich das selbst einzureden versuchte, wusste er, dass er sich selbst belog. Sie war die Vernünftige gewesen, und er nahm es ihr übel. Er hingegen hatte sich wie ein hormongesteuerter Siebzehnjähriger aufgeführt, blind und taub für alles außer seiner eigenen Lust.

Die Einsicht ernüchterte ihn. „Es tut mir leid“, sagte er schroff.

„Wofür?“

„Dass ich so ruppig zu dir war. Du hattest recht, mich aufzuhalten.“

Autor

Brenda Jackson

Brenda ist eine eingefleischte Romantikerin, die vor 30 Jahren ihre Sandkastenliebe geheiratet hat und immer noch stolz den Ring trägt, den ihr Freund ihr ansteckte, als sie 15 Jahre alt war. Weil sie sehr früh begann, an die Kraft von Liebe und Romantik zu glauben, verwendet sie ihre ganze Energie...

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Janice Maynard wuchs in Chattanooga, Tennessee auf. Sie heiratete ihre High-School-Liebe während beide das College gemeinsam in Virginia abschlossen. Später machte sie ihren Master in Literaturwissenschaften an der East Tennessee State University. 15 Jahre lang lehrte sie in einem Kindergarten und einer zweiten Klasse in Knoxville an den Ausläufern der...
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