Baccara Gold Band 8

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SINNLICH WIE AM ERSTEN TAG von WILKINS, GINA
Rachel kann nicht glauben, dass Lucas ihren Bruder umgebracht hat. Doch nach dem Mord war er spurlos verschwunden. Erst Jahre später kehrt er zurück. Jetzt endlich hat Rachel die Chance, seine Unschuld zu beweisen - und gerät dabei selbst in tödliche Gefahr …

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Ihre heimliche Jugendliebe Travis ist zurück: Dass sich der Rodeo-Star auch nach Mercy verzehrt, zeigt er ihr bald mit feurigen Küssen. Aber je explosiver ihre Nächte sind, umso quälender wird ihre Angst um ihn. Denn er spielt auch leidenschaftlich gern mit der Gefahr!

BERÜHRT - UND SCHON VERFÜHRT von ELLIOTT, ROBIN
Nachdem der Ex-Agent Carl Shannon seinen Freund überführt hat, soll er nun dessen überaus reizende Witwe Haven observieren: Ein Spiel mit dem Feuer! Denn zwischen kühler Vorsicht und brennendem Begehren gerät bald nicht nur sein Leben in Gefahr, sondern auch sein Herz …


  • Erscheinungstag 25.01.2019
  • Bandnummer 0008
  • ISBN / Artikelnummer 9783733725839
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Gina Wilkins, Suzannah Davis, Robin Elliot

BACCARA GOLD BAND 8

1. KAPITEL

Lucas McBride hatte die vergangenen vierzehn Weihnachtsfeste allein verbracht. Und er hatte die Absicht gehabt, das auch in diesem Jahr zu tun. Doch dann hatte er einen zwei Monate alten Artikel in der „Honoria Gazette“ gelesen, und der hatte ihn in seine Heimatstadt in Georgia zurückgeführt, obwohl er sich geschworen hatte, diesen Ort nie wieder zu betreten.

Mit bunten Weihnachtslichtern geschmückt sah sogar der älteste Teil der Stadt festlich aus. Als Lucas die Hauptstraße entlangfuhr, die an diesem Sonntag fünf Tage vor Weihnachten verlassen war, bemerkte er, dass viele der Gebäude aus den Zwanzigerjahren leer standen. Die wenigen übrig gebliebenen Läden wirkten, als hätten sie es schwer zu überleben. Unter einem Flitterkranz hing ein Plakat, das zur Wiederbelebung der Innenstadt aufrief.

Lucas kam an der Ecke vorbei, an der er als Teenager an Samstagabenden mit seinen Freunden herumgehangen, Zigaretten geraucht und versucht hatte, Mädchen aufzureißen, die in den Autos ihrer Väter vorbeikutschierten. Die Gasse hinter dem ehemaligen Eisenwarengeschäft erinnerte ihn daran, wie er und seine Kumpel in eine Schlägerei mit der konkurrierenden Footballmannschaft aus Campbellville geraten waren. Der Polizeichef hatte sie schließlich alle ins Gefängnis gesperrt.

Lucas hatte die Nacht in einer Zelle verbracht. Sein Vater war der Einzige gewesen, der keine Kaution für seinen Sohn hinterlegt hatte.

Das war Lucas’ erste Nacht im Gefängnis gewesen, aber nicht die letzte. Danach war es für Chief Packer ein Hobby geworden, ihn einzusperren.

Am Ende des Blocks stand das Gebäude, das einmal die Milchbar gewesen war. Dort hatte Lucas Rachel Jennings kennengelernt.

Sie war siebzehn gewesen, er neunzehn. In den nächsten zehn Monaten hatten sie sich als Romeo und Julia betrachtet, da ihre Liebe ebenfalls durch eine alte Familienfehde bedroht wurde. Ihre heimlichen Verabredungen hatten die Beziehung noch romantischer erscheinen lassen – bis Rachels Bruder Roger davon erfuhr.

Kaum jemand in Honoria hätte vermutet, dass der hitzköpfige Lucas McBride Sinn für Romantik hatte. Aber die Ereignisse, die ihn schließlich aus der Stadt vertrieben, hatten jeden Idealismus in ihm zerstört.

Lucas war heute schon durch den westlichen Teil des Ortes gefahren und hatte ihn kaum wiedererkannt, so viele Einkaufszentren, Schnellrestaurants, Tankstellen und Autohändler gab es heute dort. Er erinnerte sich, wie sein Onkel Caleb ihn früher zum Jagen in den Wald mitgenommen hatte, der sich damals dort befunden hatte.

Der Fortschritt hat eindeutig seine Nachteile, dachte er nun traurig.

All diese Veränderungen brachten ihn zu der Überlegung, was noch alles geschehen sein mochte, seit er vor so langer Zeit in einer Frühlingsnacht verschwunden war. Sein Vater war inzwischen tot, seine Cousins und Cousinen im ganzen Land verteilt. Seine kleine Schwester war eine erwachsene Frau. Und Rachel …

Zumindest würde er ihr bei diesem Besuch nicht gegenübertreten müssen. Er wusste, dass sie kurze Zeit nach ihm aus Honoria weggezogen war.

Aus alter Gewohnheit bog er rechts in die Maple Street ein und dachte, dass er ja mal nachsehen konnte, ob die Highschool sich genauso verändert hatte wie alles andere. Fast sofort sah er ein blaues Blinklicht in seinem Rückspiegel.

Verdammt! Er war noch keine zwei Stunden wieder in seiner Heimatstadt, und schon hatte er Ärger mit der Polizei. Anscheinend hatten manche Dinge sich überhaupt nicht verändert.

Er fuhr auf den verlassenen Parkplatz einer Autowerkstatt und hielt unter einer Laterne, die mit einem Weihnachtsengel dekoriert war. Dann rollte er das Fenster herunter und nahm seine Brieftasche heraus.

Der Polizist war in den Dreißigern und trug Zivilkleidung. Er hielt seine Marke in der Hand. „Den Führerschein und die Zulassung, bitte.“

Lucas gab ihm den Führerschein. „Was habe ich getan?“

„Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass Sie in der falschen Richtung in eine Einbahnstraße eingebogen sind?“ Der Beamte holte eine Taschenlampe heraus und richtete sie auf den Führerschein.

„Die Maple Street ist jetzt eine Einbahnstraße? Zur Hölle, das habe ich nicht gesehen.“ Lucas sah sich um und zuckte zusammen, als er den entsprechenden Pfeil an der Ausfahrt des Parkplatzes bemerkte.

Die Stimme des Beamten klang plötzlich sehr angespannt. „Sie sind Lucas McBride?“

Lucas wusste, dass dieser Kerl vor fünfzehn Jahren noch nicht hier gewesen war. Hatte man etwa alle neuen Polizisten angewiesen, nach Lucas McBride Ausschau zu halten, für den unwahrscheinlichen Fall, dass er wieder auftauchte? „Ja. Und?“, erwiderte er.

Der Beamte seufzte. „Ich kann Ihnen keinen Strafzettel ausstellen.“

Lucas sah ihn misstrauisch an. „Warum nicht?“

„Weil ich bald Ihre Schwester heirate.“

„Oh, verdammt.“

Der Beamte gab ihm den Führerschein zurück. „Ganz richtig.“ Ihm gefiel diese Situation ebenso wenig wie Lucas.

Lucas seufzte, als er vor dem Haus stand, in dem er die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte. Obwohl rundherum bunte Weihnachtslichter brannten, kam es ihm doch düster und bedrückend vor. „Es sieht genauso aus, wie ich es in Erinnerung habe.“

Burt Davenport nickte. „Es muss einiges daran getan werden. Darum kümmere ich mich, wenn ich eingezogen bin.“

„Sie und Emily werden hier leben, wenn Sie verheiratet sind?“

„Ja.“

„Sind Sie sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragte Lucas. „In diesem Haus hat noch keine Ehe lange gehalten.“

„Wir haben vor, das zu ändern.“

Lucas spürte plötzlich den Drang, wieder in sein Auto zu steigen und zu verschwinden. Emily war offensichtlich in Sicherheit und mit ihren eigenen Plänen beschäftigt. Wahrscheinlich hatte sie im Lauf der Jahre kaum einen Gedanken an ihren verschollenen Halbbruder verschwendet.

Er war ein Narr gewesen, herzukommen, nur aus einem vagen Gefühl heraus, dass Emily in Schwierigkeiten steckte und ihn brauchte.

„Es ist zu spät für einen unangemeldeten Besuch“, erklärte er. „Sagen Sie Emily, ich rufe sie irgendwann an, ja?“

„Wenn Sie jetzt wegfahren, wird sie mir das nie verzeihen“, entgegnete Burt entschlossen. „Es wäre besser, wenn wir beide jetzt einfach reingingen.“

Lucas kniff die Augen zusammen, weil Davenport nicht lockerließ. „Warum liegt Ihnen so viel daran, dass wir uns sofort treffen?“

„Weil ich dabei sein will, wenn Sie mit ihr reden.“ Burt verschränkte die Arme vor der breiten Brust.

„Sie vertrauen mir nicht?“

Burt zuckte mit den Schultern.

Lucas seufzte. „Ich schätze, Sie haben von mir gehört.“

„Einiges.“

„Und bestimmt war es wenig schmeichelhaft.“

„Lassen Sie uns einfach sagen, dass niemand vorgeschlagen hat, nach Ihnen eine Straße zu benennen.“

Lucas schmunzelte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das je geschehen wird.“

Davenport deutete auf das Haus. „Nach Ihnen.“

Lucas warf ihm einen finsteren Blick zu. „Ich habe Polizisten nie gemocht.“

„Wie ich gehört habe, beruht diese Abneigung auf Gegenseitigkeit“, erwiderte Burt trocken.

An Emilys Tür zu klingeln war eines der härtesten Dinge, die Lucas in den letzten fünfzehn Jahren getan hatte. Er war sich des Polizisten, der hinter ihm stand, sehr bewusst, und wünschte sich, irgendwo anders zu sein. Gleichzeitig verfluchte er sich, weil er dem Impuls nachgegeben hatte herzukommen.

Emily war elf gewesen, als er sie zuletzt gesehen hatte, er selbst zwanzig. Wahrscheinlich würde sie ihn gar nicht erkennen. Und sie hatte keinen Grund, ihn willkommen zu heißen.

Er war gegangen, ohne sich von ihr zu verabschieden.

Die Tür ging auf. Die junge Frau, die da stand, hatte goldblonde Locken, große blaue Augen, einen hellen Teint und ein paar Sommersprossen auf der Nase.

Lucas hätte seine Halbschwester überall erkannt. Sie war eine schöne junge Frau geworden. Und es tat ihm weh, dass er so viele Jahre ihres Lebens versäumt hatte.

Es war sein eigener Entschluss gewesen zu verschwinden. Und er wusste, dass er es unter den gleichen Umständen wieder tun würde. Aber das bedeutete nicht, dass er nichts bereute.

Emilys für Burt bestimmtes Lächeln erlosch, als sie Lucas sah. „Burt? Ist das ein Freund von dir?“

Lucas trat ganz ins Licht. „Hallo, Emily.“

Sie musterte ihn einen Moment, dann erstarrte sie. „Du meine Güte!“, flüsterte sie. „Lucas?“

Er nickte. Es überraschte ihn, dass sie ihn so schnell erkannt hatte. Und da er auf Ärger, Feindseligkeit oder noch schlimmer, Gleichgültigkeit, vorbereitet war, verblüffte es ihn total, dass sie sich ihm in die Arme warf. „Ich kann es kaum glauben, dass du da bist.“

Ihm wurde die Kehle eng. Es war lange her, seit ihn jemand so liebevoll umarmt hatte. Seit das überhaupt jemand getan hatte. Und verdammt, es war ein gutes Gefühl.

„Ich verstehe das so, dass du froh bist, ihn zu sehen.“

Burts Bemerkung veranlasste Emily schließlich, sich von Lucas zu lösen. Nun umarmte sie ihren Verlobten. „Du hast meinen Bruder gefunden. Oh, Burt, danke. Was für ein wundervolles Weihnachtsgeschenk.“

„So gern ich mir das als Verdienst anrechnen würde, ich fürchte, ich habe nichts damit zu tun, dass er hergekommen ist.“

Emily sah erst Lucas an, dann wieder Burt. „Aber ich hatte angenommen …“

„Lass uns drinnen darüber reden. Es ist hier draußen zu kalt für dich ohne Jacke.“

„Ja, natürlich. Kommt rein, ihr beide.“

Sie griff nach Lucas’ Hand, als hätte sie Angst, er könnte wieder gehen. „Es ist so gut, dich zu Hause zu haben.“

Lucas verzog das Gesicht. Dies war schon lange nicht mehr sein Zuhause.

Doch als er sich im Wohnzimmer umsah, stellte er fest, dass sich nur wenig verändert hatte. Zwar waren die Couch und die Sessel neu, aber die Holztische und das alte Sideboard, auf dem gerahmte Fotos standen, waren schon so lange da, wie er zurückdenken konnte. Und vor dem großen Fenster stand ein Weihnachtsbaum, genau am selben Platz wie früher.

„Also seid ihr zufällig zur selben Zeit hier eingetroffen?“, fragte Emily Burt.

Er schmunzelte. „Tatsächlich haben wir uns in der Maple Street getroffen. Er dachte, er könnte in der falschen Richtung durch eine Einbahnstraße fahren.“

Emily lachte. „Die Maple Street ist schon seit fünf oder sechs Jahren eine Einbahnstraße, Lucas.“

„Ja, jetzt weiß ich das.“ Lucas musterte seine Halbschwester. „Du siehst großartig aus.“ Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. Es war offensichtlich, dass er sich unbehaglich fühlte.

Sie strahlte. „Danke. Und du siehst noch genauso aus, wie ich dich in Erinnerung habe.“

Offenbar spielte ihr Gedächtnis ihr Streiche. Lucas war sich darüber im Klaren, dass er wenig Ähnlichkeit mit dem dünnen Zwanzigjährigen hatte, der er einmal gewesen war.

Emily wollte gerade noch etwas sagen, als sie von einer Kinderstimme unterbrochen wurden. „Daddy! Miss Emily … äh … Mom und ich haben Eis mit heißer Soße als Dessert gegessen. Mit Schlagsahne und Kirschen oben drauf.“

Ein stupsnasiger Junge mit rotem Haar schlang die Arme um Burts Taille. „Und wir haben uns ‚Rudolph, das rotnasige Rentier‘ und ‚Frosty, der Schneemann‘ angesehen. Wer ist das?“

Da die Frage ohne Atempause nach dem Bericht kam, brauchten die Erwachsenen einen Moment, um sie zu begreifen.

Es war Emily, die dann antwortete. „Das ist mein Bruder Lucas. Lucas, dies ist Clay Davenport.“

Seine kleine Schwester wurde offenbar gerade Stiefmutter. „Nett, dich kennenzulernen, Clay.“

Der Junge musterte ihn neugierig. „Sie sind ihr Bruder?“

„Ja.“ Lucas sah keinen Grund, ihm zu erklären, dass Emily und er denselben Vater, aber verschiedene Mütter gehabt hatten, sodass sie nur Halbgeschwister waren.

„Sie hat mir erzählt, dass sie einen Bruder hatte. Aber der ist schon lange weg. Wo sind Sie gewesen?“, fragte Clay geradeheraus.

Lucas musste unwillkürlich lächeln. „Hier und da.“

„Heißt das, dass Sie jetzt mein Onkel sind?“

Lucas war verblüfft. Er war noch nie zuvor Onkel gewesen. „Ich schätze, ja, wenn meine Schwester und dein Dad verheiratet sind.“

„Cool. Ich bekomme ein neues Fahrrad zu Weihnachten.“

So einfach hatte er Lucas akzeptiert.

Burt schmunzelte. „Bist du nicht etwas voreilig? Du hast den Weihnachtsmann zwar um ein neues Fahrrad gebeten, aber noch steht nicht fest, dass du es bekommst.“

Das schien Clay keine Sorgen zu bereiten.

„Wo habe ich nur meinen Kopf?“, fragte Emily plötzlich. „Bitte setzt euch. Möchtet ihr Kaffee? Oder vielleicht Eistee?“

Lucas wollte eigentlich nichts, aber er brauchte etwas Erholung nach der unerwartet herzlichen Begrüßung. „Eistee klingt gut.“

Burt entschied sich ebenfalls dafür. Dann setzte er sich aufs Sofa und deutete auf die Sessel. „Setzen Sie sich.“

Es war eher ein Befehl als eine Einladung. Lucas dachte, dass sein zukünftiger Schwager wohl nicht ganz so erfreut über sein Wiederauftauchen war.

Lucas konnte es ihm nicht übel nehmen. Davenport hatte wahrscheinlich einiges über den berüchtigten Lucas McBride gehört, der angeblich sogar mit einem Mord davongekommen war.

Da Lucas wenig Erfahrung darin hatte, höflich mit Polizisten zu reden – und gar keine mit zukünftigen Schwägern –, wusste er nun nicht so recht, was er sagen sollte. „Ich war etwas überrascht, dass Emily mich erkannt hat. Nach den vielen Jahren hätte ich gedacht, dass sie mich vergessen hat.“

„Sie hat nie aufgehört, sich zu fragen, warum Sie damals verschwunden sind, ohne sich von ihr zu verabschieden.“

„Ich hatte meine Gründe“, erwiderte Lucas kühl. Ihm war bewusst, dass der kleine Clay neugierig zuhörte.

„Da bin ich sicher. Und bestimmt haben Sie auch einen Grund, warum Sie zurückgekommen sind.“

Lucas zuckte bloß mit den Schultern. Er war noch nicht bereit, seine Karten auf den Tisch zu legen.

Emily kam mit einem Tablett herein. Burt sprang auf, um es ihr abzunehmen, und stellte es vorsichtig auf den Tisch. Emily verteilte die Getränke und reichte Lucas dann einen Teller mit einem Bananen-Nuss-Brot.

„Ich dachte, das hättest du vielleicht gern.“ Sie lächelte Lucas schüchtern zu. „Tante Bobbie hat es heute gebracht, und du hast ihr Bananen-Nuss-Brot doch immer geliebt.“

Schon wieder war Lucas verblüfft. „Das weißt du noch?“

„Ja. Und Tante Bobbie auch. Sie hat es vorhin erwähnt. Sie und ich haben uns beide gewünscht, du wärst hier, um es mit uns zu teilen. Und jetzt bist du es.“ Emilys Augen glänzten auf unnatürliche Weise, und sie blinzelte ein paarmal.

Lucas hoffte sehr, dass sie nicht weinen würde. „Wie geht es Bobbie?“, fragte er, um sie abzulenken.

Emily lächelte wieder, während sie sich neben Burt und Clay auf die Couch setzte. „Ihr und Onkel Caleb geht es gut. Tara und Trevor sind inzwischen beide verheiratet, und Trevor hat einen zweijährigen Sohn. Trent ist auf der Air-Force-Akademie.“

Lucas konnte sich an seine Cousine und seine Cousins, die alle wesentlich jünger waren als er, kaum erinnern, aber er täuschte Interesse vor. Nun aß er ein Stück von dem Brot, das noch genauso gut schmeckte wie früher. „Das klingt, als kämen sie alle bestens zurecht.“

„Ja. Und Savannah ist auch verheiratet. Ihre Zwillinge sind inzwischen fast vierzehn.“

Diesmal brauchte Lucas nichts vorzutäuschen. „Wie bitte? Savannah ist doch kaum älter als du.“

„Sie hat die Kinder bekommen, als sie siebzehn war. Es ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir später. Sie und ihre Familie leben in Campbellville. Tante Ernestine wohnt bei ihnen.“

Lucas erinnerte sich an Ernestine. Die Schwägerin seines Vaters war immer eine schwierige Frau gewesen. Sie hatte Lucas einige Vorträge über Verantwortung gehalten. Als ob der Name McBride nicht schon vorher in den Schmutz gezogen worden wäre.

Emily wurde plötzlich ernst. „Du hast nicht nach Dad gefragt. Weißt du, dass er letzten Frühling gestorben ist?“

Lucas nickte.

„Er war lange krank. In den letzten Jahren konnte er nicht mal mehr sprechen.“

Burt legte seine Hand auf Emilys. „Emily hat sich um Ihren Vater gekümmert und hatte dabei kaum Hilfe. Und offenbar hat er es ihr auch nicht gerade gedankt.“

Lucas blickte in sein Glas. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Vater sich je für etwas bedankt hat. Da müsste er sich sehr verändert haben, nachdem ich weggegangen war.“

„Das hat er nicht“, erwiderte Emily wehmütig.

„Hast du …“ Lucas zögerte. Er wusste nicht so recht, wie er es ausdrücken sollte. Die Frage quälte ihn schon lange. „War alles okay hier für dich … nachdem ich gegangen war, meine ich?“

„Ich bin nie misshandelt worden, falls du das meinst. Dad hat dafür gesorgt, dass ich gut ernährt und gesund war und meine Schularbeiten gemacht habe. Tante Bobbie hat sich um meine Kleidung gekümmert und mich in Jugendgruppen geschickt, damit ich Freunde finden konnte. Sie war wie eine Mutter für mich.“

„Also warst du glücklich.“ Lucas dachte, dass er sich jetzt endlich von den Schuldgefühlen, die ihn all die Jahre begleitet hatten, frei machen konnte.

Doch nun war eine Vielzahl von Empfindungen in Emilys Gesicht zu erkennen, und Lucas’ Schuldgefühle kehrten sofort wieder zurück. „Ich schätze ja.“ Es klang wenig überzeugend. Aber nun lächelte sie und drückte Burts Hand. „Jetzt bin ich glücklich.“

Lucas erinnerte sich an den Artikel, der ihn nach Honoria zurückgeführt hatte. Emily war in ihrem eigenen Haus überfallen worden. Das Einzige, was der angebliche Einbrecher mitgenommen hatte, war etwas, von dem Lucas geglaubt hatte, es wäre vor langer Zeit vergraben worden.

Doch er war noch nicht bereit, darüber zu sprechen, vor allem nicht, da Burt Davenport und sein Sohn zuhörten. Anscheinend hatte Emily sich vollkommen von dem schrecklichen Vorfall erholt. „Ich bin froh, das zu hören.“

Emily wurde nun nachdenklich. „Dad war sehr wütend auf dich, als du verschwunden warst. Ich schätze, das war dir klar.“

Lucas nickte.

„Er hat nicht viel hinterlassen“, fuhr Emily fort. „Das Bargeld haben wir zum größten Teil für die Arztrechnungen verbraucht. Dad hatte eine Lebensversicherung, aber keine besonders hohe. Ich habe das Haus geerbt und es Burt verkauft.“

Lucas sah Burt an. „Sie haben das Haus gekauft?“

Burt nickte. „Das war bevor Emily und ich uns entschlossen haben zu heiraten. Jetzt werden wir die Hypothek für die notwendigen Reparaturen verwenden.“

Lucas verstand allmählich, worauf das hinauslief. „Ich bin nicht hergekommen, um mir mein Erbe zu holen, Emily, sondern, um dich zu sehen. Um sicherzustellen, dass es dir gut geht.“

Sie lächelte strahlend. „Ich bin so froh, dass du das getan hast. Aber es gibt hier immer noch einiges, das deiner Mutter gehört hat, und ein paar persönliche Dinge von Dad. Wenn etwas davon einen sentimentalen Wert für dich hat, möchte ich, dass du es nimmst.“

Ihre Großzügigkeit rührte ihn. Sie schuldete ihm gar nichts, sondern hatte jedes Recht, wütend auf ihn zu sein. „Ich will gar nichts. Ich hatte nur gehofft, dass du gesund und glücklich bist.“

„Das bin ich“, versicherte sie nochmals.

Nun wechselte er schnell das Thema. „Wann heiratet ihr beide denn?“

„Wir wollten es eigentlich noch vor Weihnachten tun, aber Burt hat als Polizeichef so viel Arbeit, dass wir es bis Silvester verschieben mussten. Bitte sag, dass du so lange hierbleibst.“

Lucas gefiel es gar nicht, dass Burt Davenport der Polizeichef von Honoria war. Er hatte angenommen, der Mann wäre einfach nur ein Polizist. „Eigentlich hatte ich nicht vor, so lange zu bleiben.“

Emily war offensichtlich enttäuscht. „Na gut, ich werde dich nicht drängen. Aber wir würden uns wirklich freuen, dich bei unserer Hochzeit dabeizuhaben.“

Lucas dachte, dass sie in dieser Hinsicht vielleicht noch ihre Meinung ändern würde. Vermutlich würden die Gäste dann ihn mehr anstarren als die Braut. Er hatte nicht vergessen, wie die Leute früher über ihn geklatscht und ihm abfällige Blicke zugeworfen hatten. Er war nicht nach Honoria zurückgekommen, um seiner Schwester die Hochzeit zu verderben.

„Bleib wenigstens bis Weihnachten“, bat Emily. „Es würde mir so viel bedeuten. Ich habe dich vermisst.“

„Ich hätte es dir nicht übel genommen, wenn du mich gehasst hättest“, erwiderte er. „Schließlich musstest du mit dem Scherbenhaufen fertigwerden, den ich hinterlassen habe.“

Sie sah ihm ins Gesicht. „Ich habe mich schon über dich geärgert, doch gehasst habe ich dich nie. Schon mit elf Jahren habe ich verstanden, warum du gehen musstest. Und jetzt, wo du endlich wieder da bist, möchte ich dich nicht gleich wieder verlieren. Bitte bleib wenigstens bis Weihnachten. Das sind doch nur ein paar Tage.“

Wenn es ihr so viel bedeutete, dann konnte er es wohl tun. Zumindest das schuldete er ihr. „Na schön, wenn dir so viel daran liegt.“

Sie strahlte. „Das ist wundervoll. Mein Bruder ist zu Weihnachten zu Hause, und in zwei Wochen heirate ich den Mann, den ich liebe. Ich war noch nie glücklicher.“

Die beiden Männer musterten einander abschätzend.

Dann sah Burt auf seine Uhr. „Es ist schon spät. Clay und ich müssen gehen. Wo wollen Sie denn wohnen, Lucas?“

„Ich nehme mir wahrscheinlich ein Zimmer in einem der neuen Motels.“

„Das wirst du nicht“, erklärte Emily entschieden. „Du bleibst hier, in dem Haus, in dem du aufgewachsen bist. Es ist immer noch auch dein Zuhause, Lucas.“

Burt räusperte. „Also, eigentlich …“

Emily drehte sich zu ihm um. „Er ist mein Bruder, Burt. Würdest du deine Schwester in ein Motel schicken?“

„Du hast ihn nicht mehr gesehen, seit du ein Kind warst. Ich meine nur, es wäre besser, wenn …“

„Es ist dir vielleicht aufgefallen, dass ich dich in diesem Punkt nicht um deine Meinung gebeten habe.“

Na toll, dachte Lucas. Nun habe ich auch noch einen Streit verursacht. Er hätte wirklich nicht zurückkommen sollen. „Schon gut, ich gehe in ein Motel. Es macht mir nichts aus.“

Emily zog die Brauen zusammen. „Mir aber. Was für eine Art von Gastfreundschaft wäre das denn? Großmutter McBride würde sich im Grab umdrehen. Tante Bobbie und Onkel Caleb würden wahrscheinlich darauf bestehen, dass du zu ihnen kommst, wenn schon deine eigene Schwester dich wegschickt. Dieses Haus hat so viele Zimmer. Warum sollte ich da meinen Bruder in einem kalten, unpersönlichen Motelzimmer wohnen lassen?“

Sowohl Lucas als auch Burt lächelten, als Emily endlich die Luft ausging. Clay beobachtete sie fasziniert.

Lucas sah Burt an. „Ich schätze, ich muss hierbleiben.“

Burt nickte ernst. „Da haben Sie wohl recht.“

Er stellte sein leeres Glas auf das Tablett. „Bist du bereit zu gehen, Clay?“

„Ich werde wirklich froh sein, wenn wir hier wohnen.“ Clay stand widerstrebend auf.

Burt sah Emily an. „Ich auch, mein Sohn“, murmelte er.

Emily wurde rot. „Ich bringe euch zum Jeep.“

Clay griff nach ihrer Hand. „Tschüs, Onkel Lucas.“

„Wir sehen uns, Clay.“

Netter Junge, dachte Lucas. Wie lange würde es dauern, bis er einen Bruder oder eine Schwester bekam?

Während Emily draußen war, sah Lucas sich um. Auf dem Kaminsims standen Weihnachtsmannfiguren, von denen ihm einige vertraut vorkamen. Dann betrachtete er die Fotos auf dem Sideboard. Eins interessierte ihn besonders. Er selbst war damals dreizehn gewesen, und er hielt die Hand seiner kleinen Schwester. Die vierjährige Emily trug einen riesigen Korb und wartete offenbar begierig darauf, mit der Suche nach Ostereiern beginnen zu können.

Lucas erinnerte sich an diesen Tag. Die Familie hatte sich bei Großmutter McBride versammelt. Der Tisch war fast zusammengebrochen unter all dem Essen, und sogar Lucas’ Vater war in einigermaßen guter Stimmung gewesen. Und die kleine mutterlose Emily hatte die Aufmerksamkeit ihrer Verwandten genossen.

Nun spürte Lucas eine Hand auf seinem Arm und kehrte in die Gegenwart zurück. Emily sah ihn an. „Ich bin so froh, dass du hier bist. Wir haben eine Menge nachzuholen.“

„Können wir das bis morgen aufschieben? Es ist schon spät. Du musst müde sein.“

Sie nickte. „Ich nehme mir morgen Nachmittag frei. Dann können wir die Zeit nutzen, um uns neu kennenzulernen.“

„Klingt gut. Ich hole jetzt mein Gepäck.“

„Ich lege dir frische Bettwäsche raus. Hättest du gern das Hauptschlafzimmer? Es ist das einzige mit einem richtig großen Bett.“

„Ich nehme mein altes Zimmer, falls es frei ist.“ Lucas hatte keinerlei Bedürfnis, im ehemaligen Zimmer seines Vaters zu schlafen. Wahrscheinlich würde ihn da dessen Geist heimsuchen.

Draußen stand er eine Weile mit der Hand auf dem Kofferraum seines Wagens da und lauschte. Rund um das Haus gab es dichten Wald, in dem Rehe, Waschbären, Opossums, Eichhörnchen und andere Tiere lebten. Die glücklichsten Zeiten seiner Jugend hatte er in diesem Wald verbracht, beim Fischen im Bach oder auf seinem Lieblingsplatz in den Zweigen der alten Eiche.

Erinnerungen. Sie überfielen ihn, so sehr er sich auch bemühte, sie wegzuschieben. Einige waren gut, aber wesentlich mehr waren schlecht. Er hätte nicht zurückkehren sollen. Was hatte er sich denn gedacht, was er hier tun würde? Wieso war er auf den Gedanken gekommen, dass Emily ihn brauchte? Es war doch offensichtlich, dass bei ihr alles bestens lief, besonders jetzt, wo sie bald heiraten würde.

Am liebsten wäre er gleich ins Auto gestiegen und wieder abgereist. Vielleicht hätte er es sogar getan, wenn ihm nicht plötzlich bewusst geworden wäre, dass Emily in der offenen Tür stand und ihn beobachtete, als hätte sie Angst, er könnte wieder ohne Abschied verschwinden.

Das konnte er ihr nicht antun. Er hatte sie schon beim ersten Mal genügend verletzt. Also öffnete er den Kofferraum und nahm seine Sachen heraus.

Wenigstens würde er Rachel Jennings nicht begegnen, solange er in der Stadt war. Denn einer Begegnung mit ihr fühlte er sich nicht gewachsen.

2. KAPITEL

Rachel Jennings hätte nicht erklären können, wieso sie am Montagmorgen das Bedürfnis hatte, zum Aussichtspunkt zu fahren. Dieser lag auf dem Land der McBrides, hatte früher Lucas’ Großeltern gehört und gehörte jetzt seinem Onkel Caleb, aber man konnte ihn über eine normale Landstraße erreichen. Der Wald daneben war im Besitz von Lucas’ verstorbenem Vater gewesen und gehörte nun vermutlich Emily. Ein Fußweg führte von dem Haus, in dem Lucas und Emily aufgewachsen waren, hierher.

Vor langer Zeit hatten hier Picknicks stattgefunden, und Teenager waren hergekommen, um zu schmusen, aber vor fünfzehn Jahren war das Gelände eingezäunt worden … unmittelbar nachdem Rachels Bruder an dieser Stelle gestorben war.

Rachel fuhr an dem Schild vorbei, auf dem „Keine Durchfahrt“ stand. Schon wenige Meter weiter versperrte der Wald ihr den Blick auf den Highway. Als Teenager war sie sehr gern hergekommen. Damals war sie sehr romantisch gewesen und hatte sich eingebildet, dass die Bäume sie willkommen hießen und bereitwillig vor missbilligenden Blicken verbargen. Und am Ende der Straße hatte Lucas auf sie gewartet.

Das würde er diesmal nicht tun. Lucas McBride war vor fünfzehn Jahren mitten in der Nacht verschwunden, und nicht einmal seine Familie hatte seitdem von ihm gehört. Zumindest behaupteten das die Klatschtanten des Ortes. Rachel hatte sich nicht nach Lucas erkundigt, aber einige Leute tischten ihr doch gern alte Skandale auf, um zu sehen, wie sie reagierte.

Genau deshalb hatte Rachel es so viele Jahre vermieden, nach Honoria zu kommen. Als Teenager hatte sie erlaubt, dass Klatsch ihr Leben beeinflusste, aber inzwischen tat sie das längst nicht mehr. Sie hatte sich auch daran gewöhnt, Weihnachten allein in ihrem Apartment in Atlanta zu verbringen, abgesehen von kurzen Besuchen bei ihrer Mutter in Carrollton. Und sie wäre damit zufrieden gewesen, es auch dieses Jahr so zu machen, aber die Mutter ihrer Mutter war zu alt geworden, um weiter allein zu leben, und wollte im Januar in ein Altersheim in der Nähe ihrer Tochter ziehen. Da Rachel sich schuldig fühlte, weil sie ihre Großmutter lange nicht besucht hatte, hatte sie sich freiwillig bereit erklärt, bei ihr zu bleiben.

Nun hielt sie an einem Tor, das nur einige Meter von der Klippe entfernt war. Vor fünfzehn Jahren war es noch nicht da gewesen. Anscheinend bemühten sich die McBrides sehr, Leute von diesem Ort fernzuhalten.

Rachel schaltete den Motor ab und blieb lange mit den Händen auf dem Lenkrad sitzen. Doch dann stieg sie aus und zog fröstelnd den Reißverschluss ihrer Jacke zu.

Sie hatte sich mit Lucas hier an Wintermorgen wie diesem getroffen, während ihres letzten Jahres auf der Highschool. In Mäntel, Schals, Mützen und Handschuhe gehüllt hatten sie sich aneinandergeschmiegt und ihre gemeinsame Zukunft geplant.

Lucas war zwei Jahre älter als Rachel, und sie hatte ihn sehr geliebt. Er war attraktiv und aufregend gewesen. Sein berüchtigtes aufbrausendes Temperament hatte ihr keine Sorgen bereitet, da es sich nie gegen sie gewandt hatte. Zu ihr war er immer sanft und liebevoll gewesen.

Tatsächlich hatte sie seine rebellische Seite bewundert und ihn um seinen Mut beneidet. Niemand hatte ihn dazu bringen können, etwas zu tun, was er nicht wollte. Rachel war genau das Gegenteil gewesen, pflichtbewusst und brav. Ihr einziger Akt der Rebellion waren ihre heimlichen Treffen mit Lucas gewesen.

Nun näherte sie sich dem Tor. Es würde ein Leichtes sein, drüberzuklettern. Zwar war ihr klar, dass es aus einem bestimmten Grund hier stand, aber im Moment war sie nicht in der Stimmung, sich an Regeln zu halten.

Vielleicht würden die Erinnerungen sie nicht mehr verfolgen, wenn sie sich ihnen stellte. Fünfzehn Jahre reichten doch wohl, um für die dummen Fehler ihrer Jugend zu bezahlen.

Sie sprang leichtfüßig auf der anderen Seite des Tores hinunter. Nicht schlecht für eine dreiunddreißigjährige Buchhalterin.

Sie rannte nicht den Weg entlang, wie sie es mit achtzehn getan hatte, sondern ließ sich Zeit. Es war wirklich ein schöner Morgen. Vögel sangen, und etwas raschelte in den Büschen links von ihr. Ein Reh? Ein Eichhörnchen? Sie achtete kaum darauf, weil sie ein festes Ziel hatte.

Der Weg endete auf einem schroffen Felsen, der zehn Meter hoch über einem breiten Bach aufragte. Auf der anderen Seite stieg das Land wieder an und ging in Wald über, der früher einmal den McBrides gehört hatte, jetzt aber jemand anderem.

Lucas hatte damals davon gesprochen, dieses Land zu kaufen und ein Haus auf dem Hügel zu bauen, mit einer Terrasse, von der aus er die Rehe und Eichhörnchen hätte füttern können.

Sie fragte sich, ob er je den Frieden gefunden hatte, nach dem er sich gesehnt hatte.

Oben am Rande des Abgrunds führte ein schmaler Pfad entlang. Rachel ging langsamer. Ob das alte Gebäude aus Stein, in dem Lucas und sie so viele Stunden verbracht hatten, noch stand? Oder hatten die McBrides es abgerissen?

Als sie an einem struppigen Busch vorbei trat, sah sie, dass das Häuschen noch da war. Allerdings wirkte es noch schäbiger als damals.

Lucas’ Großvater hatte es in den Fünfzigerjahren gebaut. Es ähnelte einem Gartenhäuschen und bestand vollkommen aus Stein. Rachel und Lucas hatten es immer ihr „Felsenhaus“ genannt. Durch kleine Öffnungen in den Wänden kam frische Luft herein. Wände und Boden waren mit Moos bedeckt, sodass der Steinpavillon wirkte, als wäre er natürlich gewachsen. Innen gab es Steinbänke, auf denen man sich ausruhen und dem Alltagsstress entfliehen konnte. Es war genau der richtige Treffpunkt für zwei Verliebte gewesen, deren Familien sich hassten.

Rachel merkte, dass sie den Atem anhielt, als sie eintrat. Ihr Puls raste plötzlich, genauso wie damals in glücklicheren Tagen. Sie atmete tief ein. Doch das Häuschen war leer, abgesehen von Blättern und Spuren von Tieren.

Lucas hatte immer den Boden gefegt und dafür gesorgt, dass die Bänke sauber waren, damit Rachel sich nicht die Kleidung beschmutzte. Das letzte Mal waren sie an einem stürmischen Samstag hier gewesen, eine Woche nach Rachels Schulabschluss. Der Regen hatte in den Bäumen gerauscht, aber in ihrem Felsenhaus war es gemütlich und trocken gewesen. Lucas hatte Essen mitgebracht, und sie hatten mehrere Stunden damit verbracht, miteinander zu reden, zu lachen, sich zu küssen und laut Gedichte aus einem Buch vorzulesen.

Rachel lächelte schwach, als sie sich daran erinnerte, wie skeptisch Lucas zuerst gewesen war. Er hatte nur zugehört, um ihr einen Gefallen zu tun – damals hätte er alles für sie getan –, aber schließlich hatte sie den Eindruck gehabt, dass er anfing, die Verse zu schätzen.

Dieser Tag war so romantisch gewesen, so unglaublich perfekt, dass Rachel die Tränen kamen, wenn sie daran dachte. Lucas hatte ihr gesagt, dass er sie heiraten wollte, sobald sie mit ihrer Ausbildung fertig war und er genug Geld verdiente, um sie zu ernähren.

Rachel verschränkte die Arme, lehnte sich an die kalte Wand und blickte aus einer Fensteröffnung. Ihr war nur vage bewusst, was sie dort draußen sah, so sehr war sie in Erinnerungen verloren.

Nur wenige Meter von ihr entfernt befand sich der Abgrund. Rachel zog die Jacke enger um sich, weil ihr kalt war. Ihr älterer Bruder Roger war genau an dieser Stelle gestorben, sehr bald nach dem herrlichen Nachmittag.

Rachel hatte Roger nicht besonders nahegestanden, denn er war launisch und schwierig gewesen. Trotzdem hatte sich durch seinen Tod ihr Leben völlig verändert. Ihre Mutter, die schon verbittert war, seit ihr Mann sie Jahre zuvor verlassen hatte, hatte sich danach vollkommen in sich selbst zurückgezogen. Niemand war seitdem mehr wirklich zu ihr durchgedrungen. Und Lucas, Rachels Geliebter, war der Hauptverdächtige gewesen.

Rachel hatte nie wieder mit Lucas allein sein können. Weniger als acht Wochen nach Rogers Tod war er verschwunden, ohne ein Wort der Erklärung. Rachel war im Herbst aufs College geflüchtet, und noch bevor das Jahr zu Ende gegangen war, war ihre Mutter ebenfalls aus Honoria weggezogen.

Rachel wurde klar, dass sie ihre Vergangenheit durch den Besuch an diesem Ort nicht hinter sich lassen konnte. Die Erinnerungen quälten sie noch genauso wie vorher. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, dass Lucas in der Tür stand und sie so leidenschaftlich ansah, dass sie unwillkürlich erschauerte.

Sie seufzte, strich sich durch das lange dunkle Haar und wollte gehen.

Ihr Herz setzte fast aus, als sie den Mann bemerkte, der draußen vor dem Haus stand und sie mit ausdruckslosen Augen beobachtete.

Dieser harte, gefährlich wirkende Mann war nicht der junge Rebell, in den sie sich damals verliebt hatte.

Trotzdem hatte sie keinerlei Zweifel daran, dass es Lucas McBride war.

Im ersten Moment glaubte Lucas, er hätte eine Halluzination.

Rachel stand vor einer der Fensteröffnungen, in eine Jeansjacke gehüllt, die nicht verbarg, wie schlank sie war. Ihr dunkles Haar, das ihr über die Schultern reichte, glänzte im Sonnenlicht. Lucas erinnerte sich daran, wie gern er immer die langen seidigen Strähnen durch seine Finger hatte gleiten lassen.

Er fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt.

Und dann sah sie ihn an, und er erkannte, dass sie kein schüchternes, vertrauensvolles achtzehnjähriges Mädchen mehr war. Diese Frau hatte Trauer, Verletzungen und Enttäuschungen erlebt. Der unschuldige Blick war verschwunden.

Aber sie war immer noch schön.

Nun riss sie überrascht die Augen auf, und es kam ihm vor, als könnte er ein bisschen Angst darin erkennen. Es war deutlich, dass sie wusste, wer er war. Vielleicht hatte er sich äußerlich doch nicht so sehr verändert, wie er geglaubt hatte.

Offenbar war er es, der etwas sagen musste, denn Rachel schien sprachlos zu sein.

„Hallo, Rachel.“

Ihr Mund bewegte sich, aber es kam kein Laut heraus.

Lucas trat einen Schritt vor. „Du bist der letzte Mensch, mit dem ich heute hier gerechnet hätte.“

Wenn er gewusst hätte, dass sie da war, wäre er dann trotzdem gekommen?

„Lucas?“, fragte sie sehr leise.

Er nickte, unfähig zu lächeln. „Es ist lange her.“

Das war dumm, dachte er dann. Aber ihm war sonst nichts eingefallen.

„Ja.“ Sie hob eine Hand an ihre Kehle. Ihre Finger zitterten.

Fürchtete sie sich etwa vor ihm?

Er schob die Hände in die Taschen seiner schwarzen Lederjacke. „Ich wusste nicht, dass du in der Stadt bist. Ich hatte gehört, dass du weggezogen bist.“

Es kostete sie offensichtlich eine Menge Willenskraft, ruhig und gelassen zu bleiben. „Es ist mein erster Besuch seit langer Zeit. Ich muss mich um Familienangelegenheiten kümmern. Es überrascht mich, dich hier anzutreffen.“

Er war mitten in der Nacht verschwunden, ohne sich zu verabschieden. Nun erkannte er die Anklage in ihrem Blick und ging in Verteidigungsstellung. Was hatte sie denn von ihm erwartet? Das eine Mal, als er nach dem Tod ihres Bruders versucht hatte, mit ihr zu reden, hatte sie sich geweigert, mit ihm zu sprechen.

Hatte sie gewollt, dass er sie anflehte, ihm zu glauben, dass er unschuldig war? Er dachte, dass sie ihn besser kannte.

„Ich bin gekommen, um meine Schwester zu sehen.“

Rachel lehnte sich an die Wand. „Ich habe gehört, dass Emily bald heiratet.“

„Ja, zu Silvester. Er ist der neue Polizeichef.“ Lucas verzog den Mund.

Rachel lächelte. „Bist du gekommen, um ihr zu gratulieren oder um es ihr auszureden?“

„Nur um sicherzustellen, dass es ihr gut geht.“ Das war die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze.

„Und tut es das?“

„Ja. Sie scheint glücklich zu sein.“

„War sie froh, dich zu sehen?“

Lucas erinnerte sich an Emilys Wärme. „Ich glaube ja.“

„Und wie haben die anderen auf dein Erscheinen reagiert?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe sonst noch niemanden getroffen. Und du scheinst dich nicht allzu sehr zu freuen.“

Rachel blickte wieder aus dem Fenster. „Ich weiß nicht so recht, was ich empfinde.“

Er musste zugeben, dass er seine eigenen Gefühle ebenfalls nicht hätte beschreiben können. Etwas trieb ihn dazu, einen Schritt näher zu treten. „Rachel …“

Sie zuckte zusammen.

Lucas erstarrte. „Hast du Angst vor mir?“, fragte er.

Es gab eine lange angespannte Pause. „Ja“, sagte Rachel dann. Sie hatte den Blick gesenkt.

Lucas hatte geglaubt, so zynisch geworden zu sein, dass ihn niemand mehr verletzen konnte.

Aber er hatte sich geirrt.

Er wich zurück. Seine Stimme war rau, als er sprach.

„In meinem ganzen Leben hat es nur zwei Menschen gegeben, für die ich bereitwillig gestorben wäre. Meine Schwester und du.“

Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern drehte sich um und ging.

Lucas war erst eine knappe Stunde wieder im Haus, als er Emilys Wagen in der Einfahrt hörte. Sie hatte versprochen, zum Mittagessen zu kommen, und nun trat sie voll beladen ein.

„Ich habe Essen mitgebracht. Huhn, Kartoffelbrei, Okra, Maiskolben, Brötchen und Pfirsichkuchen. Das war mal dein Lieblingsessen. Ich hoffe, du magst das alles immer noch.“

Das tat er. „Wie kannst du dich nur an so was erinnern? Du warst doch noch ein kleines Mädchen, als ich gegangen bin.“

Ihr Lächeln wirkte traurig. „Ich erinnere mich an alles, was mit dir zusammenhängt, Lucas. Weißt du nicht, wie sehr ich dich geliebt habe?“

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Also nahm er ihr stattdessen die Einkaufstüten ab. „Wo sollen die hin? In die Küche oder ins Esszimmer?“

„In die Küche. Da haben wir es gemütlicher. Ich komme, sobald ich mir die Hände gewaschen habe.“

Lucas hatte bereits den Tisch gedeckt, als Emily sich ihm anschloss.

Sie ging zum Kühlschrank. „Was hättest du gern zu trinken?“

„Hast du Eistee fertig?“

Sie nahm eine schwere Glaskanne heraus. „Ich habe immer welchen. Das ganze Jahr über. Danach bin ich süchtig.“

Beim Anblick der mitgebrachten Leckereien lief ihm das Wasser im Mund zusammen. „Es ist toll, wieder eine richtige Südstaatenmahlzeit zu bekommen.“

„Im Sommer wäre es noch besser. Dann gäbe es frisches Gemüse, und wir könnten Tomaten aus dem Garten holen. Aber dies ist auch gut. Es kommt aus Coras Café, und das ist eins der besten Restaurants der Stadt.“

„Es sieht großartig aus.“ Lucas füllte sich den Teller.

„Du hast gesagt, es wäre gut, eine Südstaatenmahlzeit zu haben. Wo hast du denn all die Zeit gewohnt, Lucas?“

„Meistens in Kalifornien. Okra ist da schwer zu bekommen.“

„Und gefällt es dir da?“

Er zuckte mit den Schultern. „Es ist okay.“

„Was tust du denn, um dir deinen Lebensunterhalt zu verdienen?“

Er blickte nicht von seinem Teller auf. „Ich habe mit Computern zu tun.“

„Bist du Programmierer?“

„Ich habe Software entwickelt.“

„Wirklich? Das klingt interessant. Ich erinnere mich, dass dich die frühen Videospiele immer fasziniert haben. Weißt du noch, wie du mir Pac Man beigebracht hast?“

„Ja.“ Sie hatte auf seinem Schoß gesessen, die kleine Hand auf dem Joystick, ganz konzentriert.

„Hast du mich vermisst, Lucas?“ Jetzt klang sie wieder wie ein kleines Mädchen.

„Sehr.“ Das beschrieb es nicht mal annähernd, aber sie schien zufrieden zu sein.

„Darüber bin ich froh.“ Sie schob ihm die Schachtel mit dem Huhn zu. „Nimm noch etwas.“

Er griff zu.

„Hast du je geheiratet?“, erkundigte sie sich nun.

„Nein.“

„Hast du eine Freundin?“

„Nein.“

„Bist du schwul?“

Jetzt blickte er entsetzt auf. „Du meine Güte, nein!“

Sie kicherte. „Damit habe ich dich also endlich aus der Reserve gelockt.“

Lucas’ Brust zog sich zusammen, weil sie so sehr wie das kleine Mädchen aussah, an das er sich erinnerte. „Freche Göre.“

Ihre Augen verschleierten sich. „So hast du mich immer genannt, wenn ich dich geneckt habe.“

„Es passt immer noch.“

„Ich bin so froh, dass du da bist.“

Noch mehr Gefühle konnte er im Moment nicht ertragen. Also wechselte er das Thema. „Hast du jemandem erzählt, dass ich hier bin?“

„Sollte ich es geheim halten?“

Er dachte kurz nach. „Ich weiß nicht.“

„Ich habe es niemandem gesagt, sondern nur erklärt, dass ich einiges zu erledigen habe. In der Bank haben sie wohl angenommen, es hätte mit der Hochzeit zu tun, und die Leute im Café haben geglaubt, ich hole Essen für Burt und mich.“

Lucas musterte sie. „Warum hast du niemandem erzählt, dass ich da bin?“ Hatte sie es seinetwegen verschwiegen oder ihretwegen?

„Ich schätze, ich will dich einfach eine Weile für mich behalten. Später können wir Tante Bobbie und Onkel Caleb anrufen. Sie werden dich sicher treffen wollen.“

„Meinst du?“

„Natürlich. Sie sind doch deine Familie.“

In den Jahren, die er allein verbracht hatte, hatte er fast vergessen, wie es war, Teil einer Familie zu sein. „Vielleicht wollen Caleb und Bobbie mich ja sehen, aber ich kann mir keinen anderen denken, der mich willkommen heißen wird.“

„Martha Godwin wäre schon hier, wenn sie wüsste, dass du da bist.“ Emily verzog die Nase.

„Gibt es diese grässliche Frau immer noch? Früher war sie die schlimmste Klatschtante in der ganzen Stadt.“

„Das ist sie immer noch. Aber sie ist nicht total schlecht. Nur neugierig.“

„Wie haben dich die Einheimischen behandelt, Emily? Hat dir jemand vorgeworfen, dass du eine McBride bist? Und meine Schwester?“

„Und Nadines Tochter“, erinnerte sie ihn. „Ich habe eine Reihe von Kommentaren gehört, aber das hast du wohl erwartet.“

„Ja, aber ich hatte gehofft, nachdem wir beide weg waren, würde der Klatsch allmählich nachlassen.“

„Bist du deshalb weggegangen? Um mich zu schützen?“

Lucas dachte an Rachel. „Das war einer der Gründe.“

Emily brach ein Stück von einem Brötchen ab. „Ich hätte dich viel lieber hier gehabt.“

Lucas schluckte. „Wurdest du gut behandelt?“

„Die meisten Leute waren freundlich. Ich bin aktiv in der Kirche und der Gemeinde, habe meine Arbeit und viele Freunde. Honoria ist größer geworden. Es sind jetzt eine Menge Menschen hier, die wenig über die alten Geschichten wissen. Abgesehen von Sam Jennings und April Penny behandeln mich alle mit dem gleichem Respekt wie andere Leute.“

„Sam Jennings?“, wiederholte Lucas zornig. „Hat dir dieser Bastard schlimm zugesetzt?“

„Er ist ein Mistkerl, aber ich versuche mich nicht weiter über ihn aufzuregen.“

„Und wer ist April Penny?“

„Du kennst sie vielleicht noch als April Hankins. Sie muss ungefähr vierzehn gewesen sein, als du gegangen bist.“

„Ich erinnere mich nicht an sie. Allerdings gab es eine Familie Hankins in der Culpepper Road.“

„Das ist sie. Aprils Bruder Vince war auf der Highschool Savannahs Freund und als Captain der Footballmannschaft ausgesprochen beliebt. Und fürchterlich eingebildet.“

Lucas aß ein Stück Pfirsichkuchen. „Klingt, als hätten er und unsere Cousine Savannah gut zusammengepasst. Sie war ja so verwöhnt, dass sie meinte, ihr müsse alles auf einem silbernen Tablett gereicht werden.“

Emily schüttelte den Kopf. „Sie hat sich sehr verändert seit damals. Als sie mit siebzehn ihre Zwillinge bekommen hat, musste sie sehr schnell erwachsen werden. Da ihr außer ihrer Mutter niemand geholfen hat, war es vorbei mit den Schönheitswettbewerben.“

„Ist Hankins der Vater der Kinder?“

„Ja, obwohl er es abgestritten hat. Die ganze Familie hat sich über den bloßen Gedanken empört, ihr Sohn könnte sich danebenbenommen haben. Sie haben behauptet, Savannah wäre eine Schlampe, die Vince zu einer Ehe drängen wollte. Als ob er so ein toller Fang gewesen wäre!“

„Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er der Vater war?“

„Natürlich nicht. Sie war am Boden zerstört, als Vince und seine Freunde allen erzählt haben, sie würde mit jedem schlafen. Sie hat geschworen, Vince wäre der Einzige gewesen.“

„Wieso hat sie dann keinen Bluttest gefordert, um es zu beweisen?“ Lucas hatte nichts übrig für Männer, die ihre Kinder verleugneten. Wenigstens hatte er Rachel damals nicht mit diesem Problem zurückgelassen.

„Weil sie von den McBrides nicht nur den Leichtsinn, sondern auch den Stolz geerbt hatte. Sie wollte nichts von Vince. Und sie ist eine gute Mutter, Lucas. Die Zwillinge sind großartig. Und jetzt ist sie mit einem Mann verheiratet, der sie alle in sein Herz geschlossen hat. Christopher Pace, der Schriftsteller. Du hast vielleicht von ihm gehört.“

Lucas hob eine Augenbraue. Er hatte ein paar Bücher von Pace gelesen. „Klingt, als hätte sich alles zum Guten gewendet für sie.“

„Ja. Und das hat dazu geführt, dass April die McBrides jetzt noch mehr hasst. Es passt ihr nicht, dass Savannah mit einem reichen, berühmten Mann verheiratet ist, während ihr kostbarer Bruder bloß gebrauchte Autos verkauft.“

„Lässt sie das an dir aus?“

„Sie mag die McBrides einfach nicht. Und es hat sie immer gestört, dass ich mehr Freunde hatte als sie, obwohl ich deine Schwester und Nadines Tochter bin. Sie merkt nicht, dass es an ihrer Boshaftigkeit lag.“

Lucas hatte kein weiteres Interesse an April Hankins. Offenbar konnte Emily sich ihr gegenüber behaupten. Tatsächlich schien es ihm, als hätte Emily ein rundum zufriedenstellendes Leben.

Es war nicht nötig gewesen, dass er zurückgekommen war. Er hätte es ebenso gut vermeiden können, mit der Familie Weihnachten feiern zu müssen … und Rachel wiederzusehen. Und zu hören, dass Rachel Angst vor ihm hatte.

„Was sagen die Leute denn über mich?“, fragte er.

Emily räumte die Essensreste weg. „Ach, du weißt schon … Sie fragen sich einfach, was aus dir geworden ist. Warum du so plötzlich verschwunden bist.“

Lucas legte eine Hand auf ihre. „Emily, was sagen sie über mich und Roger Jennings?“

Sie räusperte sich. „Einige, vor allem Sam Jennings und seine Freunde, behaupten, du hättest …“ Sie bekam es nicht heraus.

„… ihn ermordet.“ Lucas konnte es aussprechen.

„Ja.“

Er ließ seine Hand auf ihrer. „Ich habe es nicht getan.“

Nun sah sie ihn an, und er stellte erleichtert fest, dass sie nicht an ihm zu zweifeln schien. „Ich habe nie auch nur einen Moment lang geglaubt, du hättest es getan. Und das trifft auf jeden zu, der halbwegs bei Verstand ist. Wenn es Beweise gegen dich gegeben hätte, hätte Chief Packer sie gefunden. Er hat sich ja wirklich genug bemüht, Gründe zu finden, dich festzunehmen. Aber es gab keine Beweise, und du hattest ein Alibi.“

Lucas ließ Emily los. Diesmal war er es, der sich abwandte, da das Thema ihm unangenehm war. „Was ist aus Lizzie Carpenter geworden?“, erkundigte er sich rau.

„Sie hat vor ungefähr zehn Jahren einen Kerl aus Macon geheiratet und ist weggezogen. Nachdem du weggegangen warst, wollte sie nie wieder über dich reden. Wenn dein Name erwähnt wurde, ist sie in Tränen ausgebrochen, und da haben die Leute aufgehört, sie nach dir zu fragen.“

„Na toll. Alle dachten, ich hätte mit ihr geschlafen, ihren Ruf ruiniert und sie dann sitzen lassen, richtig?“

„Es gab Gerede dieser Art“, murmelte Emily.

Lucas dachte an Rachel und den Schmerz, den er in ihren Augen gesehen hatte. Er hatte damals wirklich eine Menge Unheil angerichtet.

Das Telefon klingelte, und Emily griff danach. „Martha Godwin hat doch wohl hoffentlich noch nichts von dir gehört.“

Lucas schnitt eine Grimasse.

Aber an Emilys Lächeln erkannte er sofort, dass es ihr Verlobter war. „Lucas und ich haben gerade gegessen“, berichtete sie.

Lucas verließ die Küche, damit sie in Ruhe reden konnte. Außerdem hatte er das Bedürfnis, ein paar Minuten allein zu sein.

3. KAPITEL

Die hohe, mächtige Eiche musste über hundert Jahre alt sein. Ein paarmal waren Blitze eingeschlagen, und einer hatte eine dicke Narbe im Stamm hinterlassen, aber der Baum hatte überlebt.

Lucas erinnerte sich nicht mehr, wann er zum ersten Mal hinaufgestiegen war. Wahrscheinlich war er höchstens acht gewesen. In der Höhe von etwa sieben Metern gab es eine Stelle, wo man gut sitzen konnte, und da hatte er sich immer versteckt und nachgedacht.

Wann er zum letzten Mal hier gesessen hatte, wusste er noch gut. Er war zwanzig gewesen, verliebt, frustriert, verwirrt, zornig und unsicher.

An diesem Morgen hatte er einen Streit mit Roger Jennings gehabt. Roger hatte herausgefunden, dass Lucas sich heimlich mit Rachel traf, und war wütend gewesen, weil seine Schwester sich mit dem Stiefsohn der Frau eingelassen hatte, die Rogers und Rachels Vater von seiner Familie weggelockt hatte.

Sie hatten sich gestoßen, geschubst, Drohungen ausgesprochen.

Lucas schloss nun die Augen und konnte Roger fast wieder hören. „Halt dich von meiner Schwester fern, McBride, sonst bringe ich dich um.“

„Eher bringe ich dich um, bevor ich zulasse, dass du dich zwischen uns stellst.“

„Genau wie dein Vater seine Frau und meinen Dad getötet hat?“

„Wovon zum Teufel sprichst du überhaupt?“

Neun Jahre zuvor waren Nadine McBride und Al Jennings zusammen durchgebrannt, und niemand hatte seitdem von ihnen gehört. Roger war überzeugt, dass sein Vater niemals freiwillig seine Kinder im Stich gelassen hätte. „Wenn er noch leben würde, hätte er angerufen. Er hätte uns sehen wollen. Ich glaube, dein Vater hat ihn mit dieser Schlampe erwischt und sie beide umgebracht.“

„Und ich glaube, du hast den Verstand verloren.“

Roger hatte geschworen, dass er Beweise finden würde. „Und dann geht dein Vater ins Gefängnis, und meine Schwester wird dich nie wieder in ihre Nähe lassen.“

Nach ein paar weiteren Drohungen hatten sie sich getrennt, und Lucas war zu der alten Eiche gekommen, um sich zu beruhigen und über Rogers lächerliche Behauptungen nachzudenken.

Etwa eine halbe Stunde später waren seine kleine Schwester und ihre Cousinen Savannah und Tara mit einer Truhe erschienen. Lucas hatte beobachtet, wie sie diese vergraben hatten.

Offenbar diente die Truhe als „Zeitkapsel“. Fünfzehn Jahre später wollten sie sie wieder herausholen. Jedes Mädchen hatte einen Plastikcontainer mit persönlichen Sachen hineingelegt. Lucas hatte die kleine Zeremonie amüsant gefunden. Sie hatte ihn von seinen persönlichen Problemen abgelenkt, und er hatte sich gefragt, ob die drei in fünfzehn Jahren noch an die Truhe denken würden.

Nachdem er dann vor Kurzem in der „Honoria Gazette“ gelesen hatte, dass Emily ein schweres goldenes Armband gestohlen worden war, hatte er gewusst, dass sie die Truhe wirklich ausgegraben hatten.

Lucas selbst hatte das Armband hineingesteckt, zwei Wochen nach der Zeremonie der Mädchen. Es war an dem Tag gewesen, als Roger Jennings von der Klippe gestürzt war … weniger als zwei Monate, bevor Lucas die Stadt verlassen und geschworen hatte, nie zurückzukehren.

Was hatte Emily gedacht, als sie das Armband entdeckt hatte? Wer hatte es ihr gestohlen? Und wo war es jetzt? Das waren die Fragen, die ihn nach Honoria zurückgeführt hatten.

„Lucas?“

Er brauchte einen Moment, um in die Gegenwart zurückzufinden. Emily kam auf ihn zu, seine Lederjacke in der Hand. „Ist dir nicht kalt?“

Er fror wirklich, war aber so in Gedanken verloren gewesen, dass es ihm gar nicht bewusst geworden war. Nun zog er die Jacke an. Emily Fürsorge rührte ihn. Es war lange her, seit sich jemand Gedanken um ihn gemacht hatte.

Emily sah sich um. „Gehst du an die alten Plätze?“

„Ja. Es hat sich nicht viel verändert.“

„Nein.“ Ihr Blick fiel auf die Stelle, wo die Truhe vergraben gewesen war.

Lucas erwähnte die Zeitkapsel nicht. Emily hatte ja keine Ahnung, dass er darüber Bescheid wusste. „Was hat der alte Mann dir über mich erzählt?“, fragte er stattdessen.

„Dad hat dich nie erwähnt. Manchmal habe ich überlegt, ob ihr euch gestritten habt, bevor du weggegangen bist. Ist das so?“

So hätte Lucas es nicht genannt. Vielleicht eine Konfrontation. Schließlich hatte Josiah seinem Sohn erklärt, er wollte ihn nie wiedersehen. Lucas hatte keine Antworten auf seine Fragen bekommen, aber ein für alle Mal gelernt, dass Josiah unfähig war, jemanden zu lieben … was seine beiden Ehefrauen ebenfalls entdeckt haben mussten.

„Dad und ich sind einfach nicht miteinander ausgekommen“, sagte er nun bloß.

„Er ist mit niemandem ausgekommen. Ich schätze, der einzige Grund, warum er und ich keinen Streit hatten, ist, dass ich ihn nie herausgefordert habe. Ich habe gelernt, ruhig und brav zu sein, um Frieden zu haben.“

Lucas schnitt eine Grimasse. „Keine tolle Kindheit. Es tut mir leid, Emily.“

„Es war nicht deine Schuld. Du hast getan, was du tun musstest. Obwohl ich nie aufgehört habe, dich zu vermissen, hatte ich doch Menschen hier, die mich geliebt haben. Tante Bobbie und Onkel Caleb waren immer für mich da, und das hat mir viel bedeutet.“

„Dafür will ich ihnen danken, bevor ich wieder abreise.“

Emily seufzte. „Ich möchte nicht darüber nachdenken, dass du wieder weg willst. Aber ich würde Tante Bobbie und Onkel Caleb jetzt gern mitteilen, dass du da bist. Sie wären verletzt, wenn sie es von jemand anderem hören würden.“

„Du kannst es ihnen morgen sagen.“ Lucas fürchtete sich zwar vor dem Familientreffen, hatte aber das Gefühl, es Emily schuldig zu sein.

„Ich habe heute etwas gehört, von dem ich meine, dass du es wissen solltest“, begann sie nun vorsichtig. „Rachel Jennings ist in der Stadt.“

Es kostete Lucas große Willensanstrengung, so zu tun, als interessiere ihn das nicht. Soweit er wusste, hatte damals niemand außer Roger etwas davon geahnt, dass Lucas und Rachel eine Beziehung hatten. Wie konnte Emily davon erfahren haben?

„Warum meinst du, dass ich das wissen sollte?“

„Sie ist immerhin Sam Jennings’ Nichte. Sicher hat Sam versucht, sie zu beeinflussen, so wie er das mit anderen getan hat. Und wenn sie dir die Schuld am Tod ihres Bruders gibt, wäre es unangenehm, wenn du ihr unerwartet begegnen würdest. Ich wollte nur, dass du vorbereitet bist.“

Lucas wünschte sich, das wäre er gewesen, bevor er Rachel getroffen hatte. Er konnte nicht vergessen, wie sie zusammengezuckt war. Befürchtete sie wirklich, er könnte sie verletzen?

„Sie wäre nicht die Einzige in dieser Stadt, die mich für einen Mörder hält.“ Lucas klang bitter. „Glaub mir, Emily, ich weiß, womit ich zu rechnen habe.“

Emily seufzte. „Es tut mir leid, dass du so schlecht behandelt wurdest. Das war nicht fair, besonders da manche von diesen Leuten dich nicht mal kannten.“

Lucas räusperte sich. „Wir sollten ins Haus zurückgehen. Dein Freund kommt bestimmt bald.“

„Mein Verlobter“, verbesserte Emily lachend. „Ich hoffe, ihr beide werdet Freunde.“

„Ich und ein Polizist? Das wäre das erste Mal, aber für dich versuche ich es.“

„Danke.“

„Lass uns reingehen.“

Emily hakte sich bei ihm ein, und er fand, sie zeigte ihm deutlich, dass sie sich nicht vor ihm fürchtete.

Warum hatte dann Rachel Angst vor ihm?

Von dem Schaukelstuhl auf der Veranda ihrer Großmutter aus konnte Rachel die Festbeleuchtung an den Häusern der Nachbarn sehen. Die meisten hatten ausgiebig dekoriert. Nebenan stand ein Weihnachtsmann mit Schlitten und acht Rentieren auf dem Dach, umgeben von blinkenden Lichtern und künstlichen Eiszapfen. Ein Stück weiter die Straße hinunter gab es Schneemänner aus Plastik, Weihnachtskrippen und geschmückte Bäume.

Da Rachel das alles ziemlich deprimierend fand, wandte sie sich ab.

Das Haus ihrer Großmutter war nicht dekoriert. Jenny Holder würde in weniger als einem Monat ausziehen und hatte sich deshalb keine Mühe mehr gemacht. Da sie immer früh müde wurde, war sie schon kurz nach neun ins Bett gegangen. Rachel, die noch hellwach war, hatte sich daraufhin den Mantel angezogen und war auf die Veranda gegangen.

Sie wusste, dass sie nicht würde schlafen können, solange ihr Lucas’ Worte durch den Kopf gingen. Und seinen Blick, als er sie gefragt hatte, ob sie Angst vor ihm hatte, konnte sie ebenfalls nicht vergessen. So hart und einschüchternd Lucas auch wirkte, sie hatte ihm wehgetan.

Nun erinnerte sie sich daran, dass sie ihm nichts schuldete. Im Gegenteil. Sie hatte jeden Grund, ihm Vorwürfe zu machen, weil er ihr vor fünfzehn Jahren so viel Schmerz zugefügt hatte.

Und sie hatte sich während ihrer Collegejahre oft ausgemalt, wie sie ihm die Meinung sagen würde, bis sie dann schließlich entschieden hatte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Aber sosehr sie es versuchte, sie konnte nicht vergessen, wie er ausgesehen hatte, als er ihr Felsenhaus verlassen hatte.

Rachel konnte natürlich nicht wissen, dass Lucas am Dienstagmorgen zu der Hütte gehen würde. Noch als sie über das Tor stieg, hoffte sie, dass er nicht da sein würde.

Doch was auch immer für ein Impuls sie dorthin getrieben hatte, Lucas musste etwas Ähnliches empfunden haben. Er betrat gerade die Hütte, als Rachel eintraf.

Sie musterte ihn. Früher hatte er sein hellbraunes Haar lang und zottelig getragen, was zu seinem Ruf gepasst hatte. Jetzt war es ordentlicher. Graue Strähnen waren noch nicht zu entdecken, aber Lucas hatte ein paar Falten um Augen und Mund, die sein Gesicht sogar noch faszinierender wirken ließen.

Es schien ihn nicht besonders zu überraschen, sie zu sehen. Ob er halb mit ihr gerechnet oder viel Übung darin hatte, seine Gefühle zu verbergen, wusste sie nicht.

Gestern hatte er als Erster gesprochen, und sie war sprachlos gewesen. Diesmal überließ er ihr das Reden. Er verschränkte die Arme und lehnte an der Tür, als wäre er bereit, dort stundenlang zu warten, falls das nötig war.

Rachel räusperte sich. „Da ist etwas, das ich dir sagen muss.“

„Was?“ Sein Ton war nicht gerade ermutigend.

„Was ich gestern gesagt habe … dass ich Angst vor dir habe. Ich habe das nicht so gemeint, wie es klang.“

„Was meinst du denn, wie es klang?“

Er wollte es ihr offenbar nicht leicht machen. Sie erinnerte sich daran, dass sie dies eigentlich nicht tun musste. So wie er sich benahm, würde es ihm recht geschehen, wenn sie sich einfach umdrehen und gehen würde.

Aber sie hatte den Eindruck, dass sein Verhalten zum Teil auch darauf zurückzuführen war, dass sie ihn verletzt hatte. Lucas hatte sich immer in sich selbst zurückgezogen, wenn ihm jemand wehgetan hatte.

Nun sah sie ihm in die Augen. „Du wusstest, dass ich herkommen würde, nicht?“

„Wie hätte ich das wissen sollen? Gestern hast du vor Angst vor mir gezittert.“

„Das habe ich nicht! Du hast mich bloß überrascht.“

„Warum bist du heute Morgen hergekommen, Rachel?“

Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeansjacke. „Wie ich schon sagte, bin ich hier, um mich zu entschuldigen.“

„Das ist nicht nötig. Schließlich hast du ja die Wahrheit gesagt, oder?“

Natürlich war es die Wahrheit gewesen. Zwar hatte Rachel keine Angst, dass Lucas ihr körperlich etwas antun könnte … aber auf einer gefühlsmäßigen Ebene allerdings. Es hatte Jahre gedauert, bis sie endlich über Lucas McBride hinweg gewesen war und gelernt hatte, mit dem Leben, das sie sich aufgebaut hatte, zufrieden zu sein.

Sie war nicht mehr das naive junge Mädchen, das so sehr in diesen Mann verliebt gewesen war. Aber dass ihr Puls im Moment raste, ihre Handflächen feucht waren und ihre Kehle wie zugeschnürt, erinnerte sie daran, dass sie in Bezug auf Lucas immer noch gefährdet war.

Das Mädchen von damals hatte er fast zerstört. Sie wollte nicht mal daran denken, was er der erwachsenen Frau antun konnte.

Jetzt trat sie einen Schritt zurück. „Ich muss gehen.“

„Du fürchtest dich immer noch vor mir.“ Lucas’ Stimme war kalt.

Rachel weigerte sich zu antworten. „Ich muss gehen“, wiederholte sie nur.

„Fein. Renn vor mir weg, Rachel Jennings. Das hast du ja schon mal getan. Und damals hat es eine Rolle gespielt.“

Sie schnappte heftig nach Luft. Er gab ihr die Schuld daran, dass ihre Beziehung vor fünfzehn Jahren auseinandergegangen war? „Du warst derjenige, der ohne ein Wort die Stadt verlassen hat“, erinnerte sie ihn ärgerlich. „Du hast mir das Herz gebrochen. Also tu jetzt nicht so, als wäre ich dir wichtig gewesen. Du hast mich belogen, und ich habe alles geglaubt, weil ich in dich verliebt war. Aber jetzt bin ich nicht mehr so vertrauensvoll. Und es ist zu spät für Entschuldigungen.“

Er kniff die Augen zusammen. Zum ersten Mal an diesem Morgen erkannte sie ein Gefühl darin. Und es war beängstigend.

„Zumindest darin sind wir uns einig“, fuhr er sie an. „Es ist viel zu spät dafür, dass du dich bei mir entschuldigst.“

Sie war verblüfft. Sie sollte sich entschuldigen? Lucas war wirklich der arroganteste Mann, dem sie je begegnet war. „Von allen …“

Aber Lucas war offenbar nicht in der Stimmung, sich weiter zu streiten. Er trat an ihr vorbei und verschwand im Wald, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Rachel hatte ihn beschuldigt, sie vor fünfzehn Jahren angelogen zu haben.

Lucas dachte, dass er ihr sein Herz ausgeschüttet hatte. Er hatte sich ihr geöffnet wie keinem anderen Menschen, nicht mal seiner geliebten Schwester. Trotzdem glaubte Rachel, er hätte sie belogen.

Wie hatte er sich nur so sehr in ihr täuschen können? War er wirklich so naiv gewesen? Er hatte doch tatsächlich geglaubt, ihre Liebe wäre stark genug, einen Skandal zu überleben.

Es hatte ihn nicht besonders überrascht, dass mehr als die Hälfte der Bürger von Honoria ihn für fähig gehalten hatten, Roger Jennings zu ermorden. Er war an ihr Misstrauen und ihre Ablehnung gewöhnt gewesen. Vermutlich hatte er das mit seinem aufbrausenden Temperament und seinem rebellischen Verhalten sogar bis zu einem gewissen Grad verdient.

Aber bei Rachel war es anders gewesen. Bei ihr hatte er nicht das Bedürfnis gehabt, eine Fassade aufzubauen. Sie hatte ihn nicht abgelehnt, weil sein Vater ein unangenehmer Mensch war und seine Stiefmutter einen denkbar schlechten Ruf hatte. Rachel hatte Lucas nicht mal übel genommen, dass seine Stiefmutter mit ihrem Vater davongelaufen war.

Roger hingegen hatte der gesamten Familie McBride die Schuld für Nadines Verhalten gegeben.

Rachel war der erste Mensch gewesen, der Lucas’ wahren Charakter kannte. Zumindest hatte er das geglaubt. Doch wenn sie tatsächlich dachte, er hätte sie belogen oder dass er etwas mit dem Tod ihres Bruders zu tun hatte, dann hatte er sich getäuscht.

„Du siehst so ernst aus. Ist etwas nicht in Ordnung?“

Lucas hatte nicht mal gehört, dass seine Schwester ins Haus gekommen war. Nun stand sie in der Küchentür und zog ihren Mantel aus.

„Möchtest du eine Tasse Kaffee?“ Lucas stand auf. „Ich habe gerade welchen gekocht.“

„Klingt gut. Danke.“

Lucas goss ihr welchen ein. „Wie war dein Tag?“

„Gut. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Hat dich etwas aufgeregt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich kämpfe mit schlechten Erinnerungen. Hast du mit Caleb und Bobbie gesprochen?“

„Ja. Sie werden heute Abend herkommen. Tante Bobbie war ganz aufgeregt über die Neuigkeit, dass du hier bist, und wirklich überrascht, dass es noch niemand sonst weiß.“

„Ich schätze, es spricht sich bald rum. Hoffentlich wird das nicht unangenehm für dich.“

„Jeder, der etwas Hässliches über dich sagt, muss mit Konsequenzen rechnen“, entgegnete Emily.

Lucas lächelte. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du vor fünfzehn Jahren so entschlossen warst.“

„War ich auch nicht. Erst im letzten Jahr habe ich gelernt, meine Interessen zu vertreten und die der Menschen, die mir wichtig sind. Und weißt du was? Es ist toll.“

Er nickte. „Gut für dich.“

„Ich habe vor ein paar Wochen sogar Sam Jennings die Meinung gesagt. Er war so wütend, dass er mir diese Unterschlagung nicht in die Schuhe schieben konnte, dass er ein paar wirklich hässliche Dinge von sich gegeben hat, auch über dich. Schließlich hatte ich genug und …“

„Warte mal. Sam Jennings hat versucht, dir eine Unterschlagung anzuhängen?“

Sie nickte. „Eine seiner Angestellten hat ihm mehrere Tausend Dollar gestohlen, und er meinte, ich wäre es gewesen, weil es ein Konto bei unserer Bank ist. Natürlich wurde ich vollkommen entlastet, aber offenbar wollte Sam Jennings mich als die Schuldige sehen. Er hasst die McBrides so sehr, dass er gar nicht mehr klar denken kann, wenn es um uns geht.“

„Ich kann mit ihm reden, solange ich hier bin“, bot Lucas an. „Ich garantiere dir, dass er dir danach nie wieder Schwierigkeiten macht.“

„Nein, ich habe das schon selbst geregelt. Und Burt hat gedroht, dass er wegen Verleumdung verklagt wird, wenn er seine Anschuldigungen weiter verbreitet.“

„Wie lange kennst du Burt schon?“

„Wir haben uns im September kennengelernt.“

Lucas hob eine Augenbraue. „Dieses Jahr?“

„Ja. Vor drei Monaten.“

„Und wann habt ihr beschlossen zu heiraten?“

„Vor Thanksgiving.“

„Das ging ziemlich schnell, was?“

„Ja“, gab sie zu. „Aber es war einfach richtig, weißt du? Ich wollte das Haus verkaufen und aus Honoria wegziehen. Nach Dads Tod hatte ich genug davon, mich um andere Leute zu kümmern. Ich wollte reisen, die Welt sehen, mal nur an mich denken.“

„Und stattdessen heiratest du nun einen Vater, der einen kleinen Sohn hat.“

Emily lachte. „Das klingt, als würde ich genau das Gegenteil von dem tun, was ich geplant hatte, was?“

„Ja. Aber du scheinst glücklich zu sein.“

„Oh ja.“

„Darüber bin ich froh.“

Sie legte ihre Hand auf seine. Es überraschte ihn immer noch manchmal, wie liebevoll sie war. „In Honoria gibt es nicht viele gute Erinnerungen für dich, nicht?“, fragte sie nun. „Erst ist deine Mutter gestorben, dann ist deine Stiefmutter … meine Mutter … mit einem anderen Mann davongelaufen. Dad hat dich nie unterstützt. Und als Roger Jennings gestorben ist … Ich kann es dir nicht übel nehmen, dass du so weit wie möglich von hier weg wolltest.“

Das Schlimmste hatte sie noch nicht mal erwähnt. Schließlich wusste sie nichts von seiner Beziehung zu Rachel. Und Lucas hatte nicht die Absicht, ihr davon zu erzählen. „An dich habe ich aber gute Erinnerungen“, erklärte er.

Sie lächelte. „Es ist nett, dass du das sagst.“

Es klingelte an der Tür, und Emily sprang auf. „Das sind entweder Burt und Clay oder Tante Bobbie und Onkel Caleb.“

Lucas wusch die Kaffeetassen ab, während Emily aufmachte. In den nächsten paar Stunden würde er zu allen freundlich sein müssen, obwohl er eigentlich am liebsten allein gewesen wäre, um über das nachzudenken, was Rachel ihm morgens an den Kopf geworfen hatte.

Wann hatte sie aufgehört, an ihn zu glauben? Und warum?

4. KAPITEL

Burt war überrascht, als Lucas am Mittwochmorgen sein Büro betrat, aber er begrüßte ihn höflich. „Hallo, Lucas. Wie sind Sie denn an Mrs. Mosler vorbeigekommen? Sie lässt sonst niemanden ohne Anmeldung zu mir.“

Lucas zuckte mit den Schultern. „Es ist nicht nötig, mich anzukündigen.“

Eine erregte Frau in den Fünfzigern erschien nun hinter ihm in der Tür. „Es tut mir leid, Chief. Ich habe gerade einen Anruf entgegengenommen, da ist dieser Mann einfach an mir vorbeigegangen.“

„Das ist schon in Ordnung, Mrs. Mosler. Dies ist mein zukünftiger Schwager, Lucas McBride.“

Die Frau wurde blass. „Lucas McBride?“

Lucas nickte. Er war in Versuchung, sich vorzubeugen und „buh“ zu sagen. Wahrscheinlich wäre sie dann in Ohnmacht gefallen. Soweit er sich erinnerte, war er dieser Frau nie begegnet, aber offensichtlich hatte sie von ihm gehört.

„Ich lasse Sie beide allein.“ Ihre Hände zitterten. „Möchten Sie, dass ich keine Anrufe durchstelle, Chief?“

„Die wichtigen nehme ich entgegen.“ Burt wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte. „Setzen Sie sich“, forderte er Lucas dann auf. „Möchten Sie Kaffee?“

„Nein danke.“ Lucas erkannte den alten Schreibtisch wieder. Er war schon zu Chief Packers Zeiten da gewesen. Eigentlich hatte er dieses Gebäude nie wieder betreten wollen.

Burt lehnte sich zurück. „Möchten Sie über etwas Bestimmtes mit mir sprechen, oder besuchen Sie einfach die alten Stätten Ihrer Jugend?“

„Sehr komisch.“

Burt schmunzelte. „Sie hatten offenbar keine Schwierigkeiten, mein Büro zu finden.“

„Wahrscheinlich kenne ich mich hier genauso gut aus wie Sie. Packer hat mich dauernd wegen irgendwas eingesperrt.“

„Laut Ihrer Akte wurden Sie nur ein paarmal offiziell festgenommen. Offenbar neigten Sie dazu, in Schlägereien zu geraten.“

„Es war nie meine Schuld“, erklärte Lucas.

„Sie wären überrascht, wie oft ich das schon gehört habe.“

Lucas betrachtete den schäbigen kleinen Weihnachtsbaum, der in einer Ecke stand. Wahrscheinlich war die nervöse Mrs. Mosler für diese Dekoration verantwortlich.

„Was kann ich für Sie tun, Lucas?“

„Sagen Sie mir, was Emily im Oktober zugestoßen ist. Ich habe gehört, dass sie überfallen wurde.“

Burt hob die Augenbrauen. „Das hat sie Ihnen erzählt?“

„Nein, aber ich habe davon gehört. Ich möchte die Einzelheiten erfahren.“

Burts Miene verdüsterte sich. „Emily kam ins Haus und wurde auf den Hinterkopf geschlagen. Sie fiel nach vorn und schlug gegen einen Tisch. Ich habe sie eine Weile danach bewusstlos vorgefunden.“

„Wie schlimm war sie verletzt?“

„Sie hatte eine leichte Gehirnerschütterung, aber man hat sie noch in derselben Nacht wieder aus dem Krankenhaus entlassen.“ Burt rieb sich das Gesicht. „Mein Herz hätte fast zu schlagen aufgehört, als ich sie auf dem Boden gesehen habe. Als ich das Blut bemerkte …“ Er brach ab und schluckte.

Burt Davenport wurde Lucas immer sympathischer. Offensichtlich liebte er Emily sehr, und das allein brachte ihm schon einige Pluspunkte ein.

„Wie ich hörte, gab es zu der Zeit eine Serie von Einbrüchen.“

„Ja. Ein paar gelangweilte Teenager steckten dahinter. Der Anführer war Kevin O’Brien. Wir haben sie festgenommen, und sie haben das meiste gestanden.“

Lucas verzog das Gesicht. „Das meiste?“

„Ich habe sie nie dazu gebracht, zuzugeben, dass sie in Emilys Haus eingedrungen sind. Sie haben geschworen, dass sie nicht mal in der Nähe waren.“

„Glauben Sie ihnen?“

„Sie hätten natürlich einen guten Grund, es abzustreiten. Emily war der einzige Mensch, der verletzt wurde. Bei den übrigen Einbrüchen war nie jemand zu Hause. Es war wohl einfach Pech, dass Emily sie überrascht hat.“

„Aber …“

Burt seufzte. „Aber ich habe das Gefühl, dass da was nicht stimmt. Bei den anderen Einbrüchen haben die Jungen einfach genommen, was sie tragen konnten, und sind damit verschwunden. Emilys Haus wurde gründlich durchsucht.“

„Als hätte jemand gehofft, dort etwas Bestimmtes zu finden?“

Burt nickte.

„Und was wurde gestohlen?“

„Bargeld und Schmuck. Das Wertvollste war ein goldenes Armband, das Emily trug, als sie hereinkam.“

„Jemand hat sie angegriffen und ihr das Armband abgenommen?“

„Und er hat sie bewusstlos auf dem Fußboden liegen lassen.“ Burt verzog das Gesicht. „Wenn ich einen Beweis dafür gehabt hätte, wer das war, hätte ich ihm die Zähne eingeschlagen, selbst wenn ich dadurch meinen Job verloren hätte.“

Lucas war nicht sicher, ob er es bei ein paar ausgeschlagenen Zähnen belassen hätte. „Ich habe bemerkt, dass Emily ein goldenes Armband trägt.“

„Das habe ich ihr nach dem Raub geschenkt. Das gestohlene war eine Antiquität, sehr schwer und mit einem ovalen Verschluss. Es hat ihrer Mutter gehört.“

Das war das Armband, das Lucas in Emilys Zeitkapsel vergraben hatte … womit sein Verdacht bestätigt war.

„Nun, da ich Ihnen alles erzählt habe, könnten Sie mir sagen, warum Sie so an dem Überfall interessiert sind“, meinte Burt.

Lucas zuckte mit den Schultern. „Meine Schwester wurde angegriffen, und ich will, dass der Täter bestraft wird.“

„Haben Sie Grund zu glauben, dass speziell Emily das Ziel war?“

„Das frage ich Sie!“

Autor

Gina Wilkins

Die vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin Gina Wilkins (auch Gina Ferris Wilkins) hat über 50 Romances geschrieben, die in 20 Sprachen übersetzt und in 100 Ländern verkauft werden!

Gina stammt aus Arkansas, wo sie Zeit ihres Leben gewohnt hat. Sie verkaufte 1987 ihr erstes Manuskript an den Verlag Harlequin und schreibt...

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