Bianca Exklusiv Band 271

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MEIN HERZ TANZT TANGO von ALTOM, LAURA MARIE
Tango ist ihr Leben! Doch nach dem Tod ihres Mannes hat Rose nie wieder mit einem Mann getanzt. Bis Dalton Montgomery ihr Studio betritt. Der attraktive Banker will bei ihr tanzen lernen. Doch nie hätte sie geahnt, welche Gefühle das Feuer des Tangos in ihnen entfacht …

NUR DIE LIEBE HEILT ALLE WUNDEN von BAGWELL, STELLA
Mias Herz schlägt höher, als sie dem charmanten Arzt Marshall Cates begegnet. Gerne lässt sie sich von ihm zu einem romantischen Dinner einladen und genießt zum Abschied seine Küsse. Aber was wird sein, wenn er hinter das sorgsam gehütete Geheimnis ihrer Vergangenheit kommt?

NUR EINE NACHT DES GLÜCKS? von DUARTE, JUDY
Es war die zärtlichste Nacht ihres Lebens. Und obwohl es ihr das Herz bricht, beendet Milla schon nach wenigen leidenschaftlichen Stunden die Beziehung zu Dr. Kyle Bingham. Denn sollte je herauskommen, dass sie ein Liebespaar sind, hätte das für sie dramatische Folgen …


  • Erscheinungstag 20.05.2016
  • Bandnummer 0271
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732721
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Laura Marie Altom, Stella Bagwell, Judy Duarte

BIANCA EXKLUSIV BAND 271

1. KAPITEL

„Wir kommen zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung“, verkündete Alice Craigmoore mit lauter Stimme. „Und zwar ist das die Wahl zur Miss Hot Pepper. Ich erteile Mona, der Vorsitzenden des Organisationskomitees, das Wort und bitte um ihren Bericht.“

Dalton Montgomery nahm diesen Moment zum Anlass, sich geistig auszuklinken. Als Präsident des Wirtschaftsverbandes von Hot Pepper hatte er keinerlei Schwierigkeiten damit, sich auf die geschäftlichen Tagesordnungspunkte zu konzentrieren. Doch wenn es um die verschiedenen Festlichkeiten ging, die der Wirtschaftsverband während des Jahres in der Stadt veranstaltete, fühlte er sich nicht zuständig.

Von ihm, dem einzigen Sohn des Direktors der First National Bank von Hot Pepper, wurde schon seit seiner Geburt erwartet, in die Fußstapfen seines erfolgreichen Vaters zu treten. Sein einziger Versuch, von dem vorgezeichneten Weg abzuweichen, hatte sich – auf privater ebenso wie auf beruflicher Ebene – als totaler Fehlschlag erwiesen. Dalton hatte daraus geschlossen, dass das Schicksal anscheinend schlauer war als er selbst und besser wusste, was gut für ihn war.

Heute, fünfzehn Jahre später, hatte er sich mit seiner Arbeit im Büro abgefunden und erwartete nichts anderes vom Leben. Schließlich konnte er sich wirklich nicht beklagen: Er hatte viele Freunde, ein großes Haus und einen schnellen Wagen.

Aber warum hatte er dann heute Morgen, als er sich beim Rasieren im Spiegel betrachtete, das Gefühl gehabt, dass ihm ein Zombie entgegenstarrte?

„Dalton?“, drang Monas Stimme wie durch einen dichten Nebelschleier zu ihm durch. „Hast du irgendetwas von dem gehört, was ich gerade gesagt habe?“

Er schreckte hoch: „Wie?“

Alle zehn anwesenden Mitglieder des Wirtschaftsverbandes starrten ihn an.

„Die scheidende Miss Hot Pepper. Es ist Tradition, dass der Präsident des Wirtschaftsverbandes – also du – mit ihr einen Tango tanzt, während die Jury die neue Miss Hot Pepper ermittelt.“

Niemals. Unter keinen Umständen würde er sich vor der ganzen Stadt derartig zum Narren machen. „Warum muss das unbedingt ich machen? Ich bin sicher, dass es Männer gibt, die für einen Tanz mit der scheidenden Miss Hot Pepper Schlange stehen würden. Abgesehen davon: Hat die Dame keinen Mann oder Freund? Kann der das nicht übernehmen?“

„Komm schon, so schlimm ist es gar nicht“, versuchte Frank Loveaux ihn aufzumuntern. „Ich war vor drei Jahren dran, und es war ein Riesenspaß. Damals war Mindy Sue Jacobs Miss Hot Pepper.“ Er pfiff anerkennend durch die Zähne, bevor er grinsend weitersprach: „Die Kleine war eine Granate. An den Kuss, den sie mir am Ende unseres Tangos gab, denke ich noch heute.“

„Das ist alles gut und schön“, sagte Dalton ungeduldig, „aber jeder weiß, dass ich nicht tanzen kann. Ihr könnt ja das Mädchen fragen, mit dem ich auf dem Abschlussball war. Ihr tun heute – zehn Jahre später – noch die Zehen weh.“

„An den Zehen meiner Tochter gibt es nichts auszusetzen, soweit ich weiß“, mischte sich Catherine Bennet, die Mutter seiner Abschlussball-Partnerin Josie, ein. „Warum sträubst du dich nur so, Dalton? Was ist so schlimm an ein paar Minuten Tango mit einer attraktiven jungen Frau?“

Daran, dass seine Beziehung zu Josie den Abschlussball nicht lange überlebt hatte, war nicht zuletzt ihre aufdringliche Mutter schuld, die mit unverblümten Kommentaren nie gespart hatte. Davon abgesehen war Josie hübsch und nett gewesen, aber für Schmetterlinge in seinem Bauch hatte sie nie gesorgt.

Das war in den 35 Jahren seines Lebens keiner Frau außer Carly gelungen. Nur mit ihr zusammen hatte er sich so richtig lebendig gefühlt. Und dann hatte sie ihm das Herz gebrochen. Seither zog er ein Leben als Single vor. Na gut, vielleicht war er ja manchmal einsam, aber das war immer noch besser als am Boden zerstört.

Alice als Vorsitzende schlug mit dem Hammer auf das Rednerpult. „Ich stelle den Antrag, dass Dalton bei der Misswahl den Tango tanzt, wie es Tradition ist. Ich bitte um die Ja-Stimmen.“

Neun Hände schossen in die Höhe.

„Nein-Stimmen?“, erkundigte sich Alice überflüssigerweise, um die Form zu wahren.

Dalton hob als einziger die Hand.

Mit einem weiteren Hammerschlag auf das Rednerpult war sein Schicksal besiegelt. „Der Antrag ist angenommen“, verkündete Alice triumphierend. „Wir gehen weiter zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung.“

Dalton musste zweimal hinsehen, als er im blassrosa gestrichenen Empfangsbereich der Tanzschule von Hot Pepper vor einer attraktiven jungen Frau stand. Vor Erstaunen fiel ihm nichts Besseres ein als: „Sie sind aber nicht Miss Gertrude.“

Die zarte Schönheit schenkte ihm ein professionelles Lächeln und erwiderte: „Miss Gertrude ist in den Ruhestand getreten. Ich bin die neue Eigentümerin der Tanzschule. Mein Name ist Rose Vasquez. Sind Sie Dalton Montgomery? Wenn ja, dann haben Sie sich bei mir für eine Tangostunde angemeldet.“

„Richtig.“ Zum ersten Mal, seit er bei der Wirtschaftsverbandssitzung zum Tangotanzen verdonnert worden war, sah er etwas Positives darin. Vielleicht würden die Tanzstunden ja ganz unterhaltsam werden!

„Herzlich willkommen!“ Rose Vasquez streckte ihm ihre schlanke Hand entgegen.

Als sich ihre Handflächen berührten, spürte Dalton ein merkwürdiges Ziehen in seinem Bauch. Der Handschlag der Tanzlehrerin war fest. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass die junge Dame so leicht war, dass sie schon der kleinste Windstoß fortblasen könnte.

Außer einem plätschernden Zimmerbrunnen und einer summenden Getränkemaschine war es – vom lauten Schlagen seines Herzens einmal abgesehen – still in der Tanzschule. Nicht, dass ihn das störte. Nur hatte er unbewusst in einer Kleinstadt-Tanzschule Horden von kleinen Mädchen in rosa Tutus erwartet.

„Die Dame, die Sie angemeldet hat …“, begann Rose Vasquez.

„Meine Sekretärin, Joan“, unterbrach Dalton sie hastig.

„Also, Joan meinte, Sie würden nur einen Crashkurs im Tangotanzen benötigen.“

„Genau. Das ist mehr als ausreichend. Ich brauche nur die Grundlagen, um einen einzigen Tanz zu überstehen.“

Aus dem freundlichen Gesichtsausdruck der Tanzlehrerin wurde schlagartig Ernüchterung. „Damit beleidigen Sie nicht nur mich, sondern auch eine über hundertjährige Tradition. Der Tango ist nicht einfach ein Tanz. Ich hoffe, dass es mir im Laufe des Unterrichts gelingt, Ihnen das begreiflich zu machen. Und ich erwarte, dass Sie dem Tango die Würde und den Respekt entgegenbringen, den dieser wundervolle Tanz verdient.“

Würde? Respekt? Wovon sprach diese Frau? Dalton gelang es gerade noch rechtzeitig, ein abfälliges Schnauben zu unterdrücken. Hier ging es um einige einfache Tanzschritte. Auch wenn diese Rose Vasquez äußerst attraktiv war – sie hatte noch einiges zu lernen, was die Dinge im Leben eines Mannes betraf, die Würde und Respekt verdienten.

„Warum sagen Sie nichts?“, fragte Rose, während sie unruhig mit einem lila Kugelschreiber auf den gelben Empfangstisch klopfte. Angesichts der schrillen Farben bekam Dalton plötzlich Sodbrennen. Oder revoltierte sein Magen, weil es diese völlig fremde Frau wagte, ihn zu belehren?

Mechanisch griff er in die Brusttasche seines Anzugsakkos, um seinen Magen mit einem säureneutralisierenden Kaugummi zu beruhigen, doch der kleine Behälter, den er immer bei sich trug, war leer.

Als er feststellte, dass ihn die Frau verwundert ansah, nahm er die Hand wieder aus der Tasche. „Gehe ich recht in der Annahme, dass ich bei dieser Tanzerei entweder nach Ihren Regeln spielen oder es sein lassen muss?“, erkundigte sich Dalton.

Sie lächelte. Das Strahlen, das dabei von ihr ausging, überwältigte ihn fast. Diese Rose Vasquez war nicht nur gut aussehend, sondern schön. Tatsächlich gab sie dem Begriff Schönheit eine völlig neue Bedeutung. Ihre glatte Haut mit einem Stich ins Olivfarbene bildete einen umwerfenden Kontrast zu ihren ausdrucksvollen braunen Augen und dem seidig glänzenden rabenschwarzen Haar, das er nur zu gern berührt hätte.

Komm zurück auf den Teppich! hörte Dalton seine Vernunft schreien.

Bei all ihrer Attraktivität schien diese Frau alles andere als einfach zu sein. Davon hatte er sich in den vergangenen Minuten ausgiebig überzeugen können.

Wieder lächelte Rose, doch dieses Mal beschränkte sich das Lächeln auf ihren Mund und schaffte es nicht bis hinauf zu ihren Augen. „Da haben Sie vollkommen recht. Allerdings muss ich Ihnen ein Kompliment machen: Noch nie hat jemand meine Vorstellungen so knapp und treffend formuliert. Wenn ich mich wirklich darauf einlasse, Ihnen einen Crashkurs im Tangotanzen zu geben, erwarte ich auch hundertprozentiges Engagement von Ihrer Seite.“

Dalton öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Rose brachte ihn mit ihrem Zeigefinger auf seinen Lippen zum Schweigen.

„Sagen Sie nichts“, flüsterte sie. „Ich weiß, was Sie denken. Sie fragen sich, wie Sie all Ihre Energie in diesen Tanz investieren sollen, wenn Sie doch für Ihre Arbeit leben, richtig?“

Er nickte.

„Bald werden Sie merken, dass ich gar nicht viel verlange. Nur Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.“

Vorher hatte es sich eher angehört, als müsse er ihr seine Seele verkaufen.

„Abgemacht, Mr. Montgomery?“

„Abgemacht“, bekräftigte er und streckte ihr die Hand hin. Dabei versuchte er sich einzureden, dass er jedes Mal, wenn er einer Frau die Hand schüttelte, dasselbe elektrisierende Gefühl verspürte wie bei der zauberhaften Rose Vasquez. „Legen wir los.“

„Sie meinen sofort?“

„Meine Sekretärin hat mich doch angemeldet.“

Rose schüttelte den Kopf. „Das muss ein Missverständnis gewesen sein. Ich habe heute schon etwas anderes vor. Morgen Abend um sieben Uhr habe ich Zeit für Sie.“

Nachdem Mr. Montgomery das Tanzstudio verlassen hatte, zitterten Roses Hände so sehr, dass sie kaum die Tür hinter ihm zusperren konnte.

Bei der Erinnerung an das plötzlich aufblitzende Interesse in Dalton Montgomerys tiefblauen Augen krampfte sich ihr Magen zusammen. Wie sehr hatte sie gegen den Impuls gekämpft, sein widerspenstiges dunkles Haar mit ihrer Hand zu glätten. Seine Größe und sein scharf geschnittenes Gesicht mit der römischen Nase gaben diesem Mann einen ungeheuren Sexappeal.

Weshalb hatte sie nur so mit ihm gesprochen? Warum hatte sie auf das gute Geld verzichtet, das ihr die heutige Stunde eingebracht hätte? Eigentlich konnte sie es sich überhaupt nicht leisten, auf diese Verdienstmöglichkeit zu verzichten.

Es war nicht so, dass sie nach Anna sehen musste. Das hatte sie sich nur vorzumachen versucht. Der wahre Grund war, dass sie zum ersten Mal seit Johns Tod vor über einem Jahr einen anderen Mann attraktiv fand – ein Gefühl, das sie völlig aus der Bahn warf.

Der Gedanke daran, eine Stunde lang in Dalton Montgomerys Armen Tango zu tanzen – diesen Tanz, den ihr Mann und sie so geliebt hatten – war zu viel für sie gewesen.

Deshalb hatte sie sich diesen Aufschub erkauft. Sie brauchte Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass sie einen anderen Mann attraktiv fand. Und dass sie jedes Recht dazu hatte.

Trotzdem war es merkwürdig, wie warm ihr plötzlich geworden war, als er sie ansah. Hoffentlich bekam sie ihre Gefühle auf die Reihe, bevor sie sich morgen Abend wiedersahen!

Irgendwie war es ihr seit Johns tödlichem Motorradunfall jeden Tag gelungen, sich aufzuraffen und zu tun, was getan werden musste. Rose zwang sich dazu, tief durchzuatmen. Bestimmt würde sie auch diese Krise erfolgreich meistern.

In der kurzen Zeit, die John und sie verheiratet gewesen waren, war ihre körperliche Beziehung immer von Leidenschaft erfüllt gewesen. Kein Wunder, dass sie als junge, gesunde Frau bestimmte Bedürfnisse verspürte. Mehr war es nicht, was sie Dalton Montgomery gegenüber empfand.

Aber warum raste ihr Puls dann schon beim Gedanken an das Wiedersehen mit ihm?

Rose hatte keine Antwort auf diese Frage. Zumindest keine, die sie selber akzeptieren konnte. Mit einer energischen Handbewegung löschte sie das Licht im Tanzstudio und ging hinauf in die Loftwohnung im Dachgeschoss, in der sie mit ihrer Tochter Anna lebte.

Anna hatte ihr die Kraft gegeben, Johns Tod zu überwinden. Wenn ihr das gelungen war, würde sie auch mit ihren Gefühlen für diesen unbekannten Mann fertig werden.

Am frühen Donnerstagabend, eine Stunde vor ihrer Verabredung mit Mr. Montgomery, schleppte sich Rose die Stufen zu ihrer Wohnung hoch. Seit sie heute Morgen aus dem Bett gestiegen war, hatte sie in ihrem Innersten eine schleichende Angst verspürt. Jetzt, wo sie die hohen Räume betrat, die sie als ihre persönliche Zufluchtsstätte betrachtete, hatte sich diese Angst in Panik verwandelt. Zum Glück brauchte Rose sie nicht zu verstecken, denn Anna übernachtete heute bei einer Freundin.

Sie war zwar nicht hungrig, aber da sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, kochte sie sich eine Tomatensuppe.

Während sie darauf wartete, dass die Flüssigkeit zu sieden begann, sah sie sich in ihrem Heim um. Durch die breite Fensterfront im Westen strömte frühsommerliches Sonnenlicht herein. Rose liebte Pflanzen und die Helligkeit der Wohnung. Die fehlenden Innenwände und die hohen Decken erlaubten es ihr, hier Bäume aufzustellen: Palmen, einen kleinen Orangenbaum und sogar einen jungen Rotahorn.

Während Rose gedankenverloren in ihrer Suppe rührte, ließ sie die vergangenen drei Monate Revue passieren. Vor genau 90 Tagen hatte sie ihr Tanzstudio eröffnet. Ihre Familie hatte nicht geglaubt, dass sie es schaffen würde. Zwar war die Tanzschule nicht gerade eine Goldgrube, aber was sie damit verdiente, reichte immerhin zum Leben für sie und Anna.

Plötzlich stieg ihr ein süßlich-verbrannter Geruch in die Nase. Mist! Direkt vor ihren Augen war ihr die Suppe übergekocht! Wie hatte ihr das nur passieren können? Das kam davon, wenn man am hellichten Tag vor sich hin träumte! Sie drehte die Kochplatte ab und wischte die Überschwemmung am Herd auf. So viel zu ihrem Abendessen. Aber egal, sie hatte ohnehin keinen Hunger.

Sie holte eine Packung Salzcracker aus der Speisekammer und ließ sich in den riesigen Polstersessel fallen, der mitten im Raum stand. Er war früher Johns Lieblingsplatz gewesen, und wenn sie darin saß, war es, als nähme er sie in den Arm. Manchmal hätte sie schwören können, dass das dunkelbraune Leder noch immer nach John roch.

Sie schaltete den Fernseher ein, doch als das Programm von den Nachrichten zum Sport wechselte, wurden ihre Augenlider immer schwerer.

„Ähm … Miss Vasquez?“

Rose schreckte hoch. Höchstens drei Meter von ihr entfernt stand Dalton Montgomery!

„Entschuldigen Sie“, sagte Dalton leise. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Hastig richtete sich Rose auf und versuchte sich so rasch wie möglich zu sammeln. Bestimmt sah ihr Haar fürchterlich aus. Sie tat ihr Bestes, um es mit der Haarspange zu bändigen.

„Nicht!“, rief ihr ungeladener Gast, der sie die ganze Zeit in seiner irritierenden Art angestarrt hatte.

„Wie bitte?“

„Binden Sie Ihr Haar nicht zusammen. Es sieht … gut aus, wenn es so …“ Dalton schluckte. „Wenn es offen ist.“ Eigentlich hatte er etwas anderes sagen wollen.

Sie musste das gespürt haben, denn sie gehorchte nicht. Demonstrativ kämmte sie ihre Haare mit den Fingern nach hinten und schloss die Haarspange mit einer Bewegung, die keinen Widerspruch duldete.

Möglichst unauffällig sah sie an sich auf und ab, um sicherzustellen, dass ihre Kleidung trotz des Nickerchens noch dort saß, wo sie hingehörte. Aber sie musste sich keine Sorgen machen: Das körperbetonte schwarze Kleid, das sich so gut zum Tangotanzen eignete, hatte sie nicht im Stich gelassen.

Warum fühlte sie sich in der Gegenwart dieses Mannes nur so unbeschreiblich unsicher? Was hatte er an sich, das sie so aus dem Konzept brachte?

„Was haben Sie überhaupt hier zu suchen?“, fragte Rose schroffer, als sie eigentlich beabsichtigt hatte.

„Ich sollte um sieben Uhr eine Tangostunde haben. Erinnern Sie sich noch?“ Er deutete auf seine Armbanduhr. „Jetzt ist es schon Viertel nach sieben. Unten waren alle Türen offen und weit und breit niemand zu sehen. Außerdem roch es angebrannt.“

„Und deshalb platzen Sie einfach in meine Wohnung?“

„Es tut mir leid, aber ich wollte Ihnen wirklich nur helfen. Ich hatte schon Angst, dass das Haus brennt. Deshalb bin ich heraufgekommen, um mich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist. Das ist alles. Also tanzen wir jetzt endlich?“

Eine berechtigte Frage.

Rose riss sich zusammen und stand auf. „Bitte entschuldigen Sie. Das Ganze ist meine Schuld. Nachdem bald überall die Abschlussbälle stattfinden, habe ich mehr Privatstunden gegeben als sonst und bin deshalb übermüdet.“

„Schon in Ordnung“, lenkte Dalton sofort ein. „Wenn ich unter Druck stehe, bin ich auch ziemlich unleidlich.“

„Wirklich?“, fragte Rose überrascht.

Er antwortete mit einem traurigen Lächeln seiner vollen und doch weichen Lippen. Lippen, mit denen dieser Mann ohne Zweifel jede Frau besinnungslos küssen konnte. Nicht, dass sie das wollte!

„Oh ja, wirklich, Miss Vasquez. Ich verstehe eine ganze Menge davon, wie sich Überarbeitung auf einen Menschen auswirken kann.“

„Wie meinen Sie das?“, erkundigte sich Rose überrascht.

„Wollen Sie das wirklich hören?“, fragte Dalton zweifelnd. Als sie nickte, deutete er auf das blumengemusterte Sofa: „Darf ich mich setzen?“

„Selbstverständlich! Bitte.“ Rose machte eine einladende Handbewegung.

Zum ersten Mal heute fand sie die Zeit, ihn anzusehen. In seinen locker sitzenden, ausgebleichten Jeans und dem engen schwarz-orangen Princeton-T-Shirt wirkte er ganz anders als am Vorabend im Anzug.

„Heute ist ein Unternehmen, das meine Holding übernehmen wollte, an der Börse komplett eingebrochen. Erst ging es zwei Punkte hoch, dann plötzlich zehn hinunter. Ich vermute, dass das mit der Immobilienkrise zusammenhängt, aber es könnte sich auch um falsch bewertete Aktienoptionen handeln. Es ist einfach frustrierend, wissen Sie, wenn man nichts tun kann, um ein Problem zu lösen.“

Rose lächelte schüchtern. Die Hilflosigkeit in seiner Stimme kannte sie selbst nur zu gut, doch von Finanzen hatte sie keine Ahnung. Ihr Leben war das Tanzen. Er hätte genauso gut Chinesisch mit ihr sprechen können, und sie hätte gleich viel verstanden.

„Sie haben kein Wort von dem kapiert, was ich eben gesagt habe, richtig?“

„Stimmt genau“, antwortete sie mit einem entwaffnenden Lächeln, das ihr überhaupt keine Schwierigkeiten bereitete.

„Egal. Das geht fast allen so. Keiner versteht, was ich tue. Manchmal nicht einmal ich selber.“ Daltons Blick fiel auf den schmutzigen Suppentopf. „Eigentlich sollten wir ja tanzen, aber was würden Sie davon halten, wenn wir erst mal etwas essen gehen?“

Bei Rose schrillten alle Alarmglocken.

Natürlich musste sie sich diesem Mann gegenüber höflich-professionell verhalten. Aber essen gehen klang verdächtig nach einer Verabredung.

Obwohl es das eigentlich nicht war.

Bei Licht betrachtet erschien es ihr sogar weniger gefährlich, mit diesem Mann in einem der meist überfüllten Restaurants von Hot Pepper zu sitzen, als in seinen Armen Tango zu tanzen.

So gesehen musste sie das Tanzen so lange wie möglich hinausschieben.

„Okay, gehen wir essen.“ Rose sprang eilig hoch und sah sich nach ihrer Handtasche um.

„Warum haben Sie es denn plötzlich so eilig?“

„Ich bin kurz vor dem Verhungern“, log sie, ohne rot zu werden.

„Na, dann.“ Er machte eine einladende Handbewegung, mit der er sie aufforderte, vor ihm durch die noch immer offene Wohnungstür zu gehen.

„Einen Moment“, sagte sie nach einem Blick auf ihr Kleid. „Ich sollte mich umziehen. Und Schuhe wären vielleicht auch keine schlechte Idee.“

„Ich finde Ihr Kleid absolut in Ordnung, aber Schuhe könnten wirklich nicht schaden“, musste Dalton zugeben.

Sie lief hinüber in den offenen Raum, der ihr als Schlafzimmer diente, und suchte im Schrank nach Shorts und einem T-Shirt. Sie hätte schwören können, dass er sie dabei beobachtete, doch als sie unauffällig in seine Richtung blickte, fand sie ihn in einen Bildband über Argentinien vertieft.

Gut.

Es war ja nur verständlich, dass sie körperliche Bedürfnisse verspürte, beruhigte sie sich selber. John hatte immer gesagt, sie solle nicht den Rest ihres Lebens allein verbringen, falls ihm etwas passierte. Aber es war einfach noch zu früh, um an solche Dinge zu denken.

Sie nahm ihre Sachen und ging damit ins Bad, das, genau wie Annas Zimmer, ein richtiger Raum mit einer Tür war, die sie hinter sich schließen konnte.

Es dauerte nur einen Augenblick, in die abgeschnittenen Jeans und das enge rosafarbene T-Shirt zu schlüpfen. Beide Teile hatte sie schon hundertmal getragen, wenn sie mit Anna unterwegs war oder einkaufen ging. Trotzdem fühlten sie sich heute zu knapp und offenherzig an.

Wie lächerlich!

Als sie in den Wohnraum zurückkehrte, blätterte Dalton noch immer interessiert in dem Argentinien-Buch. Sie schlüpfte in ihre Sandalen und rief: „Fertig!“

Er stand auf und kam zur Tür, ohne sie dabei auch nur eines Blickes zu würdigen. Na also, da hatte sie es: Sie brauchte sich überhaupt keine Sorgen zu machen!

Draußen versuchte Dalton, unauffällig durchzuatmen. Er dankte der Natur im Stillen dafür, dass es so kühl geworden war. Ihm war auch so bereits heiß genug.

Rose hatte schon in ihrem Tanzkleid wundervoll ausgesehen, aber dieses neue Outfit war einfach umwerfend.

Auch wenn er vorgegeben hatte, fasziniert von dem Buch zu sein, das er vor sich aufgeschlagen hatte, war ihm diese Rose Vasquez doch keinen Augenblick aus dem Kopf gegangen. Jede einzelne ihrer Bewegungen war voller Energie, die sich unwillkürlich auf ihn übertrug, wenn er nicht für einige Meter Abstand zwischen ihr und ihm sorgte.

„Was halten Sie von Big Daddy’s Deli?“, fragte er. „Ich hätte jetzt Lust auf ein Truthahn-Sandwich mit Schwarzbrot.“

„Keine Einwände“, antwortete Rose. „Nur, dass mir mehr nach einem Roastbeef-Sandwich mit Käse ist.“

„Dann sind wir uns ja einig. Sie zuerst.“

Dalton ließ sie auf dem schmalen Gehsteig vorausgehen. Dabei hatte er allerdings nicht bedacht, dass er so ständig ihren wohlgeformten Po im Blickfeld hatte, dessen schwungvolle Bewegung bei jedem Schritt in den kurzen Shorts nur zu gut sichtbar war. Ein Glück nur, dass ihm auf diese Art wenigstens der Blick in ihr Dekolleté erspart blieb. Ihr Oberteil war nämlich auch nicht gerade hochgeschlossen und darüber hinaus sehr figurbetont.

Nein! Er musste diese Gedanken unter Kontrolle bekommen, ermahnte Dalton sich selbst. Diese Frau war einzig und allein dazu da, ihm das Tangotanzen beizubringen, damit er bei dieser schrecklichen Misswahl seinen Verpflichtungen nachkommen konnte. Ansonsten verband ihn rein gar nichts mit dieser Dame.

Seit seinen Erfahrungen mit Carly war ihm die Lust auf Künstlerinnen gründlich vergangen.

Zum Glück waren sie bei Big Daddy’s Deli angelangt, bevor er diesen Gedanken weiterverfolgen konnte.

Rose hielt ihm die Tür auf und ließ ihn vorgehen. Großartig, der appetitliche Geruch der verschiedenen Sandwich-Beläge würde ihm dabei helfen, sich abzulenken.

Seine Begleiterin deutete auf einen Tisch in einer Nische. „Sollen wir uns da drüben hinsetzen?“

Der im Dunkeln gelegene, versteckte Zweiertisch wäre für ein Date ideal gewesen. Aber nachdem dies keines war, wollte er nichts riskieren und stammelte: „Äh, ich habe ein wenig Platzangst. Wie wäre es mit diesem dort?“ Er zeigte auf einen Tisch, der für acht Personen gedacht war und zwischen einer Familie mit drei lauten Kindern und der Kasse lag.

Nachdem sie einander gegenüber Platz genommen hatten, bestellten sie Eistee und vertieften sich in die Speisekarte, obwohl sie eigentlich bereits wussten, was sie essen wollten.

Rose sagte: „Ich weiß nie, ob ich einfach das Roastbeef-Sandwich nehmen oder einmal ein anderes probieren soll. Bei Roastbeef bin ich sicher, dass es gut schmeckt, während ein anderes dagegen einfach ein Risiko ist.“

Konnte diese Frau Gedanken lesen? Auch wenn er selbst eher an seine Lebensplanung als an die Speisenauswahl gedacht hatte. Was hatte Rose nur an sich, das ihn so unruhig und unzufrieden mit sich und der Welt machte?

„Ich nehme das Roastbeef“, beschloss sie schließlich. „Ich kann nichts dagegen tun. Es ist einfach perfekt.“ Sie legte ihre Speisekarte auf den Tisch. „Und Sie? Haben Sie sich schon entschieden?“

„Auch das Übliche: Truthahn auf Schwarzbrot.“ Ihm war heute wirklich nicht nach Experimenten zumute. Obwohl der Abend gar nicht schlecht begonnen hatte – auf jeden Fall spannender als sonst mit Tiefkühlgerichten und Fernsehserien – hatte ihn Roses Kommentar über Risiken daran erinnert, dass er schon einmal eines eingegangen war. Und dieses eine Mal hatte ihn gelehrt, es nicht wieder zu tun.

Dalton seufzte.

Dann kam die Kellnerin, um die Bestellung aufzunehmen. Danach fragte ihn Rose: „Ist alles in Ordnung?“

„Sicher“, antwortete er. Oh ja, großartig. Zumindest würde es das sein, wenn er diese Tanzerei endlich hinter sich hatte.

„Sie sind plötzlich so still“, bohrte Rose weiter. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Nein, ich hatte nur einen harten Tag bei der Arbeit.“

„Wollen Sie mir mehr darüber erzählen? Ich will mich nicht aufdrängen, aber das Tanzen geht viel leichter, wenn wir zumindest Freunde sind.“

Dalton fiel es schwer, ihr in die Augen zu sehen. Noch vor einigen Minuten hatte er sich gewünscht, mit dieser Frau viel mehr als nur befreundet zu sein.

„Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass ich bei einer Bank arbeite.“

„Ja, sehr interessant.“

Das Funkeln in ihren Augen verriet ihm, dass sie sich über ihn lustig machte. Er zwang sich zu einem höflichen Lächeln. „Manchmal ist es das wirklich.“

„Warum habe ich nur das Gefühl, dass in diesem Satz ein Aber fehlt?“, fragte Rose. „Mr. Montgomery, vielleicht gelingt Ihnen das bei anderen, aber mir können Sie nicht vormachen, dass Ihnen Geld das Wichtigste im Leben ist.“

Dalton war schockiert. Wie konnte sie das wissen? Das hatte er noch niemandem gegenüber zugegeben, doch ihm selber war es schon vor einigen Jahren klar geworden.

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Rose, die sein Entsetzen bemerkt haben musste, nachdem die Kellnerin die Getränke gebracht hatte. „Es ist eine dumme Angewohnheit von mir, zu versuchen, den tiefsten, intimsten Geheimnissen meiner Mitmenschen auf die Spur zu kommen. Das war nur ein Schuss ins Blaue und hat absolut nichts zu sagen. Am besten vergessen Sie es gleich wieder!“

Dalton wusste, dass er eigentlich erleichtert sein sollte, doch wie konnte er, wenn diese völlig fremde Frau ihn auf den ersten Blick dermaßen durchschaut hatte! Deshalb fragte er vorsichtig: „Was habe ich an mir, das Sie auf diese Idee gebracht hat?“

„Wollen Sie das wirklich wissen?“, fragte Rose zurück.

Um davon abzulenken, dass er es nicht nur wissen wollte, sondern um jeden Preis wissen musste, zuckte er gleichgültig die Achseln. „Warum nicht?“

Rose streckte ihre Hand aus und klopfte auf seine Armbanduhr. „Die hier hat Sie verraten.“

„Was?“

„Ihre Swatch.“

Die hatte er bei einer Geschäftsreise nach New York im Vorbeigehen gekauft, weil sie ihn spontan angesprochen hatte. Davor hatte er immer die goldene Rolex getragen, die ihm seine Eltern zum College-Abschluss geschenkt hatten.

„Das ist nur meine persönliche Meinung, aber ich glaube nicht, dass ein von Geld besessener Mann eine solche Uhr tragen würde.“

Dalton wusste nicht, wie er reagieren sollte, und sah verlegen zur Seite.

Rose lehnte sich entspannt zurück und grinste. „Darf ich das als Zeichen dafür nehmen, dass ich recht habe?“

„Sie dürfen das als Zeichen dafür nehmen, dass Sie sich besser um Ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollten.“

„Tut mir leid“, sagte sie, und an ihrer ernsten Miene sah er, dass sie es aufrichtig meinte. „Aber etwas muss ich noch loswerden: Mir gefällt Ihre Uhr! Und ich bin sicher, dass Sie Ihren Job gut machen, auch wenn Sie keine teure Uhr tragen.“

Endlich brachte die Kellnerin ihre Sandwichs.

„Sagen Sie doch etwas“, bat Rose, bevor sie zu essen begann.

„Ich weiß nicht, was“, musste Dalton zugeben. „Sie scheinen ohnehin schon alles über mich zu wissen.“ Bevor er noch mehr verriet, biss er schnell in sein Sandwich.

„Oh, nein, jetzt seien Sie nicht eingeschnappt. Ich habe mich entschuldigt. Es ist nur ein Spiel. Wirklich, das hatte überhaupt nichts zu bedeuten.“

„Habe ich auch nicht behauptet“, knurrte Dalton.

„Aber Sie benehmen sich so, als hätte ich einen Nerv getroffen. Wenn ja, entschuldige ich mich dafür in aller Form.“

„Vergessen wir es einfach. Lassen Sie uns schnell essen, damit wir endlich mit dem Tanzen beginnen können“, schlug er vor.

„Moment!“, rief sie plötzlich. Sie ließ ihr Sandwich fallen und schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Hatte ich etwa recht? Sie hassen ihren Job und fühlen sich deswegen schuldig?“

„Und wenn es so wäre, würde Sie das irgendetwas angehen?“, fragte Dalton ungehalten zurück.

„Nein, aber …“ Sie nahm ihr Sandwich wieder in die Hand. „Aber wenn das wirklich stimmt, dann können Sie nichts Besseres tun als tanzen. Es wirkt Wunder, um Stress abzubauen, und hilft Ihnen dabei, sich selber besser kennenzulernen.“

„Hören Sie, wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, essen Sie jetzt, und dann bringen wir die Tanzerei so schnell wie möglich hinter uns.“

2. KAPITEL

„Nein, Mr. Montgomery, ich habe gesagt gehen, nicht trampeln.“ Rose schüttelte seufzend den Kopf. Hatte sie wirklich noch vor wenigen Stunden Angst vor der erotischen Spannung beim Tanzen mit diesem Mann gehabt? Die hätte sie sich getrost sparen können!

Dalton warf mit einer dramatischen Bewegung die Hände in die Luft, um sie anschließend vorwurfsvoll in die Hüften zu stemmen. „Ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen! Erst soll ich mich drehen. Dann soll ich auf einer Linie gehen, dann in einem Rechteck! Am liebsten würde ich geradewegs da drüben zur Tür hinausgehen.“

„Gute Idee! Ich werde Sie sicher nicht davon abhalten!“

Während dieses Gesprächs standen sie Zeh an Zeh und Brust an Brust. Rose hätte ihn am liebsten geschüttelt. Doch die Hitze, die sie in ihrem Körper spürte, war näher mit Leidenschaft als mit Wut verwandt.

Sie atmeten beide schwer. Rose vor Ärger, Dalton vor Anstrengung. Sie sah zu, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, und plötzlich wurde ihr bewusst, wie lustig es war, dass ihn schon eine einfache Drehbewegung im Grundschritt überforderte. Ohne darüber nachzudenken, lachte sie los.

„Was ist so komisch?“, fragte Dalton irritiert.

„Sie. Nein. Wir“, korrigierte sie schnell. „Es ist nach neun, und wir sind beide mit den Nerven am Ende.“

Um diese Zeit hatte sie Anna normalerweise schon ins Bett gebracht und bereitete sich selber aufs Schlafengehen vor.

Dalton schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und seufzte. „Sie haben recht. Verzeihung.“

„Mir tut es auch leid.“ Vor allem, weil sie einen Großteil von Dalton Montgomerys Schwierigkeiten beim Tanzen mit verursachte. Sie musste unbedingt lockerer werden. „Wir verbringen ganz schön viel Zeit mit gegenseitigen Entschuldigungen, finden Sie nicht?“

„Ist mir auch schon aufgefallen.“ Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

„Wir müssen ja nicht alles gleich heute lernen. Warum haben Sie es eigentlich so eilig?“

„Haben Sie schon mal von der Wahl zur Miss Hot Pepper gehört?“

„Natürlich.“ Rose nickte, während sie zu einem kleinen Kühlschrank in der Ecke des Tanzstudios ging und zwei Flaschen Wasser herausnahm. Eine davon streckte sie Dalton entgegen. „Und, was haben Sie damit zu tun?“

„Ich muss mit der scheidenden Miss Hot Pepper diesen blödsinnigen Tango tanzen, während die Jury die neue Miss bestimmt.“

„Warum sagen Sie das?“

„Was?“

„Blödsinniger Tango. Wieso äußern Sie sich aus reiner Ignoranz so abfällig über eine wundervolle Kunstform?“

„Ich habe nichts gegen das Tangotanzen“, verteidigte sich Dalton. „Ich will es nur nicht lernen. Was für eine Zeitvergeudung, sich wer weiß wie viele Abende mit Tanzen um die Ohren zu schlagen, wenn ich inzwischen daheim sein könnte und …“

„Und was?“, erkundigte sich Rose, als er unvermittelt abbrach. „Was könnte mehr Spaß machen als tanzen?“

„So ziemlich alles“, antwortete Dalton trotzig.

„Sie haben dem Tango noch nicht einmal eine Chance gegeben.“ Na und, was kümmerte sie das eigentlich? Am einfachsten wäre es, ihn gehen zu lassen. Wenn er darauf bestand, sich vor der ganzen Stadt zu blamieren, wieso sollte sie ihn daran hindern? „Übrigens kann ich mir auch etwas Angenehmeres vorstellen, als jemandem das Tanzen beizubringen, der es gar nicht lernen will.“

Dalton stellte seine Wasserflasche auf den Fußboden, um sich mit beiden Händen die Schläfen zu massieren. „Machen wir uns nichts vor“, sagte er schließlich. „Wir beide wissen, dass ich keinerlei Begabung für das Tanzen mitbringe. Kann ich es überhaupt lernen?“

Diese plötzliche Bescheidenheit überraschte und besänftigte Rose. Sie wusste nur zu gut, wie schwer es sein konnte, etwas zu lernen. In ihrem Fall waren das die grundlegenden Dinge des täglichen Lebens gewesen. Nach Johns Tod musste sie plötzlich die Rechnungen bezahlen, den Installateur rufen oder den Wagen zur Inspektion bringen.

Mittlerweile hatte sie all das im Griff. Nur allein in ihrem gemeinsamen Ehebett schlafen, das konnte sie bis heute nicht.

„Ich glaube nicht nur, dass Sie das Tangotanzen lernen können“, antwortete sie sanft, während sie mit ihren aufsteigenden Tränen kämpfte, „ich weiß es.“

Leichtfüßig tanzte sie hinüber zur Stereoanlage, legte ihre Lieblings-Tango-CD ein und drehte die Lautstärke auf. Als der ganze Raum im Rhythmus der Musik zu pulsieren schien, streckte sie einladend die Arme aus. „Darf ich bitten?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ergriff sie mit der einen Hand die seine und legte die andere auf seinen Oberarm. Mit geschlossenen Augen, die Lippen leicht geöffnet, konzentrierte sie sich auf die Musik.

Plötzlich musste sie daran denken, wie oft sie und John miteinander so auf der Bühne gestanden hatten, bevor sich der Vorhang öffnete.

Sie ließ ihre Arme sinken und wandte sich ab. „Genug für heute.“

„Aber …“, wandte Dalton ein.

Sie ging zur Stereoanlage und schaltete die Musik ab. Die darauf folgende völlige Stille war auch nicht besser zu ertragen.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Dalton besorgt.

„Natürlich.“ Verstohlen wischte sich Rose einige Tränen ab. Obwohl sie seit Johns Tod mit anderen Männern Tango getanzt hatte, hatte Dalton Montgomery etwas an sich, das ihn von allen anderen unterschied. Er war etwas ganz Besonderes.

„Und warum weinen Sie dann?“

Sie hatte nicht bemerkt, dass er nähergekommen war, doch plötzlich stand er hinter ihr. So nah, dass sie ihn förmlich spüren konnte. Doch er berührte sie nicht. Dafür war sie ihm dankbar. Sie wusste nicht, wie sie nach all der Zeit auf die Berührung eines Mannes reagiert hätte.

Ihr neuer Schüler bewies damit ein Zartgefühl, das er sonst erfolgreich verbarg. Aber genau das war der Zauber des Tangos. Er brachte das geheime Innerste der Tänzer ans Licht.

„Rose?“ Zum ersten Mal nannte er sie beim Vornamen. Er sprach ihn aus wie ein Kompliment. „Ich weiß, dass ich ein miserabler Tänzer bin, aber bestimmt nicht so schlecht, dass Sie deshalb heulen müssten.“

Bei seinem Versuch, sie aufzuheitern, musste sie erst wirklich lachen. Doch dann kullerten die Tränen nur noch schneller über ihre Wangen. Sie flüchtete hinaus ins Treppenhaus, um allein zu sein, doch Dalton folgte ihr.

Er legte ihr die Hand auf die linke Schulter und fragte: „Was ist denn los?“

„Nichts!“ Sie riss sich los, weil die körperliche Nähe zu ihm sie nur noch mehr verwirrte. „Es tut mir leid, aber der Unterricht ist vorbei.“

„Nicht doch.“

„Es tut mir leid“, wiederholte sie. „Ich kann einfach nicht mehr.“ Sie ging einige Stufen zur ihrer Wohnung hinauf, bis sie seine Stimme zurückholte.

„Soll ich morgen Abend wiederkommen?“

Sie schüttelte erst den Kopf, dann nickte sie, bevor sie endgültig nach oben verschwand.

„Wie lief deine Tanzstunde?“, erkundigte sich Daltons Vater am nächsten Morgen telefonisch. „Wir werden uns doch nicht für dich schämen müssen, oder?“

„Meine Tanzstunde? Großartig“, log Dalton notgedrungen. Dass seine Tanzlehrerin in Tränen aufgelöst aus dem Studio geflüchtet war, konnte er seinem Vater gegenüber wohl schlecht zugeben. „Ich brauche wahrscheinlich nur noch eine weitere Stunde, dann kann ich es.“

„Soll das ein Scherz sein?“, fragte sein Vater ungläubig. „Ich soll dir abnehmen, dass du in einer einzigen Stunde Unterricht Tangotanzen gelernt hast? Ich habe für meinen ersten Auftritt bei dieser Misswahl sechs Wochen lang jeden zweiten Abend trainiert.“

Dalton warf einen kurzen Blick auf das Etikett der Flasche mit dem Mittel gegen Sodbrennen, bevor er einen Schluck nahm. Ob es möglich war, davon eine Überdosis zu sich zu nehmen? Hoffentlich nicht. „Ich habe diese Eins-, Zwei-, Drei-Gehschritte verstanden. Was muss ich sonst noch wissen?“

„Alles. Du musst die Musik fühlen und deinen Körper und deine Seele für sie öffnen. Miss Gertrude sagte, ich müsse meinem Herzen erlauben, der Musik zu folgen.“

Dalton war verblüfft. „Und das sagt mir der Mann, der mir mein Leben lang eingetrichtert hat, auf meinen Verstand zu hören statt auf mein Herz? Hast du heute Morgen schon deine Medikamente genommen, Dad?“

„Ja …“, antwortete sein Vater gedehnt. Der alte Mann räusperte sich. „Das war, bevor ich krank wurde. Mittlerweile bin ich der Meinung, dass es vielleicht gar nicht schlecht ist, auch manchmal seinem Gefühl zu folgen. Zumindest, wenn sich unsere geschäftlichen Ziele dadurch eher erreichen lassen.“

Dalton nickte beruhigt. Okay, das war wieder sein Vater, wie er ihn kannte.

„Ohne dich unter Druck setzen zu wollen, mein Sohn“, fuhr sein Vater fort, „mir liegt sehr viel daran, dass diese Misswahl ohne Peinlichkeiten abläuft. Deine Mutter und ich freuen uns schon sehr auf deinen Auftritt. Miranda übrigens auch. Verstehst du, was ich meine?“

„Ja, Vater, vollkommen.“

Er legte den Hörer auf. Dann nahm er einen Bleistift und zerbrach ihn in der Mitte. Manchmal konnte er diese keineswegs dezenten Hinweise darauf, dass er endlich Miranda Browning heiraten sollte, nicht mehr ertragen. Er kannte Miranda schon, seit sie beide Kinder gewesen waren. Ihre Eltern waren miteinander befreundet und nutzten jede Gelegenheit, die beiden zusammenzubringen.

Dalton hatte nichts gegen Miranda, doch als seine Mutter ihm zum ersten Mal vorgeschlagen hatte, sie zu heiraten, war ihm das absurd vorgekommen. In den letzten Monaten allerdings hatte er sich das eine oder andere Mal gefragt, ob seine Eltern nicht vielleicht doch recht hatten. Insbesondere, da sich seine eigene Wahl schon einmal als völlige Katastrophe erwiesen hatte.

Am Freitagabend fuhr Dalton mit einem unangenehm flauen Gefühl im Magen zum Tanzstudio. Er wusste nicht, was ihn dort erwartete. Würde seine Lehrerin das heulende Häufchen Elend sein, das er zuletzt gesehen hatte, oder wieder die attraktive Powerfrau, mit der er zu Abend gegessen hatte?

Als er die Tanzschule betrat, war er sich keineswegs sicher, ob er überhaupt hier sein wollte. Er hatte schon genug eigene Probleme. Sollte er sich wirklich noch zusätzlich die anderer Menschen aufladen?

Der Empfangsbereich war leer.

Aus den Tanzsälen schallten gedämpfte Tango- und Sambaklänge. Oder war es Mambo und Salsa? Noch bevor er darüber nachdenken konnte, öffnete sich die Glastür von Studio 1, und eine Horde verschwitzter Frauen in unförmigen Jogginganzügen und mit zerzausten Haaren strömte heraus.

Als letzte folgte Rose Vasquez, die ihrerseits aussah wie nach einer Woche Wellness-Urlaub. Ihr Gesicht leuchtete, ihr Haar saß perfekt, und das enge, orangefarbene Kleid, das sie trug, musste die kühnsten Fantasien jedes Mannes wecken. Von ihren unendlich langen Beinen ganz zu schweigen.

„Mr. Montgomery“, begrüßte sie ihn freundlich. „Wie schön, dass Sie dem Tango noch eine Chance geben!“

Zum Teufel mit dem Tango. Ich will Sie sehen. Herausfinden, was Sie so traurig gemacht hat.

„Ich freue mich schon auf den nächsten Versuch“, log er schamlos.

„Sehr gut.“ Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und berührte ihn leicht am Arm.

Es fühlte sich an, als hätte sie ihm die Haut angesengt.

„Ich vereinbare mit den Damen noch schnell einen neuen Termin für nächste Woche, dann bin ich ganz für Sie da“, versprach sie.

Die Berührung war bedeutungslos gewesen, mehr zufällig. Als Rose sich den Damen zuwandte, berührte sie mindestens fünf von ihnen auf die gleiche Art. Aber das störte ihn nicht. Für Dalton zählte nur, dass sich sein Arm noch immer brennend heiß anfühlte.

Er zwang sich dazu, tief durchzuatmen. Schließlich kam er nicht zu einem Date hierher, sondern um eine geschäftliche Verpflichtung zu erfüllen. Er ging schon einmal voraus in das Studio, das Rose und die Damen gerade verlassen hatten. In dem Raum roch es noch immer nach Roses tropischem Parfüm. Der unaufdringliche Duft erinnerte ihn an Orchideen, das Meer, warmen Sand und heiße, mit Sonnenöl eingeriebene Körper.

Dalton schluckte.

„Ah, hier sind Sie.“ Rose Vasquez schwebte in ihrer ganzen Schönheit durch die Studiotür. „Ich hatte schon Angst, Sie wären geflüchtet.“

„Ich muss zugeben, dass ich darüber nachgedacht habe“, antwortete Dalton halb im Ernst, halb im Scherz.

„Aber, aber“, sagte sie in einem gespielt vorwurfsvollen Ton. „Was ist denn das für eine Einstellung bei der zweiten Tanzstunde?“

Warum sind Sie heulend aus unserer ersten Tanzstunde geflüchtet? hätte Dalton am liebsten eine Gegenfrage gestellt. Stattdessen zuckte er nur die Achseln.

„Also!“ Rose klatschte voller Tatendrang in die Hände, als würde sie sich auf die kommende Stunde freuen. „Wollen Sie gleich etwas Neues lernen, oder sollen wir erst einmal wiederholen, was wir letzte Stunde gemacht haben?“

„Lassen Sie uns mit etwas Neuem beginnen“, schlug Dalton vor. Dabei versuchte er, seine Enttäuschung darüber zu verbergen, dass sie offenbar nicht mit ihm über ihre Traurigkeit vom Vorabend sprechen wollte.

„Großartig.“ Rose war erleichtert, dass sie den Small Talk, bei dem ihr Herz raste, ohne größere Schwierigkeiten hinter sich gebracht hatte. Sie schaltete die Stereoanlage ein und schob eine CD mit schnelleren Rhythmen als jenen von gestern in den CD-Player. Zwar folgten grundsätzlich alle Tangos demselben Muster, doch die Stimmungen konnten ganz unterschiedlich sein.

Als die ersten Takte von La ultima cita erklangen, sagte sie: „So, Mr. Montgomery, nun gehen wir einen Schritt weiter.“

Dalton seufzte ungeniert.

„Kein Grund zur Sorge. Ich möchte nur, dass Sie rückwärts tanzen.“

„Wie bitte?“

„Sie haben mich genau verstanden“, antwortete Rose Vasquez streng. Sie nahm die klassische Haltung ein, legte ihre Hand auf seinem Oberarm und richtete sich hoch auf. „Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem großen Saal mit vielen tanzenden Paaren. Junge Männer versuchen ihre Tanzpartnerinnen mit anspruchsvollen Schrittkombinationen zu beeindrucken, ältere Semester wollen zeigen, was sie noch können – und mittendrin wir.“

Rose holte tief Luft und lächelte ihn ermutigend an. Zumindest hoffte sie, dass er ihr Lächeln so verstand. Dann sagte sie: „Wollen wir?“ Aber es war eine Aufforderung, keine Frage.

Dalton fügte sich widerwillig. Doch eine halbe Stunde und mehrere Lachanfälle später schob er Rose so schwungvoll über das Parkett, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Zumindest kam es ihm so vor. Tatsache war jedenfalls, dass er ihr in den vergangenen zehn Minuten kein einziges Mal auf die Zehen getreten war.

Rose schloss die Augen und ließ sich in Daltons Armen von der Musik in einen verrauchten Club im Herzen der Altstadt von Buenos Aires versetzen. Es würde ihr Freude machen, diesem verkrampften Banker etwas Entspannung beizubringen.

Die Chemie zwischen ihnen war geradezu berauschend. Doch sosehr sie sich nach einem Partner sehnte, so groß war ihre Angst davor, jemandem ihr Herz zu öffnen und ihn dann erneut zu verlieren.

Trotzdem wünschte sie sich, nicht nur im Rahmen ihres Berufes Zeit mit Dalton zu verbringen.

Als die letzten Töne des Tangos verklangen, waren sie beide außer Atem. Rose öffnete die Augen und lobte begeistert: „Das war viel besser als beim letzten Mal!“

„Wirklich?“

„Entschieden!“ Sie klopfte ihm zufrieden auf die Schulter. Dalton hatte zwar immer noch viele Fehler gemacht, doch er besaß ein erstaunlich gutes Rhythmusgefühl. Auch wenn er es vermutlich nicht wusste und bestimmt nicht wahrhaben wollte, in seinem Inneren schlummerte vielleicht ein Künstler.

Obwohl sie nun schon einige Augenblicke stillstanden, wollte sich ihr Atem einfach nicht beruhigen. Das ließ Rückschlüsse darauf zu, dass es nicht das Tanzen war, das sie so anstrengte. „Wollen wir weitermachen?“, schlug Rose vor.

„Von mir aus.“

„Etwas mehr Begeisterung, bitte“, beschwerte sie sich. „Sie müssen sagen: ‚Selbstverständlich, nichts lieber als das!‘“

Dalton schmunzelte und wiederholte auftragsgemäß: „Selbstverständlich, nichts lieber als das!“

Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Rose Spaß und wollte nicht, dass der Abend allzu schnell endete. Schon bald würde sie wieder bei Anna in ihrer Wohnung sein und vergeblich versuchen, Schlaf zu finden. Vielleicht würde sie besser schlafen, wenn sie jetzt bis zur Erschöpfung tanzte.

Mit dieser Absicht legte sie eine neue CD ein und absolvierte ein strenges Programm mit ihrem Schüler.

„Puh.“ Zwanzig Minuten später und wieder – oder immer noch – außer Atem, löste sich Rose aus Daltons Umarmung und griff nach ihrem Handtuch, das über einer Ballettstange hing. „So, ich schätze, wir haben alles erreicht, was mit der Caminata zu erreichen ist.“

„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“

„Caminata steht für einfaches Gehen, den Tangogrundschritt. Da Sie diesen nun recht gut beherrschen, können wir jetzt eine Stufe weitergehen. Allerdings erst bei unserer nächsten Stunde. Ich habe nämlich heute noch eine Verabredung.“

„Eine Verabredung?“, wiederholte Dalton neugierig. Bevor er sich bremsen konnte, fragte er: „Ist diese Verabredung der Grund, weshalb Sie gestern in Tränen ausgebrochen sind?“

Rose fühlte sich wie ein Reh, das beim Überqueren einer dunklen Straße plötzlich ins Scheinwerferlicht eines Autos gerät. Was sollte sie antworten? War jetzt der richtige Zeitpunkt, Dalton Montgomery von ihrem Mann zu erzählen?

„Entschuldigen Sie bitte“, murmelte Dalton betreten, als er ihr schockiertes Zögern bemerkte. „Eigentlich geht mich das überhaupt nichts an.“ Er sah auf den Boden. „Es ist nur so, dass ich es ernst genommen habe, als Sie sagten, das Tanzen ginge unter Freunden leichter.“

„Ich habe eine Verabredung mit meiner Tochter“, platzte Rose heraus. „Sie will heute unbedingt noch Kekse mit mir backen. Und zwar mit rosa Streuseln.“

„Sie haben eine kleine Tochter?“, fragte Dalton verdutzt. „Ich meine – angesichts Ihres Alters nehme ich einmal an, sie ist noch klein.“

Sein freundlicher Blick verriet ihr, dass sie sich ihm ruhig anvertrauen konnte. „Ja, sie ist erst sechs Jahre alt. Und um Ihre unausgesprochene zweite Frage zu beantworten: Ihr Vater ist vor etwa einem Jahr gestorben.“

„Das tut mir sehr leid“, sagte Dalton leise. Rose stellte sich vor, wie er seine warmen, starken Hände auf ihre Schultern legte und ihr so den Mut verlieh, weiterzusprechen. Doch er machte nur einige Schritte auf sie zu, wagte es aber nicht, sie anzufassen. „War er der Grund für Ihre Tränen?“

Rose nickte. „Das letzte Mal, dass ich richtigen Tango getanzt habe, also nicht mit der Seniorentanzgruppe oder den Pfadfinderinnen, war in seinen Armen. Deshalb …“ Sie brach ab.

„Deshalb kamen Gefühle hoch, als Sie wieder einmal allein mit einem Mann getanzt haben“, vollendete Dalton ihren Satz. Er nahm sie bei der Hand und sah ihr in die Augen. Damit sagte er, was er mit Worten nicht ausdrücken konnte: Dass sie ihm nicht gleichgültig war. Dass sie nicht allein war.

„Wollen Sie mir von ihm erzählen?“, forderte er sie auf.

„Ja. Irgendwann einmal. Aber nicht heute.“

„Okay.“

„Nicht, dass ich nicht über ihn sprechen will. Aber es tut einfach noch weh, sich an die Vergangenheit zu erinnern.“

„Das verstehe ich. Aber da ich gestern Ihre Tränen gesehen habe, glaube ich nicht, dass der Tod Ihres Mannes für Sie bereits Vergangenheit ist. Zumindest nicht für Ihr Herz.“

„Anna, Schatz, sei vorsichtig, sonst fällt Barbies Handtasche hinter die Auslage.“

„Ich bin vorsichtig, Mommy! Schau, sie tanzt!“

Dalton hielt am Eingang zu Mona Bells Schuhgeschäft erstaunt inne. Ihm graute schon seit Tagen davor, sich die grellroten Schuhe anmessen zu lassen, die er beim Tangotanzen zu seinem lächerlichen Smoking tragen musste. Aber als er Rose und ihre süße braunäugige Tochter sah, die gerade schwarze Mary Janes anprobieren durfte, besserte sich seine Laune schlagartig.

„Wie ich sehe, machen die beiden jungen Damen einen Einkaufsbummel.“

Rose und Anna saßen auf einer mit rotem Teppich verkleideten großen Kiste, die in der kleinen Kinderabteilung des noch kleineren Schuhladens als Sitzgelegenheit diente.

„Hallo“, sagte Rose erfreut, als sie ihn erkannte. „Die Füße meiner Kleinen scheinen jeden Tag zu wachsen.“

„Das Gefühl kenne ich“, erklärte Dalton grinsend, hielt seinen rechten Fuß in die Höhe und wackelte mit seinem Schuh in Größe 48.

Das Kind kicherte. „Sie haben echt Riesenfüße.“

„Anna“, ermahnte sie ihre Mutter.

„Schon in Ordnung“, meinte Dalton lachend. „Besonders, weil sie recht hat.“

„Es gibt noch größere Füße in der Stadt“, mischte sich Mona Bell, die Besitzerin des Ladens ein. „Allerdings nicht viele.“ Sie stellte die drei Schuhschachteln auf den Ladentisch, die sie aus dem Lager geholt hatte. „Dalton, gut dass du endlich gekommen bist. Wenn wir deine Schuhe nicht schnellstens bestellen, musst du barfuß tanzen.“

„Klingt immer noch besser als das, was ihr mit mir vorhabt.“

Mona schüttelte ungläubig den Kopf. „Erinnere mich daran, deiner Mutter zu sagen, was für einen ewigen Nörgler sie aufgezogen hat!“

„Das hört sie ohnehin ständig.“

Mona ignorierte ihn und wandte sich Roses Tochter zu. „Anna, probier doch diese hier mal an.“

„Sie ist wirklich süß“, sagte Dalton zu Rose.

„Danke.“

„Und Anna ist ein schöner Name. Hat mir schon immer gefallen.“

„Wir haben sie nach meiner Großmutter Anna Lucia Margarita Rodriguez genannt. In ihrer Jugend war sie als Tänzerin der Publikumsliebling von ganz Buenos Aires.“ Hinter vorgehaltener Hand fügte sie flüsternd hinzu: „Angeblich soll sie mehr als einmal zehn Verehrer gleichzeitig gehabt haben.“

„Pfff“, machte Mona abschätzig. „Welche Frau, die bei Verstand ist, würde das wollen?“

„Barbie!“, quietschte Anna und schwenkte die Puppe so schnell, dass sich ihre winzigen rosafarbenen Plastikschuhe und die dazu passende Handtasche lösten. Sie landeten in der Auslage hinter der Sitzgelegenheit. „Hoppla.“

„Siehst du, Anna, genau davor habe ich dich gewarnt“, schimpfte Rose, die Hände in die Hüften gestemmt.

Der Kleinen stiegen die Tränen in die Augen. „Es tut mir leid, Mommy.“

„Schon gut“, tröstete sie Dalton schnell. Er kroch auf den Knien hinter die Trennwand zur Auslage und förderte nach einigem Keuchen den ersten Schuh zutage. Dann nahm er einen langen Schuhlöffel zu Hilfe und angelte nach dem zweiten Schuh und der Handtasche. „Voilà!“, sagte er, während er aufstand und sich aus der verkrümmten Haltung wieder geradebog.

„Sie haben sie gefunden!“, rief Anna glücklich, sprang von der Kiste und umarmte ihn. Bei der einfachen Geste wurde ihm ganz warm ums Herz. Er hatte Kinder schon immer geliebt und sich mindestens ein Dutzend von ihnen gewünscht. Doch dieser Plan schien nicht aufzugehen.

„Vielen Dank“, sagte das Mädchen mit ernstem Gesichtsausdruck.

„Gern geschehen“, antwortete Dalton und drückte sie kurz.

Mona störte den Zauber des Augenblicks, indem sie trocken erklärte: „Du hast Spinnweben in den Haaren.“

„Trösten Sie sich, die stehen Ihnen gar nicht schlecht. Sie wissen doch, dass silberne Schläfen einen Mann interessant machen, oder?“, sagte Rose, während sie ihn vorsichtig von den grauen Schleiern befreite. „Auch ich danke Ihnen von Herzen für diese gute Tat. Was eine echte Katastrophe ist, wissen Sie nämlich erst, wenn Sie einmal Ihre Lieblings-Barbie-Tasche verloren haben“, scherzte sie.

„Dann bin ich froh, dass wir die Tragödie gerade noch abwenden konnten.“

„Wir wäre es mit diesen?“, fragte Mona Rose, während sie auf das Paar Schuhe deutete, das Anna gerade trug. „Die scheinen die beste Passform zu haben.“

„Was meinst du, Anna? Kannst du in diesen Schuhen gehen?“

Anstatt damit zu gehen, sprang und hüpfte die Kleine, als wäre sie in der Turnstunde.

„Ich wäre schon glücklich, wenn ich nur die Hälfte ihrer Energie hätte“, erklärte Mona grinsend.

„Dein Wort in Gottes Ohr“, sagten Dalton und Rose einstimmig.

„Nehmt ihr dieses Paar?“, fragte Mona.

„Ja, bitte.“

„Bar oder mit Karte?“

Während Rose bezahlte und Anna weiter in ihren neuen Schuhen durch den Laden hopste, versuchte Dalton erfolglos, sich auf seinen eigenen Schuhkauf zu konzentrieren. Aber er konnte nur an Rose denken. Ihr Lächeln. Ihr Lachen. Ihr schwacher, tropischer Duft. Die Art, wie sie ihr Haar hinter die Ohren strich.

„Kommen Sie mit?“, fragte Rose, die plötzlich neben ihm stand.

„Wohin?“, fragte er, fasziniert vom einzigartigen Schimmern ihres Haars in der Mittagssonne.

Was war nur los mit ihm? Er musste schnellstens zurück ins Büro. Doch sein einziger Wunsch war es, die nachtschwarzen Strähnen mit seinen Fingern zu streicheln. Ob sie wohl so weich waren, wie sie aussahen?

„Sie sehen schon wieder so aus, als wären Sie an jedem Ort der Welt lieber als hier.“

„Nein!“, wehrte Dalton sofort ab. „Da irren Sie sich. Schuhe kaufen gehört zu meinen absoluten Lieblingsbeschäftigungen!“

„Lügner“, sagte sie ungerührt und boxte ihm mit dem Ellenbogen spielerisch in die Rippen. „Also, gehen Sie jetzt mit uns ein Sandwich essen?“

Nichts lieber als das. „Klingt großartig, aber ich muss zurück ins Büro. Ich bin nur hier, weil mich meine Sekretärin gezwungen hat herzukommen.“

„Schon klar, dass Sie nicht ganz freiwillig hier sind, aber machen Sie denn keine Mittagspause?“

„Normalerweise könnte ich eine machen, aber heute bin ich geschäftlich zum Mittagessen verabredet. Deshalb würde man es mir wahrscheinlich übel nehmen, wenn ich Ihre Gesellschaft vorziehe.“

„Mit uns wäre es bestimmt lustiger“, versuchte ihn Rose zu überreden.

„Kein Zweifel. Wir verschieben es. Versprochen?“

„Versprochen.“

„Komm, Mommy“, drängte Anna und fasste ihre Mutter bei der Hand. „Barbie und ich sind hungrig.“

„Sie sollten besser gehen“, sagte Dalton lächelnd.

„Stimmt genau“, bemerkte Mona. „Solange Rose da ist, lenkt sie dich ja doch nur ab. Dabei musst du dich jetzt wirklich aufs Schuheprobieren konzentrieren!“

Dalton seufzte.

Rose grinste.

3. KAPITEL

„Abschließend schlage ich vor“, sagte Dalton eine Woche später im düsteren, fensterlosen Besprechungszimmer der Bank, „dass unser Institut alle riskanten Anlagen in festverzinsliche Wertpapiere umwandelt, bis die Volatilität am Markt wieder abnimmt. Gibt es dazu Fragen?“

„Ein hervorragender Bericht“, lobte die für Finanzen zuständige Vizepräsidentin der Bank, Alice Craigmoore.

„Da stimme ich zu.“ Bud Weathers, der Leiter der Kreditabteilung, lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Da das der letzte Punkt auf der Tagesordnung war … wer kommt mit zum Chinesen?“

„Klingt gut“, sagte Dalton, während er die Aktenstapel vor sich zurechtrückte.

Sein Vater seufzte. „Mir haben die Ärzte Frittiertes strengstens verboten, aber wahrscheinlich gibt es auch etwas anderes auf der Speisekarte.“

Alice räusperte sich. „Ähm, ich hätte da doch noch eine Frage.“

„Oje“, sagte Dalton.

„Mona hat durchblicken lassen, dass du heftig mit deiner Tanzlehrerin flirtest. Ist an der Geschichte etwas dran?“

Dalton schloss die Augen und zählte bis zehn.

„Sohn“, unterbrach sein Vater, „deine Mutter hat mir gesagt, dass du mit der Tochter der Brownings ausgehst.“

Dalton öffnete ein Auge. „Gelegentlich“, gab er zu. „Aber es ist nichts annähernd so Ernstes, wie Mom gerne hätte.“

„Es gibt kein Gesetz gegen Liebesaffären mit Tanzlehrerinnen, soweit ich weiß“, kam ihm Bud Weathers zu Hilfe. Doch für sein verschwörerisches Augenzwinkern hätte ihm Dalton am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Solche Unterstellungen hatte Rose einfach nicht verdient! Sie hatte eine schwere Zeit hinter sich. Natürlich, sie war ausgesprochen sexy, aber auch sehr verletzlich. Sie verdiente es, mit größter Vorsicht behandelt zu werden!

„Herzlichen Dank für die wertvollen Wortmeldungen“, sagte Dalton schroff. „Aber lasst uns jetzt endlich essen gehen.“

„Wieso hast du es so eilig?“, brummte Bud. „Hast du zum Nachtisch vielleicht eine Tanzstunde?“

„Nein, nein, nein, Dalton!“ Rose musste schreien, um die hämmernden lateinamerikanischen Rhythmen zu übertönen. „Ich habe gesagt, Sie sollen sich in Richtung Tür bewegen, nicht davon weg!“

„Wie in aller Welt stellen Sie sich das vor? Ich bin doch nicht aus Gummi“, schimpfte Dalton. Sobald die Worte seinen Mund verlassen hatten, bereute er sie.

Rose ging zur Stereoanlage, um die Musik auszuschalten. Als sie zu ihm zurückkam, klang jeder ihrer Schritte auf dem Parkett in der plötzlichen Stille erschreckend laut.

Sie baute sich vor Dalton auf, stemmte die Hände in die Hüften und begann: „Erstens ist der Wiegeschritt nur die Spitze des Eisbergs, was technische Schwierigkeiten beim Tango angeht. Und zweitens …“ Ihre Stirn glättete sich plötzlich, und Rose begann zu lachen. „Und zweitens kann ich unmöglich böse auf Sie sein, wenn Sie mich mit diesem Gesichtsausdruck anschauen.“

„Mit was für einem Gesichtsausdruck?“

„Mit diesem hier!“ Sie deutete auf sein schiefes Grinsen. „Sie sehen mich an wie ein Kind, das etwas angestellt hat. Oh, was mache ich nur mit Ihnen? Beim Tanzen sind Sie eine wandelnde Katastrophe.“

„Bei unserer letzten Stunde sagten Sie, ich hätte mich verbessert.“

Rose drehte sich kopfschüttelnd um und ging zur Tür. „Das nehme ich zurück. Sie sind wahrscheinlich der schlechteste Tänzer, der mir je begegnet ist.“

„Wenn das so ist, brauche ich umso dringender Tanzunterricht! Wo gehen Sie denn hin?“

„Ich gehe nach oben in meine Wohnung, um einen Salat zu der Lasagne zu machen, die bereits im Backofen schmort.“

„Und was ist mit mir? Schließlich habe ich für eine volle Stunde Unterricht bezahlt.“

„Sie bekommen Ihr Geld zurück.“

„Ich habe eine bessere Idee.“

Nachdem Dalton ihr auf den Flur gefolgt war, löschte Rose das Licht im Tanzsaal.

„Wie wäre es, wenn Sie mich zum Abendessen einladen?“

Rose zog die Stirn in Falten. „Wie?“

„Sie wissen schon: Essen, Trinken, Konversation. Oder meinetwegen auch keine Konversation, aber ich bin schrecklich hungrig, was vielleicht meine Konzentrationsschwierigkeiten erklären könnte.“

„Ich weiß nicht …“ Zögernd sah sie hinauf ins Treppenhaus.

„Rose, es ist nur ein Abendessen. Was gibt es da nicht zu wissen? Es ist ja nicht so, als würde ich Sie zu einem Date auffordern.“ Obwohl er eigentlich genau das im Sinn hatte.

„Ich weiß, aber was wird Anna denken?“

„Was schon – dass Sie einen Freund zum Abendessen eingeladen haben.“ Dalton schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln.

„Hier, da ist er schon wieder, dieser alberne Gesichtsausdruck! Wie kann ich da Nein sagen?“

„Das können Sie eben nicht. Zumindest war das der Plan.“

„Na, gut, meinetwegen. Also kommen Sie mit. Aber benehmen Sie sich anständig. Anna und ich erwarten, dass Sie uns hinterher beim Abspülen helfen.“

„Einverstanden.“

Fünfzehn Minuten später saß Dalton auf einem Kinderstuhl an einem Kindertisch. Vor ihm lag ein Klumpen Plastilin in einer undefinierbaren Farbe. Vermutlich waren es früher mehrere Stücke in Rot, Grün und Blau gewesen.

„Mr. Dalton?“, fragte Roses Tochter, die das gesamte noch saubere gelbe Plastilin für sich beanspruchte.

„Ja?“

„Was soll das werden? In meiner Schule gibt es Kinder, die viel schönere Dinge machen als Sie. Sogar Tommy Butler, und der isst seine Nasenpopel!“

„Hey, Rose“, rief Dalton quer durch die Wohnung hinüber zur Küche, wo Rose vor sich hin summend ein Salatdressing zubereitete. Er hatte ihr seine Hilfe angeboten, doch sie hatte unter dem Vorwand abgelehnt, es würde ihm vielleicht beim Tanzen helfen, wenn er versuchte, das Kind in sich wiederzuentdecken. Okay. Aber das Kind in ihm benötigte ordentliche Plastilin-Farben. „Hören Sie, wie ich hier niedergemacht werde?“

„Ich höre nur, wie wehleidig Sie sind. Jetzt formen Sie brav etwas Schönes, ohne sich ständig zu beschweren!“, gab Rose scherzend zurück.

„In Ordnung, ich werde brav etwas formen, aber Anna, du musst mir sagen, was.“

„Ein Pferd“, antwortete die Kleine ohne zu zögern. „Ich mag My Little Pony, auch wenn Tommy Butler sagt, es ist zu kindisch. Aber was weiß er schon, schließlich isst er …“

„Seine Nasenpopel“, vollendete Dalton den Satz, während er sich an seinem Plastilin-Klumpen zu schaffen machte.

„Woher wissen Sie das?“, fragte die Kleine verblüfft.

Dalton tippte sich mit dem rechten Zeigefinger an die Schläfe. „Ich habe übernatürliche Fähigkeiten, weißt du? Ich kann Gedanken lesen.“

„Wirklich?“

„Nein, nicht wirklich.“ Rose kam herüber, setzte sich neben ihre Tochter auf einen der winzigen Stühle und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar. „Du hast es ihm vorher selber gesagt, Schatz, erinnerst du dich?“

„He, Sie schummeln“, beklagte sich Dalton. „Sie können doch nicht einfach alle meine Geheimnisse verraten.“

„Geheimnisse?“, lästerte Rose. „Wenn Sie uns weismachen wollen, Sie hätten übernatürliche Fähigkeiten, brauchen wir schon bessere Beweise als nur ein bisschen Gedankenlesen.“

„Ja“, stimmte Anna sofort zu. „Können Sie zum Beispiel fliegen? Oder Dinge nur mit den Augen bewegen? Toby Mitchell macht das während dem Rechenunterricht, damit er nicht subtrahieren muss.“

„Was?“, fragte Dalton. „Fliegen oder Dinge bewegen?“

„Manchmal beides“, erklärte Anna ernsthaft. „Mrs. Marshal sagt ihm immer, er soll damit aufhören, aber er gehorcht ihr nicht.“

„Aha“, sagte Rose. „Und jetzt hörst du auf, Märchen zu erzählen, und gehst dir stattdessen die Hände waschen. Das Essen ist nämlich gleich fertig.“

„Ich erzähle keine Märchen. Wirklich nicht. Außerdem hat uns Mr. Dalton seinen Trick noch nicht gezeigt.“

Dalton knetete noch immer an seinem Plastilin herum. „Ich schlage vor, du tust erst mal, was deine Mutter gesagt hat. Dann kommst du zurück, und ich zeige dir meinen Trick.“

„Okay.“

Während Anna ins Badezimmer ging, beschäftigte er sich weiter mit seinem Meisterstück.

„Was machen Sie da?“, erkundigte sich Rose neugierig und lehnte sich dabei so weit in seine Richtung, dass ihr zarter Duft eine ernsthafte Ablenkung für ihn darstellte.

„Nur Geduld. Sie werden es gleich sehen.“

Er hatte nicht erwartet, dass sein Talent für die Arbeit mit Ton noch immer vorhanden war, aber anscheinend war es das doch. Allerdings wusste er nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Es war schon Jahre her, dass er das letzte Mal etwas Derartiges getan hatte.

„Sieht aus, als wüssten Sie, was Sie tun.“

Mit gespielter Gleichgültigkeit zuckte er die Achseln.

„Warum kann ein trockener Banker wie Sie so toll Knetmasse formen?“

„Glück.“

„Niemals.“ Rose schüttelte den Kopf. „Ich habe am College einige Stunden Kunstunterricht besucht, aber noch nie habe ich jemanden gesehen, der in so kurzer Zeit etwas so Kunstvolles erschaffen hat. Schon gar nicht aus altem Plastilin.“

Dalton antwortete nur mit einem weiteren Achselzucken. Über sein Talent zum Formen von Ton und zum Bildhauern wollte er nicht sprechen. Genauso wenig wie über Carly und ihre missglückte Beziehung. Das brachte ja doch nichts.

Als er hörte, wie Anna im Bad den Wasserhahn zudrehte, beeilte er sich, die Beine des Pferdes zu glätten. Dann formte er mit Hilfe eines Plastikmessers eine wehende Mähne und einen Schweif sowie Augen und Maul.

„Wow“, sagte Rose überwältigt. „Dalton, das ist einfach einzigartig.“

„Unsinn“, lehnte Dalton ab. „Nur eine Kleinigkeit.“

„Haben Sie auch schon mit anderem Material gearbeitet?“

„Lassen Sie uns das Thema wechseln.“

„Aber …“

„Oh!“, rief Anna begeistert, als sie zurückkam. „Ist das schön, Mr. Dalton!“ Sie griff nach dem Pferdchen, aber weil sie zu fest zufasste, wurde es binnen eines Augenblicks wieder zu dem unförmigen Klumpen Plastilin, mit dem Dalton seine Arbeit begonnen hatte. „Oje!“ Annas Unterlippe begann zu zittern und Tränen stiegen ihr in die Augen. „Das wollte ich nicht! Ich wollte es nicht kaputt machen!“

„Schon gut, Kleines“, besänftigte sie Dalton. „Ist nicht schlimm. Außerdem riecht es hier schon so gut, dass wir bestimmt ohnehin gleich essen werden.“

„Machen Sie mir dann nach dem Essen ein neues Pferd? Ich möchte es mit in die Schule nehmen und allen zeigen! Chase Crandall würde vor Neid platzen! Er macht zwar ziemlich gute Hamburger und Hot Dogs aus Plastilin, aber Ihre Pferde sind hundertmal besser!“

„Dafür haben wir nach dem Essen nicht mehr genug Zeit“, wehrte Dalton ab. Gleichzeitig stand er auf.

„Mr. Dalton, biiiiiitte!“ Die Kleine unterstrich ihren Wunsch, indem sie einige Male auf und ab hopste.

„Anna“, sagte Rose. „Würdest du bitte das Salatdressing aus dem Kühlschrank holen und auf den Tisch stellen?“

„Aber, Mommy …“

„Anna!“, warnte Rose in dem universellen Ton, mit dem alle Mütter ihren Kindern zu verstehen geben, dass sie es ernst meinen.

„Okay.“

Sobald Anna in der Küche war, fragte Rose leise: „Wollen Sie mir vielleicht sagen, was das eben war?“

„Nein“, lehnte Dalton rundweg ab. „Tut mir leid, Rose, aber darüber möchte ich lieber nicht sprechen.“

„Ich verstehe nicht, was …“

„Bitte, lassen Sie uns einfach den Abend genießen.“

„Na gut. Entschuldigen Sie, dass ich Sie bedrängt habe.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Aber was würden Sie davon halten, wenn wir jetzt endlich das essen, was da schon seit einer Ewigkeit so gut riecht?“

„Fertig, Mommy!“

Rose warf Dalton einen prüfenden Blick zu, um Aufschluss über seine Stimmung zu bekommen, doch dazu war es zu spät. Er war bereits aufgestanden und auf dem Weg zum Esstisch.

Sie versuchte, den Zwischenfall zu vergessen, und folgte ihm. Nach zahlreichen Dates mit launenhaften Tänzern und sieben Jahren Ehe wusste sie, dass Männer genauso schwierig waren wie Frauen. Obwohl es schon merkwürdig war, dass ein scheinbar harmloses Thema wie Plastilin Dalton Montgomery so aus dem Gleichgewicht brachte.

Während des Essens scherzten sie ausgelassen miteinander.

Danach zog Rose ihrer Tochter einen Schlafanzug an, las ihr eine Geschichte vor und deckte sie mit ihrer rosa geblümten Bettdecke gut zu, bevor sie sich wieder Dalton widmete.

Als sie aus Annas Zimmer kam, fand sie Dalton am Waschbecken, bis zu den Ellenbogen in Spülmittel.

„Sehr eindrucksvoll“, sagte sie mit einem anerkennenden Pfiff durch die Zähne. „Am Tag arbeiten Sie in der Bank, am Abend im Haushalt. Wirklich lobenswert.“

„Was soll ich sagen – ich bin eben ein Multitalent.“ Er zwinkerte ihr zu.

Roses Herz schmolz dahin wie Eis in der Sonne. Was hatte er nur an sich, das sie so anziehend fand? Warum empfand sie ihn eher als Freund denn als Schüler? Warum rührte sie die Traurigkeit, die sich hinter seinem Lächeln verbarg? Sie entschloss sich, das Thema zu umgehen. Mit der Zeit, wenn sich zwischen ihnen eine echte Freundschaft entwickelte, würde er sie bestimmt einweihen.

„Soll ich abtrocknen?“, fragte sie.

Er spritzte ein wenig Schaum in ihre Richtung. „Natürlich! Ich hatte schon Angst, sie wollten da nur zur Zierde herumstehen.“

„Sie finden also, dass ich eine Zierde bin?“, fragte sie mit einem koketten Augenaufschlag.

„Nein“, gab er grinsend zurück. „Das habe ich nur gesagt, damit Sie mir endlich helfen.“

Rose nahm ein frisches Geschirrhandtuch aus einer Schublade, und sie arbeiteten gemeinsam in kameradschaftlicher Stille. Sie fühlte sich mit diesem Mann jetzt mehr wie ein Paar als während des Tanzens. Ihr Ehemann hatte nie etwas von Hausarbeit gehalten, während sie eigentlich ganz gern kochte und auch kein Problem damit hatte, anschließend die Küche aufzuräumen.

„Danke für Ihre Hilfe“, sagte sie, als sie fertig waren.

„Gern geschehen.“

„Machen Sie Ihren Haushalt eigentlich selber?“

„Ja. Macht doch außer meinen stockkonservativen Eltern jeder so.“

„Dann haben sie also eine Putzfrau?“

„Eine Haushälterin und einen Koch“, erklärte Dalton seufzend. Er stellte das Geschirrspülmittel mit einer Selbstverständlichkeit in den Schrank unter der Spüle, als würde er schon seit Jahren bei Rose wohnen. „Aber der Koch hat nicht mehr allzu viel zu tun, seit mein Vater nach mehreren Herzinfarkten nur noch gedämpftes Gemüse essen darf.“

„Das muss Sie schwer getroffen haben.“

„Stimmt, aber wahrscheinlich nicht so, wie Sie denken.“

„Was meinen Sie damit?“

„Nichts. Das hätte ich nicht sagen sollen.“ Er atmete tief ein und fragte: „Haben Sie in letzter Zeit einen guten Film gesehen?“

„Das ist aber kein besonders eleganter Versuch, das Thema zu wechseln.“

„Mag sein, aber hat er funktioniert?“, erkundigte sich Dalton hoffnungsvoll.

„Wenn ja, wäre das schon das zweite Mal heute Abend, dass Sie einer scheinbar harmlosen Frage ausweichen. Haben Sie vielleicht etwas zu verbergen?“

„Das wüssten Sie wohl nur zu gern.“ Dalton stand auf.

„Wohin wollen Sie?“

„Nach Hause. Es ist schon spät.“

„Es ist halb neun“, korrigierte Rose.

Dalton gab vor zu gähnen. „Sage ich doch. Normalerweise bin ich um diese Zeit schon lange im Bett.“

„Wovor laufen Sie davon, Dalton Montgomery?“

„Wer sagt, dass ich vor etwas davonlaufe? Ich habe morgen einfach nur viel zu tun.“

„Na gut. Wann wollen Sie Ihre nächste Tanzstunde?“

„Ich kann doch schon alles.“

„Soll das heißen, Sie wollen keine mehr?“

„Genau das.“ Dalton stand an der Tür, sein Gesicht im Schatten. Doch sein Tonfall sagte alles: Er wollte, dass sie ihn in Ruhe ließ.

„Dalton?“ Rose sprang auf. „Habe ich etwas gesagt oder getan, mit dem ich Sie verletzt habe?“

„Nein“, sagte er mit seiner sanften Stimme. „Natürlich nicht. Vielen Dank für den netten Abend. Das Essen war toll. Die Gesellschaft übrigens auch. Anna ist ein Schatz.“

„Danke.“

„Ich sollte jetzt wirklich gehen. Auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen.“

Rose schloss die Tür hinter ihm und blieb danach eine Weile mit verschränkten Armen unbeweglich stehen. Sein Abschied hinterließ einen Knoten in ihrer Brust.

Zwei Tage später wusste Rose noch immer nicht, was sie daran störte, dass Dalton so früh gegangen war. Aber zumindest fühlte es sich gut an, sich ausnahmsweise einmal um jemand anderen zu sorgen als um sich selbst.

Deshalb hatte sie einen Picknickkorb mit feinen Dingen gefüllt, diesen auf den Rücksitz ihres alternden VW Jetta gestellt und befand sich nun auf dem Weg zu Daltons Büro. Vielleicht würde es ihr ja gelingen, ihn zu einem Picknick im Park zu überreden.

Mit nur 5.000 Einwohnern war die Stadt Hot Pepper zwar klein, doch sie besaß einen traumhaften, großzügigen Park, der sich durchaus mit jenem von Dallas oder Houston messen konnte. Es gab alte Bäume, ausgedehnte Grasflächen und Spielplätze und – anlagen für Kinder aller Altersgruppen.

Rose verbrachte gerne Zeit in der freien Natur. Für sie war das der beste Weg, mit sich selber ins Reine zu kommen. Hoffentlich würde es Dalton ebenso ergehen.

Im eleganten zweistöckigen Foyer der Bank, das ganz in schwarzem Marmor und dunkelgrünem Stoff gehalten war, kamen ihr jedoch sehr schnell Zweifel an ihrem Plan. Irgendwie schien sie davon ausgegangen zu sein, dass Dalton dort verzweifelt darauf wartete, dass sie kam, um ihn zu retten. Wie dumm von ihr!

Und selbst wenn Dalton wirklich gerettet werden wollte: War sie dafür wirklich die Richtige? Sie kannten einander ja kaum. Außerdem war er bei ihrer letzten Begegnung praktisch vor ihr geflüchtet!

Also warum war sie hier?

Aus einem einzigen, einfachen Grund: Weil sie es so wollte. Oder vielmehr, weil sie ihn wollte.

Mit vor Verlegenheit glühenden Wangen schlug sie sich schnell die Hand vor den Mund. Ein Glück, dass sie nicht laut gesagt hatte, was sie gerade gedacht hatte. Dalton war nur ein Freund. Nichts weiter. Ein gut aussehender Freund. Ein humorvoller, netter, charmanter Freund. Was machte es schon, dass …

„Kann ich Ihnen helfen?“ Ein großer, breitschultriger Mann mit roten Haaren und zahllosen Sommersprossen kam auf sie zu.

„Ähm, ja.“ Rose versuchte erfolglos, ihren Pulsschlag zu verlangsamen. War es wirklich klug gewesen, hierherzukommen? Was, wenn Dalton sie gar nicht sehen wollte?

„Möchten Sie vielleicht ein Konto bei uns eröffnen?“

„Dalton“, platzte sie heraus. „Ist er da?“

„Sie meinen Mr. Montgomery?“ Der Mann sah sie erstaunt an. „Ich denke schon, aber normalerweise empfängt er keine Kunden.“

„Oh. Ich bin keine Kundin, sondern eine Freundin.“

„Ich verstehe. Haben Sie einen Termin?“

„Eigentlich nicht, aber …“

„Entschuldigen Sie, an wen muss ich mich wenden, um neue Schecks zu bestellen?“ Eine gut dreißigjährige Frau mit einem Baby im Kinderwagen und einem Kleinkind an der Hand hatte den Wachmann bemerkt und stürzte sich auf ihn.

Rose nutzte die günstige Gelegenheit, sich an ihm vorbeizudrücken und ins Obergeschoss zu entkommen. Mit Sicherheit hatte Dalton in dieser Bank eine gehobene Position inne, also würde er vermutlich ein eigenes Büro haben.

„Halt!“, rief ihr der Lobby-Wachhund nach. „Sie können nicht einfach so hinaufgehen!“

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Stella Bagwell
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