Bianca Exklusiv Band 322

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DER TAG, AN DEM DAS GLÜCK ZURÜCKKAM von SORAYA LANE

Tausend Tränen hat Lisa um ihren Mann geweint, der bei einem Einsatz gefallen ist. Aber das Leben der jungen Mutter geht weiter - bis eines Tages ein Soldat vor ihrer Tür steht: Alex Dane bringt ihr Williams letzte Briefe. Und mit einem Mal regt sich in Lisa ein verloren geglaubtes Gefühl …

DIESER MANN VERSPRICHT EIN ABENTEUER von VICTORIA PADE

Die hübsche Masseurin Kate Perry weiß genau, was sie will: Heiraten, sesshaft werden und eine Familie gründen. Mit einem Mann, der zuverlässig, ernsthaft und solide ist. Also das genaue Gegenteil des attraktiven Draufgängers Ry Grayson, der ihr Herz wider jede Vernunft höherschlagen lässt …

BESCHÜTZE MICH - LIEBE MICH! von REBECCA WINTERS

An Chaz´ Seite fühlt Lacey sich wieder sicher - der Privatdetektiv wird den Stalker finden, der sie und ihre dreijährige Tochter bedroht! Und mehr noch: Der ehemalige SEAL ist der erste Mann seit Langem, der in ihr echte Gefühle weckt. Nur: Warum will er sich nicht zu ihr bekennen?


  • Erscheinungstag 24.04.2020
  • Bandnummer 322
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748753
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Soraya Lane, Victoria Pade, Rebecca Winters

BIANCA EXKLUSIV BAND 322

1. KAPITEL

Alex Dane brauchte keinen Arzt, um zu wissen, dass sein Puls gefährlich hoch war. Er drückte einfach zwei Finger auf sein Handgelenk und zählte mit. Gleichzeitig versuchte er, seine Atmung zu verlangsamen und sich wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen.

Sein Herz donnerte wie ein Presslufthammer.

Ohne sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein, hätte er einfach den Rückwärtsgang eingelegt und wäre wieder nach Hause gefahren.

Doch das konnte er nicht.

Rasch überprüfte er die Adresse auf dem zerknitterten Zettel, bevor er ihn wieder zusammenknüllte. Dabei wusste er sie längst auswendig. Und zwar seit jenem Tag, an dem sie ihm von seinem im Sterben liegenden Freund überreicht worden war.

Trotzdem trug er sie noch immer mit sich herum. Nach all diesen Monaten war es nun an der Zeit, den Zettel wegzuwerfen und sein Versprechen einzulösen.

Als er die braune Papiertüte in die Hand nahm, beschleunigte sich sein Herzschlag von Neuem, und Alex verfluchte sich dafür, dass er jemals versprochen hatte, hierher zu kommen.

Alles war genauso, wie er es sich vorgestellt hatte – und doch wieder ganz anders. Die frische Luft, die Bäume, das Gras … All diese ländlichen Eindrücke trafen ihn mit voller Wucht, als er aus dem Wagen stieg.

Ihn umgaben Düfte, nach denen er sich gesehnt hatte, als er sich noch durch Wüsten in weit entfernten Kriegsgebieten geschleppt hatte.

Jetzt konnte er schon das Haus sehen, das ein Stück weit von der Straße entfernt war. Cremefarbene Schindeln lugten unter einem Dach aus Baumkronen hervor. Alles war genauso, wie William Kennedy es beschrieben hatte.

Er versuchte, die Schuldgefühle zu ignorieren, die ihn heimsuchten, seit er wieder amerikanischen Boden unter den Füßen hatte. Dann ging er los und bemühte sich dabei, den militärischen Takt anzuschlagen, der ihm so vertraut war. Sich vorzustellen, es handle sich um einen beruflichen Auftrag, machte die Sache leichter.

Er musste ja nichts weiter tun, als sich vorzustellen, die Gegenstände zu überreichen, zu lächeln und sich dann zu verabschieden. Diesem exakten Ablauf musste er folgen. Die Einladung auf einen Kaffee ausschlagen. Kein Mitleid mit ihr empfinden. Und das Kind dabei nicht ansehen.

Da stand er auch schon am Fuße der Verandatreppe. Die Farbe blätterte von den Stufen ab, ohne sie dabei ungepflegt aussehen zu lassen.

Spielzeug lag auf dem Boden verstreut – zusammen mit einem ausgewetzten Bettvorleger, der wahrscheinlich dem Hund gehörte.

Alex blickte zur Tür, dann auf die Tüte in seiner Hand. Hätte er sich noch fester an sie geklammert, wäre sie womöglich zerrissen.

Er zählte bis vier und sog dabei so viel Luft in seine Lungen, wie nur irgend möglich. Dann klopfte er mehrmals hintereinander an die Holzvertäfelung der Tür.

Geräusche aus dem Innern verrieten, dass jemand zu Hause war. Die rasch näherkommenden Schritte bereiteten ihn darauf vor, dass es nun an der Zeit war, das lange Geübte in der Praxis anzuwenden.

Doch seine innere Stimme forderte ihn auf, die Tüte einfach vor die Tür zu legen und so schnell wie möglich abzuhauen.

Feuchter Schweiß glänzte auf seiner Stirn, als er seinen Füßen befahl, wie angewurzelt stehen zu bleiben.

Wäre er doch niemals hierhergekommen.

Lisa Kennedy überprüfte kurz ihren Pferdeschwanz, zog ihre Schürze enger und öffnete dann die Tür.

Vor ihrer Veranda stand ein Mann, mit dem Rücken zu ihr, als habe sie ihn gerade dabei erwischt, wie er sich aus dem Staub machen wollte.

Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass sie es mit einem Soldaten zu tun hatte. Die kurze Streichholzfrisur und seine kontrollierte, militärische Haltung sprachen eine deutliche Sprache.

„Kann ich Ihnen helfen?“

War er ein Freund ihres verstorbenen Mannes? Sie hatte bereits viele Grußkarten und Anrufe von Männern erhalten, die William gut gekannt hatten. War dies ein weiterer Kamerad, der nach all diesen Monaten sein Beileid bekunden wollte?

Mit einer knappen Drehung, ohne sich dabei vom Fleck zu bewegen, wandte sich der Mann um und sah sie an.

Lisa hörte kurz auf, mit der Schnur ihrer Schürze zu spielen. Die blonde Streichholzfrisur gehörte einem Mann mit den braunsten Augen, die sie jemals gesehen hatte. Seine Schultern waren so breit wie die eines Footballspielers und auf seinen Lippen lag das traurigste Lächeln, das ein Mann wohl zur Schau stellen konnte.

Die Frau in ihr hätte ihn am liebsten in den Arm genommen und ihn gefragt, was er denn erlebt hatte, dass er so traurig geworden war.

Doch dem anderen Teil von ihr – der Ehefrau eines Soldaten – war klar, dass der Krieg sicher nicht zu den Dingen gehörte, an die er sich gerne erinnerte. Dazu blickte er zu gequält. Die Traurigkeit schien ihm aus allen Poren zu quellen.

„Lisa Kennedy?“

Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, raubte ihr fast den Atem.

„Tut mir leid … Kennen wir uns …?“

Jetzt kam er langsam die beiden Stufen hinauf und blieb nur wenige Schritte von ihr entfernt stehen.

„Ich war ein Freund Ihres Mannes.“ Seine Stimme klang angespannt.

Sie lächelte. Deshalb wollte er sich also davonstehlen. Sie wusste, wie schwer es Soldaten fiel, den Hinterbliebenen eines Kameraden gegenüberzutreten. Lisa nahm an, dass er mit William in einer Einheit gewesen und gerade erst zurückgekommen war.

„Sehr freundlich von Ihnen, extra vorbeizukommen.“

Lisa streckte die Hand nach seinem Arm aus, doch ihre Finger hatten seine Haut kaum berührt, da zuckte er schon zurück, als habe sie ihn mit glühender Kohle gestreift. Als habe er noch nie die Berührung einer Frau verspürt.

Langsam zog sie die Hand zurück und verschränkte stattdessen die Arme.

Offenbar plagte ihn ein großer innerer Schmerz. Und diese Art der Kontaktaufnahme war er wohl nicht gewohnt. Lisa beschloss, ihn wie den Fremden zu behandeln, der er ja auch war.

Eine plötzliche Unsicherheit erfasste sie, als ihr bewusst wurde, wie attraktiv er eigentlich war – hätte er es nur verstanden, mal zu lächeln oder zu lachen.

Das Gesicht ihres Ehemannes war von tiefen Lachfalten gezeichnet gewesen. Und so offen, dass jeder Gedanke deutlich darin zu erkennen gewesen war.

Der Mann, der vor ihr stand, war dagegen wie eine leere Leinwand. Starke Wangenknochen, dickes, kurz geschnittenes Haar und eine goldbraune Haut, die von vielen Stunden im Freien zeugte.

Sie deutete sein Schweigen als Ausdruck von Schüchternheit – vielleicht auch von Nervosität.

„Möchten Sie hereinkommen? Ich könnte einen Eistee vertragen.“

Sie beobachtete dabei, wie er nach den richtigen Worten suchte. Es war ein trauriger Anblick. Ein so gut aussehender, so starker Mann, der so offensichtliche Schwierigkeiten hatte, sich in seine neue Rolle als Zivilist einzufinden.

„Ich … Äh …“ Er räusperte sich und bewegte sich unruhig am Fleck.

Lisa spürte, wie etwas an ihrem Hosenbein zog. Instinktiv streckte sie die Hand nach ihrer Tochter aus.

Seit Lilly erfahren hatte, dass ihr Daddy nie wieder nach Hause kommen würde, hatte sie mit niemandem außer Lisa gesprochen. Manchmal klammerte sie sich regelrecht an ihre Mutter, als wolle sie sie niemals mehr gehen lassen.

Der Blick des Mannes veränderte sich, wirkte jetzt angsterfüllt. Lisa hatte das Gefühl, dass er die Gesellschaft von Kindern nicht gewohnt war. Lillys Anblick hatte ihn offensichtlich aus der Bahn geworfen. Sein Blick wirkte jetzt sogar noch trauriger und gequälter, sofern das überhaupt möglich war.

„Lilly, geh und such Boston“, sagte sie und strich ihrer Tochter durch die langen Haare. „Im Kühlschrank liegt ein Knochen für ihn.“

Lisa warf dem Mann, dem es sichtlich die Sprache verschlagen hatte, einen weiteren Blick zu. Wenn er es gewohnt war, Befehlen zu folgen, dann würde sie ihm eben einen solchen erteilen.

„Setzen Sie sich, Soldat“, befahl sie und deutete auf eine alte Hollywoodschaukel auf der Terrasse. „Ich hol uns etwas zu trinken, und dann können Sie mir ganz genau erzählen, was Sie hierher nach Brownswood in Alaska verschlagen hat.“

Etwas huschte über sein Gesicht. Ein Anflug von Schuldbewusstsein. Doch sie ignorierte es.

Er ging zu der Hollywoodschaukel, und Lisa unterdrückte ein Lächeln. Wann hatte sie damit begonnen, sich in ihre eigene Mutter zu verwandeln? Mit jedem Tag klang sie ihr ähnlicher.

Dieser Mann wollte ihr nichts Böses, davon war sie überzeugt. Vermutlich litt er an einer Art Kriegstrauma und war wegen seines Besuchs bei ihr nervös. Doch damit konnte sie umgehen.

Außerdem geschah es nicht jeden Tag, dass ein gut aussehender Mann nach ihr verlangte. In jedem Fall wusste sie die Gesellschaft zu schätzen – auch wenn es nur darauf hinauslief, ein Glas Eistee mit einem Typen zu trinken, der nicht besonders mitteilungsbedürftig war.

Und gewiss gab es einen Grund für sein Kommen. Wieso hätte er sonst bis an ihre Türschwelle kommen sollen?

Alex bedachte sich innerlich mit jedem einzelnen Synonym für das Wort „Idiot“.

Wie ein Trottel hatte er dagestanden und die arme Frau angestarrt, während sie sich vermutlich gefragt hatte, welchem Irrenhaus er gerade entflohen war.

Was war mit seinem einstudierten Plan passiert?

Sein Blick fiel auf die Papiertüte neben ihm und er verfluchte sie. Genau wie damals, als er sie zum ersten Mal in Händen gehalten hatte.

William hatte ihm viel über seine Frau erzählt. Wie sehr er sie liebte, welche Art Mensch und was für eine tolle Mutter sie war.

Ihre Attraktivität hatte er jedoch bestimmt nie erwähnt.

Er wusste nicht genau warum, aber seine Schuldgefühle wurden dadurch sogar noch stärker. Das Bild von ihr, das er sich in Gedanken ausgemalt hatte, entsprach nicht im Entferntesten der Realität.

Vielleicht waren es die langen Haare. Die dicke, haselnussbraune Mähne, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Die tiefgründigen, haselnussbraunen Augen, die von langen Wimpern eingerahmt wurden. Oder die Art, wie ihre Jeans ihre Figur betonte und ihr Trägerhemd mehr Haut offenbarte, als dass es ihn nach so langer Zeit kalt ließe.

Vor allem ihre perfekte Figur ohne die Spur eines Schwangerschaftsbauches war ihm aufgefallen.

Jedem Mann wäre sie aufgefallen. Lisa war wunderschön, und zwar auf eine jugendlich frische, unschuldige Art. Er hätte schon äußerst gefühllos sein müssen, um das nicht zu bemerken.

Aber sie hätte einen Babybauch haben müssen. Oder hatte sie ihren Ehemann etwa belogen, was das Baby anging? Oder hatte Alex sich in der Zeit geirrt und das Kind war bereits auf der Welt?

In Gedanken ging er noch einmal seinen Plan durch und verfluchte seine Entscheidung, hierher zu kommen.

Er hatte sich nicht vorgestellt. Hatte nicht gelächelt. Weder hatte er ihr die Tüte gegeben noch ihre Einladung ausgeschlagen.

Sein ganz persönliches Fazit? Er war ein absoluter Dummkopf. Und wenn die junge Frau auch nur ansatzweise sensibel war, würde sie Angst vor ihm haben. Er hatte sie angeglotzt wie irgendein exotisches Tier, das darauf aus war, sie umzubringen.

Im Einsatz war er stets den Anweisungen gefolgt. Nie war er davon abgewichen.

Und jetzt reichten eine junge Frau und ein süßes Kind, um ihm völlig die Sprache zu verschlagen.

Aber vielleicht war es auch das Familienleben, dessen er hier Zeuge wurde. Vielleicht hatte ihn das aus der Bahn geworfen. Immerhin war das genau die Art von Leben, der er sich stets verweigert hatte.

Alex blickte auf, als er leise Schritte auf der Veranda vernahm. Er atmete tief ein und zwang sich zu einem Lächeln.

Auch das war etwas, das er erst wieder lernen musste: einfach nur aus Spaß zu lächeln. Klang einfach, aber aus irgendeinem Grund fiel ihm das in letzter Zeit unglaublich schwer.

Seine Mühe erwies sich jedoch als umsonst. Das einzige Wesen, das ihn beobachtete, war vierbeinig. Und wenn es darum gegangen wäre, mit ihm um die Wette zu lächeln, hätte Alex eindeutig den Kürzeren gezogen. Das Grinsen im Gesicht des schwanzwedelnden Golden Retriever war so breit, dass Alex jeden einzelnen Zahn im Maul des Hundes erkennen konnte.

„Hey, Kumpel“, sagte er und merkte dabei, wie dämlich er sich anhören musste. Bei Lisa hatte es ihm noch die Sprache verschlagen. Und jetzt sprach er mit ihrem Hund!

Boston hingegen schien Gefallen an der Unterhaltung zu finden. Er streckte seine Pfote aus, hielt sie in die Luft und winkte damit. Wollte er, dass Alex ihm die Hand gab?

„Sehr erfreut, dich kennenzulernen.“

Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn knapp vor Bostons Pfote innehalten. Lisa kam mit einem Tablett heraus.

Alex tat, als würde er ihr kurz aufflackerndes Lächeln nicht bemerken. Na, immerhin sorgte er für ein wenig Nachmittagsunterhaltung. War er sich zuvor noch fast wie ein Geisteskranker vorgekommen, so fühlte er sich jetzt wie der Klassenclown.

Lisa stellte den Krug mit Eistee und einen Teller mit Keksen vor ihm auf den Tisch.

„Boston haben Sie bereits kennengelernt, wie ich sehe.“

Alex nickte langsam. Wie lange stand sie schon dort drüben?

„Er ist sehr gut erzogen“, sagte er schließlich.

Lisa lachte.

Alex reagierte überrascht. Es war eine Ewigkeit her, seit er eine Frau so ausgelassen erlebt hatte.

„Lilly liebt es, ihm Tricks beizubringen. Und er ist ein sehr gelehriger Schüler.“ Sie warf dem Hund ein Stück Keks vor die Pfoten. „Vor allem, wenn er mit Essen belohnt wird.“

Einen Moment lang saßen sie schweigend da. Alex suchte krampfhaft nach den Worten, die er ihr sagen wollte. Die Tüte schien ihn regelrecht anzustarren, zu pulsieren, als würde ein Herz in ihr schlagen.

Er wusste, dass der Small Talk vorbei sein würde, wenn er es ihr sagte. Seit Monaten zehrte es nun schon an ihm. Jetzt musste er es einfach loswerden.

Sie zog sich einen abgewetzten Stuhl heran und nahm Platz. Alex sah dabei zu, wie sie ihnen beiden ein Glas Tee einschenkte.

„Sie und mein Mann haben zusammen gedient, nehme ich an?“

Mit dieser Frage hatte er gerechnet, dennoch traf sie ihn hart und versetzte ihm einen Schmerz in der Schulter, der nicht ganz leicht abzuschütteln war.

Alex zögerte einen Moment, um die richtigen Worte zu finden. Reden war noch nie seine Stärke gewesen.

„Lisa.“ Er wartete bis sie sich wieder gesetzt und an ihrem Tee genippt hatte. „Als Ihr Mann aus dem letzten Fronturlaub zurückkam, wurden wir zusammen in eine Einheit versetzt.“

Sie war so schön, so herzerweichend schön, und das auf eine so sanfte und unaufdringliche Art, die es noch schwerer machte, es ihr zu sagen.

Er wollte nicht sehen, wie sich ihre freundlichen Gesichtszüge verkrampften, während er ihr von den letzten Momenten ihres Mannes erzählte. Er wusste nicht, ob er es ertragen konnte, diese Frau weinen zu sehen. Mitzubekommen, wie Tränen in diese haselnussbraunen Augen stiegen.

„Wir kamen uns während dieser Tour sehr nahe, und er hat mir viel von Ihnen erzählt. Und von Lilly.“

„Reden Sie weiter“, bat sie und beugte sich vor.

„Lisa, ich war bei ihm, als er starb.“ Er sprach diese Worte sehr hastig, als könne er es nicht erwarten, sie loszuwerden. „Es ging alles sehr schnell und ich war bis zum Ende bei ihm.“ Den Teil, dass die tödliche Kugel eigentlich für ihn bestimmt war, ließ er aus. Auch, wie William Alex warnen wollte, ihn aus der Gefahrenzone bugsierte und dabei erschossen wurde.

Er würde für seine Männer durchs Feuer gehen. Das hatte man in der Army über ihn gesagt. Und Alex konnte es aus eigener Erfahrung bestätigen.

Er sah Lisa wieder an. Eigentlich hatte er Tränen erwartet, ein unkontrolliertes Schluchzen gar, doch sie wirkte ganz ruhig. Ihr Lächeln war nun ein trauriges, doch die Verzweiflung, vor der er sich gefürchtet hatte, blieb aus.

Ihre Gelassenheit half ihm dabei, wieder zu Atem zu kommen und die Worte, die er so lange geübt hatte, auszusprechen.

„In seinen letzten Minuten hat er Ihre Adresse aufgeschrieben. Er bat mich, zu Ihnen zu fahren und nach Ihnen zu sehen. Ihnen zu sagen, dass …“

Lisa wechselte von ihrem Stuhl auf die Hollywoodschaukel und setzte sich dicht neben ihn.

Alex spürte, wie sich ihr Gewicht in die Polster drückte. Spürte die Wärme ihres Körpers, der seinem nun so nah war. Als sie dieses Mal die Hand auf seinen Arm legte, wich er nicht zurück. Stattdessen sah er sie an. „Er bat mich, Ihnen zu sagen, dass er Sie und Lilly geliebt hat. Dass Sie die Frau waren, nach der sich immer gesehnt hat.“

Jetzt hatte sie Tränen in den Augen. Sie quollen bereits über ihre Wimpern. Sie lächelte ihn knapp und mit bebenden Lippen an.

„Und er sagte: ‚Ich will, dass sie glücklich wird.‘“, endete Alex.

Während er diese Worte aussprach, spürte er, wie ein Tonnengewicht von seiner Seele genommen wurde. Diese Worte, die in seinem Kopf widerhallten, seit er sie zum ersten Mal gehört hatte. So als habe er Angst davor gehabt, sie zu vergessen.

„Typisch“, sagte sie, während sie einen Fuß anwinkelte und sich mit der Rückseite ihres Fingers die Augen abtupfte.

Seinen Arm ließ sie jetzt los, aber an der Stelle, an der sie ihn berührt hatte, konnte Alex noch immer die Wärme spüren. „Er geht und verlässt mich, und dann erklärt er mir, dass ich glücklich werden soll.“

Alex wich ihrem Blick aus. Ihm fiel nichts Tröstendes ein, das er hätte sagen können.

Dann nahm er die Tüte, die er neben sich gelegt hatte.

„Ich habe hier ein paar Dinge von ihm“, sagte er. „Hier.“ Er reichte ihr die Tüte und eine weitere Woge der Erleichterung überkam ihn.

Es fühlte sich so gut an, sie ihr endlich überreichen zu können. Seine Schuldgefühle hätten ihn noch bei lebendigem Leibe verzehrt, hätte er nicht den Mut dazu aufgebracht. Und was er wirklich nicht brauchen konnte, waren noch mehr Schuldgefühle.

Alex spürte, wie Lisa sich aufrichtete.

„Was ist da drin?“

„Einige Briefe, ein Foto von Lilly. Und seine alten Dienstmarken.“

„Er bat Sie, sie zu mir zu bringen?“

Alex nickte.

„Haben Sie die Briefe gelesen?“, fragte sie, während ihre Finger bereits nach dem Papierbündel im Innern der Tüte tasteten.

„Nein, Ma’am.“

Sie steckte sie in die Tüte zurück und beugte sich vor, um sie dann auf dem Tisch abzulegen.

„Mein Mann hat Ihnen vertraut, mir einen Besuch abzustatten, dabei kenne ich nicht einmal Ihren Namen“, sagte sie leise.

Alex stand auf. „Alex Dane.“

„Alex“, wiederholte sie. Ihr Lächeln löste in ihm den Wunsch aus, das Weite zu suchen. Noch mehr als vorhin, als sie ihm die Tür geöffnet hatte. Diese Frau sollte doch eigentlich trauern, traurig sein oder sogar deprimiert. Nicht so schön und gelöst.

Er war völlig verwirrt.

„Danke für den Tee, aber ich geh dann mal besser“, verkündete er völlig abrupt.

„Oh, nein, kommt nicht infrage.“

Als sie nach seinem Handgelenk griff, verzog er das Gesicht, wehrte sich jedoch nicht dagegen.

„Sie bleiben zum Essen. Ein Nein akzeptiere ich nicht.“

Bereitwillig ließ er sich von ihr zur Vordertür führen. Er hätte nie hierherkommen dürfen.

Am anderen Ende des Ganges linste ein Paar blaue Augen unter einem blonden Pony hervor und beobachtete ihn. Der Duft von Frischgebackenem strömte aus dem Haus. Williams gerahmtes Bild lächelte ihm von der Wand aus entgegen.

Er war hier im Haus eines anderen Mannes. Mit der Frau und dem Kind eines anderen Mannes. Er war in das Leben eines anderen getreten und das war nicht richtig.

Doch obwohl er wusste, dass es falsch war, hatte er das seltsame Gefühl, nach Hause zu kommen.

Nicht, dass er gewusst hätte, wie sich ein Zuhause anfühlte.

Lisa füllte den Wasserkocher und stellte ihn an. Trotz seines sonderbaren Verhaltens fühlte sie sich in Alex’ Gesellschaft völlig entspannt.

Nicht, dass es ihr an Besuchern gemangelt hätte – seit der Nachricht von Williams Tod kamen ständig Freunde und Familienmitglieder vorbei. Ganz zu schweigen von ihrer Schwester, die sie wie ein Kind behandelte, das einer besonderen Betreuung bedurfte. Irgendwie hatte sie immer eine Ausrede parat, um kurz vorbeizukommen.

Außerdem hatte sie viele Besuche von Soldaten gehabt, wenn auch nicht mehr in letzter Zeit.

Sie warf Alex einen kurzen Blick zu. Er saß nur wenige Schritte von ihr entfernt, doch er hätte sich genauso gut in einem anderen Staat aufhalten können. Seine Miene wirkte verschlossen, und Lisa vermutete, dass er sich dessen gar nicht bewusst war.

Nach allem, was sie über heimgekehrte Soldaten gelesen hatte, erholten sich viele von ihnen nie von den Dingen, die sie im Krieg gesehen hatten. Andere wiederum brauchten einfach etwas Zeit. Lisa hoffte, dass das bei Alex der Fall war. Jedenfalls spürte sie, dass er Hilfe benötigte.

Ein Teil von ihr war einfach nur neugierig. Der andere – ihr aufdringlicher Teil – wollte Alex über Williams Tod ausfragen. Und über die Dinge, die ihm auf der Seele lagen.

Sie nahm an, dass sie noch dazu kommen würde. Doch wie viele Fragen konnte sie ihm an einem einzigen Nachmittag stellen?

„Nehmen Sie Zucker?“ Sie sah ihn an, während er unsicher den Kopf hob.

„Ein Stück. Danke.“

Sie füllte Kaffeegranulat in jede der beiden Tassen, fügte Zucker hinzu, dann schüttete sie das kochende Wasser darüber.

Lisa spürte, wie er sie beobachtete, aber es machte ihr nichts aus. Die Tatsache, dass er bei Williams Tod an seiner Seite gewesen war, empfand sie seltsamerweise als tröstend.

Als sie Alex den Kaffee reichte, sah sie, dass er den Blick über ihren Körper schweifen ließ. Dennoch kam es ihr nicht so vor als würde er sie begaffen. Es war mehr, als würde er etwas überprüfen, nach etwas suchen.

„Ich trage keine Waffe, wenn es das ist, was Sie besorgt.“ Sie lachte, doch er zeigte noch nicht mal ein Lächeln. Stattdessen begann sein Gesicht rot zu glänzen.

Und auch Lisa verspürte eine ungewohnte Nervosität. Vielleicht war sie schon so lange aus dem Spiel, dass es ihr gar nicht mehr auffiel, wenn ein Mann sie ansah.

Es war ein seltsames Gefühl. Nicht unangenehm, aber auch nicht so, als wäre sie schon bereit dafür. Allerdings hatte sie mit ihrer Reaktion erreicht, dass er sich offensichtlich unwohl fühlte. „Es tut mir leid, Alex. Das war nur Spaß.“

Er wandte den Blick ab. „Ich bin etwas durcheinander, das ist alles.“

Fragend hob sie eine Augenbraue.

Alex seufzte und griff nach der heißen Tasse. „William hat erwähnt, dass Sie ein zweites Baby erwarten.“

Aha. Das war es also. Nun war sie beinahe enttäuscht, dass Alex sie doch nicht einfach so angesehen hatte. Doch für eine Witwe gehörte es sich ohnehin nicht, Interesse für einen anderen Mann zu entwickeln.

Es war nur so, dass der Tod ihres Mannes schon einige Monate her war. Und sie … sich wieder wie eine Frau fühlen wollte. Nicht wie eine Witwe oder eine Mutter oder eine Ehefrau. Wie eine Frau.

Was nicht hieß, dass sie ihren Mann nicht mehr liebte. Das tat sie. Sehr sogar.

Sie blinzelte ihre Verwirrung beiseite und lächelte Alex beruhigend an.

Ihr war klar, wie unwohl er sich fühlen müsste, sie das zu fragen. Nicht, dass sie ihm eine Erklärung geschuldet hätte, doch der Mann war von Wer-weiß-wo angereist, nur um sie zu besuchen und den letzten Wunsch ihres Mannes zu erfüllen.

Außerdem machte ihr es nichts aus, es ihm zu verraten. Nicht, wenn es ihm ein Stück seines Seelenfriedens zurückgab, bevor er abreiste und zu seiner eigenen Familie zurückkehrte.

„Ich wurde schwanger, als William gerade auf Fronturlaub zu Hause war. Ich hatte schon so ein Gefühl und machte am Tag vor seiner Abreise einen Test.“

Alex’ Gesicht war noch immer gerötet. Vermutlich war er es nicht gewohnt, sich mit der Frau eines Anderen über Schwangerschaften und Babys zu unterhalten.

„Ich habe das Kind im ersten Trimester verloren, wusste jedoch nicht sofort, wie ich es William beibringen sollte. Er war so begeistert darüber, dass wir endlich ein zweites Kind haben würden. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Doch dann ist er gestorben und hat es nie erfahren.“ Lisa hielt inne. „Wenn ich das Baby nicht verloren hätte, wäre es vor ein paar Monaten auf die Welt gekommen.“

Sie nippte an ihrem Kaffee und ihr Blick verlor sich in den Tiefen des schwarzen Gebräus.

Das Wissen, dass William niemals wieder zurückkehren würde, machte es noch immer schwer, über ihn zu sprechen. Doch ganz allmählich kam sie immer besser damit zurecht. Sie hatte das Gefühl, dass die größte Trauer überstanden war, auch wenn sie noch so manche schwere Stunde durchmachte. Diese Traurigkeit war … so erschöpfend. Und deshalb musste sie weniger werden.

„Das tut mir leid“, entgegnete er. „Wenn man weg ist, vergeht die Zeit wie im Flug.“

Lisa nickte.

„Glauben Sie, es war richtig, ihm nicht zu sagen, was mit dem Baby passiert ist?“

Alex’ Frage überraschte sie. Es war keine Anklage, keine Meinungsäußerung. Die Frage schien sich einfach nur anzubieten.

„Ja, ich glaube schon.“ Ihre Stimme klang sogar in ihren eigenen Ohren schwach. „Ich bin froh, dass er in dem Glauben gestorben ist, dass ich ein weiteres Baby erwarte, dem ich meine Liebe schenken kann. Dass Lilly einen Bruder oder eine Schwester bekommt.“

Bisher hatte sie mit niemandem so wirklich über die Fehlgeburt gesprochen. Nicht einmal mit ihrer Mutter. Es war ein gutes Gefühl, es jetzt loszuwerden. Vor allem gegenüber einer Person, die kein Aufhebens darüber machte oder sie wieder an den Schmerz erinnern würde.

Alex schwieg eine Weile. Wahrscheinlich war er auf das, was er gerade gehört hatte, nicht vorbereitet gewesen. „Es tut mir leid. Ich meine … Es ist nur so, dass …“

„… Sie nicht wissen was Sie sagen sollen?“, versuchte sie, ihm die Anspannung zu nehmen.

„Genau.“

Sie nickte. Ihre normale Reaktion wäre gewesen, ihn zu berühren, ihm die Hand zu reichen. Doch sie hielt sich zurück. Alex war nicht wie ihre üblichen Besucher. Sie musste ihm seinen Freiraum lassen.

„Möchten Sie vielleicht etwas essen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, bitte keine Umstände.“

Lisa verdrehte die Augen, fing jedoch an, sich an seine knappen Antworten und sein mangelhaftes Ausdrucksvermögen zu gewöhnen. „Ich schreibe hauptberuflich Kochbücher. Sie können mir glauben, dass es mich nicht gleich in Verzweiflung stürzt, wenn ich Ihnen eine Mahlzeit zubereite.“

Sie bemerkte ein Lächeln auf Alex’ Lippen. Kein besonders breites, nur ein leichtes Kräuseln seiner Mundwinkel und ein Leuchten in seinen Augen, das sie zuvor nicht bemerkt hatte.

„Sie werden sich allerdings mit Lilly darum streiten müssen. Die Kleine isst wie ein Pferd.“

Alex lachte leise. Ein tiefes, anziehendes Lachen, das Lisa endlich das Gefühl gab, eine erwachsene Unterhaltung zwischen Mann und Frau zu führen.

„Ich bezweifle, dass Lilly eine wirkliche Konkurrenz für mich darstellt.“

Sie grinsten sich an, dann rief Lisa nach ihrer Tochter. „Lilly! Es gibt gleich Essen.“

Die Dielen knarrten, dann erschien Lilly, dicht gefolgt von Boston, dem die Zunge seitlich aus dem Maul hing. Die beiden waren unzertrennlich. Beste Freunde.

Um ihre Tochter zu beschäftigen, während sie das Essen vorbereitete, stellte Lisa ein Glas Milch auf den Tisch.

„Möchtest du unseren Gast begrüßen?“

Lisa wusste, dass das unwahrscheinlich war, doch der Therapeut hatte ihr geraten, sich ganz normal zu verhalten. Einfach zu ignorieren, dass Lilly nicht sprach und so zu tun, als sei alles in Ordnung. So, als würde sie außer mit ihrer Mutter und ihrem Hund auch noch mit anderen Leuten sprechen.

Lilly schüttelte den Kopf, wirkte jedoch nicht ganz so schüchtern wie sonst. Sie kletterte auf den dritten Hocker, ließ den mittleren somit frei und starrte Alex aus großen Augen an.

„Das ist Alex“, erklärte Lisa. „Er war ein Freund deines Daddys.“

Jetzt sah Lilly ihn noch intensiver an, mit ihren großen Augen.

Dann lächelte sie und gab ihm mit einer knappen Handbewegung ein Zeichen.

„Hi“, sagte er.

Lisa überraschte es fast noch mehr, Alex sprechen zu hören, als wenn Lilly etwas gesagt hätte! „Alex ist ein Soldat“, erklärte sie.

Lisa warf Alex einen kurzen Blick zu und bemerkte, dass es ihm unangenehm war, von einem Kind so gründlich unter die Lupe genommen zu werden. Sein Rücken war durchgedrückt, die Pupillen geweitet, der Körper angespannt …

Wenn man die Neugier eines Kindes nicht gewohnt war, wirkte sie vermutlich wirklich befremdlich. Hatte Alex denn keine Familie?

Während sich die beiden weiter anstarrten, öffnete Lisa die Vorratskammer. Sie ließ den Blick über Einmachgläser und Behälter gleiten, die fein säuberlich vor ihr aufgestapelt und mit allen möglichen Leckereien gefüllt waren. Zu anderen Tageszeiten gab sie Lilly sehr viel Obst und Gemüse zu essen, doch nachmittags wurde schon mal genüsslich gesündigt.

Lisa griff nach ihren selbst gebackenen Brownies und dem glasierten Zitronenkuchen, stellte die Behälter in Griffweite ab und drapierte mehrere von ihnen auf einem großen, quadratischen Teller.

„Ich hoffe, Sie mögen Süßes, Alex.“

Er sah noch immer aus wie ein nachtaktives Tier, das im grellen Scheinwerferlicht erstarrt war, doch das ignorierte sie. „Wohnen Sie eigentlich weit weg? Und was halten Sie von der Umgebung hier?“ Sie schob ihm einen Teller mit Gebäck entgegen.

„Äh … kommt darauf an, ob man hier angeln kann. Ich habe gehört, dass die Gegend ideal dafür ist“, sagte er verlegen.

„Sie sind also Angler?“ Sie sah dabei zu, wie sein Adamsapfel beim Schlucken auf und ab hüpfte.

„Ich blicke nur gerne auf den See hinaus und angele. Sie wissen schon … Als kleine Auszeit. Es geht dabei mehr ums Sitzen und ums Denken, weniger ums Angeln.“

Oh, das konnte sie nachvollziehen. Schließlich war das der Grund gewesen, weshalb sie dieses Haus überhaupt gekauft hatten.

Wollte er denn für eine Weile hierbleiben? Ganz alleine? Sie hatte angenommen, dass er Zeit mit seiner Familie verbringen wollte, nachdem er so lange unterwegs gewesen war. Oder mit Freunden.

Lisa stand auf, um Servietten zu holen, hielt dabei einen Moment lang inne und sah aus dem großen Küchenfenster zum Fluss hinaus. Das Wasser hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Wenn sie in seine Tiefen starrte, hatte sie das Gefühl, dass alles möglich war.

Eigentlich war sie nie besonders gerne angeln gegangen. Aber auch sie liebte es, dazusitzen, nachzudenken und auf das Wasser zu blicken. Und genau das hatte sie getan, als sie die schreckliche Nachricht vom Tod ihres Mannes erhalten hatte. Jeden Tag mehrere Stunden lang.

Lilly zerrte an ihrem Arm. Lisa hatte gar nicht mitbekommen, wie sie von ihrem Hocker gerutscht war. Sie bückte sich, sodass Lilly ihre Hand an Lisas Ohr legen konnte.

„Sag ihm, wir haben haufenweise Fische zum Fangen.“

Sie lächelte und nickte ihrer Tochter zu.

„Sag’s ihm“, beharrte Lilly.

Das kleine Mädchen sprang zurück auf den Hocker und lächelte Alex an. Der wirkte verwirrt.

„Lilly lässt ausrichten, dass es hier haufenweise Fische gibt.“

„Fische?“

Lilly nickte, während sie sich genussvoll die Reste ihres Brownies von den Fingerkuppen leckte. Dann griff sie langsam nach Alex’ Hand, tippte sie an und sprang zu Boden.

Alex blickte von Lilly zu Lisa.

„Ich … äh … denke, sie will, dass Sie mit ihr zum See gehen.“

Lisa hielt den Atem an, während Lilly dastand und erwartungsvoll zu Alex aufblickte. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte gedacht, dass seine Hände zitterten.

Er rührte sich nicht, nur seine Blicke wanderten zwischen ihr und ihrer Tochter hin und her. Doch dann bewegte er langsam die Beine und stemmte sich in die Höhe. Er überragte Lilly um ein Vielfaches. Wie ein Bär neben einem Vogel.

„Okay“, sagte er unsicher.

Lilly griff nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her. Alex konnte gar nicht anders, als Folge zu leisten. Er wirkte dabei schicksalsergeben wie ein Tier, das zum Schlachter geführt wurde.

Von Lisa konnte er jedoch keine Hilfe erwarten. Dies war das erste Mal seit langer Zeit, dass Lilly Kontakt zu einem Fremden aufnahm. Lisa war es egal, wie unwohl ihrem Gast dabei zumute war. Dies war ein wichtiger Wendepunkt. Lilly hatte zwar nicht mit ihm gesprochen, aber sie wollte definitiv mit ihm kommunizieren.

Auf gar keinen Fall würde sie da dazwischengehen. Das konnte sie nicht.

Lisa nickte Boston zu, damit dieser den beiden folgte, dann hielt sie den Atem an. Entweder würde Alex bei erster Gelegenheit die Flucht ergreifen oder auf Lilly reagieren. Und beiden zuliebe hoffte sie, dass Letzteres eintraf.

Alex war zwar ein Fremder, und eigentlich war es seltsam, doch tief in ihrem Inneren hoffte sie, dass er zum Abendessen bleiben würde. Damit sie über William reden konnten. Über den Krieg.

Sie fühlte sich ihm schon dadurch verbunden, dass er in den letzten Jahren wahrscheinlich mehr Zeit mit William verbracht hatte, als sie selbst. Das war eine Gelegenheit, die sie nicht verstreichen lassen konnte.

Außerdem war sie einsam, auch wenn sie das ihrer Familie gegenüber nie zugeben würde.

Vor allem nachts.

Eigentlich war das früher schon so gewesen, aber da hatte sie wenigstens gewusst, dass sie das Haus irgendwann einmal gemeinsam mit William bewohnen würde. Dass er dann jeden Abend mit am Esstisch sitzen würde.

Lisa stellte ihren Kaffee mit zitternder Hand ab und beschloss, entgegen ihres ursprünglichen Vorsatzes, den beiden doch noch zu folgen. Nicht, weil sie Alex nicht traute. Sie wollte einfach sichergehen, dass es Lilly nicht zu viel wurde. Oder Alex.

Außerdem war sie im Moment Lillys Chefübersetzerin. Und darüber hinaus war sie neugierig darauf, wie das ungleiche Paar am Fluss miteinander zurechtkam.

2. KAPITEL

„War Lilly schon immer so still?“

Alex warf Lisa einen Blick zu, während sie zum Haus zurückgingen.

Sie waren am Fluss auf und ab spaziert, Alex hatte einen Stock ins Wasser geworfen, Lilly hatte in die Hände geklatscht und ihn Boston wieder entrissen, kaum hatte er ihn zurückgeholt.

Nicht, dass er Lilly viele Fragen gestellt hätte, als sie alleine gewesen waren – er wusste gar nicht, worüber er mit einem Kind reden sollte – doch für ein kleines Mädchen wirkte sie außergewöhnlich still.

„Seit Williams Tod ist sie praktisch stumm – jedem gegenüber, außer mir.“

Alex nickte. „Wie alt ist sie?“

„Sechs.“

Ihn hatte zwar interessiert, ob das kleine Mädchen in der Lage war, zu sprechen, aber wirklich darüber reden wollte er nicht.

Er wusste, was es hieß, eine schwere Kindheit zu haben und wollte das Thema nicht weiter antasten. Auch dann nicht, wenn es dabei um die Kindheit einer anderen Person ging. Mit seinem Eintritt in die Army hatte er versucht, all diese Erinnerungen und Gedanken hinter sich zu lassen.

„Heute hat sie allerdings einen guten Tag. Ich dachte erst, dass sie in Ihrer Gegenwart sehr schüchtern sein würde, aber das war überhaupt nicht der Fall“, sagte Lisa.

Alex gefiel, dass das Mädchen keine Angst vor ihm hatte, dennoch wollte er sich nicht zu sehr mit ihr anfreunden. Genaugenommen wollte er zu niemandem eine engere Beziehung aufbauen. Nicht einmal zu dem Hund.

„Boston hat ihr gegenüber einen ziemlichen Beschützerinstinkt“, meinte er.

Das brachte Lisa zum Lachen.

Am liebsten wäre er zurückgewichen. All das kam ihm viel zu real, zu normal vor. Dass er hier stand und einfach so mitredete, nachdem er sich lange Zeit den Kopf darüber zerbrochen hatte, wie er seinen Besuch bei ihr verkraften würde. Sie jetzt auf diese Weise lachen zu hören …

„Dieser Hund ist ihr bester Freund. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn getan hätten. Er ist Gold wert.“

Sie gingen weiter. Alex wusste schon wieder nicht, was er sagen sollte. Einerseits wollte er ins Auto steigen und wegfahren – irgendwohin, ganz schnell, einfach nur weg.

Andererseits – doch das konnte er sich kaum eingestehen – wollte er bleiben und für wenige Stunden Teil dieser kleinen Familie sein. Er wollte verstehen, was William geopfert hatte, um sein Leben zu retten.

„Komm schon, Lil, lass uns wieder ins Haus gehen.“

Lilly folgte dem Ruf ihrer Mutter und rannte herbei, doch Alex spürte, dass ihr Schweigen nicht normal war. Er hatte nicht viel Erfahrung mit Kindern, doch er wusste, dass sie eigentlich kreischen müsste, wenn der Hund sie mit Wasser vollspritzte. Oder ihrer Mutter antworten, wenn diese nach ihr rief.

Stattdessen lächelte sie nur stumm. Nicht wirklich betrübt oder trauernd. Aber wahrscheinlich war das ihre ganz eigene Art zu trauern.

Alex wusste leider zu gut, was sie durchmachte.

Die Army war seit Jahren seine einzige Familie gewesen. Die Quelle all seiner Freundschaften. Der Ort, der sein Zuhause war und an dem er Trost finden konnte.

Somit wusste er ganz genau, wie einsam sich ein Mensch fühlen konnte.

Lisa durchstöberte den Kühlschrank auf der Suche nach den richtigen Zutaten. Heute würden sie früh zu Abend essen. Die einzige Möglichkeit, Alex von seiner Rolle als Lillys Spielgefährte zu erlösen, hatte darin bestanden, beide zum Abendessen ins Haus zu rufen. Jetzt musste sie nur schnell etwas auftreiben.

Wenn William aus dem Einsatz zurückgekehrt war, hatte er immer einen regelrechten Heißhunger auf ihre Hausmannskost mitgebracht. Worum es sich dabei genau gehandelt hatte, war ihm dabei oft sogar egal gewesen, solange es nur selbst gekocht war. Eben genau das, worauf er in der Wüste verzichten musste.

„Wie lange waren Sie dieses Mal unterwegs, Alex?“, fragte sie ihn.

Er saß jetzt wieder auf dem Barhocker und blätterte beiläufig in einem ihrer älteren Kochbücher. Jetzt blickte er auf und sie entdeckte ein hartes Blitzen in seinen Augen. Und einen Blick, der sagte: Lass uns bitte nicht über den Krieg reden.

„Monate. Irgendwann habe ich nicht mehr mitgezählt“, meinte er schließlich.

Das nahm sie ihm keine Sekunde lang ab. Ihr Ehemann hatte stets ganz genau gewusst, wie viele Tage er weg gewesen war. Wahrscheinlich hätte er sogar die genaue Anzahl der Stunden zusammenbekommen, wenn er den Kopf dafür freigehabt hätte.

„Sind Sie schon länger zurück oder gerade erst aus dem Flugzeug gestiegen?“

Da war schon wieder dieser Blick. „Etwa vor einer Woche.“

Es war, als hätte sich ein Vorhang vor seinen Augen und seinem Gesicht zugezogen, kaum hatte sie angefangen, über die Army zu sprechen.

„Nun, dann steht Ihnen bestimmt der Sinn nach leckerer Hausmannskost.“

Er nickte höflich.

Lisa wollte mehr wissen. Zum Beispiel, warum er nicht mit seiner eigenen Familie zu Hause beim Essen saß. Warum war er so kurz nach seiner Rückkehr zu ihr gefahren?

Außerdem fragte sie sich, wie er und William miteinander klargekommen waren. Sie waren so verschieden. Alex war ruhig und beherrscht – aber vielleicht war das auch nur das Resultat ihrer Fragerei. Ihr Mann war jedenfalls immer sehr offen und gesprächig gewesen. Geradeheraus.

Von all den Geschichten, die er ihr erzählt hatte, wusste sie jedoch, dass im Krieg alles anders war. Dass Männer, die sich normalerweise nie angefreundet hätten, einander so vertraut wurden wie Brüder. Lisa hoffte, dass es bei Alex und ihm genauso gewesen war.

Sie begann zu schälen. Zuerst die Kartoffeln, danach die Karotten.

„Ich denke, ein Hühnchenauflauf würde Ihnen guttun.“

Er lächelte. Halbherzig nur, aber offener als zuvor.

„Möchten Sie mir helfen?“

Er nickte. „Klar.“

„Sie könnten die Kartoffeln in Streifen schneiden. Messer sind da in der Schublade. Und dann werfen Sie sie zum Kochen in den Topf.“

Alex stand auf und ging zu ihr.

Sie hätte das schon früher vorschlagen sollen. Es war das Beste, ihn zu beschäftigen, ohne ihn dabei einem Verhör zu unterziehen. Vielleicht würde ihm das helfen, sich zu entspannen. Und vielleicht würde er irgendwann von sich aus von William erzählen.

Lisa servierte den Auflauf. Die Kartoffelkruste war leicht gebräunt, und als sie das Essen gekonnt auf drei Teller verteilte, tropfte die Soße bereits über den Rand des Löffels.

„Lilly, iss doch am besten im Fernsehzimmer. Du kannst dir dabei eine DVD ansehen.“

Ihre Tochter nickte eifrig. Lisa erlaubte ihr fast nie, beim Essen vom Tisch aufzustehen. Heute war ihr jedoch sehr daran gelegen, mit ihrem Gast ganz offen reden zu können.

Lisa gab Lilly die kleinere Portion und stellte die anderen beiden auf den Tisch.

„Ich kann Ihnen wirklich nicht genug danken, Alex. Dafür, dass Sie hierhergekommen sind.“

Schnell ließ er einen Bissen in seinem Mund verschwinden. Wahrscheinlich, damit er nicht antworten musste.

„Bei mir sind schon so einige Soldaten vorbeigekommen. Seit einigen Monaten allerdings nicht mehr. Gelegentlich bekomme ich noch einen Anruf, aber keine Besuche mehr.“ Sie hielt inne, wartete jedoch weiter vergeblich auf eine Antwort. „William hat nur selten die Namen seiner Kameraden erwähnt. Nun ja, er hat sie immer nur beim Nachnamen genannt. Die konnte ich mir nicht so gut merken.“

„Tja, so läuft das bei der Army“, murmelte er.

Lisa nahm selbst einen Bissen und gab ihm damit etwas Zeit, in Ruhe weiterzuessen.

„Als Sie zusammen gedient haben … Haben Sie sich da … äh … gut verstanden?“

Er presste die Lippen zusammen. Sein Blick war ernst und sein ganzer Körper angespannt. Wahrscheinlich hatte sie ihn zu sehr bedrängt.

„Ma’am, ich …“ Er hielt inne und holte tief Luft. „Ich will eigentlich nicht über das, was dort passiert ist, sprechen.“

Lisa war peinlich berührt. Sie hätte es wissen müssen, aber sie spürte, dass ihnen nur wenige gemeinsame Stunden blieben. Und diese Zeit wollte sie nutzen, um ihre Neugier zu stillen und so viel wie möglich herauszufinden.

„Es tut mir leid, Alex. Sie sind aus purer Freundlichkeit zu mir gekommen und ich frage sie aus.“

Er legte seine Gabel beiseite. „Ich will nicht unhöflich sein. Es ist nur …“

„Ich verstehe schon. Es ist nur so, dass mein Mann selten ein Blatt vor den Mund nahm. Er wollte sich immer alles von der Seele reden“, erklärte sie.

Beide aßen weiter, doch die Spannung zwischen ihnen war fast greifbar.

Er wusste, dass sie ihn zum Reden bringen wollte, doch das war nicht seine Art. Was sollte er auch sagen?

Ja, William und ich sind gut miteinander klargekommen? Bevor er sich in eine Kugel geworfen hat, die für mich bestimmt war? Dass er gestorben ist, um mein Leben zu retten?

Das Essen war toll und er wusste es auch zu schätzen. Doch sie behandelte ihn, als sei er der Gute. Was würde sie sagen, wenn sie erfuhr, was damals wirklich passiert war? Wenn sich die Ereignisse wie ein Film vor ihrem inneren Auge abspielten und sie sah, wie William sich in den Kugelhagel warf, um ihn zu schützen?

Er zwang sich, noch mehr zu essen, nur um die Erinnerung zurückzudrängen.

„Wo ist Ihr Zuhause, Alex? Wo lebt Ihre Familie?“, wollte sie wissen.

Ein Schauer lief Alex über den Rücken und er biss die Zähne zusammen. Über die Gründe, weshalb er kein Zuhause hatte, wollte er nicht sprechen. „Ich habe zurzeit keine Bleibe“, presste er schließlich heraus.

„Und Ihre Familie? Bestimmt freuen sie sich über Ihre Rückkehr.“

Er schüttelte den Kopf.

Lisa blickte ihn fragend an, doch zu seiner Erleichterung wiederholte sie die Frage nicht. Alex wollte nicht unhöflich sein, aber es gab Dinge, über die er einfach nicht sprechen konnte.

Sie musste nicht wissen, dass er ein Waisenkind war. Er wollte kein Mitleid. Besser, sie erfuhr es nie.

„Nun, ich bin jedenfalls froh, dass Sie uns beim Essen Gesellschaft geleistet haben“, sagte sie nach längerem Schweigen.

„Ich habe William versprochen, dass ich zu Ihnen komme. Und das tat ich gleich nach meiner Entlassung.“

Sie nickte. „Ich weiß das wirklich zu schätzen.“

„Das Essen war übrigens ausgezeichnet.“

Dieses Geplänkel kam ihm nicht leicht über die Lippen. Lässiger Small Talk war nicht gerade sein Spezialgebiet, aber er wollte das Thema Familie umgehen, für das sie sich sehr zu interessieren schien. Zwar wusste er ihr Interesse zu schätzen, doch manche Türen blieben besser verschlossen.

„Ich sehe mal nach Lilly. Bedienen Sie sich einfach“, schlug sie vor.

Lisa zog Lillys Zimmertür fast vollständig zu, sodass nur noch ein dünner Lichtstreifen ins Zimmer fiel, dann winkte sie ihr noch einmal.

Sie hatte ihr eine Geschichte vorgelesen, ihr einen Gutenachtkuss gegeben und dann das Licht ausgemacht.

Jetzt hörte sie Alex in der Küche rumoren. Er war vielleicht jahrelang in der Army gewesen und so schweigsam wie eine Maus, aber seine Manieren waren hervorragend. Noch bevor sie Lilly ins Bett gebracht hatte, hatte er den Tisch abgeräumt und mit dem Abwasch begonnen.

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, sagte sie, als ihr Blick in die Küche fiel. Die Ablage war blank geputzt und die Spüle leergeräumt. Er hatte sogar die Essensreste an den Hund verfüttert.

„Das ist doch das Mindeste“, sagte er achselzuckend.

Da war sie sich nicht so sicher. Er war von Gott-weiß-wo gekommen, mit Dingen im Gepäck, die überaus wichtig für sie waren, er hatte eine Sechsjährige aufgeheitert, die wegen eines tiefsitzenden Traumas in Behandlung war. Lilly war so glücklich, geradezu überschäumend gewesen, als Lisa vorhin an ihr Bett getreten war.

„Alex, bitte bleiben Sie heute Nacht hier. Um ein Zimmer in der Stadt zu finden, ist es bereits zu spät.“

„Das weiß ich zu schätzen, aber Sie haben doch schon für mich gekocht und …“

„Reden Sie keinen Unsinn …“

Dieser Mann schien keine Familie zu haben. Jedenfalls keine, über die er reden wollte. Keinen Ort in der Nähe, an den er gehen konnte. Sie würde ihn nicht einfach vor die Tür setzen. Nicht nach allem, was er für sie getan hatte.

Nicht den Mann, der William im Augenblick seines Todes Beistand geleistet hatte.

„Lisa, ich bin nicht hierhergekommen, um eine Unterkunft zu finden“, sagte er plötzlich.

Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. „Nein, Sie sind gekommen, um einer völlig Fremden etwas Gutes zu tun. Ich bin es, die Ihnen etwas schuldet.“

Da war er wieder, dieser seltsame Blick. Es sah zur Uhr an der Wand. Es war bereits spät. „Sind Sie sicher? Ich kann auch einfach draußen mein Zelt aufschlagen.“

Lisa lachte. „Kommt nicht infrage. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen das Gästezimmer.“

Alex zögerte. „Ich habe meine komplette Campingausrüstung dabei …“

„Unsinn“, entgegnete sie bestimmt. „Das Bett ist gemacht. Sie sollten sich ordentlich ausschlafen. Nun kommen Sie schon!“

Ganz wohl schien ihm dabei nicht zu sein, doch er leistete auch keinen weiteren Widerstand. Sie lächelte.

„Ich … hol nur noch meine Sachen aus dem Wagen.“

Lisa stellte den Wasserkocher an. Als Alex mit einer Campingtasche zurückkam, wartete bereits eine dampfende Tasse ihrer hausgemachten heißen Schokolade auf ihn.

Dann führte Lisa ihn die Treppe hinauf. Sie drehte sich nicht um, aber sie konnte hören, wie er ihr folgte. Die Stufen knarrten und ächzten unter seinem Gewicht. Sie führte ihn bis zum Gästezimmer und ließ ihn eintreten.

Seine massige Gestalt füllte den Türrahmen fast vollständig aus. Das Gästebett sah deutlich zu klein für ihn aus. Lisa unterdrückte ein Lachen. Alex sah aus wie ein Erwachsener in einem Spielzeughaus.

„Rufen Sie einfach, wenn Sie noch irgendwas brauchen. Das Bad ist am Ende des Ganges.“

Er nickte.

„Na dann, gute Nacht.“

„Nacht“, gab er zurück.

Lisa zog die Tür hinter ihm zu und entfernte sich. Den Anblick, wie er da gestanden hatte, die Campingtasche über seiner Schulter und die Tasse heiße Schokolade in der Hand, nahm sie mit.

Sie ging die Treppen hinunter, ließ dabei die am stärksten knarrenden Stufen aus, dann machte sie eine kleinere Lampe an und das große Licht aus.

Die Papiertüte, die Alex mitgebracht hatte, lag noch immer auf dem Beistelltisch. Lisa nahm sie an sich und fragte sich dabei, ob Alex die Tüte wohl aus dem Krieg mitgebracht, oder ob er die Sachen erst nach seiner Rückkehr hineingelegt hatte.

Sie leerte den Inhalt aus. Ein zerknittertes Foto von Lilly fiel ihr in den Schoß. Lisa hob es auf und hielt es ins Licht. Auf dem Bild war Lilly ungefähr vier. Ihre blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sie saß im Gras.

Lisa erinnerte sich noch gut an diesen Tag. William war gerade zu Hause gewesen und sie hatten einen ganzen Sommer zusammen verbracht – vielleicht der beste Sommer ihres Lebens.

Lilly hatte für das Unterhaltungsprogramm gesorgt, bis zu dem Moment, in dem sie von einer Biene gestochen wurde.

Trost suchend war sie zu William gerannt – wie immer, wenn er zu Hause war. In diesen Momenten wollte sie so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen.

Lisa legte das Foto zurück auf den Tisch, dann griff sie nach der Kette mit Williams Armymarken und legte sie sich um den Hals.

Das kühle Metall ließ sie frösteln, dennoch nahm sie es nicht ab, sondern legte sogar noch die Hand darauf. Um ihn zu spüren, sich an ihn zu erinnern, ihre Liebe für ihn.

Schließlich holte sie die Briefe heraus. Insgesamt waren es drei. Wahrscheinlich hatte er auf den richtigen Moment gewartet, um sie fertigzuschreiben.

Ihr Herz machte einen Sprung als sie den ersten auseinanderfaltete und ihr Blick auf seine saubere, deutliche Handschrift fiel.

An meine geliebte Frau.

Alle seine Briefe hatten so angefangen. Er war keiner jener Soldaten gewesen, die sich gegenüber ihrer Familie wie Machos aufführten. Am Telefon hatte er ihr immer gesagt, wie sehr er sie liebte, ganz gleich wie viele Männer um ihn herumstanden. Sie waren sich immer sehr nahe gewesen.

Lisa biss sich auf die Lippe, als sie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Ihre Unterlippe begann zu zittern und sie biss fester zu. Doch jedes Wort, das sie las, jeder einzelne Satz, der sie in seinen Brief eintauchen ließ, förderte mehr Tränen zutage, sodass sie schließlich wie ein kleiner Bach über ihre Wangen rannen.

Sie schmeckte die salzige Flüssigkeit auf ihren Lippen.

William war vor einigen Monaten gestorben, und in dem Jahr davor hatte sie ihn nur ein einziges Mal gesehen – in den sechs Wochen Fronturlaub, die er zu Hause verbracht hatte.

Als sie jedoch die Worte las, die er mit so viel Liebe zu Papier gebracht hatte, da kam es ihr vor, als seien sie nie voneinander getrennt gewesen. Als säße er warm und lebendig neben ihr auf dem Sofa und würde ihr die Worte ins Ohr flüstern.

Noch bevor sie und William sich ineinander verliebt hatten, waren sie beste Freunde gewesen.

In erster Linie waren sie das immer geblieben – das war es, was sie einander stets sagten. Freunde, die alles füreinander taten, sich gegenseitig trösten und unterstützen, komme was wolle. Freunde, die einander nicht im Weg stehen wollten oder den anderen daran hinderten, seine Ziele im Leben zu verwirklichen.

Und in ihrer Rolle als seine gute Freundin hatte sie das Gefühl, er wäre nicht ansatzweise verärgert darüber, dass sie sich leicht – wirklich nur leicht – zu dem Mann hingezogen fühlte, der sich in diesem Moment eine Etage über ihr aufhielt.

Er war so anders als William, dennoch erinnerte Alex sie in so vielen Punkten an ihren verstorbenen Mann.

William hatte sie so häufig gebeten, ihr Leben fortsetzen und glücklich zu werden, sollte ihm irgendetwas zustoßen. Nicht in Trauer zu versinken, sich nicht einzukerkern.

Nicht, dass Lisa schon bereit dazu war, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Nicht schon so bald. Und auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt. Sie wollte sich nur nicht schuldig fühlen müssen, nur weil sie sich ein klein wenig zu einem anderen Mann hingezogen fühlte.

Es war nur ein leiser Anflug einer Anziehung gewesen, und selbst dafür hatte sie sich gescholten.

Sie wollte vermeiden, dass sie das Gefühl bekam, William gegenüber untreu zu sein, jetzt wo Alex im Gästezimmer schlief. Denn sie hatte in der Tat etwas in sich gespürt, da wollte sie sich nichts vormachen. Ein leichtes Rumoren in ihrer Brust.

Er war ein sorgenschwerer Soldat, sie eine trauernde Witwe.

Das hieß jedoch nicht, dass ihr entging, wie attraktiv dieser Mann war.

War es richtig gewesen, ihn zu bitten, über Nacht zu bleiben?

Sie konnte es nur hoffen. Seine Reaktion hatte bestätigt, dass er keine andere Bleibe besaß.

Und einen Freund von William würde sie niemals zurückweisen.

3. KAPITEL

Lisa beobachtete durchs Fenster, wie Lilly am Seeufer entlangstolperte, dabei alle paar Schritte über ihre Schulter sah, um sich zu vergewissern, dass Alex noch hinter ihr war.

Kurz nach dem Frühstück hatte sie ihn mit nach draußen geschleppt und Alex war nichts anderes übrig geblieben, als ihren Wünschen Folge zu leisten. Sie sprach nie direkt zu ihm, doch ihre Blicke drückten Vertrauen und Zuneigung aus.

Boston trottete mit geneigter Schnauze hinter ihnen her und schnüffelte in der Gegend herum.

Lisa trat zurück, um ihre Kaffeetasse in die Spüle zu stellen, hielt jedoch für einen kurzen Moment inne, um einen Blick aus dem zweiten, größeren Küchenfenster zu werfen.

Das Glitzern des Wassers übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Dann fiel ihr Blick auf einen sich im Wind bewegenden Baum.

Sie verkniff sich ein Lächeln.

Das war es!

Sie hatte schon immer an Schicksal geglaubt, und als ihr Blick auf die Gartenlaube fiel, hatte sie eine Idee.

Es war die perfekte Lösung.

Alex würde genügend Zeit zum Angeln haben, und sie bekam die Gelegenheit, diesen Mann näher kennenzulernen, der ihrem Ehemann im Augenblick seines Todes zur Seite gestanden hatte.

Noch einmal sah sie zur Gartenlaube. Als sie hier eingezogen waren, hatten sie alle möglichen Pläne damit gehabt. So hatten sie überlegt, ein Ferienhäuschen daraus zu machen … oder ein Arbeitszimmer, in dem sie in Ruhe schreiben konnte.

Doch mit dem Gedanken, zahlende Gäste darin zu beherbergen, konnte sie sich am Ende nicht anfreunden. Und fernab der Küche an ihren Kochbüchern zu arbeiten, kam auch nicht infrage.

Bei Williams letztem Besuch hatten sie dort ein wenig herumgestöbert, alte Kisten entrümpelt und Spinnweben entfernt. Dann hatten sie beschlossen, es Lilly zu überlassen. Solange sie noch klein war, konnte sie darin spielen. Später, als Teenager, würde es ihr als Rückzugsraum dienen.

Das Häuschen bestand nur aus einem großen Raum, der zugleich als Schlaf- und Wohnzimmer diente, dazu gab es ein altes Badezimmer und eine winzige Wohnküche.

Alex bemerkte ihren Blick und sah zu ihr hinüber. Lisa hob winkend ihre Hand. Er lächelte zwar nicht zurück, doch sein Blick verriet, dass er sie bemerkt hatte. Es sah aus, als wolle er mit ihr in Kontakt treten.

Aber er hatte Angst.

Lisa beschloss, ihm zu helfen.

Sie war zwar keine Therapeutin, aber sensibel genug um zu merken, wenn Menschen Hilfe benötigten. Und Alex Dane hatte etwas Ruhe und Erholung dringend nötig.

Genau wie Lilly.

Jetzt musste Lisa ihn nur noch von ihrer Idee überzeugen.

Alex fühlte sich verloren. Nicht, dass es ihm hier nicht gefallen hätte. Ganz im Gegenteil, dieser Ort hatte etwas Magisches an sich.

Der ruhige See erweckte den Eindruck, als gehöre er ganz exklusiv zu dem Grundstück. Dabei war nicht zu übersehen, wie groß er eigentlich war. Auch die Nachbargrundstücke grenzten daran an. Und auf der gegenüberliegenden Seite ragten die Bäume eines mächtigen Waldes in die Höhe.

Doch obwohl dieser Ort etwas Magisches ausstrahlte, fühlte Alex sich unwohl. Er war lange nicht unter Menschen gewesen, die nicht der Army angehörten. Er war es nicht mehr gewöhnt, einfach nur auszuspannen und sich wie ein normaler Mensch zu benehmen.

Erneut blickte er zum Haus und sah, dass Lisa herauskam und auf ihn zuging. Ihm fiel es schwer, sie nicht anzusehen. Ihr Gesicht strahlte eine Offenheit und eine Wärme aus, die ihn ganz in ihren Bann zog. Und dennoch machte sie ihn nervöser als jede nur erdenkliche Kriegssituation.

„Gefällt es Ihnen hier?“, fragte sie beim Näherkommen.

Er sah wieder aufs Wasser hinaus. „Es ist etwas ganz Besonderes.“

Sie blieb direkt neben ihm stehen, doch er würdigte sie keines Blickes.

„Ich habe mein ganzes Leben in Alaska verbracht. Und als ich das hier gesehen habe, da wusste ich, dass ich für immer hierbleiben würde“, sagte sie wehmütig.

Er beneidete sie dafür, dass sie einen solchen Ort hatte, den sie für immer als ihre Heimat bezeichnen konnte.

Er selbst war ständig in eine andere Stadt, in ein anderes Waisenhaus gezogen, bevor er alt genug gewesen war, um diesem Leben zu entfliehen. Einen Ort zu haben, an dem stets alles so blieb wie es war – das hatte er sich immer gewünscht.

„Sie erwähnten, dass Sie gerne angeln?“

Alex nickte und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. „Meine Angel, ein Schlafsack und meine Campingausrüstung sind im Auto. Ich bin einfach drauflosgefahren und wollte abwarten, wohin mich das Schicksal verschlägt.“

Er merkte, wie sie ihn mit ihren Blicken abtastete und verspürte eine gewisse Unsicherheit.

„Sie hatten aber vor, in Alaska zu bleiben?“

Er zuckte die Achseln. „Schon möglich.“

Lisa wandte sich von ihm ab und setzte sich in Bewegung.

Eigentlich wollte er sie nicht ansehen, konnte aber nicht anders. Sie trug enge Jeans, dazu flache Ballerinas und ein T-Shirt, das ihre Kurven perfekt zur Geltung brachte.

Alex musste schlucken. Es war lange her, seit er sich zuletzt so von einer Frau angezogen gefühlt hatte.

Mit zusammengebissenen Zähnen rief er sich ins Gedächtnis, dass sie die Frau eines anderen war. Eines Mannes, der sich für ihn in eine Kugel geworfen hatte.

Entschlossen wandte er den Blick wieder ab.

„Alex, ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Es wäre unhöflich gewesen, ihr nicht zu folgen. Also ging er ihr nach und stoppte erst, als er sie vor der Schwelle einer provisorisch zusammengezimmerten Hütte stehen sah, die sich hinter einer kleinen Baumgruppe versteckte. Bisher hatte er sie noch gar nicht bemerkt.

Lisa stemmte sich gegen die Tür, die langsam nach innen schwang. Dann drehte sie sich um und winkte ihm. „Kommen Sie! Sehen Sie sich das mal an.“

Er gehorchte, trat ein und sah sich um – auch wenn er nicht wusste, worauf er eigentlich achten sollte.

Im Inneren der Hütte war es dämmrig. Das Licht fiel nur gedämpft durch die schmutzigen Fenster, es roch muffig, und in einer Zimmerecke lag ein altes Bett.

Fragend sah er sie an.

Sie lächelte. „Wenn Sie einen Schlafplatz suchen, würde ich Sie gerne eine Zeit lang beherbergen.“

Alex’ Blick wanderte zu Lisa, die noch immer im Gras stand, dann zurück in die Hütte. Bleiben? Hier?

Sie musste seinen verstörten Blick bemerkt haben.

„Nur so lange, bis Sie wissen, wohin Sie wollen. Ein paar Wochen vielleicht?“

Alex starrte sie ungläubig an.

„Nicht, dass ich Sie nicht im Haus haben will. Ich dachte nur, dass Sie vielleicht etwas Freiraum bevorzugen.“

Er schüttelte den Kopf – erst ganz vorsichtig, dann immer entschiedener. „Lisa, ich …“

„Nein, bitte lehnen Sie nicht gleich ab.“ Sein energisches Kopfschütteln ignorierend, ging sie wieder zurück ans Ufer, das nur wenige Meter von der Hütte entfernt war. Dann drehte sie sich abrupt wieder zu ihm um. „Ich müsste die Hütte eigentlich renovieren, und alleine bekomme ich das wahrscheinlich nicht hin. Bitte. Sie könnten doch einfach hierbleiben, angeln, mir etwas zur Hand gehen und danach weiterreisen.“

Alex wusste nicht, was er dazu noch sagen sollte. Natürlich wäre er gerne geblieben. Es war toll hier.

Aber wie konnte er ihre Gastfreundschaft beanspruchen und dabei wissen, dass es seine Schuld war, dass Lisas Mann nicht mehr nach Hause kommen würde?

Und konnte er dieses kleine Mädchen Tag für Tag ansehen?

„Ich kann nicht hierbleiben.“ Seine Stimme klang schroff, aber bestimmt.

„Alex.“ Sie kam näher und hob dabei ihre Hand, als wolle sie ihn berühren. Doch dann verschränkte sie die Arme. Vielleicht spürte sie bereits, dass er einen Knacks hatte. „Bitte. Es würde mir sehr viel bedeuten.“

Höchstens so lange, bis er ihr die Wahrheit gestand.

„Ich weiß nicht“, murmelte er.

„Denken Sie einfach darüber nach.“

Er nickte. Ganz knapp nur, aber so, dass sie es bemerkte.

„Ich glaube, man kann die Hütte in zwei bis drei Wochen auf Vordermann bringen …“, meinte er vorsichtig.

Sie nickte und in ihren Augen blitzte es triumphierend.

Alex seufzte. Er wusste sowieso nicht, wo er sonst hingehen sollte. Außerdem schuldete er ihr seine Hilfe. „Okay, ich bleibe eine Weile“, sagte er schließlich.

„Toll.“

Es war ein angenehmes Gefühl, wieder einen Mann im Haus zu haben. Genaugenommen war Alex nicht im Haus, aber ihn in der Hütte zu wissen, war fast genauso gut.

Eigentlich hatte sie sich hier draußen nie wirklich ängstlich gefühlt, aber eine gewisse Unsicherheit war immer vorhanden. Die Sehnsucht, nachts einen Mann im Haus zu haben. Jemanden, der ihre Festung beschützte. Jemanden, der am Fenster auf sie wartete, wenn sie mal später nach Hause kam.

Im Grunde war es lächerlich, aber so war es nun einmal. Sie war eine Frau, und bei aller Selbstständigkeit gefiel es ihr, beschützt und umsorgt zu werden.

Das Telefon klingelte. Ihr Blick fiel auf die Rufnummernanzeige.

Na toll.

Seit Alex’ Ankunft war Lisa ihrer Schwester aus dem Weg gegangen. Anna war jedoch kein Mensch, der es sich gefallen ließ, dass man ihr aus dem Weg ging. Ihre Mutter war da weitaus weniger penetrant, aber ihre Schwester konnte manchmal richtig unangenehm werden.

„Hey, Anna.“ Sie meldete sich in ihrer freundlichsten Stimme. Wenn sie jetzt nicht mit ihr sprach, würde Anna vermutlich vor Einbruch der Dunkelheit vorbeikommen, um nach ihr zu sehen.

„Hallo, Fremde.“

Lisa fiel sofort auf, dass ihre Schwester besorgt klang. „Tut mir leid. Ich war damit beschäftigt, die neuen Rezepte zu sortieren.“

„Du hast aber immer noch so etwas wie ein Privatleben, oder?“, entgegnete Anna.

Lisa sah aus dem Fenster nach draußen, wo Alex gerade mit dem Fenster der Hütte beschäftigt war, das er gewaltsam zu öffnen versuchte.

Zählte seine Anwesenheit als Teil ihres Privatlebens?

„Hmmm, na klar. Ich will nur, dass das neue Buch wirklich gut wird.“

„Deine Bücher sind immer gut“, entgegnete ihre Schwester wie aus der Pistole geschossen.

Diese Vertrauensbekundung tat gut.

„Wie wär’s, wenn du mit ein paar der anderen Mädels am Samstag zu einer Probeverkostung vorbeikommst?“, fragte Lisa.

„Liebend gerne. Soll ich die Organisation übernehmen?“

„Klingt gut.“

„Nur die übliche Bagage?“, fragte Anna.

Lisa fand, dass fünf Frauen mehr als genug waren. „Ja. Und Mom.“

Sie konnte hören, wie Anna ihren Terminkalender durchblätterte. Das Mädel hatte stets den Zeitplan anderer Leute im Blick.

„Mom ist auf einem Wohltätigkeitsessen. Ich sage ihr aber, dass du sie eingeladen hast.“

Lisa klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr und wusch sich die Hände. Ihr Blick blieb dabei fest auf Alex gerichtet.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“

Lisa nickte.

„Ich kann nicht hören, wenn du nickst“, meinte ihre Schwester trocken.

Verdammt! Fast könnte man annehmen, dass ihre Schwester versteckte Kameras in ihrem Haus installiert hatte.

„Mir geht’s gut. Ich muss hier nur etwas Ordnung schaffen.“

„Soll ich vorbeikommen?“

„Nein!“, rief sie. „Ich meine, nein, mir geht’s gut.“ Die Stille am anderen Ende der Leitung verriet, dass sie Anna nicht überzeugt hatte. „Komm einfach am Samstag mit den Mädels vorbei. Ich brauch noch etwas Zeit, danach reden wir, okay?“

Lisa fühlte sich schuldig, als sie sich verabschiedete und dann auflegte. Normalerweise teilte sie alles mit ihrer Schwester. Und nun hatte sie eine wirklich große Sache am Laufen, die noch einige Wochen andauern würde, ohne sie auch nur beiläufig zu erwähnen.

Draußen marschierte Lilly auf und ab, Boston im Schlepptau. In der Hand hielt sie einen großen Ast, den Alex kurz zuvor vom Baum geschnitten hatte.

Lisa zwang sich dazu, den Blick abzuwenden und sich stattdessen auf Mengenangaben und Zutaten zu konzentrieren.

Sie konnte nicht leugnen, dass ihr gefiel, was sie da draußen sah. Aber welcher Frau würde es anders gehen?

Alex kam in die Küche und trug Lilly dabei huckepack. Zunächst hatte er befürchtet, dass ihn der Hund angreifen würde, wenn er sie hochhob. Doch nach ein paar freundlichen Worten und dem vergeblichen Versuch, das weinende Kind zu beruhigen, hatte er es schließlich ins Haus getragen.

Lillys Weinen klang jetzt abgehackt. Es war ein eigenartiges Gefühl, sie so nah bei sich zu haben, aber ihm war kaum eine Wahl geblieben. Es war sehr lange her, seit er ein menschliches Wesen zuletzt so gehalten hatte.

In der Küche bewegte sich Lisa im Takt der Musik, die aus den Lautsprechern der kleinen Anlage kam. Ihre Haare waren mit einem getupften Tuch im Nacken zusammengebunden und auf ihrer Wange klebte an mehreren Stellen etwas Mehl.

Ihre rosafarbene Schürze war so gebunden, dass sie Lisas Top leicht nach unten zog. Das verunsicherte Alex, da nun mehr von ihrem Ausschnitt zu sehen war, als sie normalerweise gezeigt hätte.

Die Musik war so laut, dass sie die beiden noch immer nicht bemerkt hatte.

Alex räusperte sich, zunächst leise, dann noch einmal lauter.

Während ihre Lippen sich noch zum Text der Musik bewegten, hob sie den Kopf. Ihr Mund blieb sperrangelweit stehen, dann schloss sie ihn hastig.

Lillys Weinen wurde nun wieder lauter und Alex fiel keine andere Lösung mehr ein, als sie von sich weg zu halten, bis Lisa sie ihm abnahm und in die Arme schloss.

„Baby, was ist denn passiert?“, fragte Lisa und überschüttete den Kopf ihrer Tochter mit Küssen, während sie hinter sich griff und die Musik abdrehte.

„Schhh. Ist doch alles gut. Du hast dich nur ein wenig erschrocken.“ Sie drückte ihre Tochter fest an sich.

Alex konnte seinen Blick nicht von ihnen wenden. Plötzlich war in seinem Innern eine Art Druck, wie er ihn lange nicht mehr verspürt hatte.

„Alex soll mir erzählen, was los ist, während du wieder zu Atem kommst.“

Alex zuckte zusammen. Auf Kinder aufzupassen, war nicht gerade sein Spezialgebiet. Dieses Exemplar hatte er zwar in sein Herz geschlossen, dennoch mangelte es ihm an der nötigen Erfahrung. „Tut mir leid, sie … ähm … ist vom Baum gefallen. Ich hätte besser aufpassen sollen. Ich …“

Lisa zog die Augenbrauen in die Höhe und winkte mit ihrer freien Hand ab. „Sie ist ein Kind, Alex. Und zwar mein Kind. Wenn irgendjemand ein schlechtes Gewissen haben sollte, dann ich.“

Ihm fiel ein Stein vom Herzen – wenn auch nur ein kleiner.

„Ich habe …“

„Schon gut.“ Sie setzte Lilly ab und ging neben ihr in die Hocke. „Wenn Sie Kinder in Watte packen, nehmen Sie ihnen jeglichen Spaß. Dass man mal hinfällt und sich wehtut, gehört doch zum Kindsein dazu.“

Ein wenig Sorgen machte sie sich zwar schon, als sie Lilly untersuchte, wütend war sie jedoch nicht. „Alles in Ordnung, mein Schatz. Geh am besten für eine Weile zum Spielen in dein Zimmer. Treib’s aber nicht zu wild, okay?“

Lilly ließ noch immer den einen oder anderen Schniefer vernehmen, doch Lisa tätschelte ihr lediglich den Kopf und gab ihr einen flüchtigen Kuss.

„Tut mir so leid“, murmelte Alex.

„Alex! Zum letzten Mal: Es war nicht Ihre Schuld. Oder sehe ich aus, als sei ich sauer auf Sie?“

Er musterte sie eindringlich. Besorgt hatte sie schon einmal ausgesehen, und beunruhigt, aber wütend noch nicht.

Offensichtlich unterschied sie sich da von den meisten anderen Müttern.

„Sie kommen gerade recht, um etwas zu probieren“, wechselte sie das Thema.

Was meinte sie wohl damit? Er folgte ihr, dann nahm er am Küchentisch Platz. Auf demselben Stuhl, auf dem er bei seiner Ankunft gesessen hatte.

„Ich würde gerne wissen, wie Sie diese Pastete finden.“

Ach so, das klang nicht allzu schwer.

Lisa strich ihre Schürze glatt und wischte sich die Wange ab. Beinahe enttäuscht nahm er zur Kenntnis, wie die Mehlflecken verschwanden.

„Wie heißt Ihr Buch eigentlich?“, fragte er neugierig.

Sie drehte sich zu ihm um und präsentierte ihm ihr strahlendstes Lächeln. „Ich dachte eigentlich an Lisas Leckereien, aber mein Verleger hat wahrscheinlich andere Pläne.“

„Ärgert Sie das denn gar nicht?“

Sie beugte sich gerade über ein Servierblech, von dem sie ein kleines Gebäckstück auf ihren Finger nahm.

„Was meinen Sie?“

„Dass man Sie den Titel nicht selbst auswählen lässt.“

Sie hob eine Augenbraue, während sie das Gebäck an seinen Mund führte.

Wie konnte er sich dem verweigern? Was sie ihm da entgegenhielt, roch vorzüglich.

„Die wissen schon, wie man Bücher verkauft. Ich weiß nur, wie man sie schreibt. Gut?“

Er schluckte. Hervorragend. „Gut“, stimmte er zu.

„Nur gut?“, bohrte sie nach.

Das machte ihn schon wieder nervös. Hatte sie nicht genau das gefragt? „Toll?“, versuchte er es erneut.

„Hmmm. Ausgezeichnet wäre mir am liebsten.“ Sie drehte sich kurz von ihm weg, dann kam sie zurück. „Versuchen Sie das mal.“

Wieder schob sie ihm etwas in den Mund.

Oh ja. „Unglaublich.“

„Gut.“ Sie sah ihn triumphierend an.

Er war noch immer verwirrt, versuchte aber, sich auf das Essen zu konzentrieren, um sie nicht dauernd anzustarren. Das hätte gefährlich werden können. Äußerst gefährlich.

„Und das hier?“

Dieses Mal hielt sie einen Löffel mit einer klebrigen Flüssigkeit in der Hand. Sie sah verlockend aus. Lecker. Genau wie sie.

„Zu guter Letzt – meine neue Schokoglasur.“

Sie beugte sich zu ihm. So nah, dass er dem Drang, vor ihr zurückzuweichen, widerstehen musste. Ihre Blicke tasteten ihn ab, und diese Verbindung zwischen ihnen ängstigte ihn zutiefst.

Er atmete tief durch die Nase ein und versuchte, das leichte Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Er näherte sich dem Löffel und kostete, obwohl sein Gesicht dem ihren dabei viel zu nahe kam.

„Gut?“

Fast konnte er ihren Atem auf seiner Haut spüren. Oder war das nur Einbildung? Er hob den Blick ein wenig, ohne dass sie zurückwich. Einen Moment lang fragte er sich, ob sie das jemals tun würde.

„Ausgezeichnet.“ So allmählich lernte er die Regeln dieses Spiels. Sein Lob musste mindestens eine Stufe über ihrer Vorgabe liegen.

„Okay, das war’s für heute“, sagte sie munter.

Schnell ging sie zu ihm auf Abstand, als habe sie sich verbrannt. Und das Kribbeln auf seiner eigenen Haut vermittelte ihm dasselbe Gefühl.

Sein Blick wanderte durch die Küche auf die sich stapelnden Schalen, die Teller in der Spüle und die Zutaten, die überall verstreut herumlagen. Eigentlich wollte er flüchten, raus aus dieser vibrierenden Enge, doch seine guten Manieren triumphierten über seine Gefühle.

„Brauchen Sie Hilfe beim Aufräumen?“, fragte er zögernd.

Sie grinste ihn schelmisch an. „Brauchen Sie Hilfe bei der Hütte?“

Alex signalisierte sein Einverständnis, doch in seinem Innern bäumte sich alles dagegen auf.

„Prima, dann lass ich das bis später liegen“, gab sie gut gelaunt zurück.

Zwei Stunden später arbeitete Alex noch immer an der Außenseite der Hütte, während Lisa im Innern herumwerkelte. Sie fuhr mit einem Staubwedel über alle Oberflächen, dann schüttelte sie das Bett auf und bezog es mit den frischen Laken, die sie eigens mitgebracht hatte.

Es gefiel ihr, ihn hier zu haben. Je mehr Zeit verging, umso überzeugter war sie, das Richtige getan zu haben, als sie ihn gebeten hatte, zu bleiben. Und das lag nicht nur an seinem Einfluss auf Lilly. Auch auf sie hatte er einen guten Einfluss.

Draußen kehrte auf einmal Ruhe ein, und Alex erschien in der Tür. Seine Erscheinung füllte fast den kompletten Türrahmen aus.

„Wie geht’s denn da draußen voran?“, fragte sie ihn. Sie bemerkte einen Schweißtropfen, der sich seinen Weg über seine Stirn bahnte und musste schlucken. Er war wirklich … nun ja, ausgesprochen männlich.

Die Schmetterlinge in ihrem Bauch entfachten einen wahren Orkan.

„Wird schon.“

Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf eine Wasserflasche. Er nahm ihr stummes Angebot an.

„Glauben Sie, dass es noch lange dauert, bis dieser Ort halbwegs bewohnbar ist?“

Er schüttelte den Kopf.

Wäre sie jahrelang im Krieg gewesen und hätte zuvor mehrere Jahre in Armeebunkern verbracht, dann hätte sie die Hütte wahrscheinlich auch nicht so übel gefunden.

Lisa schwang noch einmal den Staubwedel, dann hielt sie inne und sah Alex eindringlich an. „Alex, ich würde gerne wissen … Haben Sie wirklich gesehen … wie … wie William gestorben ist?“

Er verkrampfte sichtbar die Schulter. Gerade hatte er noch getrunken, als sei er vor Kurzem aus der Wüste gekommen. Jetzt setzte er die Flasche ab und verharrte in einer regelrechten Todesstarre.

Es stimmte also.

Ihr war egal, ob er bereit war, ihr davon zu erzählen. Sie wusste bereits, dass William an mehreren Schussverletzungen gestorben war. Allerdings interessierte sie sich sehr für das Wie. Das Warum. Was genau war da drüben passiert? Wer hatte geschossen? Und aus welchem Grund?

Alex ließ sich in den Sessel fallen, der in der Ecke stand. Eine Staubwolke stieg aus dem Polster auf, doch das schien ihm egal zu sein.

Lisa wusste, dass es falsch gewesen war, so früh schon danach zu fragen. Doch es war zu spät, um es zurückzunehmen. Die Frage stand bereits zwischen ihnen im Raum.

„Wir …“ Er machte eine lange Pause, dann fuhr er fort: „Wir kamen unter Beschuss.“

Jetzt nahm Lisa ebenfalls Platz. Sie entschied sich für das frisch gemachte Bett.

„Man geht davon aus, dass uns ein bis zwei Männer aufgelauert haben. Scharfschützen.“

Der Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben. All die Gefühle, die mit den Erinnerungen wieder an die Oberfläche drängten. Doch sie brauchte einfach Gewissheit.

„Tut mir leid, ich kann nicht darüber sprechen.“ Alex sprang auf und stürzte zur Tür hinaus.

Lisa seufzte. Sie hätte ihn nicht bedrängen sollen. Es war zu früh, ihm solche Fragen zu stellen. Dazu noch über Dinge, die längst keine Rolle mehr spielten. Zu ändern waren sie ohnehin nicht mehr.

Alex lag auf dem Bett, das in der Tat zu kurz für ihn war. Wenn er jedoch die Beine anwinkelte, passte er gut hinein.

Davon abgesehen war es nicht das Bett, das ihn wach hielt. Es war Lisa.

Jedes Mal wenn er die Augen schloss, sah er sie. Hin und wieder war auch Lilly dabei. Aber Lisa sah er jedes Mal.

Manchmal sogar, wenn er die Augen geöffnet hatte.

Die Situation war aussichtslos.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...

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