Bianca Extra Band 90

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DER COP UNTERM MISTELZWEIG von MARIE FERRARELLA

Kurz vor Weihnachten verpasst er ihr einen Strafzettel? Miranda sollte sauer auf den Gesetzeshüter sein. Aber als sie die tiefe Traurigkeit in seinen Augen sieht, hat sie nur noch einen Wunsch: den attraktiven Cop Colin Kirby persönlich vom Fest der Liebe zu überzeugen …

LIEBE, SCHNEE - RISKANTES VERLANGEN? von LAUREL GREER

Sportlich und risikobereit war Caleb, bis eine Lawine seine Hand und damit seine Karriere als Chirurg zerstörte. Weshalb er gegen die heißen Gefühle ankämpft, die die schöne Garnet in ihm weckt! Sie ist einfach perfekt - aber leider nur für den Mann, der er früher einmal war …

EIN WEIHNACHTSENGEL NAMENS MICKIE von CINDY KIRK

Drei Liebesbeziehungen gingen schief - deshalb glaubt Derek nicht mehr an Romantik. Bis er die bezaubernde Rachel trifft. Die junge Witwe und Pflegemutter der süßen Mickie hat so viel ertragen und zweifelt trotzdem kein bisschen an der Liebe. Soll Derek es ein viertes Mal wagen?

WAS WÜNSCHT SICH BLOSS EIN MILLIARDÄR? von ROCHELLE ALERS

Ein arroganter Milliardär ist das Letzte, was die alleinerziehende Mya braucht. Aber leider ist Giles Wainwright der leibliche Daddy ihrer geliebten Adoptivtochter Lily und setzt alles daran, die Kleine zu gewinnen … Was dann doch etwas mit Myas Herzen macht: Sie verliert es!


  • Erscheinungstag 17.11.2020
  • Bandnummer 90
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748166
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marie Ferrarella, Laurel Greer, Cindy Kirk, Rochelle Alers

BIANCA EXTRA BAND 90

MARIE FERRARELLA

Der Cop unterm Mistelzweig

Weihnachten würde Colin am liebsten ausfallen lassen. Es erinnert ihn an seinen größten Verlust. Doch dieses Jahr ist alles anders. Denn er begegnet der wunderschönen Miranda – unterm Mistelzweig!

LAUREL GREER

Liebe, Schnee – riskantes Verlangen?

Heiß knistert es, als Garnet mit Dr. Caleb Matsuda die Praxis festlich schmückt. Doch warum erstarrt er bloß jedes Mal zu Eis, wenn die Rede auf ihren riskanten Rettungsjob bei der Bergwacht kommt?

CINDY KIRK

Ein Weihnachtsengel namens Mickie

Die zehnjährige Mickie hat einen Weihnachtswunsch: eine Familie! Aber dafür braucht ihre Pflegemutter einen Mann. Jemanden mit Humor, der Kinder mag – wie dieser Derek, der ihre Mom so lieb anschaut?

ROCHELLE ALERS

Was wünscht sich bloß ein Milliardär?

„Heirate mich!“ Aber kaum macht Giles ihr den Antrag, sieht er die Zweifel in Myas Blick. Glaubt sie etwa, er will so an das Sorgerecht für ihre kleine Adoptivtochter kommen – sein leibliches Kind?

1. KAPITEL

„Die Weihnachtszeit fängt auch jedes Jahr früher an“, dachte Miranda Steele, als sie auf der Haupteinkaufsstraße im Stau stand und die vielen, mit Einkaufstüten vollbepackten Passanten beobachtete.

Nicht dass sie das stören würde. Weihnachten war eigentlich ihre liebste Zeit im Jahr. Wenn andere nörgelten, dass die Geschäfte schon im Oktober festlich geschmückt wurden, um den Umsatz zu steigern, sah sie darin die Möglichkeit, länger in Weihnachtsstimmung zu sein.

In Momenten wie diesen wurde aber selbst ihr die damit verbundene Hektik zu viel. Sie kam gerade von einer Zehn-Stunden-Schicht im Krankenhaus, zu der sie auch noch eine Stunde früher erschienen war, um die Kinderkrebsstation, auf der sie arbeitete, weihnachtlich zu dekorieren. Das war ihr besonders wichtig, weil sie wusste, dass es für einige der Kinder das letzte Weihnachtsfest sein würde.

Doch auch wenn diese Tatsache traurig und manchmal schwer zu verdauen war, konzentrierte sich Miranda stets auf das Positive. In diesem Fall war das, den Kindern und ihren Familien das beste Weihnachten zu bescheren, das unter diesen Umständen möglich war.

Jeder andere wäre nach einem solchen Tag auf dem Heimweg und würde sich auf ein wohlverdientes, ausgiebiges Schaumbad freuen. Doch dafür hatte Miranda keine Zeit, auch wenn sie sich danach sehnte. Sie musste noch zu Lilys Geburtstagsfeier.

Lily Hayden wurde heute acht. Sie war eines der vielen Kinder, die mit ihren Müttern im Frauenhaus von Bedford lebten, in dem Miranda vier Tage die Woche ehrenamtlich aushalf.

Die restlichen zwei oder drei Feierabende verbracht sie im örtlichen Tierheim, wo sie sich um herrenlose Hunde und Katzen – und manchmal Kaninchen – kümmerte. Sie hatte eben ein Herz für alle Ausgestoßenen und Heimatlosen, ob sie nun zwei oder vier Beine hatten.

Für sie war ihr Tag allerdings einfach nicht lang genug, um all diesen armen Wesen zu helfen. Nervös blickte sie auf die Uhr am Armaturenbrett ihres Autos. Auf keinen Fall durfte sie zu spät kommen.

„Wenn ich nicht rechtzeitig mit diesem Kuchen auftauche, wird Lily denken, dass ich sie völlig vergessen habe. Genau wie ihre Mom“, murmelte Miranda.

Lilys Mutter hatte vor zwei Tagen ihre Tochter im Frauenhaus zurückgelassen, um auf Arbeitssuche zu gehen. Keiner hatte seitdem wieder etwas von ihr gehört. Und so langsam machte Miranda sich Sorgen, dass Gina Hayden einfach alles zu viel geworden war und sie sich abgesetzt hatte mit der Ausrede, ihr kleines Mädchen wäre ohne sie besser dran.

Als der Stau sich endlich auflöste, trat Miranda das Gaspedal durch und bog an der nächsten Ecke scharf rechts ab, wobei sie mit der rechten Hand die Kuchenschachtel auf dem Beifahrersitz festhielt. Da sie nur daran dachte, nicht zu spät zum Frauenhaus zu kommen, bemerkte sie die rot-blauen Lichtsignale hinter ihr nicht, bis sie den schrillen Ton der Sirene hörte und ihr der Schreck in die Glieder fuhr.

Verflixt, wieso ausgerechnet heute? dachte sie, als sie ergeben rechts ranfuhr. Ihre rebellische Ader ließ sie kurz mit dem Gedanken spielen, erneut Gas zu geben und der Polizeistreife einfach davonzurasen.

Allerdings saß der Hüter des Gesetzes auf einem schweren Motorrad, und ihr Auto war fünfzehn Jahre alt und nicht in Bestform. Eine Verfolgungsjagd würde sie damit eher nicht für sich entscheiden.

Also seufzte sie nur und wartete brav auf ihren Strafzettel.

Das hier war nicht Colins übliche Streife. Er musste in den nächsten Wochen einen Kollegen vertreten, aber das war ihm egal. Für Colin war eine Route so gut wie jede andere. Immerhin wurde er in Bedford von den Leuten höchstens mal mit bösen Blicken abgeschossen, statt wie in seiner Zeit in Los Angeles oder Afghanistan tatsächlich unter Beschuss zu geraten.

Hier bestand die größte Gefahr darin, vor Langeweile im Dienst einzuschlafen. Allerdings war ihm nach all dem, was er in den letzten zehn Jahren durchgemacht hatte, ein wenig Langeweile durchaus willkommen. Zumindest für eine gewisse Zeit.

Was er aber immer noch nicht mochte, war, sich am Ende einer Unterführung zu verstecken und darauf zu warten, einem arglosen Mitbürger einen Strafzettel verpassen zu können.

Doch so waren hier die Regeln, und im Augenblick ließ sich daran nichts ändern. Vor allem war er wegen Tante Lily in Bedford, bei der er vieles gutzumachen hatte. Sie hatte ihm ein Zuhause gegeben, als ihn alle anderen verlassen hatten, und statt sich dankbar zu zeigen, war er abweisend gewesen und hatte sie vor den Kopf gestoßen. Und das war nicht ihre Schuld gewesen, sondern ganz allein seine.

Allerdings hatte er jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er musste sich um eine Temposünderin kümmern, die noch dazu so unaufmerksam gewesen war, dass sie Colin erst bemerkt hatte, als er die Sirene einschaltete.

Wenigstens war sie keine der Verrückten, die dachten, sie könne sich mit ihm eine Verfolgungsjagd liefern, denn sie fuhr rechts ran.

Auf dem Weg zu ihr wappnete sich Colin für das, was nun unweigerlich folgte. Entweder würde die Fahrerin in Tränen ausbrechen und versuchen, sich um einen Strafzettel zu drücken, indem sie an seine ritterliche Ader appellierte, oder sie würde ihn ankeifen, ob er nichts Besseres zu tun hätte, als brave Bürger wegen minimaler Geschwindigkeitsüberschreitungen zu belästigen, wenn so viele echte Verbrecher frei herumliefen.

Nachdem er das Motorrad hinter dem altersschwachen Wagen abgestellt hatte, ging er zum Fenster an der Beifahrerseite, weil viel Verkehr herrschte und er sich nicht über den Haufen fahren lassen wollte.

Er klopfte an die Scheibe und bedeutete der Fahrerin, sie herunterzulassen. Sie wirkte nervös. Aber da hätte sie eben über die Konsequenzen nachdenken sollen, bevor sie viel zu schnell die Hauptstraße entlanggebrettert war.

„Sie wissen, warum ich Sie angehalten habe?“, fragte er barsch.

Die Frau holte Luft, bevor sie antwortete: „Weil ich zu schnell gefahren bin.“

Etwas überrascht über ihre einfache Antwort, wartete Colin auf den Rest. Doch das war alles gewesen. Sie versuchte nicht, sich herauszureden oder ihn zu beeinflussen.

Das war ungewöhnlich. Normalerweise waren die Menschen hier nicht so gelassen und höflich. Deshalb blieb er wachsam, falls sich ihre Haltung noch ändern sollte.

„Genau“, sagte er. „Sie sind zu schnell gefahren. Gibt es einen speziellen Grund dafür?“

Natürlich gab er ihr damit die perfekte Vorlage, um doch noch mit einer tränenreichen Rührstory aufzuwarten – dass jemand Wichtiges in ihrem Leben gerade einen Herzinfarkt gehabt hatte und sie auf dem Weg ins Krankenhaus war, zum Beispiel. All das hatte er schon Hunderte Male gehört. Manchmal wurden die Ausreden auch noch kreativer.

Zugegeben, er war schon ein wenig neugierig, was diese Fahrerin ihm auftischen würde.

„Im Frauenhaus wartet ein Mädchen auf mich. Die Kleine hat heute Geburtstag, und ich bringe ihr einen Kuchen. Die Party fängt in zehn Minuten an, und ich konnte bei der Arbeit erst später weg, als ich dachte. Ich arbeite im Krankenhaus, und wir hatten einen Notfall“, setzte sie als Erklärung nach.

„Wo denn da?“, fragte Colin, gespannt darauf, wie weit sie ihre Geschichte ausschmücken würde.

„Auf der Kinderkrebsstation.“

Das hätte er sich denken können. „Ach, wirklich?“, fragte er, ohne seinen Zweifel zu verbergen.

Doch das schien die Frau nicht zu beeindrucken. Sie zupfte an einem Band, das sie um den Hals trug, und zeigte ihm ihren Dienstausweis. Tatsächlich, vom Krankenhaus. Jetzt fiel ihm auch auf, dass sie noch immer Schwesternkleidung trug.

„Ja, wirklich, Officer“, erwiderte sie höflich. „Und jetzt schreiben Sie mir bitte den Strafzettel, damit ich weiterfahren kann. Ich kann es noch immer pünktlich zur Party schaffen. Ich will nicht, dass Lily denkt, ich hätte sie vergessen. Vor allem heute nicht.“

Er hatte seinen Block bereits gezückt, doch der Name ließ ihn innehalten. „Lily?“, fragte er.

„Ja, so heißt sie. Lily.“

Bemüht, unbeeindruckt auszusehen, blickte Colin die Frau prüfend an und überlegte, ob ihre Geschichte doch stimmte oder ob sie versuchte, ihn reinzulegen. Aber von seiner Tante konnte sie ja wohl wirklich nichts wissen.

„Meine Tante heißt auch Lily“, erklärte er und beobachtete genau ihren Gesichtsausdruck, um zu sehen, ob sie Märchen erzählte.

„Das ist ein hübscher Name“, sagte die Frau, dann wartete sie offenbar wieder darauf, dass er das Knöllchen ausstellte.

Colin zögerte und überdachte die Situation. Und dann tat er etwas, was er normalerweise nie tat. Was er tatsächlich noch nie getan hatte. Er klappte den Block zu.

„Na gut, ich lasse Sie mit einer mündlichen Verwarnung davonkommen“, sagte er. „Passen Sie auf sich auf.“

Damit drehte er sich auf dem Absatz um und ging zurück zu seinem Motorrad.

Eigentlich war die Sache damit für ihn erledigt. Doch er war gerade wieder aufgestiegen, als er sah, dass sich die Autotür öffnete und die Frau aus ihrem Wagen stieg.

„Officer?“, rief sie ihm zu.

Was sollte das jetzt? Er seufzte und stieg wieder von der Maschine.

„Ist noch was, Miss?“, fragte er, nicht besonders um Freundlichkeit bemüht.

Sie trat auf ihn zu und versuchte, ihm durch sein Helmvisier in die Augen zu blicken. Mut hatte sie, das musste man ihr lassen.

„Ich wollte nur Danke sagen.“

Colin gab einen unbestimmten Laut von sich, weil „gern geschehen“ seiner Meinung nach nicht unbedingt zur Situation passte. Er hatte es nicht gern getan, er hatte nur einem Impuls nachgegeben. Und im Nachhinein betrachtet, hätte er nicht mal sagen können, woher der gekommen war.

„Haben Sie eine Karte?“, fragte die Frau.

„Eine Karte?“ Jetzt wusste er gar nicht mehr, was los war.

„Ja, so was wie eine Visitenkarte. Die Polizeibehörde druckt doch so was für ihre Beamten, oder?“

Anstatt ihre Frage zu beantworten oder eine der Karten hervorzuziehen, die er tatsächlich in der Tasche hatte, fragte er: „Wozu brauchen Sie meine Karte? Ich habe nichts getan, wofür Sie mich melden könnten.“

„Ich will Sie doch nicht melden“, erwiderte die Frau überraschend freundlich. „Ich möchte Sie nur gern anrufen können.“

Ach, das war es, dachte Colin. Ein Groupie. Es gab eine Menge Frauen, die auf Männer in Uniform standen. Einige konnten dabei recht lästig werden.

Er stieg wieder auf sein Motorrad. „Das ist keine gute Idee“, sagte er so schroff, dass sie die Botschaft hoffentlich verstand.

„Aber die Kinder im Krankenhaus würden sich so darüber freuen, einen echten Motorradpolizisten kennenzulernen“, sagte die Frau unbeirrt.

Das kam nun wirklich unerwartet. Seit er in Bedford lebte, hatte er nichts mehr mit Kindern zu tun. Und die, denen er in Los Angeles in den Problemvierteln begegnet war, sahen Polizisten als Feinde und flüchteten bei ihrem Anblick. Wenn sie nicht gerade mit Steinen nach ihnen warfen.

„Hören Sie, ich glaube nicht …“

Weiter kam er gar nicht, denn sie redete munter weiter. „Viele der Kinder haben das Krankenhaus schon seit Monaten nicht verlassen können. Es würde sie unglaublich aufbauen, Sie zu treffen.“

Was für eine Masche war das denn? Irgendwas war hier im Busch, aber Colin würde dieser Frau nicht in die Falle gehen.

„Das bezweifle ich“, sagte er kühl und ließ den Motor aufheulen.

„Ich nicht.“ Diese Frau war wirklich hartnäckig. Und sie redete immer noch. „Warum kommen Sie nicht einfach im Krankenhaus vorbei, und wir sehen, wer von uns beiden recht hat? Ich muss das zwar noch mit der Oberschwester abklären, aber sie sagt bestimmt nicht Nein.“

„Aber ich sage Nein.“ Und falls sie das immer noch nicht begriff, fügte er etwas lauter hinzu: „Nein!“

„Aber Officer …“ Sie blickte mit großen Augen zu ihm auf. „Es ist doch Weihnachten!“

Weihnachten? „Wir haben November“, korrigierte er.

„Na gut, bald ist Weihnachten.“

Gab diese Frau niemals auf? So langsam nervte sie.

„Hören Sie, warum steigen Sie nicht einfach wieder in Ihren Wagen und fahren weiter, bevor ich es mir anders überlege mit dem Strafzettel? Und hatten Sie nicht irgendwas von einer Geburtstagsparty für ein kleines Mädchen namens Lily erzählt?“

„Ach du liebe Güte! Lily!“, rief Miranda erschrocken aus. Sie war so begeistert von ihrer Idee gewesen, dass sie ihre aktuelle Mission darüber ganz vergessen hatte. „Sie wird wirklich traurig sein, wenn ich nicht rechtzeitig auftauche.“

Sie drehte auf dem Absatz um und hastete zu ihrem Auto, dessen Motor sie schon anließ, bevor sie die Tür ganz geschlossen hatte.

„Denken Sie an das Tempolimit!“, rief der Motorradpolizist ihr nach.

Mittlerweile hatte der Verkehr sich beruhigt, und Miranda gab sich große Mühe, nicht zu sehr aufs Gas zu treten. Der Officer würde sie bestimmt beobachten, also fädelte sie sich vorschriftsmäßig in den Verkehr ein und achtete darauf, dass die Tachonadel im grünen Bereich blieb.

Auch wenn sie in Eile war, machte sie sich im Geiste eine Notiz, Namen und Nummer des Polizisten, der seine Karte nicht rausrücken wollte, herauszufinden. Hier war das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Alle Ampeln waren auf Grün geschaltet, und so schaffte sie es mit nur fünfzehn Minuten Verspätung, das Frauenhaus zu erreichen. Zum Glück fand sie gleich einen Parkplatz vor der Tür, griff nach der Kuchenschachtel und ihrer übergroßen Handtasche und eilte durch den Haupteingang – wo sie fast mit dem blonden kleinen Mädchen zusammenstieß, das hier auf sie gewartet hatte.

„Du bist da!“, rief Lily überglücklich.

„Natürlich bin ich da“, erwiderte Miranda und küsste Lily auf den Scheitel. „Das habe ich doch versprochen. Ich würde doch deinen Geburtstag nicht verpassen.“

Aufgeregt trippelte Lily neben ihr her und betrachtete die Schachtel. „Ist da ein Kuchen drin?“

„Oh nein, du hast es erraten“, antwortete Miranda und tat so, als wäre sie enttäuscht, dass ihr Geheimnis aufgeflogen war. „Wie bist du denn darauf gekommen?“

„Die Schachtel“, erwiderte Lily ernst, dann brach sie in Kichern aus. „Und ich rieche Kuchen.“

„Nun ja, da du es erraten hat, darfst du den Kuchen wohl auch behalten“, erklärte Miranda.

Lily platzte fast vor Aufregung. „Kann ich ihn tragen?“

„Er ist ziemlich schwer. Wie wäre es, wenn ich ihn in den Speisesaal trage, und du machst dann die Schachtel auf und stellst den Kuchen auf den Tisch?“

„Okay!“ Wie immer war Lily bereit, allem zu folgen, was Miranda vorschlug.

„Was für ein Kuchen ist es?“, fragte sie auf dem Weg, ohne die Schachtel einmal aus den Augen zu lassen.

„Ein Geburtstagskuchen“, erwiderte Miranda todernst.

Wieder kicherte die Kleine fröhlich. „Das weiß ich doch, Dummerchen. Ich meine, was für ein Geburtstagskuchen?“

„Ein leckerer“, spielte Miranda das Spiel weiter.

„Und außerdem?“

„Ein Zitronenkuchen mit Vanilleguss“, verriet Miranda schließlich, als sie die Tür zum Speisesaal erreichten.

Lily machte große Augen. „Aber das ist mein absoluter Lieblingskuchen auf der ganzen Welt!“

„Nein, so ein Zufall! Das habe ich nicht gewusst.“

„Doch, hast du.“

Miranda lächelte dem Kind liebevoll zu. „Ja, ich denke, ich habe es gewusst. Rate mal, was ich noch mitgebracht habe.“

„Kerzen?“, flüsterte Lily hoffnungsvoll.

„Genau. Acht bunte und eine dicke Glückskerze.“

Statt einer Antwort schob Lily einen ihrer dünnen Arme unter Mirandas und umarmte ihn fest. Es versetze Miranda einen Stich ins Herz. Lily war so ein liebes Kind. Andere Kinder hätten sich Spielsachen gewünscht oder teure Videogames und wären nicht halb so aufgeregt gewesen wie Lily, deren größtes Glück ein Geburtstagskuchen war – mit Kerzen.

Jetzt kam auch Amelia Sellers heran, die große, knochige Frau, die das Frauenhaus leitete. Ihr Lächeln war warm und herzlich – und möglicherweise auch ein wenig erleichtert.

„Lily hat sich den ganzen Tag hierauf gefreut“, sagte sie statt einer Begrüßung.

„Ich auch“, versicherte Miranda sowohl der Leiterin als auch Lily, die mit großen bewundernden Augen zu ihr aufblickte.

„Ich habe den Tisch gedeckt“, verkündete Amelia. „Lasst uns anfangen.“

Wie versprochen, durfte Lily die Schachtel öffnen und den Kuchen auf die Platte stellen. Miranda verteilte die Kerzen so, dass Lily sie alle auf einmal würde ausblasen können. Während sie sie anzündete, ließ Amelia die anderen Kinder und Frauen herein.

„Also gut“, sagte sie in die Runde, als alle Kerzen brannten. „Erst singen wir!“

Sie stimmte die ersten Takte von „Happy Birthday“ an, und die kleine Gruppe fiel mehr laut als melodisch begeistert ein. Lily strahlte übers ganze Gesicht.

Nach dem Lied sagte Miranda: „Und jetzt, Lily, wünsch dir was und blas die Kerzen aus. Du darfst den Wunsch aber nicht laut sagen.“

Lily nickte, schloss die Augen und dachte offenbar gründlich nach, was sie sich wünschen würde. Dann blickte sie zu Miranda auf und lächelte, atmete tief ein, beugte sich zum Kuchen vor und blies mit aller Kraft. Die Kerzen flackerten und gingen dann aus.

„Du hast sie alle erwischt“, rief Miranda und klatschte in die Hände. Die anderen Kinder und Erwachsenen schlossen sich dem Beifall an und jubelten.

Miranda spürte, wie jemand an ihrer Schwesternkleidung zupfte. Als sie nach unten blickte, sah sie das erwartungsvolle Gesicht einen kleinen Jungen, der Paul hieß.

„Können wir jetzt den Kuchen auch essen?“, fragte er.

„Aber sicher“, sagte sie „Doch Lily bekommt das erste Stück.“

Sie nahm die neun Kerzen vom Kuchen und legte sie auf eine Serviette, dann schnitt sie ein extra großes Stück für Lily ab. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Lily die Kerzen in die Serviette wickelte und in ihre Jeanstasche steckte. Eine Erinnerung an ihren großen Tag.

„Bitte schön“, sagte Miranda und schob ihr den Teller hin.

„Danke“, sagte Lily und aß den Kuchen dann langsam und genüsslich, während die anderen Kinder ihre Stücke heißhungrig verschlangen.

„Das war der beste Kuchen, den ich je gegessen habe“, erklärte Lily, als sie endlich lange nach den anderen fertig war.

Inzwischen war der Kuchen alle, doch das hatte Miranda erwartet. Sie schob Lily ihren eigenen Teller hin. „Möchtest du noch ein Stück?“

Lily betrachtete das Stück sehnsüchtig, doch sie schüttelte den Kopf. „Das geht nicht.“

„Wieso nicht?“

„Das ist doch dein Stück!“

Gerührt lächelte Miranda ihr zu. Die Kleine war wirklich etwas ganz Besonderes.

„Aber ich habe es extra für dich aufgehoben“, sagte sie. „Ich habe mir nämlich schon gedacht, dass der Kuchen schnell weg ist. Also keine Widerrede, greif zu. Das ist dein Kuchen.“

„Wirklich?“, fragte Lily unsicher.

„Wirklich“, versicherte Miranda. „Ich bin die Erwachsene, du musst tun, was ich sage.“

Strahlend machte sich Lily über ihr zweites Stück her.

Als sie fertig war, räumte Miranda die Teller ab.

Lily umarmte sie fest. „Das war der beste Kuchen der Welt!“

„Das freut mich. Übrigens, ich habe hier noch etwas für dich.“

„Für mich?“, rief Lily überrascht. Offenbar hatte sie nach dem Kuchen nicht noch ein Geschenk erwartet. „Was denn?“

Miranda kramte in ihrer Tasche und holte das Geschenk hervor, das sie heute früh noch vor ihrer Schicht liebevoll eingepackt hatte.

„Mach es doch auf und finde es heraus“, schlug sie vor.

Lily hielt das Päckchen, als könne sie sich nicht entscheiden, das Geschenk auszupacken oder es einfach eine Weile bewundernd anzustarren. Schließlich siegte ihre Neugier und sie löste vorsichtig an einer Stelle den Klebestreifen und schob das Papier zur Seite – dann quietschte sie vor Freude.

„Ein Hund!“

„Na ja, einen echten Hund darfst du hier im Frauenhaus nicht halten, deshalb habe ich dir einen aus Plüsch mitgebracht. Aber eines Tages, wenn du wieder in einem richtigen Haus wohnst, bringe ich dir einen echten“, versprach sie.

Im Tierheim gab es leider so viele herrenlose Hunde, dass sie problemlos genau den richtigen für dieses kleine Mädchen finden würde.

Wieder schlang Lily die Arme um sie und drückte sie fest. „Danke für meinen Kuchen und meine Kerzen und meinen Hund. Danke für alles! Ich wünschte nur, meine Mom wäre auch hier.“

Den Tränen nahe drückte Miranda die Kleine an sich. Wenn sie doch nur mehr für sie tun könnte!

Und dann kam ihr eine Idee. Sie musste den Motorradpolizisten finden. Nicht, um ihn ins Krankenhaus mitzunehmen – das hob sie sich für später auf –, sondern damit er ihr half, herauszufinden, wo Lilys Mutter steckte. Der Mann hatte doch ganz andere Mittel und Wege als sie.

Wenn sie ihn gefunden hatte, musste sie einfach an seinen Gerechtigkeitssinn oder seine Menschlichkeit appellieren – oder an was auch immer ihn dazu bewegen würde, nach Lilys Mutter zu suchen.

Lächelnd strich sie Lily über die blonden Locken. Endlich hatte sie eine Lösung für dieses Problem gefunden.

2. KAPITEL

Den Rest des Abends verbrachte Miranda damit, sich einen Plan zurechtzulegen, wie sie „ihren“ Officer wiederfinden konnte. Es wäre nicht sehr fair, auf dem Revier nach ihm zu fragen – Schwierigkeiten machen wollte sie ihm schließlich nicht. Also beschloss sie, dass es wohl am besten wäre, einfach nach ihm Ausschau zu halten – und zwar dort, wo er sie angehalten hatte.

Als sie am Nachmittag nach ihrer Schicht jedoch unter der Unterführung durchfuhr, war er nicht zu sehen. Irgendwie ja auch logisch. Wenn ein Polizist jeden Tag an derselben Stelle Temposündern auflauerte, würde sich das ziemlich schnell herumsprechen.

Aber weit konnte er auch nicht sein. Wenn er nicht gerade versetzt worden war, gab es sicherlich ein bestimmtes Gebiet, das ihm zugeteilt war, um keinem Kollegen in die Quere zu kommen.

Sie gab sich fünfzehn Minuten für die Suche und fuhr langsam die umliegenden Straßen ab. Natürlich war das Ganze eine ziemlich aussichtslose Aktion – schließlich wusste sie so gut wie nichts über den Mann –, aber was sollte sie sonst machen?

Eine Viertelstunde später seufzte sie enttäuscht. Keine Spur von ihrem Motorradpolizisten. Ihre Zeit war um, und sie wollte nicht schon wieder zu spät zum Frauenhaus kommen. Sie hatte Amelia angerufen und erfahren, dass Lilys Mutter immer noch nicht aufgetaucht war, also würde Lily sehnsüchtig auf ihren Besuch warten. Sie hatte es versprochen.

Also los, sagte sie sich. Vielleicht finde ich ihn morgen.

An der nächsten Ecke bog sie in Richtung Frauenhaus ab. Als sie an die nächste große Kreuzung kam, sprang die Ampel auf Rot, und sie sah aus dem Augenwinkel etwas in der untergehenden Sonne aufblitzen. Ein Helmvisier?

Sie wandte den Kopf in die Richtung. Nein, der silberne Lenker eines Motorrads. Eines Polizeimotorrads. Seines Motorrads.

Obwohl er einen Helm trug und praktisch alle Motorradpolizisten in Bedford gleich aussahen, sagte ihr etwas, dass das hier ihr Officer war – der, der sie gestern erwischt und ihr dann doch keinen Strafzettel gegeben hatte.

Sie spürte es einfach.

Als die Ampel grün wurde, wechselte sie schnell auf die Abbiegespur und bog beherzt in die Straße ab, in der das Motorrad stand. Dann ließ sie die Seitenscheibe herunter und hupte zwei Mal. Als der Officer aufblickte, winkte sie ihm zu und bedeutete ihm, dass er umdrehen und ihr folgen sollte. Und dann konnte sie nur noch hoffen, dass sie sich nicht vertan hatte und es sich wirklich um denselben Polizisten von gestern handelte.

Immer wachsam im Job, spannte Colin die Muskeln an, als er das Hupen hörte. Als er dann auch noch sah, wie jemand ihm aus dem Wagenfenster zuwinkte, unterdrückte er einen Fluch. Wollte die Frau ihn verspotten? Oder war sie auf einen Strafzettel aus?

Doch als er näher hinsah, bemerkte er, dass es sich um dasselbe Auto handelte, das er gestern schon angehalten hatte. Das, hinter dessen Steuer die zierliche Blondine mit den tiefblauen Augen saß. Die, die auf dem Beifahrersitz einen Geburtstagskuchen transportiert hatte.

Was machte sie hier? Wollte sie ihr Glück herausfordern? Dann würde sie eine Überraschung erleben.

Colin fluchte noch einmal leise, wendete die Maschine und folgte ihr. Ein paar Sekunden später stellte er fest, dass sie ihm nicht davonfuhr, sondern am Straßenrand angehalten hatte.

Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er, als er hinter ihrem Wagen parkte.

Aus seinem Training in Los Angeles wusste Colin, dass er sich dem Auto vorsichtig nähern musste. Die ersten Sekunden, nachdem man einen Wagen angehalten hatte, waren die gefährlichsten. In 99 von 100 Fällen war der Fahrer harmlos. Aber diese eine Ausnahme konnte tödlich enden.

Obwohl er sich freiwillig zur Verkehrskontrolle gemeldet hatte, war er sich des Risikos bewusst. Deshalb erlebte er immer einen Adrenalinschub und bekam nur schwer Luft, wenn er sich dem Wagen eines Verkehrssünders näherte.

Wenn er aus einem Polizeiauto heraus arbeiten würde, gäbe es einen Partner, der ihn deckte. Aber er wollte nie wieder einen Partner haben. Sein letzter, Owens, war im Dienst getötet worden, und obwohl Colin nie mit jemandem darüber sprach, belastete ihn das schwer.

Seit diesem tragischen Zwischenfall arbeitete er freiwillig allein. Das bedeutete, dass er auf sich selbst aufpassen musste, aber damit kam er klar.

Doch als er sich jetzt zum Fenster auf der Beifahrerseite hinunterbeugte und in den Wagen spähte, wusste er, dass er gerade einer ganz anderen Gefahr ins Auge blickte.

Heute würde niemand sterben, aber es bestand trotzdem ein Risiko.

Miranda ließ die Seitenscheibe herunter und beugte sich zu ihm hinüber. „Hi. Heute bin ich nicht zu schnell gefahren“, sagte sie und schenkte ihm ein fröhliches Lächeln. Ihre aufgekratzte Art ging ihm ganz schön auf die Nerven.

„Nein, Sie sind nur sehr waghalsig abgebogen.“

„Musste ich doch“, erklärte die Frau. „Wenn ich geradeaus gefahren und erst an der nächsten Ampel abgebogen wäre, hätte ich Sie vielleicht nicht mehr erwischt.“

So viel Glück hatte ich wohl nicht, dachte Colin. Was will diese Frau bloß von mir?

„Und das wäre weshalb genau ein Problem gewesen?“

„Weil ich mit Ihnen reden muss“, erwiderte sie ohne Zögern.

Colin war versucht, sich einfach umzudrehen und wieder auf sein Motorrad zu steigen, aber aus welchem Grund auch immer beschloss er, sich zumindest anzuhören, was sie wollte.

„Sie sind ganz schön hartnäckig, was?“

„Das klingt bei Ihnen, als wäre das was Schlimmes.“

„Von meinem Standpunkt aus ist es das auch“. Er hatte gestern ihren Führerschein gesehen und versuchte sich an den Namen zu erinnern. Wenn er persönlich wurde, bekam sie es vielleicht mit der Angst zu tun. „Was wollen Sie also, Miriam?“

„Miranda“, verbesserte sie fröhlich. Nervtötend fröhlich. „Aber das macht nichts, viele Leute vertun sich am Anfang mit meinem Namen. Er ist gewöhnungsbedürftig.“

„Ich habe nicht vor, mich an ihn zu gewöhnen“, versicherte er ihr. Oder an Sie, fügte er im Stillen hinzu. „Hören Sie, ich habe Sie gestern mit einer Verwarnung davonkommen lassen, aber ich habe das Gefühl, Sie möchten jetzt doch lieber einen Strafzettel.“

Mit dieser Drohung würde er sie bestimmt in die Flucht schlagen.

„Nein. Das war sehr nett von Ihnen gestern. Deshalb habe ich Sie ja heute gesucht.“

Der Fluch der guten Tat? Das ergab doch alles keinen Sinn. Doch dann erinnerte er sich daran, dass sie etwas von einem Besuch in einem Krankenhaus gesagt hatte. Darum ging es also. Irgendwas mit kranken Kindern. Nun ja, er würde sich nicht für irgendetwas einspannen lassen. Wer weiß, auf welche Ideen sie dann noch kam.

„Hören Sie, ich bin nicht der Typ dafür, Kinder im Krankenhaus zu besuchen. Ich hasse Krankenhäuser.“

Statt enttäuscht auszusehen, wie er erwartet hatte, nickte die Frau. „Ja, das geht vielen so.“

Okay, sie war eine Stalkerin. Das musste es sein. Schluss damit. „Na also. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.“

Er wandte sich ab, um zu seinem Motorrad zurückzugehen.

„Aber es geht hier doch gar nicht ums Krankenhaus“, rief sie ihm nach. „Obwohl ich das vielleicht später mal mit Ihnen besprechen möchte.“

Colin blieb stehen. Diese Frau war einer der aufdringlichsten Menschen, der ihm je begegnet war. Und sie war unglaublich dreist.

Dennoch drehte er sich wieder zu ihr um. „Und weshalb sind Sie dann hier?“, fragte er wider besseres Wissen.

Die Frage klang nicht gerade sehr freundlich und auch nicht so, als wolle er wirklich eine Antwort. Doch davon konnte Miranda sich nicht aufhalten lassen.

„Dieses kleine Mädchen, von dem ich Ihnen erzählt habe?“, setzte sie hoffnungsvoll an. Es kam ihr vor, als würde sie auf Zehenspitzen durch ein Minenfeld schreiten, das ihr jeden Moment um die Ohren fliegen konnte. „Das denselben Namen hat wie Ihre Tante“, fügte sie hinzu.

Vielleicht würde das sein Interesse wecken und ihr ein wenig mehr Zeit verschaffen.

„Lily“, wiederholte er schroff. „Was ist mit ihr?“

„Ihre Mutter wird vermisst“, erklärte sie und beobachtete genau seine Reaktion.

Doch sein Gesichtsausdruck veränderte sich kein bisschen. Ausdruckslos blickte er sie an, als hätte sie gerade eine Bemerkung über das Wetter gemacht. So langsam fragte sie sich, was diesem armen Kerl widerfahren war, dass er seine Gefühlsregungen so unter Kontrolle hatte.

„Dann gehen Sie aufs Revier und melden es“, erklärte er. „Das ist jedenfalls der normale Weg.“

„Das hat die Leiterin des Frauenhauses schon gemacht.“

„Fein, dann ist das ja erledigt.“

„Nein, ist es nicht.“ Da der Mann schon wieder auf dem Weg zu seinem Motorrad war, stieg sie schnell aus dem Wagen und trat ihm in den Weg. „Der Beamte, mit dem sie gesprochen hat, sagte, dass Lilys Mutter vielleicht einfach abgehauen ist. Er meinte, dass viele Frauen in ihrer Situation sich überfordert fühlen und einfach gehen. Und dass sie in ein paar Tagen vielleicht zur Vernunft käme und wieder zurückkommt.“

„Na, dann haben Sie doch Ihre Antwort“, sagte er und versuchte, sich an ihr vorbeizudrücken.

Wieder stellte sie sich ihm in den Weg. Seinen finsteren Blick ignorierte sie einfach. So schnell gab sie nicht auf. Das hier war wichtig. Lily verließ sich darauf, dass sie alles tat, was in ihrer Macht stand, um ihre Mutter zu finden.

„Und wenn es nicht so ist?“, fragte sie. „Was, wenn sie nicht freiwillig fortbleibt? Was, wenn ihr etwas passiert ist und sie deshalb nicht ins Frauenhaus zurückgekommen ist?“

„So spielt das Leben“, sagte er und zuckte die Achseln.

Miranda war sprachlos, aber nur kurz. „Im Frauenhaus sitzt ein kleines, achtjähriges Mädchen, das verzweifelt darauf wartet, dass seine Mutter wieder zu ihm zurückkommt“, rief sie aufgebracht. „Soll ich ihr wirklich sagen ‚so spielt das Leben‘?“

Der Polizist legte ihr beide Hände auf die Schultern und schob sie kurzerhand zur Seite, um an sein Motorrad zu gelangen. „Sagen Sie ihr, was immer Sie wollen.“

Miranda hob die Stimme, um die Entfernung und das Geräusch der vorbeifahrenden Autos zu übertönen. „Ich würde ihr aber gern sagen, dass es da diesen netten Officer gibt, der versucht, ihre Mami zu finden.“

Er drehte sich auf dem Absatz um und starrte sie drohend an. „Hören Sie, Lady …“

„Miranda“, warf sie ein.

„Miranda“, wiederholte er. „Sie sind eine Nervensäge, wissen Sie das?“

Doch Miranda versuchte immer, das Beste in jeder Situation zu sehen, auch wenn sie noch so aussichtslos wirkte. „Heißt das, Sie werden nach ihr suchen?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Das heißt, Sie sind eine Nervensäge“, wiederholte er unbeeindruckt.

Was hatte sie schon zu verlieren? Sie trat einen Schritt näher.

„Ich bitte Sie. Ich kann Ihnen eine Beschreibung von Lilys Mutter geben.“ Dann fiel ihr noch etwas Besseres ein. „Und wenn Sie mitkommen, kann ich Ihnen sogar ein Foto von ihr geben. Das wird Ihnen helfen.“

„Helfen würde mir, wenn Sie mir aus dem Weg gehen und mich meinen Job machen lassen würden.“ Was musste er noch tun, um diese Frau loszuwerden?

Das war ihr Stichwort. „Ist es denn nicht Ihr Job, vermisste Menschen zu suchen?“

„Sie gilt nicht als vermisst, wenn sie aus freien Stücken gegangen ist und einfach beschlossen hat, nicht zurückzukommen.“

Er sprach sehr langsam und deutlich, als wäre sie ein wenig schwer von Begriff.

„Das wissen wir aber nicht“, gab sie unbeirrt zurück. „Sie hat das Frauenhaus verlassen, um sich einen Job zu suchen.“

„Das ist das, was sie gesagt hat“, erwiderte der Polizist ungeduldig.

„Nein, das hat sie auch gemacht“, betonte Miranda. „Gina Hayden hat eine achtjährige Tochter. Die würde sie nicht einfach so zurücklassen.“

„Und woher wollen Sie das wissen? Leben Sie in einer Fantasiewelt? Viele Leute sagen das eine und tun das andere. Und viele, die eine Familie haben, gehen einfach und kommen nie zurück.“

Die Frau betrachtete ihn lange, und er dachte schon, sie hätte es endlich aufgegeben. Doch so viel Glück hatte er nicht.

„Wer hat Sie verlassen?“, fragte sie leise.

„Sie, hoffentlich bald“, gab er unfreundlich zurück und wandte sich wieder seinem Motorrad zu.

Als sie sich wieder vor ihn stellte, seufzte er. Das begann sich wie eine Endlosschleife anzufühlen.

„Nein, Sie sprechen nicht von mir“, erklärte sie. „Sie sprechen von jemand anderem. Ich sehe es in Ihren Augen. Jemand hat sie verlassen, wahrscheinlich, als sie noch ein Kind waren. Also wissen Sie, wie sich das anfühlt.“

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. „Hören Sie, Lady …“

„Miranda“, verbesserte sie ihn wieder, was er geflissentlich ignorierte.

„Jetzt nehmen Sie ihr pseudotherapeutisches Gequassel, steigen wieder in Ihren Wagen und fahren weiter, bevor ich Sie wegen Belästigung eines Polizeibeamten verhafte.“

„So sehen Sie das? Ich belästige Sie doch nicht …“

Beinah musste er lachen. „Ach nein? Wie nennen Sie das denn?“

„Ich bitte Sie doch nur, sich ein bisschen anzustrengen und vielleicht ein kleines Mädchen sehr, sehr glücklich zu machen. Wenn ihre Mutter nicht auftaucht, wird das Jugendamt Lilys Vormundschaft übernehmen und sie in eine Pflegefamilie stecken. Das wäre sogar schon passiert, wenn die Leiterin des Frauenhauses mir nicht versprochen hätte, mit der Meldung noch zu warten. Sie hat uns ein wenig Zeit verschafft.“

„Das kann immer noch passieren“, betonte Colin. „Ihre Mutter hat sie verlassen.“

„Nicht, wenn ihr etwas zugestoßen ist und sie gar nicht zurückkommen kann.“

Colin seufzte. Er sollte diese Frau wirklich einfach stehen lassen und wegfahren. Warum hörte er ihr immer noch zu?

„Haben Sie alle Krankenhäuser angerufen?“, fragte er.

Sie nickte. „Jedes einzelne. In keinem wurde jemand aufgenommen, auf den Ginas Beschreibung passt.“

„Ja, dann …“

Sie ließ ihn gar nicht ausreden. „Aber es könnte noch andere Gründe geben, warum sie nicht zurückgekehrt ist“, beharrte sie. „Sie könnte entführt worden sein. Oder Schlimmeres. Ich meine, sie ist in ein Frauenhaus geflüchtet.“

Bittend blickte sie ihn aus ihren großen, dunkelblauen Augen an.

„Ich hätte Ihnen gestern einen Strafzettel geben sollen“, sagte er kopfschüttelnd. Er merkte, wie er schwach wurde. Verdammt.

„Aber das haben Sie nicht getan, weil Sie ein guter Mensch sind.“

„Nein, weil ich wohl nicht ganz bei Sinnen war“, murmelte er. „Na schön.“

Er zog seinen Block aus der Tasche und blätterte zu einer leeren Seite.

Ihre Augen weiteten sich. „Sie geben mir einen Strafzettel?“

„Nein, ich notiere mir die Beschreibung dieser Frau. Die wollten Sie mir doch geben. Wie sieht sie also aus?“

„Wie sagten Sie, ist Ihr Name?“, fragte sie.

„Ich habe meinen Namen nicht erwähnt.“ Als sie ihn unverwandt anblickte, unterdrückte er einen Fluch und stieß hervor: „Officer Colin Kirby.“

„Danke, Officer Colin Kirby.“

Vielleicht verlor er den Verstand, aber ihr Lächeln ging ihm durch und durch.

„Die Beschreibung?“

Ohne Zögern legte sie los, und bald hatte er ein ganz gutes Bild von der Vermissten.

„Okay“, sagte er schließlich und klappte den Block zu. „Ich werde das mit dem anderen Officer besprechen, mit dem Ihre Leiterin zu tun hatte. Haben Sie seinen Namen oder seine Dienstnummer?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, leider hat Amelia weder das eine noch das andere erwähnt.“

„Amelia?“

„Amelia Sellers, das ist die Leiterin des Frauenhauses. Sie hat keinen Namen erwähnt, aber sie schien ziemlich aufgebracht, weil der Beamte sie und die ganze Situation nicht ernst genommen hat.“

„Wahrscheinlich ist sie nicht so energisch wie Sie“, bemerkte er.

„Oh doch, sie kann sich sonst ganz gut durchsetzen. Aber wenn der Beamte einfach nicht akzeptiert, dass Gina nicht freiwillig verschwunden ist …“

Ihr Blick war so hoffnungsvoll und eindringlich, dass er wahrscheinlich normalerweise Männer dazu brachte, Übermenschliches zu vollbringen, nur um sie zu beeindrucken. Wenn er noch länger mit ihr zu tun hatte, musste er unbedingt vermeiden, ihr in die Augen zu blicken. Das lenkte ihn viel zu sehr ab.

„Sie waren bestimmt die Königin des Abschlussballs, oder?“, fragte er.

Jetzt hatte er es geschafft, dass es ihr endlich mal die Sprache verschlug. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie antwortete.

„Ehrlich gesagt bin ich gar nicht auf dem Abschlussball gewesen.“

„Es hat Sie keiner gebeten, mit ihm hinzugehen?“ Das war schwer zu glauben. Sie wirkte wie der Prototyp einer Cheerleaderin. Nahm sie ihn auf den Arm?

„Doch, schon, aber ich habe abgelehnt. Ich hatte Terminprobleme. Am Tag des Abschlussballs hatte ich als Ehrenamtliche zu tun.“

„In der Highschool?“, fragte er ungläubig.

„Wieso überrascht Sie das so? Man kann auch als Schüler ehrenamtlich arbeiten.“

„Wenn Sie es sagen …“ Er zuckte mit den Achseln. Soziale Projekte hatten ihn nie interessiert, auch damals nicht. Und er hatte noch nie ehrenamtlich gearbeitet. Meistens fühlte er sich am besten, wenn er allein war.

Er steckte den Block in seine hintere Uniformtasche und sagte: „Ich werde mal sehen, was ich tun kann.“

„Wollen Sie nicht noch die Telefonnummer vom Frauenhaus?“

Ganz kurz dachte er, dass er lieber ihre Nummer hätte, aber er verdrängte den Gedanken hastig wieder. Wenn er ihre Nummer hätte, würde das nur zu Komplikationen führen, und die konnte er auf keinen Fall gebrauchen. Die Nummer des Frauenhauses zu notieren, war viel sicherer.

„Natürlich“, sagte er. „Wie lautet sie?“

Sie gab ihm die Nummer und schien darauf zu warten, dass er den Block wieder hervorzog und sie notierte. Also tat er es. Als er den Block zum zweiten Mal wegsteckte, fragte sie: „Folgen Sie mir nicht zum Frauenhaus?“

Sie hört nie auf, oder? dachte er entnervt.

„Wieso sollte ich?“

„Um sich Ginas Foto anzuschauen. Ich sagte doch, dass es im Frauenhaus eins gibt. Es gehört Lily.“

Seiner Tante Lily? Einen Moment lang blickte er sie fragend an, bis es ihm wieder einfiel. „Das kleine Mädchen heißt Lily. Richtig.“

Einen Moment lang überlegte er, ob er ihr – noch einmal – sagen sollte, dass die Suche nach Vermissten gar nicht zu seinen Aufgaben gehörte. Er war Verkehrspolizist.

Es gab spezielle Officer, die solche Informationen aufnahmen, und auf dem Revier kümmerten sich dann Kriminalbeamte um die Suche. Aber das wollte er jetzt alles gar nicht mit ihr ausdiskutieren. Es würde nur zu endlosen weiteren Debatten führen.

Außerdem würde Bedford nicht untergehen, wenn er diese Kreuzung verließ. Und wie lange konnte es schon dauern, mit ihr ins Frauenhaus zu fahren, um sich das Foto anzusehen?

Er seufzte laut und vernehmlich und sagte: „Na schön. Fahren Sie voraus.“

Beinah überrascht blickte sie ihn an, dann lächelte sie: „Also werden Sie mir folgen?“

Ihr Lächeln war einnehmend, fast schon hypnotisch. Er zwang sich, den Blick abzuwenden.

„Das bedeutete es normalerweise, wenn man sagt ‚Fahren Sie voraus‘.“

„Weiß ich doch. Aber mir ist schon klar, dass Sie hier weit mehr als Ihre Pflicht tun.“

Aber du hast mich doch die ganze Zeit deshalb bequatscht, dachte er irritiert. So langsam hatte er das Gefühl, die Frau konnte einfach jeden in Grund und Boden reden. Er dagegen wünschte sich nichts sehnlicher, als dass das hier endlich vorbei wäre.

„Steigen Sie einfach ein und fahren Sie, Miranda“, befahl er unwirsch.

Wieder lächelte sie, und es wirkte wie ein Sonnenstrahl an einem düsteren Tag. „Sie haben sich meinen Namen gemerkt.“

„Sieht ganz so aus.“ Dass die Begegnung mit ihr ihn jetzt schon beeindruckt hatte, verriet er ihr lieber nicht.

„Also?“, drängte er, als sie sich immer noch nicht in Bewegung setzte. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

„Natürlich.“

Endlich eilte sie zu ihrem Auto und fuhr los. Das Frauenhaus war nicht weit entfernt. Sie fand einen Parkplatz in der Nähe des Eingangs und blieb neben ihrem Auto stehen, um auf ihn zu warten. Er stellte seine Maschine ein paar Plätze hinter ihr ab und ging auf sie zu.

„Sie haben zehn Minuten“, erklärte er, als er bei ihr ankam.

Er erwartete, dass sie gegen die Zeitbeschränkung protestieren würde, aber wieder überraschte sie ihn.

„Dann mache ich wohl das Beste draus. Lily ist bestimmt im Aufenthaltsraum. Dort wartete sie immer auf mich.“

„Sie kommen jeden Tag her?“, fragte er.

Hatte diese Frau auch ein Privatleben? Jemand der aussah wie sie, ging doch bestimmt jeden Abend aus.

„Vier oder fünf Tage die Woche“, antwortete sie beiläufig. „An den anderen Tagen arbeite ich im Tierheim und führe die Hunde aus.“

Er hielt ihr die Tür auf, während er darüber nachdachte, dass doch kein vernünftiger Mensch so viel ehrenamtliche Arbeit leistete. Sie übertrieb bestimmt.

„Und was machen Sie, wenn Sie nicht für Ihre Verdienstmedaille arbeiten?“, fragte er sarkastisch.

„Schlafen“, erwiderte sie ohne Zögern.

Es klang ernst gemeint, aber er war sich noch nicht sicher, ob er ihr diese Gutmenschennummer abnahm. Er wollte sie gerade fragen, ob ihr Heiligenschein vielleicht zu eng saß und die Durchblutung ihres Gehirns störte, doch dazu kam er nicht. Sie wandte sich von ihm ab und dem kleinen blonden Mädchen zu, das auf sie zu rannte.

„Da bist du ja!“, rief Miranda und breitete die Arme aus.

Das Kind stürzte sich hinein, und Miranda umarmte den kleinen Wirbelwind, der sie mit aller Kraft zu drücken schien.

„Hast du sie gefunden?“, rief das kleine Mädchen aufgeregt. „Hast du meine Mami gefunden?“

„Noch nicht, Liebes“, erwiderte Miranda.

Erst nach einer ganzen Weile schob sie das Mädchen sanft von sich, sodass es Colin sehen konnte.

„Aber dieser nette Officer“, sie nickte in seine Richtung, „wird uns dabei helfen, sie zu finden.“

Colin entging nicht, dass sie das Wort „versuchen“ vergessen hatte. Bei ihr klang es so, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis er die verschwundene Mutter fand, die sich möglicherweise doch ganz freiwillig aus dem Staub gemacht hatte.

Er hasste es, an Versprechen gebunden zu sein, über die er keinerlei Kontrolle hatte. Doch als er versuchte, das der Kleinen zu erklären, blickte er in Augen, die fast genauso blau und groß waren wie die von Miranda, und mindestens genauso hoffnungsvoll.

Wie konnte dieses Kind an einem Ort wie diesem leben und immer noch Hoffnung haben?

„Sie werden Sie doch finden, oder?“, fragte Lily erwartungsvoll. „Finden Sie meine Mami?“

„Ich …“ Er wollte ihr sagen, dass er tun würde, was er konnte, denn er log nun mal nicht gern, nicht einmal bei Kindern, mit denen er normalerweise nicht viel zu tun hatte.

„Officer Kirby möchte sich das Foto ansehen, das du von deiner Mami hast. Das, wo ihr beide drauf seid“, unterbrach ihn Miranda. „Kannst du es mal herholen?“

Die Kleine nickte aufgeregt. „Bin sofort wieder da“, verkündete sie und lief los.

„Ich kann nicht versprechen, dass ich ihre Mutter finde“, sagte Colin ernst.

„Vielleicht könnten Sie es versuchen“, schlug Miranda vor. Offenbar erkannte sie an seinem Gesichtsausdruck, was er davon hielt, denn sie fügte hinzu: „Jeder braucht etwas, an das er sich klammern kann.“

Sollte ihn das überzeugen? „Was bringt es denn, sich an eine Lüge zu klammern?“

„Es wäre ja keine Lüge – wenn Sie Gina finden.“

Hatte sie das wirklich gerade gesagt? Offenbar lebte die Frau wirklich in einer Fantasiewelt.

„Kommen Sie auch mal raus aus Ihrem Wolkenkuckucksheim?“, fragte er.

„Manchmal“, sagte sie lächelnd, dann fügte sie hinzu: „Wenn das Schoko-Minz-Eis alle ist.“

Er wollte ihr gerade einen Vortrag darüber halten, wie schwer man enttäuscht werden konnte, wenn man die Realität aus den Augen verlor, als Lily zurückkam und sich zwischen sie drängte. Sie drückte ein kleines, billig gerahmtes Foto an ihre schmale Brust.

Dann stellte sie sich breitbeinig vor Colin und hielt es ihm hin. Es war relativ neu, erkannte Colin – Lily sah darauf genauso aus wie jetzt und sie trug sogar dasselbe Kleid.

Ob das wohl ihr einziges Kleid ist? überlegte er, was ihn selbst überraschte. Normalerweise machte er sich über so etwas keine Gedanken.

„Das sind wir. Meine Mami und ich“, erklärte Lily stolz. Sie hielt das Foto höher, damit er es besser sehen konnte. „Miranda sagt, meine Mami ist hübsch“, fügte sie hinzu. Und dann erstarb ihr Lächeln. „Sie werden das Bild aber nicht verlieren, oder? Es ist das einzige, was ich habe.“

Colin betrachtete das kleine, besorgte Gesicht. „Weißt du was?“ Er zog sein Handy aus der Brusttasche. „Ich mache einfach ein Foto von deinem Foto. Dann kann ich es herumzeigen, wenn ich nach deiner Mutter suche, und du kannst dein Bild bei dir behalten.“

Ihr Lächeln war fast so strahlend wie das von Miranda. „Das ist eine tolle Idee“, erklärte sie. „Sie sind wirklich schlau!“

Er wollte das Kompliment gerade abwehren, auch wenn es sehr schmeichelhaft war, aber dann hörte er Miranda sagen „Er ist Polizist!“, als ob das eine das andere bedingte.

„Es ist nur die einfachste Lösung“, sagte er ausweichend. „Und jetzt halte das Bild hoch, damit ich es fotografieren kann.“

Er machte das Foto, betrachtete es auf dem Display und erklärte: „Gut.“

Im nächsten Moment spürte er, wie dünne Ärmchen ihn umschlangen – gerade unterhalb seines Gürtels und dem Waffenholster.

„Danke!“, rief Lily. „Und danke, dass Sie nach meiner Mami suchen.“

Er wollte gerade darauf hinweisen, dass „suchen“ nicht automatisch „finden“ bedeutete, aber er blickte vorher zu Miranda hinüber, und die schüttelte stumm den Kopf, als wüsste sie genau, was er sagen wollte, und ihn bat, es nicht zu tun.

Ungeduldig seufzte er, dann entschied er sich für einen Kompromiss und sagte zu Lily: „Ich tue mein Bestes, Kleine.“

„Sie werden sie finden“, erklärte sie. „Ich weiß es einfach.“

Sie sagte es mit dem unerschütterlichen Vertrauen, das nur Kindern gegeben ist.

„Lily, Liebes“, sagte Miranda sanft, „du musst Officer Kirby loslassen, damit er mit der Suche anfangen kann.“

„Oh.“

Überrascht und ein wenig bezaubert hörte er das kleine Mädchen kichern.

„Tut mir leid“, sagte sie und gab ihn frei. „Ich wollte nur Danke sagen.“

Wieder wollte er sie daran erinnern, dass noch lange nicht feststand, dass er ihre Mutter finden würde, aber als sie wieder mit ihren hoffnungsvollen blauen Augen zu ihm aufblickte, brachte er es einfach nicht über sich, sie mit der harten Realität zu konfrontieren.

Also murmelte er nur „Ja“, drehte sich auf dem Absatz um und ging eilig zum Ausgang. In die Freiheit.

Erst als er wieder auf der Straße stand und gierig frische Luft schnappte, merkte er, dass die Frau, die ihn in diese ganze Sache hineingezogen hatte, ihm gefolgt war.

Was kam jetzt?

Wollte sie ihm sein großes Indianerehrenwort abnehmen, dass er sein erzwungenes Versprechen hielt?

„Ich tue, was ich kann“, wiederholte er, bevor sie auch nur den Mund öffnen konnte.

Zu seiner Überraschung nickte sie und lächelte ihn an. „Ich weiß. Mehr kann auch niemand verlangen.“

In der Tat, dachte Colin, als er auf sein Motorrad stieg. Aber diese nervige Blondine verlangte tatsächlich sehr viel mehr von ihm. Und was er wirklich nicht verstand: Alles, was er wollte, war, das vage Versprechen, das er dem kleinen Mädchen gegeben hatte, auch tatsächlich zu halten. Er wollte Lilys Mutter finden.

3. KAPITEL

Colin hasste es einfach, irgendjemand um irgendetwas zu bitten, selbst wenn es im Dienst war. Wenn er gar nicht erst fragte, konnte ihn auch niemand abweisen. Außerdem schuldete er dann niemandem etwas.

Wieder wünschte er sich, er hätte Miranda niemals angehalten. Dann hätte er jetzt nicht das Problem, einen seiner Kollegen um einen Gefallen bitten zu müssen.

Seine Schicht war zu Ende, und am liebsten wäre er einfach nach Hause gegangen. Aber sosehr er mit der ganzen Sache auch nichts zu tun haben wollte – immer wieder sah er Lilys schmales Gesichtchen und traurige Augen vor sich. Sie hatte ihn angesehen, als sei er die Antwort auf all ihre Gebete.

Das war ihm vorher noch nie passiert.

Daran ist nur diese Frau schuld, dachte er grimmig.

Miranda.

Wer nannte ein Kind heutzutage noch Miranda?

Als Colin in die Umkleide ging, stellte er fest, dass es schon ganz schön spät war. Viel zu spät, um heute noch irgendetwas herauszufinden. Um sein Gewissen zu beruhigen, nahm er sich vor, am nächsten Morgen früher zu kommen und ein bisschen herumzufragen, ob jemand etwas von einer Frau gehört hatte, auf die Gina Haydens Beschreibung passte.

Colin öffnete seinen Spind und begann sich umzuziehen. Er war müde, und morgen würde er sowieso klarer denken können.

„… und da lag diese arme Frau neben dem Container. Sie hat nur noch ganz schwach geatmet. Ich habe erst gedacht, sie sei tot. Mit so etwas rechnet man in unserer Stadt doch nicht!“

„Da hatte sie aber Glück, dass du sie gefunden hast“, erwiderte eine zweite, tiefere Stimme. „Wieso warst du überhaupt in dieser Hinterhofgasse?“

Colin spitzte die Ohren. Das Gespräch fand auf der anderen Seite der Spindreihe statt, und er hörte, wie eine Spindtür geschlossen wurde, bevor der erste Polizist antwortete: „Zwei Kinder kamen da rausgerannt, und sie sahen ziemlich verängstigt aus.“

„Meinst du, die haben sie zusammengeschlagen?“

Eine zweite Spindtür fiel zu. Es klang, als ob die beiden gleich gehen würden.

„Nein, das glaube ich nicht. Die waren noch zu jung, und sie hatten wirklich Panik. Ich habe gesehen, wie sie in ein Gebäude auf der anderen Straßenseite gerannt sind. Falls sie was damit zu tun haben, sollten sie nicht schwer zu finden sein.“

Colin hatte sich inzwischen umgezogen und schloss ebenfalls seinen Spind. Ein Zufall? Das musste er wohl herausfinden.

Er umrundete die Spindreihe und traf auf die beiden Kollegen, als sie gerade gehen wollten.

„Was ist mit der Frau passiert?“, fragte Colin.

Officer Bob Moran blickte ihn überrascht an. Er kannte ihn vom Sehen, aber sie hatten vorher noch nie miteinander geredet.

„Ich habe einen Krankenwagen für sie gerufen“, erwiderte Moran. „Sie haben sie ins Mercy General gebracht.“

„Sind Sie mitgefahren?“

Moran wirkte ein wenig verlegen. „Nein, meine Schicht war zu Ende, und sie war bewusstlos. Ich dachte mir, dass sie morgen früh eher eine Aussage machen kann.“

„Aber wer könnte das denn getan haben?“, bohrte Colin weiter.

Moran zuckte die Achseln, auch wenn er überrascht wirkte, dass Colin so viele Fragen stellte. „Sah für mich nach Raubüberfall aus. Sie hatte keine Geldbörse bei sich. Und auch keinen Ausweis. Keine Handtasche.“

Colin zückte sein Handy und öffnete das Foto, das er von Lilys gerahmter Fotografie gemacht hat. „Ist sie das?“

Verblüfft zog Moran die Augenbrauen hoch. „Ja, das könnte sie sein. Ohne die ganzen Schwellungen, die sie jetzt gerade im Gesicht hat. Kennen Sie sie?“

„Nein“, erwiderte Colin und steckte das Handy weg.

Als er weiter nichts sagte, fragte Moran neugierig: „Aber warum haben Sie dann ein Foto von ihr?“

Colin runzelte die Stirn. Na gut, das hier war nicht unbedingt etwas Persönliches, aber er gab grundsätzlich nicht gern Erklärungen ab. Am liebsten war er für sich und beantwortete Fragen nur, wenn es gar nicht anders ging. Wie in diesem Fall. Er seufzte.

„Die Frau wurde von einem Frauenhaus als vermisst gemeldet. Danke für die Info.“

Er wandte sich zum Gehen.

„Fahren Sie zu ihr?“, rief ihm Moran nach. „Ich kann gern mitkommen.“

Beinahe hätte Colin gefragt, warum. Entweder hatte der Mann ein schlechtes Gewissen, oder er wollte die Lorbeeren einheimsen. Beides war Colin egal.

„Sie haben Ihren Teil getan. Ich übernehme.“

Er ging weiter, sagte über die Schulter noch einmal „Danke“, hörte ein etwas verwirrtes „Keine Ursache“ und verließ die Umkleide.

Miranda hatte nicht damit gerechnet, Officer Kirby an diesem Abend noch einmal wiederzusehen. Normalerweise hätte sie das Frauenhaus auch schon längst verlassen, aber sie war länger geblieben, um Lily zu trösten. Das Mädchen war von Natur aus fröhlich, aber mittlerweile machte sie sich wirklich ernsthafte Sorgen um ihre Mutter. Einige der älteren Kinder hatten ihr gesagt, dass ihre Mutter abgehauen wäre und sie verlassen hätte, aber Lily wollte das nicht glauben.

„Meine Mami würde mich nie verlassen!“, hatte sie gerufen. „Sie hat mich lieb!“

Was aber nur bedeuten konnte, dass ihrer Mutter etwas zugestoßen sein musste, und das regte sie nur noch mehr auf.

Miranda blieb bei ihr, bis sie sich schließlich etwas beruhigt hatte und endlich einschlafen konnte.

Sie wollte gerade gehen, als sie Officer Kirby hereinkommen sah.

Ein Blick auf sein grimmiges Gesicht ließ sie das Schlimmste befürchten. Hoffentlich irrte sie sich! Da er sie nicht sah, eilte sie durch den Aufenthaltsraum und stellte sich ihm in den Weg.

„Sie haben sie gefunden“, stieß sie atemlos hervor, zu besorgt, um sich mit Smalltalk aufzuhalten.

„Ja, ich habe sie gefunden.“

Miranda schlug das Herz bis zum Hals. Wie sollte sie Lily beibringen, dass ihre Mutter tot war?

Und was sollte sie jetzt tun? Vielleicht konnte sie Lily als Pflegekind bei sich aufnehmen oder vielleicht …

„Wollen Sie nicht wissen, wo sie ist?“, fragte Officer Kirby nach einem Moment.

Miranda spürte, wie das Blut in ihre Beine sackte, und sie schwankte ein wenig. „Sie lebt?“, rief sie heiser.

„Ja, natürlich. Wenn sie tot wäre, hatte ich das gleich gesagt.“

„Tot? Wer ist tot?“, fragte ein Teenager in Hörweite.

„Ich. Beinah jedenfalls“, erwiderte Miranda und stieß zitternd den Atem aus. „Das habe ich davon, dass ich voreilige Schlüsse ziehe.“

Sie wandte sich dem Officer zu, der ab jetzt ihr erklärter Held war, und dann liefen ihr plötzlich die Tränen über die Wangen. „Sie haben sie wirklich gefunden.“

„Wie ich bereits gesagt habe. Hey, weinen Sie etwa?“

Miranda versuchte, sich zu beruhigen, und nickte. „Ja, bei Wundern kommt das schon mal vor bei mir.“

Zu ihrer Überraschung zog der Mann ein sauberes Taschentuch aus seiner hinteren Hosentasche und reichte es ihr.

„Ihr Make-up verläuft“, murmelte er.

Lächelnd nahm Miranda das Taschentuch an. Ich durchschaue dich, Officer Kirby. Du bist nicht der große, böse Wolf, der du gern wärst. Unter all der harten Schale bist du ein netter Mensch.

Sie tupfte sich die Augen ab. „Was ist ihr zugestoßen?“

Umsichtig zog Officer Kirby sie in eine Fensternische, wo niemand sie hörte. „Offenbar wollte sie jemand ausrauben“, erklärte er. „Und so wie es aussieht, hat sie versucht, sich zu wehren. Der Arzt meinte, der Täter wurde wohl wütend, als sie ihre Handtasche festhielt, und hat auf sie eingedroschen. Er sagte, sie war bewusstlos, als sie eingeliefert wurde.“

„Aber jetzt ist sie wieder bei sich?“, fragte Miranda hoffnungsvoll.

„Ja. Sie war gerade wieder zu sich gekommen, als ich dort war.“

„In welchem Krankenhaus liegt sie?“

„Im Mercy General.“

Miranda nickte. Lily musste die guten Neuigkeiten sofort erfahren. Sie war schon halb auf dem Weg zu ihrem Zimmer, doch dann drehte sie sich um und eilte zu Officer Kirby zurück. Spontan schlang sie die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich.

Selbstschutz! Colins erster Impuls nach der völlig überraschenden Umarmung war es, die Person in seiner Distanzzone wegzustoßen. Aber das war schwerer als gedacht. Für eine zierliche, zart wirkende Frau hatte Miranda den Griff eines Profi-Ringers.

Doch offenbar spürte sie sein Unbehagen, denn sie ließ ihn von sich aus schnell wieder los.

„Danke“, sagte sie.

Noch nie hatte er ein Danke gehört, in dem so viele Emotionen mitschwangen.

So gut es ging wehrte er die Welle von Gefühlen ab und erwiderte: „Ich bin Polizist. Das gehört zu meinem Job.“

Sie lächelte wissend – was unmöglich war, weil sie sich so gut wie gar nicht kannten. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie seine Abwehr durchschaute.

„Heute Nachmittag sagten Sie noch, dass es eigentlich nicht ihr Job sei“, erinnerte sie ihn. „Ich habe nicht geglaubt, dass Sie nach ihr suchen würden.“

„Warum haben Sie mich dann überhaupt gefragt?“

Ihr Gesicht leuchtete auf. „Man darf die Hoffnung nie aufgeben.“ Und dann griff sie nach seiner Hand und sagte: „Kommen Sie mit.“

Colin rührte sich nicht vom Fleck. „Wohin soll ich mitkommen?“

„Lily sagen, dass Sie ihre Mutter gefunden haben“, erwiderte sie und zog an seiner Hand.

Wieder stemmte sich Colin dagegen. „Das können Sie ihr doch sagen.“

„Auf keinen Fall. Sie haben sie gefunden. Lily will das von Ihnen hören. Und danach können Sie uns ins Krankenhaus zu Gina fahren.“

Unglaublich, sie hatte das alles durchgeplant. Und er mochte es überhaupt nicht, wenn ihm jemand sagte, was er tun sollte.

„Sie maßen sich ganz schön viel an, was?“

Unschuldig blickte sie zu ihm auf. „Bis jetzt hatten Sie doch nichts dagegen, oder?“

„Tut mir leid, aber Ihre Glückssträhne ist zu Ende“, erklärte er energisch.

Doch gerade als er sich von ihr losmachen und zum Ausgang gehen wollte, hörte Colin aus dem Hintergrund einen hohen Freudenschrei. Eine kleine Person mit blonden Haaren kam auf ihn zugerannt.

Offenbar hatte jemand die Kleine geweckt und ihr gesagt, dass er hier war. Den Rest hatte sie sich wohl selbst zusammengereimt.

„Sie haben es geschafft!“, rief Lily und schlang die Arme um ihn. „Sie haben sie gefunden! Sie haben meine Mami gefunden, nicht wahr?“ Sie legte den Kopf in den Nacken, damit sie zu ihm aufsehen konnte. „Oh, danke! Danke, danke, danke!“

Völlig verblüfft wechselte Colin einen Blick mit Miranda. „Wie …?“

„Hier kann man nichts lange geheim halten.“ Miranda deutete mit dem Kopf zu der Gruppe von Kindern in der Nähe, als würde das alles erklären.

„Können wir jetzt zu ihr fahren?“, bat Lily. Sie blickte von Miranda zu ihm und wieder zurück. „Bitte, können wir zu ihr? Bitte?“

Offenbar hatte sie nicht vor, damit aufzuhören, bis ihre Bitte erfüllt wurde.

Nach Officer Kirbys Gesichtsausdruck zu urteilen, war er nicht gerade erpicht darauf, sie ins Krankenhaus zu begleiten – und für heute hatte er ja auch schon genug getan.

„Officer Kirby muss jetzt nach Hause, Lily“, erklärte sie. „Aber ich bringe dich hin.“

„Und ich fahre euch“, warf Amelia ein, die sich ihnen näherte.

Offenbar war auch sie erleichtert und erfreut über die Neuigkeiten.

„Officer Kirby hat meine Mami gefunden“, erzählte Lily der Leiterin aufgeregt.

„Das habe ich gehört“, erwiderte Amelia und nickte Colin lächelnd zu. „Wir alle hier im Frauenhaus – und vor allem Lily natürlich – sind Ihnen wirklich sehr dankbar für alles, was Sie getan haben, Officer Kirby.“

Er antwortete nicht, aber irgendetwas in seinem Gesichtsausdruck veränderte sich, und er sagte überraschenderweise: „Ich fahre besser voraus zum Krankenhaus. Ich weiß, auf welcher Station Lilys Mutter liegt.“

Dabei vermied er den Blickkontakt mit Miranda, aber das war ihr in dem Moment egal. Sie hatte doch gewusst, dass unter dieser rauen Schale ein butterweicher Kern steckte.

Im Krankenhaus zeigte es sich dann schnell, dass es sehr gut war, jemanden von der Polizei dabeizuhaben.

„Warten Sie!“, rief ihnen die Schwester nach, als sie am Stationstresen vorbeikamen.

Als sie einfach weitergingen, kam sie ihnen sogar hinterher und stellte sich ihnen in den Weg.

„Wir wollen zu Gina Hayden“, erklärte Miranda der älteren Frau. „Und wir bleiben auch nicht lange.“

„Sie bleiben überhaupt nicht. Die Besuchszeit ist vorbei“, beharrte die Schwester. „Sie können morgen wiederkommen.“

Lily wirkte den Tränen nah. „Aber sie ist meine Mami, und wir haben sie gerade erst gefunden!“

„Sie wird morgen auch noch hier sein“, erwiderte die Schwester kühl. „So sind die Regeln nun mal.“

In ihrer Not zupfte Lily Colin am Ärmel und blickte bittend zu ihm auf. Und das Wunder geschah: Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn der Schwester unter die Nase.

„Aber man kann auch mal eine Ausnahme machen, nicht wahr?“ Es war nicht wirklich eine Frage.

Die Stationsschwester wurde nicht freundlicher, aber sie nickte und trat einen Schritt zur Seite.

„Zehn Minuten, keine Sekunde länger. Danach rufe ich den Sicherheitsdienst.“

„Das wird nicht nötig sein“, versprach Miranda und nahm Lilys Hand. „Komm, beeilen wir uns.“

„Sie liegt in Zimmer 221“, sagte Colin rau.

Es war ein Vierbettzimmer, und Lily blickte sich hastig um, bis sie ihre Mutter im Bett am Fenster entdeckte und hinrannte.

„Mami!“, rief sie überglücklich, hielt dann aber erschrocken inne, als sie ihren Zustand sah.

Gina war an zwei Monitore, die ständig piepten, und an einen Infusionstropf angeschlossen. Und ihr Gesicht und ihre Arme waren mit Blutergüssen übersät.

Das musste für ein kleines Mädchen ein verstörender Anblick sein. Zögernd trat sie näher ans Bett.

„Bist du hingefallen, Mommy?“, fragte sie.

Gina wandte den Kopf, und als sie ihre Tochter erblickte, begannen ihre Augen zu leuchten, und sie versuchte, die Arme auszubreiten, was der Infusionsschlauch und die Blutdruckmanschette jedoch verhinderten.

„Oh, meine Kleine, so war es. Ich bin gestolpert und hingefallen“, flüsterte sie.

Miranda drückte leicht ihre Hand, um ihr mitzuteilen, dass sie wusste, dass sie log, um Lily keine Angst einzujagen.

„Wir haben uns alle Sorgen um Sie gemacht“, sagte sie. „Aber Lily hat nie die Hoffnung aufgegeben, dass wir Sie finden.“

Gina wirkte verwirrt und ein wenig verlegen. „Ich weiß nicht mehr, was passiert ist“, gestand sie.

„Das spielt doch keine Rolle“, warf Amelia beruhigend ein. „Es zählt nur, dass Sie jetzt hier sind und man sich gut um sie kümmert.“

„Officer Kirby hat dich gefunden“, erzählte Lily ihrer Mutter aufgeregt. Sie nahm Colins Hand und zog ihn näher ans Bett. „Das ist Officer Kirby, Mommy“, stellte sie ihren neuen Helden ihrer Mutter vor.

„Danke“, flüsterte Gina.

„Keine Ursache“, sagte Colin, dann fügte er hinzu: „Es ist kompliziert.“

Miranda unterdrückte ein Seufzen. Was sollte das schon wieder bedeuten? Der Mann konnte einfach keine Dankbarkeit annehmen. Am liebsten hätte sie ihn darauf angesprochen, aber jetzt war nicht der richtige Moment dafür.

„Unsere Zeit ist um“, sagte sie an alle gerichtet, dann fügte sie für Gina hinzu: „Wir haben der Stationsschwester versprochen, nur zehn Minuten zu bleiben, weil die Besuchszeit schon vorbei ist.“

„Wir kommen morgen wieder“, versprach Lily ernst.

Miranda biss sich auf die Lippe. Sie würde Lily morgen nach ihrer eigenen Schicht im Krankenhaus nicht begleiten können. Bittend blickte sie zu Amelia hinüber, die stumm nickte.

„Bis morgen“, sagte sie zu Gina und tätschelte der jungen Mutter die Hand. „Werden Sie schnell wieder gesund.“

„Mami muss wirklich vorsichtiger sein“, erklärte Lily energisch, als sie zum Aufzug zurückgingen. Überrascht blickte Miranda die Kleine an. Wusste sie, dass ihrer Mutter etwas Schlimmeres zugestoßen war als ein Sturz? Manchmal wirkte Lily viel älter, als sie eigentlich war.

„Das war wirklich sehr nett von Ihnen“, sagte Miranda zu Colin, als sie den Ausgang erreicht hatten. Als er sie nur fragend anstarrte, fügte sie hinzu: „Dass Sie die Krankenschwester dazu gebracht haben, uns zu Gina zu lassen.“

Der Officer erwiderte nichts, ließ sich nicht mal anmerken, dass er sie überhaupt gehört hatte. Seine einzige Reaktion war ein Achselzucken.

Der Mann war wirklich eine harte Nuss. Aber sie würde ihn knacken – auf nette Art. Miranda lächelte still vor sich hin. Ob es Officer Kirby gefiel oder nicht, sie hatte ihn gerade zu ihrem nächsten Projekt gemacht.

Am Parkplatz teilten sie sich auf. Miranda und Lily fuhren mit Amelia zum Frauenhaus zurück, und Colin ging zu seinem eigenen Wagen, einem zweitürigen Sportwagen-Oldtimer, der älter war als er selbst.

„Auf Wiedersehen, Officer Kirby!“, rief Lily ihm nach und winkte ihm fröhlich nach, als er sich über die Schulter zu ihr umblickte.

Colin nickte kurz, stieg ein und fuhr los, doch Lily bestand darauf, ihm nachzublicken, bis sie sein Auto nicht mehr sehen konnte.

„Er ist ein Held“, sagte sie schließlich, bevor sie in Amelias Auto stieg.

„Ja, das ist er“, stimmte Miranda zu.

Ein sehr widerwilliger Held, fügte sie im Stillen hinzu.

„Hey, Kirby, da wartet jemand auf dich, der dich sehen will“, rief der Sergeant ihm zu, als Colin zurück aufs Revier kam. Seine Schicht war schon seit zwanzig Minuten zu Ende, und er war wirklich müde. Es war zwei Tage her, dass er mit den drei Frauen im Krankenhaus gewesen war, und er hatte wirklich gehofft, Miranda nie wiederzusehen.

Doch als der Sergeant ihm sagte, dass jemand auf ihn warte, wusste er instinktiv, dass sie es war. Natürlich hätte es auch jemand anderes sein können – Bedford war nicht gerade klein, und obwohl er keine Freunde hatte, kannte er doch ein paar Leute. Dennoch sagte ihm irgendetwas, dass es nur die Frau sein konnte, die er fatalerweise vor ein paar Tagen angehalten hatte. Die aufreizend fröhliche, fürchterlich aufdringliche Frau, die er einfach nicht mehr loswurde.

„Wo?“, fragte Colin grimmig.

„Brauchst du eine Brille? Sie sitzt gleich da drüben!“

Der Sergeant deutete auf die Bank, die ein paar Meter weiter an der Wand stand.

Widerwillig seufzte Colin und blickte in die Richtung.

Verdammt.

Sie war es, und sie schaute direkt zu ihm hinüber. Für eine Flucht war es zu spät. Besser, er brachte es hinter sich und fand heraus, was sie wollte.

Als er auf sie zuging, stand sie auf – als wolle sie ihn anspringen.

Er wappnete sich innerlich, verzichtete auf eine formelle Begrüßung und fragte: „Was soll ich jetzt wieder für Sie tun?“

So sonnig wie immer, dachte Miranda, was sie nur noch mehr davon überzeugte, dass dieser Mann dringend ihre Hilfe brauchte.

„Gar nichts. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht“, erklärte sie in der Hoffnung, damit sein Stirnrunzeln zu vertreiben.

Was nicht funktionierte.

„Ich darf keine Geschenke, ganz gleich welcher Art, annehmen“, erklärte er misstrauisch. „Das Dezernat missbilligt Zuwendungen für geleistete Dienste.“

Lieber Himmel, ist der Mann verspannt, dachte Miranda. Wie gut, dass er jetzt sie hatte!

„Das hier ist keine Zuwendung“, versicherte sie ihm.

Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. „Nennen Sie es, wie Sie wollen, ich kann es nicht annehmen.“

„Ja, ja, ich habe es kapiert. Aber das hier werden Sie haben wollen. Vertrauen Sie mir.“

Miranda griff in ihre übergroße Handtasche und zog ein zusammengerolltes Blatt Papier hervor.

„Das hat Lily für Sie gemalt“, erklärte sie und entrollte es. Sie deutete auf die Figur in Blau in der Mitte, die doppelt so groß war wie alle anderen auf dem Bild. „Falls Sie es nicht erkennen, das sind Sie.“

Als er nichts sagte, fuhr sie fort: „Das hier ist Lily, ihre Mutter im Krankenhausbett, hier ist Amelia und das bin ich.“

„Ich bin ja riesig“, bemerkte Officer Kirby perplex.

„Ja, so sieht Lily sie. In ihren Augen sind Sie ein Riese. Wie alle Helden.“

„Ich bin aber kein Held.“

„Tja, tut mir ja leid für Sie, aber für Lily sind Sie einer.“

Schweigend betrachtete er das Bild, und dann überraschte er Miranda mit einer völlig zusammenhanglosen Bemerkung. „Sie könnten ein paar Pfunde mehr auf den Rippen vertragen.“

Offenbar bezog er das darauf, wie Lily sie gezeichnet hatte: schmal und eher am Rand des Bildes.

„Oh, das freut mich“, erwiderte sie, als wäre dies ein ernsthaftes Gespräch. Nun ja, wenn man danach ging, dass Officer Kirby noch immer keine Miene verzog, war es das wohl auch. „Das bedeutet, dass ich noch öfter Schoko-Minz-Eis essen kann. Da kann ich sowieso nie widerstehen.“

„Sie sehen nicht aus, als ob Sie oft über die Stränge schlagen würden.“ Nun blickte er nicht mehr auf das Bild, sondern ließ den Blick langsam über Miranda wandern.

Sie lachte leise. „Oh, da irren Sie sich aber.“

Als er sie fragend anblickte – wahrscheinlich, weil sie schlank war –, erläuterte sie: „Ich bin wirklich die ganze Zeit auf den Beinen. Im Krankenhaus, im Frauenhaus und besonders im Tierheim. Ich gehe mit den Hunden Gassi, da bleibt man in Bewegung.“

„Nehmen Sie sich auch mal Zeit für sich selbst?“

Miranda lächelte. Er verstand das offenbar wirklich nicht. „Das Frauenhaus und das Tierheim sind ‚meine Zeit für mich selbst‘. Ich habe dort das Gefühl, nützlich zu sein und etwas Gutes zu tun. Das macht mich glücklich.“

Sehr überzeugt schien er nicht. „Haben Sie schon mal den Ausdruck gehört ‚Zu gut, um wahr zu sein‘?“

Sie versuchte, ihr triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. „Soll das etwa heißen, dass Sie mich gut finden?“

„Sie lassen den Rest des Ausspruchs außer Acht.“ Er atmete tief durch, dann fügte er hinzu: „Gibt es sonst noch etwas?“

„Nun ja, wo Sie schon fragen: Haben Sie schon über einen Besuch bei meinen Kindern im Krankenhaus nachgedacht?“

Sofort verdüsterte sich sein Gesichtsausdruck wieder. „Nein, habe ich nicht.“

So leicht wurde er sie natürlich nicht los. „Dann tun Sie das doch bitte. Weihnachten steht vor der Tür.“

„Wie jedes Jahr um diese Zeit.“

Natürlich. Noch nie hatte sie es mit einem so trockenen Menschen zu tun gehabt. „Wie gesagt, ich denke, es würde den Kindern wirklich guttun. Sie haben kein leichtes Leben und nicht viel, worauf sie sich freuen können.“

„Und auf meinen Besuch könnten sie sich freuen?“ Es klang geradezu sarkastisch.

„Ja, natürlich.“

„Ich werde darüber nachdenken.“ Es klang nicht, als ob er es ernst meinte, sondern eher, als wolle er sie loswerden. Tatsächlich fügte er hinzu: „Müssen Sie nicht irgendwo hin, ehrenamtlich arbeiten?“

„Richtig.“ Sie warf sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter. „Ich habe versprochen, im Tierheim vorbeizuschauen. Sie haben dort diesen Schäferhund, der dringend eine Pflegestelle braucht, bis sie ihn richtig unterbringen können.“

„Das ist doch genau ihr Ding.“

Wieder klang es sarkastisch, aber davon ließ sie sich nicht ins Bockshorn jagen. Sie strahlte ihn an. „Da haben Sie absolut recht.“

„Dann machen Sie sich besser auf den Weg.“

„Mache ich. Oh, vergessen Sie Ihr Bild nicht.“

Sie nahm das Bild von dem Tisch, auf dem er es abgelegt hatte, und drückte es ihm in die Hand.

„Natürlich nicht“, murmelte er, aber er sah nicht erfreut aus.

Als sie sich an der Tür noch einmal zu ihm umdrehte, stand er immer noch da und starrte hilflos auf die Kinderzeichnung in seiner Hand.

4. KAPITEL

Colin stand neben seinem Wagen und verstand sich selbst nicht mehr. Offenbar war er nicht ganz richtig im Kopf. Oder wieso war er sonst hergekommen und hatte vor dem Tierheim geparkt, um darauf zu warten, dass eine gewisse Weltmeisterin der guten Taten herauskam?

Soweit er wusste, schuldete er ihr nichts mehr, also konnte er in aller Ruhe sein Leben weiterleben. Keine lästigen Bitten mehr, keine anstrengenden Projekte.

Was tat er also hier? Wieso legte er es auf ein Wiedersehen an, das doch nur dazu führen würde, dass sie ihn wieder für irgendetwas einspannte?

Er wusste doch, wie sie war: Wenn man ihr den kleinen Finger reichte, gab sie sich nicht mit der ganzen Hand zufrieden, sondern wollte gleich den kompletten Arm.

Seufzend schüttelte er über sich selbst den Kopf. Warum um alles in der Welt war er hier?

Wahrscheinlich, um seine Neugier zu befriedigen, beantwortete er sich selbst die Frage. Was allerdings neu für ihn war – bis das Schicksal ihm diese Frau beschert hatte, die ihn seitdem wie ein wild gewordenes Einhorn verfolgte, hatte er unter solchen Anwandlungen nicht gelitten.

Verdammt, fahr nach Hause, Kirby, sagte er sich. Fahr heim, bevor dich noch jemand für einen Stalker hält und die Polizei ruft.

Er war gerade dabei, die Fahrertür zu öffnen und seinem eigenen guten Rat zu folgen, als er das kratzende Geräusch von Metall auf Beton hörte. Das große Tor des Tierheims öffnete sich, und jemand kam heraus.

„Officer Kirby, sind Sie das?“

Natürlich. Er erstarrte.

Warum war er nicht schneller gewesen? Warum war er überhaupt gekommen? Nun war es zu spät. Sie hatte ihn erwischt.

Widerwillig drehte er sich um und sah Miranda quer über die Straße auf ihn zueilen. Aber sie war nicht allein. Neben ihr rannte ein riesiger, ziemlich überdrehter Schäferhund. Es sah so aus, als klammere sich Miranda mit aller Kraft an die Leine, und es war schwer zu erkennen, wer hier wen ausführte.

Die Frau und der Hund waren bei ihm angelangt, bevor er sich diesbezüglich festgelegt hatte. Ihr vierbeiniger Gefährte stellte sich auf die Hinterbeine und hätte ihn beinahe angesprungen.

„Sind Sie sicher, dass Sie mit ihm fertigwerden?“, fragte Colin und trat hastig einen Schritt zurück, bevor der Hund seine Vorderpfoten auf Colins Brust platzieren konnte.

„Ihr“, korrigierte Miranda und zog an der Leine. „Es ist eine sie.“

Seiner Meinung nach spielte das keine Rolle. Ob sie oder er, das Tier war einfach zu viel für sie.

„Wie auch immer.“ Misstrauisch beäugte er den Hund und wich noch ein Stück zurück. „Jedenfalls passt sie zu Ihnen.“

„Aus, Lola“, sagte Miranda streng. Der riesige Hund gehorchte tatsächlich und stellte sich wieder auf alle vier Füße. „Brav“, kommentierte Miranda und tätschelte ihm den Kopf. Dann wandte sie sich Colin zu. „Sie haben doch nicht etwa Angst vor einem übermütigen Welpen, oder?“

„Kommt ganz darauf an, ob dieser Welpe größer ist als ich“, erklärte Colin.

„Vor Lola brauchen Sie keine Angst zu haben. Sie hat sich nur gefreut, Sie zu sehen.“ Wieder streichelte sie den Hund, der den Kopf in ihre Hand schmiegte. „Sie sucht eben ein neues Herrchen.“

„Verstehe.“ Sollte ihn das etwa beruhigen?

„Bei Fuß, Lola“, befahl sie, als der Hund sich Colin wieder nähern wollte. Tatsächlich gehorchte das Riesenbaby, was ihr Zeit gab, Colin fragend anzusehen. „Und was machen Sie hier, Officer Kirby? In Ihrem Privatauto und in Zivil? Haben Sie etwa auf mich gewartet?“

Sie wirkte eindeutig amüsiert. Noch vor einer Woche hätte es ihn sehr gestört, wenn sich jemand über ihn lustig gemacht hätte, aber ihr ließ er es durchgehen.

Er griff ins Wageninnere und zog das Bild hervor, das sie ihm am Vortag auf die Wache gebracht hatte. „Ich bin hier, um Ihnen das hier zurückzugeben.“

Sofort stellte Lola die Ohren auf, als überlege sie, ob es sich um etwas Essbares handelte. Miranda zog ein wenig an der Leine.

„Das ist nicht für dich“, erklärte sie der Schäferhündin. „Warum wollen Sie mir das geben? Lily hat es für Sie gezeichnet. Sie wollte, dass Sie es bekommen. Es ist ihre Art, Danke zu sagen.“

Colin zuckte mit den Achseln. „Ja, aber ich habe keinen Platz dafür.“

Noch immer streckte er ihr die Zeichnung hin, behielt dabei aber die Schäferhündin genau im Auge, damit sie nicht doch noch in das Blatt biss. Er wollte das Bild nicht haben, aber es war ja nicht nötig, es kaputt zu machen.

Miranda hielt die Leine fest, machte jedoch keine Anstalten, ihm die Zeichnung abzunehmen.

„Haben Sie keine Schränke?“, fragte sie schließlich.

„Natürlich habe ich Schränke“, erwiderte er. Was war das für eine Frage? Dachte sie, er würde unter einer Brücke schlafen?

„Na ja, dann könnten Sie das Bild in einen ihrer Schränke legen“, schlug sie hilfsbereit vor. „Jedenfalls, wenn Sie es nicht an Ihren Kühlschrank hängen wollen. Sie haben doch einen Kühlschrank?“

Als er nichts sagte – was sollte man darauf auch sagen? –, fuhr sie fort: „Die meisten Menschen hängen Bilder wie dieses an den Kühlschrank.“ Sie lächelte ermutigend. „Das ist wohl alles neu für Sie, was?“

Stirnrunzelnd versuchte Colin herauszufinden, was um alles in der Welt in dieser Frau wohl vorging – und warum sie sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatte.

„Offenbar ist hier einiges neu für mich“, murmelte er.

Konnte ihr Lächeln noch strahlender werden? „Hey, sogar der liebe Gott hat klein angefangen.“

Er dachte an die letzten Tage. Seit er dieser seltsamen Frau begegnet war, benahm er sich vollkommen anders als sonst. Was für geheime Kräfte hatte sie nur, die ihn dazu brachten, für ihn völlig ungewöhnliche Dinge zu tun?

„Das ist was anderes“, sagte er leise.

Mirandas Lachen war leicht und unbekümmert und erinnerte ihn an eine Frühlingsbrise. Und das Ende November.

Plötzlich sah er die Glockenblumen vor sich, die im Garten seiner Mutter gestanden hatten. Die Erinnerung traf ihn völlig überraschend. Er hatte seit zweiundzwanzig Jahren nicht an den Garten seiner Mutter gedacht.

Er schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden, das Bild und die Gefühlswelle, die damit hochkam.

„Ist alles in Ordnung, Officer?“, fragte Miranda besorgt.

„Abgesehen von der Tatsache, dass ich zu Hause gemütlich ein Bier trinken sollte, statt hier rumzustehen und zu versuchen, Ihnen dieses Bild zurückzugeben?“

„Es ist nicht mein Bild“, wiederholte Miranda. „Lily wollte, dass Sie es bekommen.“ Und dann wechselte sie so unvermittelt das Thema, dass er kaum noch mitkam. „Ernsthaft, ein Bier? Und was ist mit Abendessen?“

Sprachlos starrte er sie an. „Ist dieses mütterlich Erdrückende etwas, was Sie einfach ohne Vorwarnung überfällt, oder machen Sie das absichtlich?“, fragte er schließlich aufgebracht.

Natürlich ignorierte sie seine Frage völlig.

„Wissen Sie was? Ich schulde Ihnen ein Abendessen. Warum kommen Sie nicht mit zu mir? Ich koche uns was.“

„Was?“, rief er wie vom Donner gerührt. Er musste sich verhört haben!

„Ich würde Ihnen ja anbieten, mit zu Ihnen zu kommen und Ihnen dort was zu kochen – Sie wissen schon, vertraute Umgebung und so, da sind Sie vielleicht nicht so schreckhaft –, aber ich habe das Gefühl, dass das Einzige, was ich in Ihrem Kühlschrank finden werde – wo wir ja jetzt wissen, dass Sie einen haben –, halb leere Kartons vom chinesischen Take-away sind. Zehn Tage alt. Vielleicht sogar elf.“

Diese Frau machte ihn fertig. Sie redete wie ein Wasserfall, und sie redete Unsinn. Als sie kurz Luft holte, warf er ein: „Sind Sie jetzt fertig?“

„Kommt darauf an“, erwiderte sie und hob kampfbereit das Kinn. „Kommen Sie mit?“

„Nein!“

„Dann bin ich nicht fertig.“ Sie blickte versonnen auf den Hund an ihrer Seite. „Ich habe eine sehr überzeugende Freundin hier, die mir sicher helfen würde, meine Sicht der Dinge durchzusetzen. Deshalb schlage ich vor, Sie gehen ihren Versuchen, Sie zum Mitkommen zu bewegen, besser aus dem Weg und begleiten mich einfach freiwillig.“

Sie war verrückt. Ganz eindeutig. Sie war verrückt.

Trotzdem spürte er, wie er schwach wurde. Wahrscheinlich war er genauso verrückt wie sie.

Er setzte seinen strengsten Gesichtsausdruck auf und sagte todernst: „Sie wissen schon, dass es Gesetze gibt, die das Kidnappen eines Polizisten verbieten?“

Ihre Augen funkelten, als sie lachend erwiderte: „Nicht, wenn der Polizist freiwillig mitkommt.“

Wie aufs Stichwort gab Colins Magen ein lautes Knurren von sich.

„Das ist ja wohl die Entscheidung“, erklärte Miranda lächelnd. „Ihr Bauch ist auf meiner und Lolas Seite.“

All sein Stirnrunzeln nützte ihm nichts. Sie gab einfach nicht nach. So langsam begann er, ihre Sturheit zu bewundern. Wenn er auch nur einen Funken Verstand hatte, würde er jetzt in seinen Wagen steigen und so schnell wie möglich davonrasen.

Aber das tat er nicht.

„Dem Hund ist das alles aber ziemlich egal“, sagte er.

So. Vielleicht gab sie nun Ruhe?

Tatsächlich schwieg sie einen Moment, aber nur, um Colin nachdenklich zu betrachten.

„Sie hatten als Kind keine Haustiere, oder?“, fragte sie ihn schließlich.

„Wie kommen Sie jetzt darauf?“

„Weil Sie gesagt haben, dem Hund wäre das egal. Wenn Sie jemals ein Haustier gehabt hätten, wüssten Sie, dass vor allem Hunde durchaus Gefühle für ihre Menschen haben.“

Ha, jetzt hatte er sie! „Ich bin aber nicht ihr Mensch.“

„Nein, aber im Moment bin ich das, und mir liegt etwas an Ihnen“, erklärte sie frei heraus. „Das hat Lola mitbekommen.“

Das lief alles so verkehrt, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte.

„Zuerst einmal haben Sie gesagt, dass Sie diesen Schäferhund mitnehmen, um ihm – ihr – ein Pflegeheim zu geben. Es ist also das erste Mal. Sie weiß nicht das geringste bisschen über Sie, sie ist noch nicht einmal richtig Ihr Hund. Und zweitens – oder vielleicht wäre das auch besser Punkt eins gewesen: Wieso zur Hölle interessiert es Sie, ob ich etwas zu essen zu Hause habe oder nicht?“

Miranda zuckte nicht mit der Wimper, während er seine wohldurchdachten Argumente vortrug. Stattdessen betrachtete sie ihn völlig ungerührt und fragte, als er fertig war: „Wieso auch nicht?“

„Weil wir uns fremd sind, verdammt“, murmelte er mit den Nerven am Ende. „Sie kennen mich doch überhaupt nicht!“

Wieso begriff sie das denn nicht?

Ruhig und gelassen widersprach sie ihm. „Sie haben mich angehalten, um mir einen Strafzettel zu verpassen, was Sie dann nicht gemacht haben, als ich erklärte, warum ich zu schnell gefahren bin. Und als ich Ihnen von Lilys Mutter erzählt habe, haben Sie sie gefunden.“

Es war, als renne man mit dem Kopf gegen die Wand. Ganz gleich, was er sagte, sie machte was Positives draus.

„Daran hatte ich gar keinen Anteil“, rief er. „Das war Zufall!“

Obwohl er laut sprach, schien sie ihn gar nicht zu hören. Oder wenn sie ihn hörte, ignorierte sie seine Worte. Sie redete einfach weiter.

„Und dann sind Sie ins Frauenhaus gekommen, um Lily sofort Bescheid zu sagen. Das hätten Sie nicht tun müssen. Und Sie haben uns ins Krankenhaus gefahren. Das hätten Sie auch nicht tun müssen.“

„Verdammt, Sie verdrehen alles!“

Jetzt war er wirklich laut geworden, und Lola preschte nach vorn, als wolle sie Miranda beschützen.

„Bleib“, befahl sie, dann blickte sie zu Colin auf. „Warum haben Sie solche Angst, dass andere Sie für einen guten Menschen halten könnten?“

„Weil ich keiner bin.“

Sie senkte den Kopf. „Nun, ich denke, in dem Punkt müssen wir uns darauf einigen, dass wir uns nicht einigen können.“

„Wir müssen überhaupt nichts“, erwiderte er ungeduldig.

Wieder lächelte sie geheimnisvoll. „Ich denke, mit einem vollen Bauch werden Sie anders darüber denken. Hier ist meine Adresse.“ Sie zog eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm. „Aber es ist bestimmt einfacher, wenn Sie mir hinterherfahren.“

„Es ist bestimmt einfacher, wenn ich zu mir nach Hause fahre“, widersprach er.

Miranda war schon auf dem Weg zu ihrem Auto und drehte sich noch einmal zu ihm um. Ihr Lächeln war wie ein Schlag in die Magengrube.

„Nein, Sie werden nicht nach Hause fahren.“ Sie sagte es mit solcher Sicherheit, dass es ihm die Sprache verschlug. Dafür knurrte sein Magen wieder. „Sehen Sie? Ihr Bauch gibt mir recht. Also steigen Sie ein und folgen Sie mir. Nach dem Abendessen dürfen Sie nach Hause gehen, versprochen.“

Herr im Himmel, irgendwie schaffte sie es, dass das verlockend klang. Und er hatte tatsächlich Hunger. Das Mittagessen war wegen einer Verfolgungsjagd ausgefallen, und ihm war schon ganz flau im Magen.

Ein letzter Versuch. „Sie wissen schon, dass es gefährlich ist, Fremden einfach so Ihre Adresse zu geben?“

Wieder lächelte sie und strich dem Monster von Schäferhund über den Kopf. „Da mache ich mir überhaupt keine Sorgen, glauben Sie mir.“

Also schön, er gab auf. Sollte sie doch das letzte Wort haben. Er hatte genug von den Diskussionen für heute. Und außerdem war er wirklich hungrig.

Dennoch drehte er auf der Fahrt beinahe um. Zwei Mal.

Und beide Male widerstand er dem Impuls und folgte Mirandas Wagen weiter. Hauptsächlich deshalb, weil er wusste, dass sie am nächsten Tag auf dem Revier auftauchen würde, wenn er sich vor dem Abendessen bei ihr drückte. Wahrscheinlich sogar mit einem Lunchpaket oder einem Picknickkorb.

Und das konnte er nun wirklich nicht gebrauchen.

Also fluchte er leise vor sich hin und fuhr weiter.

Besser, er brachte es hinter sich. Dann waren sie in ihren Augen vielleicht quitt: Er hatte eine gute Tat vollbracht, und sie hatte sich mit einem selbst gekochten Abendessen bei ihm revanchiert. Hoffentlich konnte sie kochen – sonst würde es ein anstrengender Abend werden.

Abgelenkt von diesem Gedanken, verpasste Colin die letzte Abzweigung. Vorsichtig setzte er zurück und bog dann rechts ab. Natürlich war sie nicht einfach weitergefahren, sondern wartete mit laufendem Motor darauf, dass er wieder aufschloss.

Also hatte sein Gefühl ihn nicht getäuscht. Es gab kein Entkommen. Niemals hätte diese Frau zugelassen, dass er sich vor diesem Dankeschön-Dinner mit ihr drückte.

Ihr kleines Haus stand zwei Blocks weiter. Es war einstöckig, sah ordentlich aus und wirkte sehr einladend.

Er ertappte sich dabei, wie er dachte, dass es zu ihr passte.

Miranda parkte in der Einfahrt, er am Straßenrand. So konnte er schneller abhauen, wenn es hart auf hart kam. Sie stieg aus und öffnete dann die Beifahrertür für den Hund. Lola sprang aus dem Wagen, dann warteten sie beide neben dem Auto darauf, dass er zu ihnen kam.

„Trauen Sie mir nicht?“, fragte er amüsiert, als er Miranda erreichte.

„Wir wollten Sie nur willkommen heißen“, erwiderte sie, während Lola wie zur Bestätigung mit dem Schwanz wedelte.

Miranda ging voraus zur Eingangstür und schloss auf, dann betrat sie mit Lola an der Leine das Haus und schaltete das Licht im Wohnzimmer ein.

„Willkommen zurück“, sagte sie freudig zu dem Hund und machte ihn los.

„Sie war schon mal hier?“, fragte Colin. Hatte sie nicht gesagt, sie nähme den Hund zu ersten Mal mit?

„Ein paarmal“, antwortete Miranda. „Als eine Art Testlauf, um zu sehen, wie sie sich bei mir zu Hause macht.“

„Und?“, fragte er und zog die Jacke aus.

Miranda lächelte. „Nun ja, sie macht sich gut.“

Er setzte zu einer flapsigen Bemerkung an, doch die blieb ihm im Halse stecken, als er sich im Wohnzimmer umblickte.

In der Mitte stand ein Weihnachtsbaum. Nein, das war nicht einfach ein Weihnachtsbaum, das war die Mutter aller Weihnachtsbäume – mindestens drei Meter hoch. Oder so sah es zumindest aus.

Und er war nur zur Hälfte dekoriert.

Der Rest der Weihnachtsdeko war im ganzen Zimmer verstreut – teilweise noch in der Schachtel –, als warte sie darauf, aufgehängt zu werden.

„Sieht aus, als wäre hier ein Weihnachtsladen explodiert“, bemerkte er und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ich hatte noch keine Zeit, den Baum fertig zu schmücken. An den meisten Abenden bin ich zu müde dazu, wenn ich nach Hause komme.“

Sie ging in die Küche, kam aber gleich darauf mit einem Hundenapf voll Wasser zurück, den sie neben den Couchtisch stellte.

„Bitte schön, Lola, trink erst mal was. Gleich gibt’s auch was zu fressen.“

„Sie haben einen Hundenapf“, stellte Colin überrascht fest.

„Wie gesagt, sie ist ja nicht zum ersten Mal hier. Und ich bin gern gut vorbereitet.“

Natürlich, dachte er. Wieder betrachtete er den Weihnachtsbaumschmuck, der zwei Drittel des Wohnzimmerfußbodens bedeckte.

„Gehört das alles Ihnen?“, fragte er fassungslos. Er hatte Weihnachtsbäume in Einkaufszentren gesehen, die mit weniger dekoriert waren, als hier rumlag.

„Na ja, wenn ich es gestohlen hätte, wäre es unklug von mir, einen Polizisten ins Haus zu schleppen, oder?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, fügte sie hinzu. „Die Hälfte davon gehörte meinen Eltern. Ich habe die Sammlung nur über die Jahre ergänzt.“

„Und der Riesenbaum?“

Autor

Rochelle Alers
Seit 1988 hat die US-amerikanische Bestsellerautorin Rochelle Alers mehr als achtzig Bücher und Kurzgeschichten geschrieben. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Zora Neale Hurston Literary Award, den Vivian Stephens Award for Excellence in Romance Writing sowie einen Career Achievement Award von RT Book Reviers. Die Vollzeitautorin ist Mitglied der...
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Marie Ferrarella

Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...

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