Collection Baccara Band 270

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HEISSE NACHT IN STARKEN ARMEN von ORWIG, SARA
Wie sehr hat Lara ersehnt, sich in die Arme eines starken Mannes fallen zu lassen! Und nach dieser heißen Nacht mit dem aufregenden Fremden glaubt sie: Er ist es! Er wird meine geheimsten Sehnsüchte stillen. Da erfährt Lara, wer ihr Liebhaber tatsächlich ist ...

SÜNDIG SÜSSE KÜSSE von BLAKE, ALLY
Seine Eiscreme ist Verführung pur! Morgan kann einfach nicht widerstehen, als Saxon ihr davon zu naschen gibt. Sündhafter noch schmecken seine Küsse und verlocken sie zu heißeren sinnlichen Gelüsten. Aber da ahnt sie ja auch nicht, was er hinter ihrem Rücken plant ...

TRÄUMST DU DENSELBEN TRAUM? von GALLOWAY, SHELLEY
Ein erfülltes Liebesleben? Bisher existierte es nur in Vivis Fantasie. Da trifft sie Cary und ist fasziniert von dem attraktiven Mann, mit dem sie bald nicht nur seine Hundeleidenschaft teilt. Doch Cary will mehr als heiße Nächte mit ihr - ist es auch ihr Traum?


  • Erscheinungstag 12.11.2008
  • Bandnummer 0270
  • ISBN / Artikelnummer 9783863495787
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

SHELLEY GALLOWAY

Träumst du denselben Traum?

Von wegen langweilige Kleinstadt! Nicht nur ihr erster Fall hält die Polizistin Vivi in Atem, auch der attraktive Mathelehrer Cary, mit dem sie bald nicht nur ihre Leidenschaft für Beagles teilt. Doch als er nach einer rauschhaften Nacht von gemeinsamer Zukunft spricht, zögert sie. Sie haben viel gemeinsam und Harmonie pur im Bett. Nur: Ist es auch Liebe?

ALLY BLAKE

Sündig süße Küsse

Saxon hat bereits einige Frauen kennengelernt. Aber keine so aufregende Schönheit wie Morgan. Schon träumt er davon, sie auf verlockend süße Stunden in sein Bett zu entführen, da erfährt er: Ihr gehört der Häuserblock, in dem sich seine Eisdiele befindet.Und sie hat etwas damit vor, das ihm ganz und gar nicht gefallen wird ...

SARA ORWIG

Heiße Nacht in starken Armen

So sinnlich sind seine Berührungen, dass sie Laras Herz in nur einer einzigen Nacht verzaubern. Doch erst am Morgen danach erfährt sie, wer der faszinierende Fremde wirklich ist. Aber da ist es eigentlich schon zu spät: Nicht ein Märchenprinz hat sie verführt, sondern Eli Ashton – der älteste Sohn ihres zutiefst verhassten verstorbenen Chefs ...

1. KAPITEL

Das Basketball-Fieber hatte an diesem bitterkalten Februartag in Lane’s End, Ohio, fast ausnahmslos alle befallen.

Alle bis auf Vivi Slate. Sie konzentrierte sich nur darauf, ihren Subaru Outback durch den zäh fließenden Verkehr zu lenken. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern aufs Lenkrad und fragte sich, ob sie sich je an das Leben in ihrer neuen Heimatstadt gewöhnen würde.

Der letzte Monat war gelinde ausgedrückt interessant gewesen. Nachdem sie ihren Job beim Cincinnati Police Departement gekündigt hatte, war sie zur Polizei von Lane’s End versetzt worden, hatte ein Appartement gemietet und versucht, sich an das Leben und Arbeiten in einer Kleinstadt zu gewöhnen.

Wieder einmal.

Es war eine Art Hassliebe. Wenn sie beim Einkaufen Bekannte traf, wurden sofort Erinnerungen an ihre Jugend in Beckley, West Virginia, geweckt. Dort hatte sich damals jeder den Mund zerrissen über ihr burschikoses Wesen, und man versicherte sich gegenseitig, dass sie nie an ihre große Schwester Margaret heranreichen würde.

Vivi dachte an ihre Mutter, die nie verstanden hatte, warum sie lieber auf der Aschenbahn lief, als Mitglied der Tanzgruppe zu werden. Oder am Tag nach Thanksgiving lieber auf die Jagd ging, als zum Einkaufen nach Charleston zu fahren.

Lane’s End erinnerte Vivi daran, dass sie in letzter Zeit ziemlich unabhängig geworden war, was auf eine nette Weise ihre Reserviertheit umschrieb.

Endlich sprang die Ampel auf Grün. Während sie im Schritttempo den Cheyenne Boulevard entlangfuhr, zählte sie mindestens fünfzehn schwarze Reklametafeln, auf denen in riesigen goldenen Buchstaben Lion Pride prangte, der Name der hiesigen Basketball-Mannschaft.

Wenn der Verkehr doch nur nachlassen würde. Vivi brauchte unbedingt einen Sack Hundefutter für ihre Beagle-Hündin Sadie.

Nach einer Ewigkeit erreichte Vivi endlich den Parkplatz vor dem Zoomarkt und eilte hinein. Gerade als sie den schweren Sack Hundefutter aus dem Einkaufswagen in den Kofferraum wuchten wollte, hörte sie eine Stimme hinter sich.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Der fünfundzwanzig Kilo schwere Sack wäre Vivi fast aus den Händen geglitten und auf die Füße gefallen. „Verzeihung?“, fragte sie und blinzelte gegen die untergehende Sonne.

„Kann ich Ihnen helfen?“, wiederholte die sehr männliche Stimme. Dann trat der Mann aus dem blendenden Licht und machte einen großen Schritt auf sie zu. Seine Bewegungen waren so fließend und geschmeidig, dass er sicherlich entweder regelmäßig joggte oder Rad fuhr. „Dieser Sack ist ziemlich schwer für eine Frau Ihrer Größe.“

Der Typ war ganz schön frech. „Ich schaffe das schon.“ Für solche Dinge hatte sie noch nie einen Mann gebraucht. Es war viel einfacher, sich auf sich selbst zu verlassen. So wurde sie auch nicht enttäuscht, wenn die Dinge nicht nach Plan verliefen.

Als hätte er ihr nicht zugehört, nahm ihr der Mann den Sack aus der Hand und hievte ihn ins Auto.

„Sie hätten Ted bitten sollen, dass er Ihnen hilft. Es wundert mich, dass er es nicht von sich aus angeboten hat.“

Tatsächlich hatte der Ladenbesitzer es ihr angeboten, aber das ging niemanden etwas an.

Das unerwünschte Interesse des Fremden brachte sie aus dem Gleichgewicht und störte sie ein wenig. Die Jungs zu Hause hatten sehr wohl gewusst, dass man Genevieves Wagentür lieber nicht öffnete. Und die Polizisten in Cincinnati hatten schnell gelernt, Vivi nicht zu unterschätzen. Die Kollegen hier in Lane’s End begriffen es allmählich auch.

„Ich schaffe das schon, danke“, antwortete sie schroff.

Seine braunen Augen wurden schmal, als er einen Schritt zurücktrat. „Hey, tut mir leid, ich wollte nur helfen.“

„Nein, ich muss mich entschuldigen. Danke für Ihre Hilfe“, verbesserte sie sich und spürte, wie sie rot wurde. Ihre Mutter hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen angesichts ihrer schlechten Manieren. Auch unabhängige Frauen sollten in der Lage sein, sich höflich zu bedanken.

„Bitte sehr.“ Er machte eine Pause, und Vivi dachte schon, er würde noch etwas hinzufügen. Doch er schüttelte nur den Kopf und machte auf dem Absatz kehrt.

Also tat sie den nächsten Schritt. „Ich habe mich wirklich sehr über Ihre Hilfe gefreut. Es war ein langer Tag, und der Verkehr bringt einen fast um.“

„Stimmt. Diese Stadt ist so voller Spruchbänder und Schilder, dass man ihnen kaum ausweichen kann.“

Sie schüttelte den Kopf. „Basketball, die Leute sind völlig verrückt damit.“

Die Lippen des Mannes verzogen sich leicht, als sie bemerkte, dass auch er ein schwarzgoldenes Sweatshirt trug. „Begeistert es Sie etwa nicht, dass die High School von Lane’s End es in die Play-offs schaffen könnte?“

„Ich bin neu in der Stadt“, erwiderte sie und lächelte schief. „Anscheinend bin ich mir über die Bedeutung noch nicht ganz klar.“

„Das kommt noch“, sagte er zuversichtlich. „Immerhin haben wir es zum ersten Mal seit achtundzwanzig Jahren so weit geschafft. In der Schule reden wir von nichts anderem mehr.“

„Schule?“

„Ich unterrichte Algebra an der Lane’s End High School.“

Ein Lehrer, noch dazu ein Mathelehrer. Obwohl er gar nicht so aussah. Eher wie eine Mischung aus Pierce Brosnan, Charlie Sheen und Clark Kent.

„Da können Sie sicher jede Menge interessanter Geschichten erzählen“, fuhr Vivi ganz im Bann seiner dunklen Augen fort.

„Hunderte.“

Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen, ihm von ihrem Job zu erzählen. Dass sie die neue Polizistin in der Stadt war. Dass sie nicht unhöflich hatte sein wollen, aber nie die hohe Kunst des Smalltalk gelernt hatte.

„Und Sie haben also einen Hund“, bemerkte er und deutete auf den Futtersack.

Vivi musste lächeln. „Eine Hündin.“

„Welche Rasse? Deutsche Dogge? Mastiff?“

„Beagle.“

Mit einem Lachen trat er einen Schritt näher. „Einen Beagle also. Ich habe auch einen. Meiner heißt Sludge.“

„Und meiner Sadie. Dann wissen Sie ja sicher, was man als Beaglebesitzer so alles erdulden muss.“

„Nächtliches Jaulen? Kaninchen jagen? Kenne ich alles“, meinte er und lachte.

„Sadie hat einmal sämtliche versteckten Ostereier in der Nachbarschaft gefunden und gefressen.“

„Wie viele?“

„Mindestens ein Dutzend. Ein Biss, und weg waren sie. Die farbigen Schalen haben sie nicht im Geringsten gestört. Hinterher war sie allerdings zwei Tage lang krank.“

„Jetzt sollte ich mich wohl endlich vorstellen. Cary Hudson.“ Er streckte ihr die Hand hin.

„Genevieve Slate“, sagte sie und schüttelte seine Hand.

„Genevieve. Hübscher Name.“

„Ich werde Vivi genannt. Cary wie Cary Grant?“

„Genau. Meine Mutter war ein großer Fan der alten Leinwandstars. Mein Bruder heißt Dean.“

„Nach Dean Martin?“, fragte sie neugierig.

„Ja. Wenn Sie Dean Martin kennen, dann müssten Sie eigentlich auch ein Kinofan sein“, erwiderte er und schenkte ihr wieder sein ansteckendes Lächeln.

„Stimmt.“ Vivi konnte kaum glauben, dass sie außer den Hunden noch eine weitere Gemeinsamkeit hatten. Sie besaß alle Cary Grant-Filme auf DVD und hatte „Ocean’s Eleven“ gerade erst vor einer Woche im Original gesehen.

Allmählich begann sie sich für den Lehrer Cary Hudson zu erwärmen. Er war liebenswürdig und attraktiv, offen und zugänglich.

Das genaue Gegenteil von ihr. Zumindest auf den ersten Blick.

Wahrscheinlich liebte Cary Spaziergänge im Park, offenes Kaminfeuer und Bücher. Dinge, die nicht zu den Vorlieben ihrer Arbeitskollegen gehörten. Sadie würde ihn anbeten.

Vivi spürte, dass sie auch nicht allzu abgeneigt wäre. Falls sie an einer Beziehung interessiert wäre.

Cary brach das Schweigen. „Nun, jetzt habe ich Sie lange genug gelangweilt, bis bald einmal.“

„Es war nicht langweilig. Danke noch mal für Ihre Hilfe.“

„Gern geschehen. Viel Glück mit Ihrem Beagle.“

„Ebenfalls. Und machen Sie sich keine Sorgen, Sadie ist sehr fügsam, wenn sie satt ist.“

„Sind wir das nicht alle?“

Sein Kommentar sprach ihr so aus dem Herzen, dass sie laut lachen musste. Cary fiel in ihr Lachen ein und ging dann zu seinem Auto. Vivi wusste, wenn sie jetzt nicht die Initiative ergriff, würde es nie wieder einen Grund für ein Gespräch mit ihm geben, es sei denn, er brauchte polizeilichen Beistand.

„Hey“, rief sie, als er gerade einsteigen wollte. „Haben Sie Lust, einen Kaffee mit mir zu trinken?“

„Gern, wollen wir in ein Café gehen?“

Als echter Gentleman wollte Cary ihr wohl keinen Korb geben. „Ja, ich meine, wenn Sie Zeit haben.“ Meine Güte, sie war wirklich schlecht in solchen Dingen.

„Ich habe Zeit. Kennen Sie das Corner Café?“

„Klar, dann treffen wir uns dort.“

Das in einem alten gelben Farmhaus untergebrachte Café gehörte bereits zu Vivis Lieblingsplätzen.

Als Carys glänzender schwarzer SUV auf den Parkplatz einbog, verspürte Vivi einen Stich der Isolation.

Im Grunde war sie einsam. Sie war es leid, nachts in Erinnerungen an Keaton, ihren Expartner bei der Polizei in Cincinnati, zu schwelgen. Er war ihr erster echter Freund nach einer langen Zeit gewesen. So echt, dass sie geglaubt hatte, auch er müsse eine besondere Zuneigung für sie empfinden. Sie hatte sich vom ersten Augenblick an zu ihm hingezogen gefühlt und jahrelang darauf gewartet, dass er ihr endlich eine Liebeserklärung machen würde.

Als er sich schließlich in eine andere Frau verliebt hatte, war sie zutiefst beschämt gewesen. Die ganze Geschichte hatte ihr so zugesetzt, dass sie beschlossen hatte, in einer anderen Stadt einen neuen Anfang zu machen.

Zu ihrem Glück – oder Pech – hatte Lane’s End gerade eine freie Stelle zu besetzen. Doch als sie schließlich umgezogen war, erinnerte Lane’s End sie viel zu sehr an Beckley, um ihr wirklich Trost zu geben.

Cary schaltete seinen Explorer in den vierten Gang und fragte sich, warum um alles in der Welt er sich mit Vivi auf einen Kaffee verabredet hatte. Obwohl sie wie eine sportliche Version von Demi Moore aussah, sagte ihm sein Instinkt, dass es zu früh für eine neue Beziehung war, nachdem Kate Daniels, seine Ex, ihm das Herz gebrochen hatte.

Die letzten drei Monate hatte er damit verbracht, ehrenamtlich in vielen Ausschüssen zu arbeiten, seiner Nichte Melissa zu helfen, und vor allem hatte er versucht zu vergessen, dass er sich je in Kate verliebt hatte.

Warum traf er sich jetzt mit Genevieve in einem Café?

Weil er etwas in ihren Augen entdeckt hatte, das ihm zu Herzen ging. Sie hatte ausgesehen, als brauchte sie einen Freund.

Sie trafen sich vor dem Café, und Cary führte Vivi zu einem freien Tisch und winkte der Kellnerin. Sie nahm ihre Bestellung auf und verschwand wieder.

Vivi machte einen höchst zufriedenen Eindruck, als sie die Speisekarte weglegte.

„Was ist so lustig?“, fragte Cary neugierig.

Ihr Lächeln wurde breiter. „Eigentlich nichts. Ich bin nur ziemlich stolz auf mich, weil ich mir keinen Kuchen bestellt habe. Normalerweise hätte ich mir ein Èclair oder auch zwei gegönnt.“

„Sie sind also eine Naschkatze?“

„Allerdings und keine kleine.“

Er lachte. „Es ist schon eine Weile her, dass ich neben einer Frau saß, die sich nicht ständig um jeden Bissen sorgt, den sie zu sich nimmt.“

„Das ist ganz sicher nicht meine Art. Ich neige dazu, mir über andere Dinge Gedanken zu machen.“ Ein Schatten flog über ihr Gesicht. „Darüber zum Beispiel, dass ich normalerweise keine Männer zu einem Kaffee einlade, die ich gerade erst kennengelernt habe.“

„Dann sind wir quitt. Normalerweise werde ich nämlich nicht vor dem Zoogeschäft eingeladen.“ Als er sah, wie ihre Augen sich weiteten, fügte er schnell hinzu: „Zum Glück ist es nur auf einen Kaffee, oder?“

Sie entspannte sich sichtlich. „Genau.“

Um die Situation noch ungezwungener zu machen, fragte Cary dann: „Und was machen Sie beruflich?“

„Ich bin Polizistin.“

„Tatsächlich?“ Cary musste zugeben, dass das zu ihr passte. Sie war groß und durchtrainiert, mit einem starken, durchsetzungsfähigen Charakter. Vivi Slate schien wie geboren für den Job. „Ich habe noch nie jemanden von der Polizei kennengelernt. Abgesehen davon, dass ich hin und wieder einen Strafzettel fürs Falschparken oder zu schnelles Fahren bekomme. Wofür genau sind Sie zuständig? Verkehr? Sitte? Mord?“

„Anscheinend sehen Sie zu viele Krimis“, erwiderte sie lächelnd. „In einer Stadt wie Lane’s End machen wir alles, was anfällt. Zum Glück wird kein eigenes Morddezernat gebraucht.“

Vivi nippte genüsslich an ihrem Drink, den die Kellnerin in der Zwischenzeit serviert hatte. Diese so typische feminine Geste überraschte ihn. „Also …“, hakte er nach.

„Ich habe gerade erst auf der Dienststelle hier begonnen. Ich bin vorher in Cincinnati fünf Jahre lang Streife gefahren. Jetzt muss ich mich erst wieder an das Leben in einer Kleinstadt gewöhnen.“

„Und wie läuft es?“

„So weit, so gut. Allmählich bin ich froh über den Wechsel.“

Vielleicht sollte er auch einmal etwas Neues wagen.

„Den größten Teil des Tages beschäftige ich mich mit Routinesachen“, fuhr Vivi fort. „Häusliche Streitigkeiten, betrunkene Jugendliche am Steuer, Staus. Während der letzten vier Wochen habe ich sicher mehr verschlossene Autotüren geöffnet und mehr Anzeigen wegen Hundegebells verfolgt als während meiner ganzen Jahre in Cincinnati.“

„Ich bin fasziniert.“

„Hören Sie auf!“, rief sie lachend aus. „Polizistin zu sein ist nicht faszinierend. Aber ich liebe meinen Job. Ich würde verrückt, wenn ich den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen müsste.“

„Genauso ist es bei meinem Beruf. Wer an einer High School unterrichtet, kann sicher sein, dass ihm nie langweilig wird.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass man zu manchen seiner Schüler ein ziemlich enges Verhältnis entwickelt.“

Cary nickte, während er an die schmale Grenze dachte, auf der er sich zwischen Vertrauens- und Autoritätsperson an der Schule bewegte.

Genevieve entspannte sich und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie sich gut unterhielt. Cary war ein interessanter und angenehmer Gesprächspartner. Vielleicht würde ja dieses kleine Kaffeetreffen zu einer weiteren Verabredung führen. Und zu noch einer.

Vielleicht würde sie Keaton vergessen.

Vielleicht …

Das durchdringende Klingeln eines Handys unterbrach ihren kleinen Tagtraum. „Entschuldigung, ich muss drangehen“, murmelte sie, als sie auf dem Display sah, wer anrief. „Slate.“

„Ich weiß, dass du Feierabend hast, aber wir brauchen Unterstützung auf der 271 in östlicher Richtung. Bist du zufällig in der Nähe?“, fragte Allison, die diensthabende Einsatzleiterin.

In Gedanken überschlug Vivi rasch, wie weit entfernt sie vom Highway war. „In fünf Minuten kann ich da sein, höchstens acht.“

„Gut.“ Dann berichtete Allison ihr Einzelheiten über den Unfall.

„Bin schon unterwegs.“

„Probleme?“, fragte Cary und erhob sich gleichzeitig mit Vivi.

„Ja, leider.“ Sie suchte nach Kleingeld in ihrer Hosentasche. „Hier. Ich muss …“

„Behalten Sie Ihr Geld. Ich lade Sie ein.“ Und als sie ihn erstaunt ansah, fügte er hinzu. „Es ist ja nur ein Kaffee. Keine große Sache.“

Obwohl sie ihm recht geben musste, spürte Vivi, wie ihre gute Laune sich verflüchtigte. Offenbar war ihre kurze Bekanntschaft damit für ihn beendet. Für einen kurzen Moment hatte sie gehofft, es könnte mehr werden.

Auf dem Weg zu ihrem Auto gestand Vivi sich ein, dass sie froh war, Cary Hudson kennengelernt zu haben. Selbst wenn sie sich nie wiedersehen sollten, war es gut, dass sie sich überwunden hatte und neue Bekanntschaften knüpfte.

Cary schrieb den Lehrsatz fertig an die Tafel und drehte sich dann zu seiner Klasse um. „Denkt bei euren Hausaufgaben an das, was wir heute durchgenommen haben.“

Wie erwartet ging ein Raunen durch die Klasse. Er sah auf seine Uhr und heuchelte Überraschung. „Anscheinend habe ich mich komplett in der Zeit verschätzt. Wir haben noch fünfzehn Minuten Unterricht. Für einige von euch Zeit genug, um die Hausaufgaben zu erledigen, ehe es klingelt.“

Alle bis auf Amy Blythe, eine kleine Blonde mit Lockenschopf, beugten sich eifrig über ihre Hefte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sich je verschätzen, Mr. Hudson.“

Cary lächelte nur und wies auf die Uhr über der Tafel. „Noch dreizehn Minuten Unterricht, Amy.“

Sie verstand die Anspielung und beugte sich nun ebenfalls über ihr Mathebuch. Cary nutzte die Zeit, um die Tafel zu wischen und einmal durch die Klasse zu gehen, um sicherzustellen, dass alle auf der richtigen Seite waren.

Und während er nickte, auf richtige Lösungen wies und die Schüler dafür lobte, dachte er an etwas ganz anderes als Mathematik und Gleichungen, nämlich an Genevieve Slate. Die Polizistin. Die brünette Verführung. Sie hatte ihn auf den ersten Blick verzaubert, als sie voller Entschlossenheit das Zoogeschäft verlassen hatte.

Die Selbstbewusstheit in Person. Obwohl das nicht ganz stimmte. In ihren blauen Augen lag auch eine Spur Verwundbarkeit, als wäre sie einmal verletzt worden. Dieses Gefühl kannte er gut.

Er setzte sich auf die Kante seines Pults und wartete darauf, dass die letzten drei Unterrichtsminuten vergingen.

Einer der Jungen hob die Hand. „Mr. Hudson, gehen Sie heute auch zu dem Spiel?“

„Natürlich.“

Ben Schultz aus der letzten Reihe hob den Kopf. „Jamestown soll ziemlich gut sein, hoffentlich haben wir eine Chance.“

„Brian McCullough ist auch ziemlich gut“, erwiderte Cary, indem er den Star des hiesigen Teams ins Spiel brachte.

Die Bücher wurden zugeklappt, als die Glocke ertönte.

„Tschüs, Mr. Hudson“, riefen ein paar Schüler, als sie zur Tür hinausrannten.

„Wir sehen uns heute Abend.“

Einer nach dem anderen verließ die Klasse, und wenige Augenblicke später war der Raum leer. Cary hatte sich gerade an seinen Tisch gesetzt, als sein bester Freund Dave Fanning eintrat.

„Wollen wir vor dem Spiel einen Hamburger zusammen essen?“

„Gern, aber ich muss erst nach Hause und Sludge versorgen.“

Dave zog eine Grimasse. „Wie geht’s deinem verrückten Hund?“

„Super.“

„Als ich letztes Mal bei dir war, hat er meine neuen Schuhe ruiniert.“

„Ich hatte dich gewarnt. Herumstehende Schuhe sind Freiwild.“

„Warum hast du dir nicht einen Labrador angeschafft wie andere normale Menschen? Statt dieses psychopathischen Beagles.“

„Er ist nur zu drei Vierteln ein Beagle, der Rest ist ein Geheimnis.“

„Ich wette, er ist zu einem Viertel Rottweiler.“ Dave nickte einem anderen Lehrer zu, der gerade vorbeiging. „Hast du eigentlich deinen Vertrag für das kommende Jahr schon unterschrieben?“

„Nein.“

„Ist bis nächsten Freitag fällig.“

„Bis dahin habe ich mich entschieden.“

„Worauf wartest du noch? Ist es wegen Kate? Sie hat dich verlassen, oder?“

„Dieser neue Vertrag läuft für drei Jahre. Ich möchte sicher sein, dass ich so lange hierbleiben will.“

„Du hast dein ganzes Leben hier verbracht. Wo willst du hin?“

Nirgendwohin. Aber wollte er wirklich für immer und ewig in Lane’s End bleiben? „Ich werde wahrscheinlich unterschreiben, es ist mir nur nicht so eilig damit. Und es ist mir übrigens vollkommen egal, dass Kate mit Michael Kent ausgeht.“ Dem Blödmann.

„Alles klar. Wie sieht es aus … wollen wir zusammen essen?“

„Ja, sicher. Wir treffen uns in ungefähr einer Stunde beim Cheyenne Imbiss.“

Dave grinste. „Okay.“ Er wollte gerade noch eine Bemerkung anfügen, als Carys Nichte Melissa den Kopf ins Zimmer steckte.

„Onkel Cary, gehst du heute Abend zu dem Spiel?“

„Aber sicher. Du auch?“

„Klar.“ Melissa lachte. „Bis dann.“

„Gebt mir ein L! Gebt mir ein A! Gebt mir ein N!“ Ein blondes Energiebündel mit unvorstellbar lauter Stimme heizte die bis auf den letzten Platz gefüllte Sporthalle an. Gehorsam brüllte die Menge einstimmig die geforderten Buchstaben, die meisten schwangen dazu euphorisch schwarzgoldene Puschel.

„Davon bekomme ich nur Kopfschmerzen“, sagte Vivi zu Sam Clark, als sie an den ausgelassenen Cheerleadern vorbei auf die Tribüne gingen. „Ich fasse es nicht, wie du es geschafft hast, mich hierherzuschleppen.“

„Zu schleppen? Es gibt nichts Großartigeres. Wenn wir heute Abend gewinnen und das nächste Spiel auch, dann sind wir in den Play-offs.“

„Ich weiß. Und ich fiebere ja auch mit den Kids mit. Und mit der Stadt. Es ist nur ein wenig erdrückend.“

„Findest du?“ Sam sah sie überrascht an. „Und ich dachte, dich könnte nichts erschüttern.“

Vivi lachte. Sam war einer der wenigen Kollegen, die die neue Polizistin freundlich aufgenommen hatten, und er war immer bereit, all ihre Fragen zu beantworten. Inzwischen verstanden sie sich so gut, dass Vivi eingewilligt hatte, mit ihm zum Spiel zu gehen. Sams Freundin Meagan wohnte in Dayton, also war Sam der perfekte Ausgehpartner für Vivi – ein Freund, der nicht an mehr interessiert war.

„Allerdings muss ich zugeben, dass es mir auch gereicht hätte, das Ergebnis morgen in der Zeitung zu lesen.“

„Aber das wäre doch nur der halbe Spaß gewesen. Außerdem musst du dir deiner Bürgerpflicht bewusst sein. Die halbe Stadt ist hier. Es ist eine super Gelegenheit, neue Leute kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen. Ehe du dich versiehst, fühlst du dich zugehörig.“

Vivi zweifelte daran, dass es so einfach sein würde. Sie blickte über die Menge und erkannte ein paar der Gesichter. Da war der Polizeichef. Der Bürgermeister. Ihr neuer Tierarzt. Cary Hudson.

Ihr Puls beschleunigte sich, als sie ihn dabei beobachtete, wie er einer Mutter und zwei kleinen Kindern zulächelte.

Natürlich war Cary da. Schließlich hatte er deutlich zum Ausdruck gebracht, wie sehr ihn die Play-offs begeisterten. Außerdem waren sicher einige seiner Schüler im Team.

Sie kniff die Augen zusammen und musste zugeben, dass er hier in der Sporthalle nicht weniger attraktiv wirkte als kürzlich im Café. Warum nur hatte sie ihn nicht nach seiner Telefonnummer gefragt oder ihm wenigstens ihre E-Mail-Adresse gegeben?

Sie wollte sich gerade abwenden, als er sie über die Köpfe der Menge hinweg erspähte. Er hob grüßend die Hand, und sie tat dasselbe.

„Wem winkst du da?“, fragte Sam.

„Dem Typen in dem langärmeligen schwarzen Hemd. Cary Hudson. Er ist Mathelehrer hier.“

„Ich kenne Cary“, erwiderte Sam.

„Woher?“

Sam zuckte mit den Schultern. „Wir sind in Lane’s End, schon vergessen? Meine Schwester ist mal eine Weile mit seinem Bruder gegangen. Cary ist ein netter Kerl.“

„Anscheinend ist er ziemlich beliebt.“

„Das ist er mit Sicherheit. Cary ist einer der Menschen, die immer gute Laune haben, weißt du? Ich habe ihn noch nie mürrisch erlebt. Wusstest du, dass sein Vater Pfarrer war?“

„Nein, ich habe ihn neulich erst kennengelernt.“

„Nun, Paul Hudson war bis zu seinem Tod fast dreißig Jahre lang Pfarrer der Church of Christ. Carys Bruder Dean ist Finanzberater. Er lebt mit seiner Tochter Melissa im alten Haus seiner Eltern gleich neben Cary.“

„Ziemlich ungewöhnlich, zwei Brüder, die Tür an Tür wohnen.“

Sam nickte. „Soviel ich weiß, funktioniert es gut. Deans Frau hat sich aus dem Staub gemacht, als Melissa noch ein Baby war, daher übernahm Cary in den Sommerferien immer die Betreuung der Kleinen.“

Vivi wünschte sich, sie hätte die gleiche enge Beziehung zu Margaret. Aber zwischen ihnen lag mehr als nur die räumliche Entfernung. Vivi hatte sich vor allem für ihre Karriere interessiert, wollte eine möglichst gute Polizistin werden, während Meg hauptberuflich Ehefrau und Mutter von drei Kindern war. Das war schon immer Megs Wunsch gewesen. Ihre verschiedenen Lebensziele trennten sie so, dass Vivi sich fragte, ob sie überhaupt je eine gemeinsame Basis finden würden.

Vivi warf einen verstohlenen Blick zu Cary hinüber, doch er war nicht mehr da. Neugierig überflog sie mit den Blicken die Menge, aber in dem schwarzgoldenen Meer war es schwer, jemanden ausfindig zu machen.

Dann entdeckte sie ihn plötzlich, wie er durch den schmalen Gang zwischen den Zuschauertribünen heraufkam. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch, als er sich näherte. Dieses Gefühl war seltsam vertraut.

Cary dagegen wirkte, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Er bewegte sich durch die Menge wie ein geübter Politiker, grüßte nach rechts und nach links, schüttelte Hände und scherzte mit einer Gruppe Jungen.

„Wenn man vom Teufel spricht …“, murmelte Sam.

„Hallo, Sam, hallo, Vivi.“ Er deutete auf das Sweatshirt der Lane’s End Lions, das Sam ihr geliehen hatte. „Anscheinend hat das Fieber jetzt auch Sie gepackt.“

Sam erhob sich, um jemanden zu begrüßen, und überließ seinen Platz Cary.

„Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze?“

„Überhaupt nicht.“ Sie beobachtete einige Kids, die zwei Reihen unter ihnen Schokoriegel aßen. „Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie ich an ein Snickers komme.“

Er lachte. „Ich würde Ihnen gern eines anbieten, aber ich habe nur eine Packung Kaugummis dabei.“

„Bieten Sie mir einen an?“

Er hielt ihr die Packung hin. „Natürlich. Wie könnte ich der Polizei etwas abschlagen?“

Der kleine Flirt brachte Vivi zum Lächeln. Dass es um ihre Vorliebe für Fast Food ging, machte die Sache leicht und locker. „Ich wusste doch gleich, dass Sie so clever sind, wie Sie aussehen“, neckte sie ihn.

„Ich bin sogar noch cleverer“, konterte er und wickelte von seinem Kaugummi das Papier ab.

Vivi steckte den Kaugummi in den Mund und redete sich ein, dass da nichts zwischen ihr und Cary Hudson lief außer einer harmlosen Freundschaft.

2. KAPITEL

Als das Team auf dem Spielfeld erschien, erhob sich die Menge von den Sitzen und brüllte aus Leibeskräften. Obwohl Cary sich auf das Spiel gefreut hatte, wollte er jetzt nichts anderes als Vivi Slate ansehen. Sie sah sehr süß aus in Jeans und einem Sweatshirt, ihr langes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

„Wie geht’s Sadie?“

„Sie ist immer für eine Überraschung gut“, erwiderte sie und grinste. „An dem Tag, als wir uns trafen, hat sie sich aus ihrer Hundebox befreit, die Tür zur Küche geöffnet und zwei Schachteln Cornflakes verdrückt, ehe ich nach Hause kam. Und Sludge?“

„Gestern Abend hat er den Fußball ruiniert, den ich werfen wollte, und den Briefträger durch sein Bellen zu Tode erschreckt.“

Er erinnerte sich an Vivis gehetzte Miene, als sie das Café verlassen hatte. „Was war neulich los, als Sie so plötzlich aufbrechen mussten?“

„Ein Laster und ein Auto sind auf der I 275 zusammengekracht, und die Kollegen brauchten Unterstützung. Aber es war keine große Sache.“

„Schön.“

Vivi wies zu Sam hinüber. „Sam und Sie kennen sich, wie ich gehört habe?“

„Allerdings.“ Cary lachte. „Hier kennt jeder jeden.“

„Sam sagte, Ihr Vater hatte etwas mit der Kirche zu tun.“

„Ja, er war Pfarrer. Suchen Sie eine Kirche?“

„Ach du meine Güte, nein.“

Ihr Tonfall überraschte ihn. „Okay“, erwiderte er gedehnt.

„Tut mir leid, das klang wohl etwas seltsam. Ich wollte sagen, dass ich nie Zeit für so was hatte.“

Obwohl ihre Worte leicht dahingesprochen waren, spürte Cary doch die Härte dahinter. „Verstehe.“

„Hoffentlich habe ich Ihre Gefühle jetzt nicht verletzt.“ Sie sah ihn aus großen blauen Augen an.

„Überhaupt nicht.“ Er war nicht gekränkt … nur irgendwie enttäuscht. Vivi Slate schien eine harte Schale zu haben, er wusste nicht so recht, woran er mit ihr war.

Als er Dave entdeckte und sah, dass sein Bruder neben ihm saß, erhob sich Cary. „Es war nett, Sie zu treffen. Ich überlasse Sam mal wieder seinen Platz.“

„Ja, klar.“

Cary bemerkte, dass die gleiche Verwirrung in ihren Augen stand wie damals vor der Zoohandlung. „Hey, und seien Sie vorsichtig auf Ihrer Streife, Vivi.“

„Keine Sorge, Cary, ich passe schon auf.“

Eine Woche später klopfte Melissa zweimal an seine Tür, ehe sie nach ihm rief. „Onkel Cary? Bist du zu Hause?“

Cary warf einen Blick auf die Uhr. Sieben Uhr. Normalerweise erledigte Melissa um diese Zeit ihre Hausaufgaben oder sie telefonierte. „Alles in Ordnung bei dir?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin so froh, dass du zu Hause bist. Dad muss lange arbeiten, und Brian ist noch im Praktikum.“

„Was ist passiert?“, fragte er besorgt. Melissa sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

„Komm mit und schau dir mein Auto an“, sagte sie mit zitternden Lippen. „Meine Reifen sind kaputt. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“

„Lass uns nachschauen.“

Cary griff nach einer Jacke und seinem Handy und folgte Melissa zu ihrem treuen blauen Honda Civic, der mit platten Reifen praktisch auf dem Randstein saß.

Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen. „Ich wollte gerade los, als ich es entdeckte.“

„Bist du durch eine Gegend gefahren, wo du sonst nicht fährst?“, fragte er, obwohl ihm klar war, dass ein paar herumliegende Nägel so viel Schaden nicht anrichten konnten.

„Nein, ich bin von der Schule aus direkt nach Hause.“

Cary untersuchte die Reifen auf Nägel oder andere Fremdkörper, bis er schließlich einen Schnitt in der Nähe der Felge eines Rades entdeckte. „Die sind zerstochen worden.“

„Dad wird sich fürchterlich aufregen.“

„Wird er nicht.“ Cary wischte ihr eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Glaubst du wirklich?“

„Ich weiß es. Er ist schließlich mein Bruder. Hast du ihn schon angerufen?“

„Noch nicht.“

Er wies auf die Zementeinfassung, die ihren Rasen vom Gehsteig trennte. „Setzen wir uns. Ich glaube, wir müssen die Polizei holen. Jemandem die Reifen zu zerstechen ist eine ernste Sache, deshalb sollten wir es melden. Vielleicht ist es auch nur ein Dummejungenstreich, aber wir sollten auf jeden Fall vorsichtig sein.“

Weil sie noch immer ängstlich dreinblickte, fügte er hinzu: „Dein Dad wird den Schaden der Versicherung melden wollen, und die werden auf jeden Fall darauf bestehen, dass die Polizei eingeschaltet wird.“ Er legte ihr einen Arm um die Schulter. „Mach dir keine Sorgen. Dein Dad wird einsehen, dass du nichts dafür kannst.“

Ihr Handy klingelte. „Brian! O mein Gott!“, rief sie in ihrer exaltierten Art, die Cary so gut kannte, ins Telefon. Er streckte die Beine aus, während Melissa ihrem Freund berichtete, was passiert war.

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, war sie schon viel ruhiger. „Brian meint, du sollst die Polizei rufen.“

„Wenn er das meint, dann sollten wir es wohl tun“, erwiderte er ironisch.

Dann wählte er die Nummer der Polizei. Die Stimme, die sich meldete, erkannte er. „Hallo, Amanda, hier ist Cary Hudson. Könntest du vielleicht Pete oder Sam zu uns schicken? Melissa hat ein kleines Problem.“ Er berichtete von den zerstochenen Reifen und wandte sich an seine Nichte. „Es kommt gleich jemand vorbei.“

Als Nächstes rief er seinen Bruder an und informierte ihn. Zum Glück war Dean schon auf dem Heimweg.

Innerhalb von wenigen Minuten traf ein Auto nach dem anderen ein.

Aus dem ersten stieg Brian und eilte zu Melissa. Dann erschienen das Basketballteam, drei Mädchen aus Missys Cheerleadergruppe und einige ältere Jugendliche, die unterwegs zu einer Party waren.

Cary begrüßte alle, blieb jedoch sitzen. Er kannte die meisten der Kids seit Jahren und hatte fast jeden von ihnen schon im Unterricht gehabt. Sie waren alle okay und versuchten, Melissa moralisch beizustehen. Seine Nichte hielt sich schon etwas aufrechter, seit ihre Hand fest in Brians lag.

Endlich tauchte ein Polizeiauto auf.

Cary rührte sich nicht von der Stelle, als er sah, wer ihnen zu Hilfe kam.

Officer Vivi Slate.

Das Bild, das sich Vivi bot, war ihr seltsam vertraut. Hier in Lane’s End – wie früher in Beckley – kümmerte sich jeder um jeden. Eine ganze Horde Jugendlicher hatte sich vor einer Reihe von Ranchhäusern aus den Fünfzigerjahren versammelt. In ihrer Mitte standen Hand in Hand ein zierliches blondes Mädchen und ein großer Junge. Alle redeten gleichzeitig aufeinander ein.

Als sie sich der Gruppe näherte, tauchte ein weiteres Fahrzeug auf und hielt an. Ein gut aussehender Mann in Jeans und einem Hemd mit offenem Kragen und Carys dunkelbraunen Augen stieg aus. Er umarmte erst das Mädchen und klopfte dann dem Jungen auf die Schulter. Dann wandten sich alle Vivi zu.

„Gut, dass Sie hier sind, Officer“, sagte der Mann – vermutlich Carys Bruder angesichts der frappierenden Ähnlichkeit. „Da hat jemand die Reifen meiner Tochter aufgeschlitzt.“

„Sieht ganz so aus“, stellte Vivi fest. „Haben Sie eine Ahnung, warum jemand so etwas machen sollte?“

Das Mädchen sah fragend zu seinen Freunden, ehe es antwortete. „Nein.“

Vivi überlegte gerade, wie sie die Jugendlichen nach Hause schicken sollte, ohne sie vor den Kopf zu stoßen, als Cary zu der Gruppe trat.

„Wenn ihr keine sachdienlichen Informationen habt, Leute, dann schlage ich vor, dass ihr nach Hause geht.“

„Ich bleibe“, sagte Brian, der große Junge.

„Okay, Brian, du kannst bleiben. Melissa braucht dich. Aber die anderen sollten jetzt verschwinden. Melissa kann euch später anrufen.“

Wie durch ein Wunder gehorchten die Jugendlichen.

Vivi griff nach einem Stift. „Dann fangen wir mal an. Ich werde ein paar Fotos machen und Ihre Angaben aufnehmen. Sollte ich zusätzliche Informationen benötigen, komme ich morgen noch mal vorbei.“

Wie Vivi gehofft hatte, beruhigte ihre kompetente Art die Nerven des Mädchens sofort. Melissa beantwortete Vivis Fragen und hielt nur inne, als ihr Vater ein oder zwei Bemerkungen einwarf.

Kurze Zeit später machte Brian sich auf den Heimweg, Melissa und ihr Vater gingen ins Haus, und Vivi blieb mit Cary allein zurück.

„Danke, dass Sie gekommen sind“, sagte Cary. „Melissa war ziemlich durcheinander.“

„Das ist mein Job, Sie brauchen mir nicht zu danken“, gab sie zurück, ehe sie bemerkte, wie gefühllos sie klang.

Sein Mund wurde zu einem schmalen Strich. „Oh. Klar. Natürlich.“

„Ja. Wie gesagt, ich fülle diesen Bericht aus und rufe zurück, falls ich etwas herausfinde.“ Sie öffnete ihre Wagentür und fühlte sich schrecklich unbeholfen.

„Rufen Sie Dean an. Er ist ihr Vater.“

„Ja … ja, so hatte ich es vor.“

Sie wollte noch etwas hinzufügen, um die Atmosphäre zwischen ihnen aufzulockern, doch ein Jaulen lenkte ihre Aufmerksamkeit zu Carys Gartenzaun, hinter dem ein dreifarbiger Beagle saß, der fast das genaue Gegenstück zu Sadie war.

„Ist das Sludge?“

„Wie er leibt und lebt.“ Cary grinste.

Sludge jaulte erneut.

Vivi war ganz hingerissen. Mit Beagles kannte sie sich aus. Sie trat näher an den Zaun und streckte ihre Hand aus. „Hi, Sludge.“ Als der Hund den Kopf zur Seite neigte und sie beobachtete, kniete Vivi sich nieder, wobei die Enden ihres langen Schals das Gras berührten.

Sludge beäugte das Stück Stoff neugierig.

„Ich würde nicht …“, rief Cary aus.

Aber es war bereits zu spät.

Blitzschnell stürzte Sludge sich auf den Schal und zerrte wie wild daran.

Vivi landete auf dem Boden. „Sludge! Cary, mein Schal …“

„Ist nicht mehr zu retten“, murmelte Cary missbilligend, während Sludge auf seiner Beute herumkaute. „Tut mir leid, er ist eine echte Plage.“

„Allerdings.“ Vivi beugte sich zu dem Hund hinunter und kraulte ihn hinter den Ohren. „Pass auf, sonst kommst du wie ich in den Ruf, ein Vielfraß zu sein.“

Carys Lippen zuckten, als sein Blick auf das zerrissene, nasse Stück Wolle in ihrer Hand fiel. „Tut mir leid wegen des Schals.“

„Nicht der Rede wert.“ Sie wischte sich das Gras von der Hose, als sie zu ihrem Auto ging. „Sadie macht auch nur Unfug.“

„Noch mal vielen Dank fürs Kommen.“

„Gerne. Das ist mein Job.“ Vivi versuchte, ihren Worten durch ein Lächeln eine gewisse Leichtigkeit zu geben, doch es gelang ihr nicht richtig. Denn tatsächlich war sie echt froh gewesen, helfen zu können. „Sagen Sie bitte Ihrem Bruder, dass ich ihn bald anrufe.“

Nach ein paar Abschiedsfloskeln ging Cary ins Haus, und Vivi stieg in ihr Auto.

Beim Ausparken schüttelte sie genervt den Kopf. Jemand hatte einen Lion-Pride-Aufkleber mitten auf ihre Heckscheibe geklebt, während sie Melissas Angaben aufgeschrieben hatte.

„Heute ist Vertragsabgabe, Cary“, sagte Christy Pardue. „Als deine unmittelbare Vorgesetzte bin ich beauftragt worden, dir zu sagen, du sollst das Ding entweder unterschreiben oder deine Entlassung beantragen, damit wir jemand anderen einstellen können.“

„Schönes Gefühl, gebraucht zu werden.“

„Gerne.“

Cary lachte. „Dann … muss ich mich also entscheiden, hm?“

„Sieht so aus. Da Michael gerade angekündigt hat, dass er den Job in Lakota annimmt, ist Evan kurz davor durchzudrehen. Er will unbedingt wissen, mit wie vielen von uns er rechnen kann, und zwar schnell.“

Cary sah auf den Vertrag hinunter, der seit einem Monat in einer Klarsichthülle auf seinem Tisch lag, und stieß einen Seufzer aus. „Sag Evan, er bekommt meine Antwort bis zwei.“

Christys fröhliches Gesicht verdüsterte sich. „Ach du meine Güte, Cary. Du denkst doch nicht ernsthaft daran wegzugehen, oder? Du hast mir diesen Sommer so sehr geholfen mit dieser Übertrittsklasse. Du kannst mich doch nicht allein lassen.“

„Na, du würdest doch ohne mich locker zurechtkommen.“

„Wer weiß. Bitte unterschreib deinen Vertrag.“ Ihre Augen wurden schmal. „Du wirst ihn doch unterschreiben, oder?“

„Ich lasse es euch bis zwei Uhr wissen.“

Christy machte auf dem Absatz kehrt und ließ Cary mit seinem Vertrag allein zurück.

Warum fiel es ihm so schwer, sich für weitere drei Jahre zu verpflichten? Es machte ihm Spaß, in Lane’s End zu unterrichten. Kate konnte ihn unmöglich so verletzt haben, dass er bereit war, sein ganzes Leben umzukrempeln, nur um ihr aus dem Weg zu gehen.

Nein, es steckte mehr dahinter.

Seine Unterschrift unter dem Vertrag bedeutete, dass er sein Leben so akzeptierte, wie es war. Solange er sich nicht verpflichtete, konnte er mit dem Gedanken spielen, sein Leben jederzeit ändern zu können.

Weiterentwicklung und Veränderung. Risikobereitschaft. Wie Vivi im Café gesagt hatte, eine Veränderung tat gut.

An dieser Stelle gingen seine Gedanken in eine andere Richtung.

Vivi war ein Mensch, dem es offensichtlich nichts ausmachte, noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Sie war die unabhängigste Frau, die er je gesehen hatte, und er bewunderte sie dafür.

Cary schloss die Augen und dachte an Dean und Melissa. An die Gemeindemitglieder. Die Freunde, mit denen er joggte. Dave. Christy.

Lane’s End. Dies war der Ort, an den er gehörte. Cary wusste das genauso sicher, wie er wusste, dass Sludge seine Nikeschuhe anknabbern würde, sobald er die Gelegenheit dazu bekäme.

Entschlossen, das Unvermeidliche nicht länger hinauszuzögern, unterschrieb Cary den Vertrag und steckte ihn in die Klarsichthülle zurück, um ihn zum Schulleiter zu bringen.

Am Sonntagmorgen spürte Vivi mit jeder Faser ihres Seins, dass sie etwas unternehmen musste. Die ganze Nacht hatte sie sich hin und her geworfen, geplagt von wirren Träumen über Basketball und Löwen und Jugendliche, die aus Leibeskräften schrien.

Nach dem Aufwachen hatte sie als Erstes an ihre Arbeit gedacht. Wie immer. Offensichtlich brauchte sie eine Konstante in ihrem Leben.

Sie ging ins Bad, schaltete das Licht ein und griff nach ihrer Haarbürste. Während sie sich frisierte, betrachtete sie sich im Spiegel. Sie sah aus wie immer. Knabenhafte Figur, schlank und durchtrainiert dank des regelmäßigen Trainings in der Sporthalle. Ihr langes, dunkles Haar war einer ihrer Pluspunkte, doch natürlich konnte man auch mit den schönsten Haaren der Welt keinen Mann beeindrucken.

Ihre Gedanken wanderten wieder zu ihrem früheren Kollegen zurück. Warum waren Keaton und sie kein Paar geworden, wie sie es sich erhofft hatte? War sie nicht mädchenhaft genug? Nicht gesprächig genug? Nicht interessant? Sie hatten sich gut verstanden, doch offensichtlich hatte er etwas anderes gesucht.

Sie dachte an ihre häufigen gemeinsamen Mahlzeiten, konnte sich aber nur an Keatons Kommentare über ihre Vorliebe für Junkfood erinnern. Vielleicht war sie zu distanziert gewesen aus Angst, ihm ihr wahres Ich zu zeigen. Ihr fiel auf, dass sie dieses Verhalten trotz allem schon wieder bei Cary wiederholte.

Bei ihrer Begegnung gestern hatte sie sich so sprachlos gefühlt wie bei keinem anderen Mann seit Keaton. Konnte sie überhaupt einen anderen Mann nach diesem Fiasko für sich interessieren? Hatte sie auch nur die leiseste Ahnung, wie man flirtete?

Sie flocht rasch ihr Haar zu einem Zopf, ging in die Küche und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.

Die einzige durch und durch weibliche Person, die sie kannte, war ihre Schwester. Ohne weitere Überlegung griff Vivi nach dem Telefon und wählte ihre Nummer.

„Hallo, Genevieve! Was für eine Überraschung!“

Die überschwängliche Begrüßung überrumpelte Vivi.

„Hey, Meg. Wie geht es dir?“

„Gut. Oh … warte eine Minute.“ Vivi hörte Geschirrklappern. „Na? Bist du nicht überrascht, dass ich gleich wusste, wer am Telefon ist? Shane hat mir einen neuen Apparat mit Rufnummernanzeige besorgt.“

„Wurde auch Zeit. Wie geht es Will, Jackson und Emily?“

„Das Übliche, sie halten mich ständig auf Trab.“ Ihr Ton wurde nachdenklich. „Aber warum rufst du an? Hast du dich verletzt? Bist du im Krankenhaus?“

Vivi wurde peinlich bewusst, dass sie sich normalerweise nur in Notfällen an ihre Familie wandte.

„Nein, mir geht es gut“, erwiderte sie hastig. „Ich rufe an, weil ich deinen Rat brauche.“

„Was gibt es denn?“

Vivi öffnete schon den Mund, doch wie sollte sie ihrer hübschen und überaus patenten Schwester erklären, dass sie nicht wusste, wie sie sich aus ihrem Schneckenhaus befreien konnte? „Ich brauche ein Hobby.“

„Wie?“

„Okay. Ich weiß, für eine Mutter von drei Kindern unter fünf klingt es dumm, aber … hast du vielleicht irgendeine Idee?“

„Hattest du nicht diesen schrecklichen Hund?“

„Sadie gibt’s immer noch“, gab Vivi zu und nickte Sadie zu, die als Antwort mit dem Schwanz wedelte.

„Und arbeitest du nicht wie eine Verrückte?“

„Nicht mehr so wie früher. Ich habe das Gefühl, ich brauche ein bisschen Abwechslung in meinem Leben, vielleicht irgendwas Künstlerisches.“ Vivi schloss die Augen vor Scham über ihre eigenen Worte.

Doch wider Erwarten brach Margaret nicht in Gelächter aus. „Und was? Meinst du stricken? Oder häkeln?“

„Eher nicht.“

„Bleib mal dran.“ Vivi hörte ihre Schwester mit allen drei Kindern reden und weiteres Geschirrklappern. „Mit diesem Gerede von einem Hobby kannst du mich keine Sekunde hinters Licht führen, Genevieve Slate. Sag mir, was wirklich los ist.“

Margaret klang wirklich wie ihre Mutter. „Nichts.“

„Doch. Es ist ein Mann, richtig?“

Mehr das Fehlen eines Mannes. „So ähnlich.“

„Vivi … erzähl es mir.“

„Mir ging heute Morgen auf, dass ich in meinem ganzen Leben bisher nichts anderes getan habe, als zu arbeiten und mich um Sadie zu kümmern. Vielleicht müsste ich mehr aus mir herausgehen und mich hin und wieder auch mal entspannen.“

„Verstehe.“

„Glaube ich nicht. Du hattest doch nie das Problem, von den Männern nur als gute Freundin betrachtet zu werden.“

„Hör auf damit“, unterbrach Margaret sie. „Nur weil du dich nicht für hübsche Kleider und Lippenstift interessiert hast, heißt das doch nicht, dass du nicht attraktiv warst. Das bist du nämlich. Du bist sogar richtig schön.“

Margarets Worte waren Balsam auf ihrer Seele und legten sich heilend über alte Wunden und eingebildete Kränkungen.

„Vivi, ich hab’s, ich habe das perfekte Hobby für dich. Es hat nicht besonders viel mit Kunst zu tun, aber es passt besser zu dir – Gartenarbeit.“

„Ernsthaft?“

„Das wäre perfekt. Es würde dich körperlich beanspruchen, und ich weiß, wie sehr dir das liegt“, neckte Margaret sie.

Moment mal! „Margaret …“

Doch ihre Schwester sprach schon weiter: „Du hättest etwas zum Pflegen. Du wärst an der frischen Luft. Und hättest mit anderen Menschen zu tun.“

„In meinem Job habe ich dauernd mit Leuten zu tun.“

„Gärtnern ist etwas ganz anderes. Es beruhigt.“

„Und wie soll es mein Liebesleben verbessern?“

„Vielleicht könntest du einem Garten-Club beitreten“, fuhr Margaret fort. An ihrer aufgeregten Art zu sprechen erkannte Vivi, dass sie sich immer mehr für dieses Thema erwärmte.

„Ich werde es im Auge behalten“, erwiderte sie sarkastisch.

Als das Kindergeschrei im Hintergrund immer lauter wurde, sagte Margaret: „Diese drei bringen mich heute noch an den Rand des Wahnsinns. Ich muss jetzt auflegen. Konnte ich dir denn überhaupt helfen?“

Sie klang so enthusiastisch, dass Vivi nicht Nein sagen konnte. „Ein wenig“, antwortete sie also.

„Bald ist Ostern. Züchte eine Lilie. Das macht bestimmt Spaß.“

„Vielleicht. Oh, was ich dir noch sagen wollte … ich komme Ostern nicht nach Hause. Ich muss arbeiten.“

„Das habe ich mir schon fast gedacht.“ Megs Baby Will schrie nun so laut, dass man sein eigenes Wort kaum mehr verstand. „Wie auch immer, ich muss jetzt Schluss machen. Bye!“

Vivi legte auf und wandte ihre Aufmerksamkeit Sadie zu, die sich sofort auf den Rücken legte, um sich kraulen zu lassen. „Ich habe einen Plan, Sadie. Eines Tages werde ich Lilien züchten und an andere Dinge denken als an die Arbeit oder an Cary Hudson.“

„Ich habe Verkehrsstreife?“, fragte Vivi am späten Montagnachmittag. „Schon wieder? Es regnet.“ Den Verkehr bei Regen regeln zu müssen bedeutete nasse Füße und genervte Autofahrer. In wenigen Minuten würde sie bis auf die Haut durchnässt sein.

Im Grunde machte es Vivi nichts aus, aber da sie schon die letzten beiden Male, als es regnete, zum Verkehrsdienst beordert worden war, sah es ganz nach dem Spielchen „Die Neue schikanieren“ aus.

Dieses Ritual hatte sie schon bei der Polizei in Cincinnati über sich ergehen lassen müssen und hatte keine Lust auf eine Wiederholung. „Wer hat das entschieden?“, fragte sie laut in den fast leeren Aufenthaltsraum hinein.

„Das war ich“, ertönte die Stimme von Sergeant John Conrad aus der hinteren Ecke, und das Herz schlug ihr augenblicklich bis zum Hals. „Haben Sie ein Problem damit, Slate?“ Er trat aus dem Schatten heraus.

Sie stand stramm. „Nein, Sir, kein Problem. Es tut mir leid. Ich habe Sie nicht gesehen.“

„Das dachte ich mir.“ Sergeant Conrad grinste. „Stehen Sie locker, Vivi. Wie geht’s Ihnen denn so in Lane’s End? Haben Sie sich schon eingelebt? Wie gefällt Ihnen die Arbeit bei uns?“

„Alles bestens, Sir.“ Der Sergeant setzte sich auf einen der Plastikstühle, und Vivi nahm ihm gegenüber Platz. In der Nähe las Sam Clark eine Zeitschrift.

„Gut, gut. Die Dinge laufen hier ein wenig anders als in Cincinnati. In unserer kleinen Stadt wird erwartet, dass Sie bereit sind, sich mit den Leuten anzufreunden. Ganz abgesehen davon, dass es Ihnen die Arbeit erleichtert.“

„Ich war beim Basketball-Spiel“, sagte sie, um zu beweisen, dass sie durchaus versuchte, ein aktives Mitglied der Gemeinde zu werden.

Sergeant Conrad nickte. „Das ist die richtige Einstellung. Ich hörte schon, dass Sie bei den Lions waren. Leider habe ich das Spiel versäumt … Enkelkinder.“

„Zu schade, dass Sie nicht dabei waren. Es war echt aufregend. Die halbe Stadt war da.“ Einschließlich Cary Hudson.

„Lieutenant Banks hat vorgeschlagen, dass wir beim nächsten Spiel zusätzliche Polizeikräfte aufstellen. Wenn die Lions weiter gewinnen, könnte es echt stressig werden.“

„Es geht das Gerücht um, dass die High School eine Parade plant, falls wir ins Endspiel kommen“, warf Sam ein und schloss seine Zeitschrift.

„Das kann ja heiter werden“, sagte der Sergeant sarkastisch. „Ein Drittel der Stadt nimmt an der Parade teil, ein Drittel sind Zuschauer, und das restliche Drittel wird ein derartiges Verkehrschaos verursachen, dass wir wünschen werden, Basketball wäre nie erfunden worden.“

Vivi lachte.

Der Sergeant tippte auf seine Armbanduhr. „Apropos Verkehr, halb Lane’s End ist genau jetzt in der Innenstadt unterwegs. Falls Sie es noch nicht wissen sollten, die Familien hier nehmen das Fußballtraining sehr ernst.“

„Auch bei Regen?“

„Besonders bei Regen. Sie sollten sich besser aufmachen, Slate. Und vergessen Sie Ihre Regenjacke nicht.“

Nach einem kurzen Gruß verließ Vivi den Raum. Sie nahm eine leuchtend gelbe Regenjacke aus ihrem Schrank und machte sich auf den Weg.

Als sie im strömenden Regen schließlich auf der Hauptstraße aus ihrem Wagen stieg, fühlte sie die Verantwortung, die sie immer so stolz machte. Jemand musste die Arbeit machen, die andere nicht machen wollten. Jemand musste sich hinstellen und Verantwortung übernehmen.

Und auch wenn sie sich vielleicht darüber beklagte, dass sie nass wurde, so tat sie ihre Pflicht doch gern und ohne Murren.

3. KAPITEL

Nach ihrer Schicht betätigte Vivi die Stechuhr und fuhr auf schnellstem Weg nach Hause. Sie wohnte im obersten Stockwerk eines älteren, mit weißen Schindeln verkleideten Hauses an der Ecke Plymouth und Third Avenue. Die Wohnung bestand aus einem Schlafzimmer, einem winzigen Bad, einer kleinen Küche und einem großen Wohnzimmer.

Als Vivi die Tür öffnete, bellte Sadie aus ihrer Box zur Begrüßung.

„Hallo, mein Mädchen“, sagte Vivi und stellte ihre Tasche auf den Küchentisch. „Lass uns gleich mal Gassi gehen.“ Sadie jaulte vor Freude, als Vivi sie anleinte und mit ihr nach draußen ging.

Wie erwartet zierte Sadie sich, ihr Geschäft im Regen zu verrichten, doch Vivi gab nicht nach. Zum Glück hatte sie noch ihren Regenmantel an.

„Hi, Vivi!“, rief ihre Vermieterin Bonnie Walker ihr von der hinteren Veranda aus zu. „Komm doch nach deinem Spaziergang rein, ich habe Plätzchen gebacken und mache uns einen schönen frischen Kaffee.“

Das klang verführerisch, doch sie war nass und schmutzig, und Bonnie war eine sehr penible Hausfrau. Vivi wollte ihr auf keinen Fall Schmutz und Wasser ins Haus tragen. „Danke, vielleicht ein anderes Mal.“

„Nein, keine Ausrede. Du ziehst den Regenmantel aus und kommst zu mir in die Küche.“

„Aber Sadie …“

„Sie ist nur ein bisschen nass. Ich lege ihr ein Handtuch hin.“ Bonnie hielt inne. „Um die Wahrheit zu sagen, ich könnte etwas Gesellschaft brauchen.“

Jetzt konnte Vivi nicht mehr ablehnen. „Okay, bis gleich dann.“

Sobald Sadie fertig war, führte Vivi sie pflichtgemäß an Bonnies Hintertür, putzte ihr die Pfoten ab und schlüpfte dann aus Regenmantel und Schuhen. Im Haus umhüllte sie sofort eine angenehme Wärme.

Bonnie stellte zwei dampfende Tassen Kaffee und eine Schale mit Schokoladenplätzchen auf den Tisch. „Na, wie war dein Tag? Ich habe gehört, du musstest den Verkehr regeln?“

„Ja, es war ziemlich ungemütlich, aber man gewöhnt sich an alles.“

Bonnie nickte weise. „Wie an Arthritis. Meine Hände sind wirklich nicht mehr, was sie mal waren.“

Vivi betrachtete Bonnies Hände, ihre geschwollenen Knöchel und die verkrümmten Finger. „Autsch!“

„Halb so schlimm. Ich könnte mehr Medikamente nehmen, aber sie machen mich nur müde.“ Sie schob die Schale näher zu Vivi. „Nimm dir noch.“

Vivi konnte nicht widerstehen, vor allem auch, weil Bonnie Sadie einen Büffelhautknochen gegeben hatte, auf dem die Hündin jetzt genüsslich herumkaute. „Danke.“

Vivi blieb eine ganze Stunde bei Bonnie, ehe sie sich verabschiedete.

In ihrer Wohnung angekommen, stellte Vivi das Radio an und füllte Sadies Fressnapf. Sie duschte heiß und schob eine Tiefkühlpizza in den Backofen.

Endlich lehnte Vivi sich ins Sofa zurück und hätte sich entspannen können, wenn nicht schon wieder die Gedanken an die Arbeit sie gestört hätten. Wer hatte Melissa Hudsons Auto beschädigt?

Obwohl sie schon am Vormittag mit Dean telefoniert hatte, beschloss sie, noch einmal persönlich mit Melissa zu reden. Ihr Instinkt sagte ihr zwar, dass der Vandale zufällig an Melissas Civic geraten war, doch aus Erfahrung wusste sie, dass ein wenig Übereifer besser war als Nachlässigkeit, besonders da sie neu in Lane’s End war.

Sie überlegte kurz, ob sie Sam fragen sollte, wie er die Sache handhaben würde, verwarf diesen Gedanken aber wieder. Es würde nach Schwäche aussehen, wenn sie um Hilfe bat. Und das wollte sie auf keinen Fall.

Cary trommelte mit den Fingern auf seine Sammelmappe, während Evan langatmig über die neuen Anforderungen des Staates Ohio an Schulabschlüsse referierte. Normalerweise freute Cary sich über die Gelegenheit, seine Kollegen zu treffen und sich mal mit anderen Erwachsenen auszutauschen, doch das heutige Thema war über die Maßen langweilig. Es war auch wenig hilfreich, dass er jedes Mal, wenn er zu Evan blickte, Kate ansehen musste und daran erinnert wurde, wie er sich in ihrer Beziehung zum Narren gemacht hatte. Also starrte er lieber auf seine Sammelmappe.

Christy dagegen bekämpfte ihre Langeweile wie ein Schulmädchen, indem sie ihm kleine Zettelchen schrieb.

Kate trifft sich neuerdings mit dem Vater von Andrew Richards. Was hältst Du davon?

Cary versuchte, unbeteiligt auszusehen. Das waren allerdings erstaunliche Neuigkeiten. Das Gerücht war umgegangen, dass Michael mit Kate Schluss gemacht hatte, als er das Angebot in Lakota angenommen hatte. Dass Kate jetzt schon einen Neuen hatte, war wirklich eine Überraschung. Noch dazu, wenn dieser Neue so ein Wichtigtuer war wie Stadtrat Clay Richards.

Offensichtlich setzte Kate ihren kühlen blonden Charme sehr gewinnbringend ein. Wie hatte Cary nur glauben können, dass sie ihn liebte?

Vielleicht wird sie bald eine vornehme Lady, schrieb er zurück. Als Christy das Papier entfaltete und las, winkte er ihr zu.

„Hudson, haben Sie eine Frage zu dem Thema?“

Erwischt. „Nein, Evan“, erwiderte er.

„Gut.“ Evan trat hinter dem Rednerpult hervor. „Ehe wir zum Ende kommen, müssen wir Brad noch unsere Anerkennung aussprechen. Wie wir alle wissen, hat Coach Jackson in dieser Saison super Arbeit geleistet. Da das Spiel morgen Abend alles entscheidet, werden wir nur bis um ein Uhr Unterricht halten. Tickets für das Spiel werden beim Lunch verkauft.“

Spontaner Applaus brandete auf.

Evan klopfte auf sein Pult. „Der Unterricht beginnt in vier Minuten. Schönen Tag.“

Vor lauter Eile, so schnell wie möglich aus der Aula zu kommen, stieß Cary in der Tür mit Kate zusammen. „Sorry“, sagte er mit belegter Stimme.

„Kein Problem.“ Sie sah ihn mit ihren silberblauen Augen auf eine Weise an, die früher seinen Puls zum Rasen gebracht hatte. „Wie geht’s dir, Cary?“

Was konnte er schon sagen angesichts der neugierigen Kollegen um sie herum? „Gut. Prima.“

„Schön.“ Sie sah ihn prüfend an. „Ich habe in letzter Zeit nicht viel von dir zu sehen bekommen.“

„Ich hatte viel zu tun.“

„Ich … ja.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Bis bald.“

„Ja.“

„Bis bald“, äffte Christy sie flüsternd nach, während sie neben ihm herging. „Sie hat wirklich Nerven.“

Insgeheim musste Cary ihr recht geben, obwohl er es nicht laut aussprach.

Gerade als er sein Klassenzimmer betreten wollte, kam Melissa mit dem Handy am Ohr auf ihn zu. „Ich habe gerade mit Dad telefoniert. Diese Polizistin kommt heute Abend noch einmal, um mit mir zu reden, aber Dad muss mit einigen Kunden zum Essen gehen. Kannst du da sein?“

„Um wie viel Uhr?“

„Halb sechs.“

„Ja, sicher. Mach dir keine Sorgen.“

„Ich frage mich, warum sie noch mal kommt. Meinst du, sie will mir die Schuld dafür geben, was mit meinen Reifen passiert ist? Sie stellt überall Fragen. Brian sagte, sie hat sogar mit seinen Eltern gesprochen.“

Er drückte ihre Schulter. „Ich bin sicher, sie macht nur ihren Job. Jetzt ab mit dir, sonst kommst du zu spät in deine Klasse.“

Untypischerweise umarmte Melissa ihn, ehe sie lossauste. „Danke!“

„Gerne.“

Nachdem er seine Schüler gebeten hatte, die Hausaufgaben hervorzuholen, wanderten Carys Gedanken zu Vivi Slate, und er fragte sich, was sie in Erfahrung gebracht hatte. Und es verwunderte ihn, dass er sich so darauf freute, sie bald zu sehen. Als sie den Schaden an Melissas Auto aufgenommen hatte, war sie ganz geschäftsmäßig gewesen. Vielleicht bildete er sich nur ein, dass sich da etwas zwischen ihnen anbahnte.

Wieder einmal.

Hatte er denn gar nichts aus der Geschichte mit Kate gelernt?

Vivi klopfte zweimal kurz an Carys Tür.

„Melissa rief mich an und bat mich, lieber zu Ihnen zu kommen anstatt zu ihrem Haus“, begann sie, nachdem er sie begrüßt hatte.

„Genau. Dean ist mit Kunden in der Stadt unterwegs, deshalb ist sie bei mir. Kommen Sie herein. Melissa ist wie üblich zu spät, aber sie wird jeden Augenblick hier sein.“

„Kein Problem.“

Cary schloss die Tür und führte sie ins Haus. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er.

„Gut.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Viel Arbeit.“

Er deutete auf ihre Uniform. „Sieht auch ganz nach Arbeit aus.“ Vivi war sehr hübsch in der Uniformhose und der dazu passenden Bluse, wie er fand.

Als sie zum Sofa in der Mitte des Raums gingen, fing er einen Hauch ihres Parfums auf. Der leichte, frische Duft berührte seine Sinne.

O Gott, er fühlte sich wirklich zu ihr hingezogen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er Vivi vor sich, wie sie hier in seiner Wohnung in alten Jeans vor dem Fernseher saß und Fußball anschaute oder einen der alten Filme, die sie so liebte.

Dieses Bild brachte ihn aus der Fassung und machte ihn kribbelig. „Möchten Sie eine Limonade oder etwas anderes?“

„Danke, im Moment nicht. Schön haben Sie es hier.“

Cary sah sich im Raum um und versuchte, ihn mit ihren Augen zu sehen. „Die Zimmer sind klein und die Decke fast zu niedrig für mich. Aber ich fühle mich hier wohl, wissen Sie?“

„Ja, es ist sehr gemütlich.“

„Wie gesagt, Melissa müsste jeden Augenblick hier sein“, wiederholte Cary, um die plötzlich entstehende Stille zu füllen.

„Kein Problem. Ich habe Zeit.“ Sie zog einen Notizblock und einen Stift aus ihrer Tasche. „Hey, hier ist es verdächtig still, fällt mir auf. Wo ist Sludge?“

„Hinten im Hof. Mich wundert auch, dass er nicht gebellt hat, als Sie gekommen sind.“

„Ich hatte mich ehrlich gesagt schon darauf vorbereitet, ihn zu sehen.“ Sie berührte den Kragen ihrer blauen Bluse. „Sehen Sie? Kein Schal heute.“

Er lachte und war froh, dass sie sich so ungezwungen unterhalten konnten wie damals im Café.

„Melissa sagte, Sie hätten noch einige Fragen an sie. Warum?“

„Aus keinem besonderen Grund. Reine Routine.“

Das nahm ihr Cary nicht eine Sekunde lang ab.

Noch ehe er nachfragen konnte, fiel die Hintertür ins Schloss. „Onkel Cary, Sludge hat mich fast angefallen, als ich zur Hintertür wollte. Ich schwöre, beinahe …“

Vivi erhob sich. „Hallo, Melissa.“

„Hi.“

Sie setzten sich alle, und Melissa beäugte argwöhnisch Vivis Notizbuch.

Vivi räusperte sich. „Melissa, ich brauche einfach noch ein paar Informationen über den Abend des Vorfalls, okay? Da nicht klar ist, ob jemand deine Reifen absichtlich aufgeschlitzt oder zufällig dein Auto ausgewählt hat, sollten wir darüber nachdenken, wer so etwas tun könnte.“

„Ich habe keine Ahnung, das habe ich Ihnen doch schon gesagt.“

„Melissa …“

„Ist schon okay“, unterbrach Vivi Cary, der Melissa für ihre schnippische Art tadeln wollte. Der aufsässige Ton des Mädchens war Vivi sehr vertraut. Sie selbst ließ sich auch nicht gern ausfragen. Doch als Polizistin musste sie nachhaken. „Ich weiß, das Ganze ist frustrierend, aber ich stehe auf deiner Seite. Vielleicht ist dir inzwischen irgendetwas eingefallen, was zur Aufklärung beitragen könnte?“, fragte sie sanft. „Lass uns noch mal ganz von vorne beginnen.“

Melissa stöhnte genervt. „Aber …“

Vivi blickte sie eindringlich an. „Bitte.“

„Einverstanden“, gab Melissa nach.

„Möchten Sie bestimmt nichts zu trinken, Vivi?“, fragte Cary.

„Vielleicht ein Glas Wasser“, erwiderte sie und sah ihn an. Der Blick, den sie austauschten, machte deutlich, dass sie einer Meinung waren. Dies würde eine lange Sitzung wer- den.

Während Melissa ihre Fragen beantwortete, tat Vivi so, als sei dies eine ganz normale Befragung. Doch seit sie Cary gesehen hatte, fühlte sie wieder diese Anziehung, die sie jedes Mal spürte, wenn sie mit ihm zusammentraf. Er sah so gut aus und war so … nett.

Als er sie nach ihrem Befinden gefragt hatte, hätte sie ihm am liebsten von ihrem Gespräch mit Margaret erzählt und davon, dass Bonnie ihr Plätzchen angeboten hatte und dass es auf dem Polizeirevier besser lief, wenn sie ein bisschen aus sich herausging.

Aber all das schien ihr doch zu seltsam. Was, wenn er nur höflich hatte sein wollen und sie zu aufdringlich fand?

Mit einiger Verzögerung bemerkte Vivi, dass Cary und Melissa auf eine Frage von ihr warteten. Sie räusperte sich. „Melissa, vielleicht erzählst du mir, wie dein Tagesablauf üblicherweise aussieht. Wer sind deine Freunde?“

„Also, ich stehe jeden Morgen um fünf auf und verlasse das Haus um sechs Uhr vierzig, um zur Schule zu fahren.“

„Nimmst du unterwegs jemanden mit?“

„Nein, das erlaubt Dad nicht. Er findet es zu gefährlich.“

„Womit er recht hat. Also fährst du immer allein.“

„Genau. Okay, letzten Montag habe ich ausnahmsweise Amy Blythe mitgenommen, als sie den Bus verpasst hat.“ Sie verdrehte dramatisch die Augen. „Das war vielleicht eine Katastrophe.“

„Warum?“

Melissa zog eine Grimasse. „Dad wollte, dass ich sie mitnehme.“

„Amy ist eine Art Einzelgängerin, sie hat nicht viele Freunde“, erklärte Cary. „Dean und ich haben Melissa gebeten, nett zu ihr zu sein.“

„Ich war nett zu ihr, aber sie wollte unbedingt so einen bescheuerten Musiksender hören. Als ich ihr sagte, sie solle mein Radio in Ruhe lassen, ist sie völlig ausgetickt. An der Schule hat sie mir fast die Autotür demoliert, so heftig hat sie sie zugeschlagen.“

Sie warf ihrem Onkel einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ich verstehe noch immer nicht, warum du dich so aufgeregt hast.“

„Weil ich glaube, du solltest geduldiger mit Amy sein und versuchen, sie besser kennenzulernen, statt ihren Musikgeschmack schlecht zu machen. Sie braucht eine Freundin, Melissa.“

„Das ist unfair“, gab Melissa zurück. „Sie ist doch diejenige, die schwierig ist, warum soll ich ihre Freundin sein? Ich habe genug Freunde.“

„Davon kann man nie genug haben, oder?“

„Nicht sie. Sie ist unmöglich. Sie ist einfach anders, Onkel Cary.“

Vivi hörte auf zu schreiben. Insgeheim bewunderte sie Cary dafür, dass er versuchte, Amy zu integrieren.

„Du hast mich vor allen anderen zusammengestaucht“, fuhr Melissa fort.

„Ich glaube nicht, dass es vor allen war. Und ich sagte auch nur, dass du froh sein solltest, ein Auto zu haben und diese teure Musikanlage. Das haben nicht alle Mädchen in deinem Alter.“

Bevor Melissa antworten konnte, klinkte Vivi sich ein. „Okay, das könnte hilfreich sein.“ Sie machte sich eine Notiz. „Was ist mit Brian McCullough? Er ist dein Freund, oder?“

„Genau.“

„Ist es etwas Ernstes?“ Sie richtete die Frage an Cary, der mit den Schultern zuckte.

„Allerdings“, warf Melissa ein, der es gar nicht gefiel, dass Vivi ihren Onkel zu diesem Thema befragte. „Wir sind seit sechs Monaten zusammen.“

„Hattest du vorher einen anderen Freund?“

„Keinen festen.“

„Und was war mit Jimmy Aiken?“, warf Cary ein. „Auch wenn es dir nicht ernst war, ihm schon.“ Der Blick, den er Vivi zuwarf, besagte, dass er nicht allzu viel von Jimmy hielt.

„Wer ist Jimmy?“, fragte Vivi, der der Name irgendwie bekannt vorkam.

„Er spielt auch Basketball. Wir sind nur zweimal miteinander ausgegangen.“ Melissa zog die Nase kraus. „Er sagte, er liebt mich.“

„Er war eine Weile in Melissa verknallt“, fügte Cary hinzu. „Er war neulich auch da, als wir Sie riefen.“

Vivi erinnerte sich an den Jungen mit den Sommersprossen und machte sich eine Notiz.

Sie unterhielten sich noch eine Weile, bis Vivi klar wurde, dass sie nichts mehr aus Melissa herausbekommen würde. Sie klappte ihr Notizbuch zu. „Gut, ich denke, ich habe alles, was ich brauche. Danke.“

Melissa sprang auf. „Kann ich jetzt gehen, Onkel Cary? Brian hat Training, und ich möchte gern zuschauen.“

„Was ist mit Abendessen?“

„Ich kaufe mir etwas auf dem Weg zur Schule.“

„Was? Chips und Cola wie gestern?“

„Ich bringe Brian nach dem Training mit hierher, dann essen wir Suppe und Sandwichs.“

„Okay. Um acht bist du zurück. Und sobald ihr beide gegessen habt, geht Brian nach Hause, und ihr kümmert euch um eure Hausaufgaben.“

„Aber …“

„Bist du mit deinem Projekt für Geschichte fertig?“

Sie senkte den Kopf. „Nein.“

„Dann hast du noch allerlei zu tun. Außerdem willst du doch morgen Abend zum Spiel, oder?“

Melissas Miene hellte sich auf. „Natürlich, das hatte ich ganz vergessen.“

Vivi sah dem jungen Mädchen nach, wie es hinausging, das Handy schon am Ohr. Und stieß einen Seufzer aus. „Wow.“

Cary lachte. „So ist sie immer, ständig unter Strom.“

„Sie verstehen sich gut mit ihr.“

Für einen Moment schien Cary überrascht, dann lachte er leise in sich hinein. „Na klar, ich kümmere mich seit ihrem vierten Lebensjahr um sie.“

„Sam sagte, Sie seien vor etlichen Jahren neben Dean eingezogen.“

„Stimmt. Die Frau meines Bruders Valerie ist abgehauen, als Melissa erst drei Jahre alt war. Dean brauchte jede mögliche Unterstützung. Es schien geradezu göttliche Vorsehung zu sein, dass genau zu diesem Zeitpunkt das Haus neben ihm frei wurde.“

„Das muss für Sie alle eine ziemlich schwere Zeit gewesen sein.“

„Könnte man so sagen. Keiner von uns hätte sich vorstellen können, dass Valerie wirklich gehen würde. Welche Mutter verlässt schon ihr Kind?“

„Ich weiß es nicht. Hat sie es je erklärt?“

„In gewisser Weise. Sie und Dean haben jung geheiratet. Sie schienen glücklich bis zu Melissas Geburt. Irgendwann hatte Valerie dann genug. Eines Tages, als Dean von der Arbeit kam, wartete sie schon auf ihn, um ihm zu sagen, dass sie ihr gemeinsames Leben nicht mehr ertrug. Sie wollte keine Verantwortung für ein Kind, sie wollte nicht verheiratet sein. Mein Bruder war am Boden zerstört.“

„Hat Melissa Kontakt zu ihrer Mutter?“

„Wenig. Ich kenne keine Details, aber Dean hat ein Machtwort gesprochen, als Valerie vor ein paar Jahren hier auftauchte, um Melissa zu sehen. Inzwischen, so glaube ich, schickt Valerie eine Karte zum Geburtstag und zu Weihnachten, aber mehr auch nicht.“

„Anscheinend hat Melissa diese Sache aber ohne größere Schäden überwunden.“

„Ja, mein Bruder hat sich viel Mühe gegeben, wir haben alle zusammengehalten.“

Das Jaulen eines Hundes enthob Vivi einer Antwort.

„Dachte ich es mir doch, dass Sludge nicht auf Dauer ruhig sein kann“, sagte Cary und seufzte. „Ich hole ihn.“ Und er fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: „Lassen Sie Ihre Schuhe an.“

„Ich wette, das sagen Sie zu allen Mädchen.“

Cary lachte. „Bin gleich wieder da.“ Er erhob sich und ging zu einer Tür am Ende des Wohnzimmers, die vermutlich in die Küche führte.

Sekunden später stürmte Sludge herein. Vivi hielt geduldig still, während er ihre Knöchel beschnüffelte.

„Sludge, Sitz.“

Erstaunlicherweise setzte der Hund sich, obwohl der Blick in seinen dunkelbraunen Augen deutlich machte, dass es ihm ganz und gar nicht passte. Vivi verglich Sludge mit ihrer Sadie. Beide waren dreifarbig, doch die Farben von Sludge gingen mehr ins Schwarze, während sie bei Sadie vornehmlich braun waren.

Vivi war ganz entzückt von ihm. Sie hielt ihm ihre Hand vor die Nase. Er schnüffelte zweimal und leckte sie dann.

„Wir haben Glück, Sludge interessiert sich gar nicht für Ihre Schuhe. Er hat wahrscheinlich Angst vor Ihrer Autorität“, sagte Cary. „Möchten Sie noch ein Glas Wasser? Eine Tasse Kaffee?“

„Nein, danke, ich mach mich besser auf den Heimweg.“ Vivi fühlte leises Bedauern, viel lieber hätte sie es sich auf Carys Sofa gemütlich gemacht. Ob seine Schultern und Arme wohl wirklich so stark waren, wie sie glaubte? Sie hätte gern ein wenig geflirtet, nur um zu sehen, wie weit diese Anziehungskraft zwischen ihnen führen würde.

Doch die Pflicht rief. „Ich muss noch ein paar Anrufe erledigen.“

„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten.“ Cary ging ihr zur Tür voraus. Sludge folgte ihm schwanzwedelnd.

Vivi tätschelte seinen Kopf und beschloss, die Initiative zu ergreifen. „Werden Sie sich morgen das Spiel anschauen?“ Sie hob abwehrend die Hand. „Stopp. Löschen Sie das. Natürlich gehen Sie hin. Was ich sagen wollte, ich werde auch hingehen und …“ Sie atmete tief durch. „Und ich dachte, vielleicht könnten wir zusammen gehen?“

Er grinste. „Soll das etwa eine Einladung sein, Vivi?“

O Gott, sie hatte sein Verhalten falsch gedeutet. „Vielleicht“, erwiderte sie zögernd.

„Ja.“

„Ja?“

„Ich hole Sie ab. Und bei der Gelegenheit könnten wir gleich zum Du übergehen, oder?“

„Gern, aber du musst mich nicht abholen, wir können uns dort treffen.“

„Kommt nicht infrage. Wollen wir vorher essen gehen? Magst du mexikanisch?“

„Ich esse alles.“ Als Cary grinste, beeilte sie sich hinzuzufügen: „Ich meine, ich liebe mexikanisches Essen.“ Was war los mit ihr? Sie benahm sich, als hätte sie noch nie zuvor eine Verabredung mit einem Mann gehabt!

Autor

Sara Orwig

Sara’s lebenslange Leidenschaft des Lesens zeigt schon ihre Garage, die nicht mit Autos sondern mit Büchern gefüllt ist. Diese Leidenschaft ging über in die Liebe zum Schreiben und mit 75 veröffentlichten Büchern die in 23 Sprachen übersetzt wurden, einem Master in Englisch, einer Tätigkeit als Lehrerin, Mutter von drei Kindern...

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