Der falsche Gentleman – der richtige Liebhaber?

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Skandalös! Nicht im Ballsaal, sondern im nächtlichen Garten fordert der hochgewachsene Mr. Ashburton die schöne Elizabeth zum Tanzen auf. Ihr Herz rast, als sie ihm ganz nah ist, aber sie versteht es nicht: Warum findet sie den kühlen Mann, den sie nur flüchtig kennt und auf Wunsch ihrer Mutter heiraten soll, auf einmal so verführerisch? Wie kann er sie mit einem Walzer verzaubern, in ihr einen unerhört sinnlichen Wunsch wecken? Die Erkenntnis trifft die junge Lady wie ein Schlag: Sie hat mit Joshua Ashburton getanzt – dem verwegenen Bruder ihres Verlobten!


  • Erscheinungstag 06.02.2024
  • Bandnummer 394
  • ISBN / Artikelnummer 0814240394
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

1. KAPITEL

London 1815

„Elizabeth, hörst du mir zu?“

Beth unterdrückte einen unwilligen Laut, wandte sich vom Kutschenfenster ab und richtete den Blick auf ihre Mutter.

„Es ist wichtig. Deine Zukunft hängt davon ab, wie du dich heute Abend schlägst. Unser aller Zukunft.“

„Ich weiß, Mutter.“ Sie versuchte, die Verärgerung aus ihrer Stimme herauszuhalten, aber es war nicht leicht, Begeisterung für eine Predigt aufzubringen, die sie allein an diesem Tag schon mindestens viermal zu hören bekommen hatte. Hier saß sie nun, in einem Kleid, das sie sich nicht leisten konnten, und auf dem Weg zu einem Ball, den sie wirklich nicht besuchen wollte.

Es war nicht so, dass sie Bälle nicht mochte. Sie liebte es, zu tanzen, zu plaudern und zu lachen, während die Nacht in einem aufregenden Strudel vorüberrauschte. Doch vor diesem bestimmten Ball graute es ihr. Mr. Ashburtons Ball. Der Ball, bei dem sie den Erwartungen ihrer Mutter zufolge einen Mann bezaubern sollte, mit dem sie bisher kaum mehr als ein paar Worte gewechselt hatte.

„Sorg dafür, dass er mindestens zweimal mit dir tanzt. Sei gewinnend, charmant. Zeig ihm, dass du eine gute Ehefrau sein wirst.“

„Ja, Mutter.“ Es war leichter, einfach zuzustimmen, anstatt zu fragen, wie genau sie einem Mann, den sie gar nicht kannte, zeigen sollte, dass sie eine gute Ehefrau sein würde.

„Und lächle. Du bist recht hübsch, wenn du lächelst.“

Glücklicherweise hielt die Kutsche an, bevor Lady Hummingford noch mehr sagen konnte, und sobald ein Bediensteter vorgetreten war und den Kutschenschlag geöffnet hatte, sprang Beth vor Erleichterung praktisch hinaus. Einen Moment lang hielt sie inne, um die imposante weiße Fassade von Millbrook House zu betrachten, das sich etwas zurückgesetzt von der Straße hinter einem eleganten schwarzen Zaun erhob, umgeben von einem gepflegten kleinen Vorgarten.

Schon stand ihre Mutter neben ihr und scheuchte Beth die Stufen hinauf zur Eingangstür und hinein in das Haus. Darin herrschte bereits ein beträchtliches Gedränge, und es wurde immer lauter, je weiter sie sich hineinwagten, bis aus dem gedämpften Gemurmel schließlich eine fast ohrenbetäubende Kakofonie aus Gelächter und Geplauder geworden war. Im Empfangsbereich standen Gäste, die sich Luft zufächelten, um die ungewöhnliche Aprilhitze zu lindern, und dabei an Gläsern mit Punsch oder Limonade nippten. In der Eingangstür zum Ballsaal stand ein Bediensteter, der das Eintreffen der Neuankömmlinge verkündete, und Beth sah zu, wie ihre Mutter ihm ihre Namen nannte, bevor sie in den Trubel des Festes gezogen wurde.

„Lady Hummingford und Lady Elizabeth Hummingford.“

Beth brauchte einen Moment, um sich an die Hitze und die Helligkeit zu gewöhnen. Ihre Mutter hatte ihre Ankunft so geplant, dass sie die größtmögliche Wirkung entfalten würde, da die meisten anderen Gäste bereits eingetroffen waren. Was bedeutete, dass die Musik spielte und sich die Tanzpaare in der Mitte des Ballsaals drehten. Beth gestattete sich einen Augenblick, um die wirbelnden Röcke und die fließenden Schrittfolgen zu genießen. Sie liebte den Tanz, und sie freute sich jedes Mal darüber, wie fröhlich Musik und Tanz die Menschen machten.

„Wo ist er?“, murmelte ihre Mutter und ließ den Blick auf der Suche nach ihrem Gastgeber hektisch durch den Ballsaal huschen.

„Guten Abend, Lady Hummingford, Lady Elizabeth.“ Miss Culpepper kam zu ihnen herübergerauscht. Dies hier mochte zwar Mr. Ashburtons Haus sein und auf der Einladung mochte sein Name stehen, doch es war Miss Culpepper, die sich um die Details kümmerte, die bei der Leitung eines Balls unabdingbar waren. Sie war eine entfernte Verwandte von Mr. Ashburton, eine ältere kinderlose Dame, die sich bereit erklärt hatte, sich um den jungen Mr. Ashburton zu kümmern, als dieser im frühen Kindesalter seine Eltern verloren hatte. Sie galt in vornehmen Kreisen als Drachen, weil sie sich nie scheute, genau das zu sagen, was sie dachte, und den meisten Dingen, die ihr begegneten, nicht sonderlich wohlwollend gegenübertrat.

„Miss Culpepper. Was für ein fantastischer Ball. Ein voller Erfolg, sogar schon so früh am Abend.“

„Danke, Lady Hummingford, wie freundlich von Ihnen.“

„Ist Mr. Ashburton in der Nähe? Wir möchten ihm gern unseren Dank aussprechen.“

„Ich weiß nicht genau, wo sich mein Großneffe im Augenblick aufhält, aber er wird sicher gleich wieder in den Ballsaal zurückkehren.“

Beth reckte ein wenig den Hals, als sie einen Blick auf einen großen dunkelhaarigen Mann auf der anderen Seite des Ballsaals erhaschte. Mr. Ashburton war über die Köpfe der Leute hinweg leicht zu erkennen – er musste mindestens ein Meter achtzig groß sein, wenn nicht mehr, und sein Haar war so dunkelbraun, dass es fast schwarz wirkte. Schon war er wieder verschwunden, und Beth versuchte, die Erleichterung niederzuringen, die sie darüber empfand.

Sie wollte ja heiraten. Sie wollte eine Ehefrau werden, eine Familie gründen und ein eigenes Zuhause haben, in dem sie vor der Einmischung ihrer Mutter sicher wäre. Bisher hatte sie sich zweimal mit Mr. Ashburton unterhalten, beide Male nicht länger als ein paar Minuten. Offenbar besuchte er nicht sonderlich viele gesellschaftliche Ereignisse und schien auch nicht besonders oft in London zu sein. Soweit Beth das sagen konnte, da sie selbst erst vor ein paar Wochen in der Stadt eingetroffen war. Bei den beiden kurzen Unterhaltungen vor über einem Jahr hatte Beth den Eindruck gewonnen, dass er ein ernster Mann war, der sich voll und ganz seiner Aufgabe widmete, das Gut zu führen, das er eines Tages erben würde. Er lächelte wenig und lachte kaum, aber er war freundlich gewesen. Es gab durchaus schlimmere Heiratskandidaten. Das Problem war nur, dass sie einfach nichts fühlte, wenn sie ihn ansah. Kein Herzklopfen, kein Stocken des Atems, kein herrliches Prickeln auf der Haut. Sie erwartete keine Liebe auf den ersten Blick, aber sie war sicher, dass da wenigstens irgendetwas sein sollte. Ein Zeichen der gegenseitigen Anziehung oder zumindest ein Gefühl von Kameradschaft, wenn sie dem Mann gegenüberstand, mit dem sie ihr Leben verbringen sollte.

Miss Culpepper war zu den nächsten Gästen weitergegangen, und Beth und ihre Mutter schlängelten sich durch die Menschenschar weiter in den Ballsaal hinein.

„Ich glaube, ich habe Mr. Ashburton gesehen.“ Beth entzog ihrer Mutter ihren Arm und wandte sich zum Gehen.

„Ich komme mit dir.“

„Nein“, gab Beth ein wenig zu hastig zurück. Sie hielt einen Moment inne und lächelte ihre Mutter beruhigend an, bevor sie hinzufügte: „Ich glaube, ich sollte allein mit ihm sprechen.“

Ihre Mutter musterte sie kurz, dann nickte sie. „Denk daran, wie wichtig das hier ist. Annabelles Zukunft hängt davon ab, dass du diese Verbindung besiegelst.“

Wie immer, wenn ihre Mutter ihr in Erinnerung rief, welche Verantwortung sie ihrer Schwester gegenüber trug, wurde Beth leicht übel. Annabelle war ein Jahr jünger als sie und das sanfteste und liebenswürdigste Mädchen auf der ganzen Welt. Beth musste einen Mann mit genug Geld heiraten, der nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Mutter und ihre kleine Schwester versorgen konnte. Im Augenblick lebten sie allein vom Wohlwollen anderer und vom guten Ruf des Namens Hummingford, doch nach und nach verloren sie ihre Kreditgeber, und wenn Beth nicht bald einen Ehemann fand, würden sie sich dem finanziellen Ruin stellen müssen.

„Ich weiß, Mutter.“

Lady Hummingford ließ ihren Arm los, und Beth eilte davon, bevor ihre Mutter ihre Meinung ändern konnte. Sie würde nach Mr. Ashburton suchen, aber noch nicht jetzt gleich. Sie brauchte ein paar Minuten, um ihre Gedanken zu sammeln und sich selbst davon zu überzeugen, dass sie das hier tun konnte. Mr. Ashburton würde einen vollkommen akzeptablen Ehemann abgeben – wer war sie schon, dass sie sich mehr wünschte und nach etwas sehnte, das es nur in Geschichten gab?

Sie wob sich durch das Gedränge, lächelte und grüßte, blieb jedoch nicht stehen, um sich mit irgendjemandem zu unterhalten. Stattdessen bahnte sie sich ihren Weg zu den Flügeltüren, die weit offen standen und den Weg auf die Terrasse freigaben. Hier draußen war die Luft immerhin ein wenig kühler, aber dennoch warm genug, um ein Schultertuch unnötig zu machen. Viele der anderen Gäste schienen auf die gleiche Idee gekommen zu sein und hatten sich auf der gesamten Länge der Terrasse zu kleinen Grüppchen zusammengefunden. Beth erspähte die steinernen Stufen, die in den Garten hinabführten, und nachdem sie sich mit einem raschen Blick davon überzeugt hatte, dass ihr niemand Beachtung schenkte, stieg sie in die Dunkelheit hinab. Sie wollte nur einen Platz finden, wo sie sich kurz setzen und über ihre Zukunft nachdenken konnte, abseits des Gedränges. Dann würde sie genug Enthusiasmus aufbringen, um Mr. Ashburton nachzujagen.

***

Joshua Ashburton stieg aus der Kutsche und bezahlte den Fahrer, wobei er den Blick nicht von der verblüffend weißen Fassade des Hauses vor ihm lösen konnte. Es war groß, besonders für ein Stadthaus. Mit Abstand das größte in der ganzen Straße. Noch bevor er auch nur einen Schritt auf das Haus zugegangen war, begriff er, dass dort irgendeine Versammlung oder ein Fest stattfand. Musik drang aus dem Inneren, vermischt mit den Stimmen vieler Menschen, die alle durcheinanderredeten.

Er zögerte und fragte sich, ob er die Kutsche, die ihn hergebracht hatte, wieder anhalten sollte, bevor sie die Straße hinunter verschwand. Wahrscheinlich wäre es leichter, wenn er einfach wieder ginge und am nächsten Morgen zurückkäme. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er auf diesen Moment gewartet, da machte ein Tag mehr oder weniger sicher keinen Unterschied.

Er wusste, dass es aus logischer Sicht tatsächlich keinen Unterschied machte, trotzdem konnte er sich einfach nicht dazu bringen, dem Haus seines Bruders den Rücken zu kehren.

„Vielleicht nur ein kurzer Blick“, murmelte er vor sich hin. Er musste ja nicht gleich hineinmarschieren, verkünden, wer er war, und das Fest seines Bruders stören. Nur fünf Minuten, einfach, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wer sein Bruder war. Sie hatten einander im Laufe der Jahre Briefe geschrieben, aber Briefe allein konnten einem kein Gefühl dafür vermitteln, wer jemand wirklich war.

Josh ging auf die Haustür zu, blieb jedoch wieder stehen, bevor er die Eingangsstufen erreichte. Seitlich am Haus führte ein schmaler Pfad entlang, zweifellos nach hinten in den Garten, und die Pforte stand einen Spalt breit offen. Rasch änderte er die Richtung und folgte dem Pfad, stieß die Pforte auf und lief tiefer in den Garten hinein. Die Musik wurde lauter, und als er um die Hausecke bog, erkannte er eine Terrasse voller Gäste und eine offene Flügeltür, die in einen Ballsaal führte. Die Leute schienen sich wohlzufühlen – sie lachten und plauderten, und auf der Tanzfläche bewegten sich die Paare rhythmisch zum Klang der Musik.

Der Garten war groß, wie es einem Anwesen wie Millbrook House angemessen war, und nach allem, was er erkennen konnte, war die Einrichtung erlesen. Aus den Briefen, die alle paar Monate den Ozean überquert hatten, wusste er, dass sein Bruder Millbrook House vor ein paar Jahren gekauft hatte, weil er einen eigenen Wohnsitz in London hatte haben wollen, auch wenn ihm das Landleben deutlich lieber war. Nach der Größe und Pracht dieses Hauses zu schließen, musste Leo durchaus wohlhabend sein.

„Gut für dich, Leo“, murmelte er. Nie wäre ihm eingefallen, seinen Bruder um dessen Glück zu beneiden, niemals hätte er mit ihm tauschen wollen. Leo mochte zwar derjenige sein, der von den Verwandten mit Geld und Status aufgezogen worden war, aber Joshs Kindheit war voller Liebe und Abenteuer gewesen, was, wie er wusste, unbezahlbar war.

Fast hatte er genug gesehen. Am nächsten Morgen würde er zurückkommen und seine Wiedervereinigung mit seinem Bruder genießen, fürs Erste würde er jedoch in seine Mietunterkunft zurückkehren und Leo seinem Ball und seinen Gästen überlassen.

Als er sich abwandte, stolperte er im Dunkeln über etwas, das im Gras lag, und ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Knöchel. Es gelang ihm, sich zu fangen, und leise fluchend richtete er sich wieder auf. Er humpelte zu einer Bank in der Nähe hinüber, setzte sich und beugte sich vor, um den Knöchel zu massieren. Zum Glück hatte er sich den Fuß nicht sonderlich schlimm vertreten, und wenn er ihm ein paar Minuten Ruhe gönnte, würde er mehr oder weniger wiederhergestellt sein.

Er lehnte sich zurück, streckte die Beine vor sich aus und blickte in den Sternenhimmel hinauf.

„Oh“, entfuhr es Beth, bevor sie es verhindern konnte. Sie hatte seitlich im Garten eine Bank erspäht, verborgen vor den Blicken der Gäste auf der Terrasse, doch nun musste sie feststellen, dass dieser Platz bereits besetzt war.

„Guten Abend.“

Sie spähte durch die Dunkelheit, an die sich ihre Augen nach den strahlenden Lichtern des Ballsaals immer noch nicht gewöhnt hatten. Es war Mr. Ashburton. Nur mit Mühe gelang es ihr, ein Augenrollen zu unterdrücken. Natürlich war er hier. Ausgerechnet der Mann, dem sie noch ein paar Minuten lang hatte aus dem Weg gehen wollen, saß nun an ihrem Zufluchtsort.

„Guten Abend“, erwiderte sie seinen Gruß und stand verlegen einfach da, weil sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie zum Haus zurückkehren oder sich zu ihm setzen sollte.

Sie betrachtete ihn. Zwar konnte sie nicht behaupten, ihn gut zu kennen, aber irgendetwas an ihm war an diesem Abend anders. Normalerweise war seine Haltung so steif, so aufrecht, doch nun saß er vollkommen entspannt vor ihr. Er sah sie sogar an und lächelte ihr zu.

„Möchten Sie sich nicht zu mir setzen?“

Unsicher warf sie einen Blick über die Schulter. Ihre Mutter hatte sie zwar ermutigt, Mr. Ashburtons Gesellschaft zu suchen, aber sogar sie würde bei der Vorstellung zögern, dass ihre Tochter allein mit diesem Mann im dunklen Garten saß. Jederzeit konnte jemand, der auf dieselbe Idee gekommen war wie Beth und dem Trubel im Saal entfliehen wollte, hier vorbeikommen und sie sehen.

Trotzdem … da war etwas an der Art, wie er sie anlächelte, das ihr Herz ein wenig schneller schlagen ließ. Bevor sie sich anders entscheiden konnte, ging sie um ihn herum und ließ sich ganz am anderen Ende der Bank nieder.

„Es ist ein wunderbarer Ball“, sagte sie, in der Hoffnung, dass dieses oberflächliche Thema sie so weit durch die Unterhaltung tragen würde, bis sich ihre Nerven wenigstens ein wenig beruhigt hatten.

„Tatsächlich? Das freut mich.“

„Haben Sie das denn selbst noch nicht festgestellt?“

Er schüttelte den Kopf, und Beth fragte sich, ob es unhöflich wäre, ihn zu fragen, warum er einen Ball gab, sich dann aber hier draußen im Garten versteckte. Vielleicht hatte er ja eine schlechte Nachricht erhalten. Oder einfach Kopfschmerzen. Vielleicht … Sie schüttelte den Kopf, damit ihre Fantasie nicht mit ihr durchging, und konzentrierte sich auf den Mann neben ihr.

„Allerdings kann ich es sehen. Die Musik, das Lachen, es klingt jedenfalls nach einem Erfolg.“

Beth legte den Kopf schief und lauschte einen Moment lang den Klängen des Balls, wobei sie Mr. Ashburton dabei ertappte, wie er sie mit seinem scharfen Blick musterte.

„Das tut es tatsächlich, nicht wahr?“

„Wenn es ein solcher Erfolg ist, sollten Sie dann nicht dort drinnen sein und tanzen, Miss …“

Beth blinzelte. Er konnte doch nicht vergessen haben, wer sie war. Zugegebenermaßen war schon ein Jahr vergangen, seit sie einander vorgestellt worden waren, aber er musste sich doch an die Frau erinnern, die er zu heiraten versprochen hatte.

Sie schluckte ihre Empörung hinunter und lächelte ihn steif an. „Lady Elizabeth.“

„Lady Elizabeth.“ Da war nichts, nicht einmal ein Flackern in seinem Blick, was ein Wiedererkennen verriet.

Kurz schloss sie die Augen. Was, wenn ihre Mutter alles falsch verstanden hatte? Lady Hummingford war überzeugt davon, dass Mr. Ashburton der Ehe mit Beth praktisch schon zugestimmt hatte, bevor ihr Vater vor fünf Jahren gestorben war. Lord Hummingford hatte von einer offenen Schuld gesprochen, von einem Dienst, den er Mr. Ashburton erwiesen hatte. Das Ergebnis war das Versprechen gewesen, dass Beth den begüterten und erfolgreichen jungen Mann heiraten würde, wenn sie das wollte. Ihre Eltern hatten es zwar nicht als offizielle Verlobung betrachtet, aber durchaus als etwas, das nicht weit davon entfernt war. Bei dieser ganzen Saison in London, dem vielen Geld, das sie für Mietunterkünfte und Kleider ausgaben, die sie sich nicht leisten konnten, ging es einzig und allein darum, Mr. Ashburton an sein Versprechen zu erinnern und ihn davon zu überzeugen, dass es keinerlei Vorteil bot, noch länger zu warten.

„Ich habe ein bisschen frische Luft gebraucht. Ein bisschen Raum zum Denken.“

„Und wo könnte man besser denken als unter den Sternen?“, murmelte er und hob den Blick zum Himmel. Beth tat es ihm nach und war einen Moment lang wie gebannt von dem Funkeln in der Dunkelheit über ihnen. „Ich konnte immer schon am besten im Freien nachdenken. Ich finde es beruhigend, zu den Sternen aufzublicken und zu begreifen, dass ich nur ein sehr kleiner Teil einer sehr großen Welt bin.“

„Sie finden das beruhigend?“

Er sah sie an und schenkte ihr ein Lächeln, das sein ganzes Gesicht erhellte und ihn jung und sorglos erscheinen ließ. Beth fühlte, wie sich etwas in ihr zusammenzog, und es fiel ihr schwer, sich auf seine Antwort zu konzentrieren.

„Ein bisschen sonderbar, ich weiß, aber mir gefällt der Gedanke, dass ich nur einer von Millionen von Menschen bin. Wenn ich einen schlechten Tag habe, gibt es Tausende, denen es noch schlimmer ergeht, und wenn ich einen guten Tag habe, teilen ihn tausend andere mit mir.“

„So habe ich das noch nie betrachtet. Das gefällt mir, es hat etwas Philosophisches.“

Leicht verlegen schüttelte er den Kopf. „Auf der Reise von Indien hierher hatte ich einfach viel zu viel Zeit. Was jetzt anscheinend zum Ergebnis hat, dass ich alles laut ausspreche, was eigentlich lieber in meinem Kopf bleiben sollte.“

Beth lachte. So hatte sie sich die Unterhaltung mit Mr. Ashburton nicht vorgestellt. In der Öffentlichkeit gab er sich immer so rechtschaffen, so formell. Sie war nicht sicher, ob sie ihn überhaupt schon einmal lächeln sehen hatte, doch hier war er nun, lachend und entspannt, und machte Scherze auf seine eigenen Kosten. Fast hätte Beth nach seiner Indienreise gefragt. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er im Ausland gewesen war, aber bevor sie den Mund aufmachen konnte, stellte er ihr seinerseits eine Frage.

„Warum genau haben Sie Raum gebraucht?“

„Wegen meiner Mutter“, antwortete sie, bevor sie ihre Zunge zügeln konnte.

„Ah.“

„Ich weiß ja, dass sie es gut meint“, sagte sie leise, „aber manchmal kann das Gewicht ihrer Erwartungen ein bisschen erdrückend sein.“

Eine Weile sah er sie an, als würde er etwas abwägen. „Was Sie jetzt brauchen, ist eine kleine Ablenkung.“

Überrascht blinzelte sie, als er abrupt aufstand und ihr die Hand hinstreckte. Einen Moment lang starrte sie ihn nur reglos an.

„Tanzen Sie mit mir. Ich verspreche, dass Sie das durchaus ablenkend finden werden. Ich tanze zwar ganz gern, aber ich an Ihrer Stelle würde auf meine Zehen aufpassen.“

Zögerlich legte sie die Hand in seine. Das hier war verrückt, aber es war, als hätte er sie hypnotisiert. Langsam stand sie auf und warf einen Blick über die Schulter auf die flackernden Lichter der Terrasse.

„Wir sollten nicht …“

Er trat einen Schritt auf sie zu, und sie fühlte die Wärme seines Atems, als er ihr ins Ohr flüsterte: „Manchmal ist es gut, etwas Verbotenes zu tun.“ Diese Worte beschworen ein ganzes Heer unerlaubter Gedanken herauf, und sie spürte, wie Hitze in ihr aufstieg.

„Was, wenn uns jemand sieht?“

„Die Büsche verbergen uns.“

Sie erlaubte ihm, sie sanft in Position zu bringen, und wie auf sein Zeichen setzte die Musik im Ballsaal wieder ein. Es war ein Walzer, und nach drei Schritten wusste Beth schon, dass Mr. Ashburton gelogen hatte. Er war ein erfahrener Tänzer, und er führte sie, als würden sie über dem Erdboden dahinschweben. Sie sah auf und gestattete sich, in der Dunkelheit einen Moment lang sein Gesicht zu betrachten. Auch jetzt lag noch immer der Hauch eines Lächelns auf seinen Lippen. Er war ein gut aussehender Mann mit einem kräftigen Kinn und dunklen Augen, hinter denen ein Meer aus Wärme zu liegen schien. Vielleicht würde diese arrangierte Ehe doch nicht so schlimm werden, falls er denn tatsächlich zugestimmt hatte, sie zu heiraten.

Beth verlor sich in diesem Augenblick, schob alle Gedanken beiseite, um den Druck seiner Hand an ihrer Taille zu genießen, das Dahingleiten ihrer Körper im Dunkeln, den Zauber, der in der Luft lag.

Als die Musik verklungen war, hätte sie zurückweichen sollen, doch Mr. Ashburton verharrte noch einen Moment, hielt sie fest und sah ihr in die Augen. Eine unwiderstehliche Anziehung ging von ihm aus, und Beth sehnte sich danach, herauszufinden, wie sich seine Lippen auf ihren anfühlten. Sie sah ihr eigenes Verlangen in seinem Blick widergespiegelt, als er ihr sanft einen Finger unter das Kinn legte und es kaum merklich anhob.

Noch nie zuvor hatte ein Mann sie so berührt, noch nie zuvor hatte sie die Funken der Aufregung gefühlt, die eine solche Nähe durch ihren ganzen Körper jagen konnte.

„Sie tanzen sehr gut, Lady Elizabeth“, sagte er leise.

Beth hörte seine Worte kaum, sie war zu abgelenkt von der Wärme seines Körpers, so nah an ihrem eigenen, und dem unverhüllten Verlangen, das in ihr aufloderte.

„Danke.“

Sie war sicher, dass er sie küssen würde. Sie stellte sich sogar leicht auf die Zehenspitzen, um die letzte Distanz zwischen ihnen zu schließen. Der Augenblick schien sich endlos auszudehnen, die Erwartung baute sich auf, bis sie am liebsten aufgeschrien oder ihn angefleht hätte, sie in die Arme zu nehmen.

„Joshua?“ Die Stimme kam aus der Dunkelheit hinter ihnen, präzise und knapp.

Beth wich so hastig zurück, dass sie fast über den Saum ihres Kleids gestolpert wäre. Nur Mr. Ashburtons Hände auf ihren Armen verhinderten, dass sie als verwickeltes Knäuel auf dem Boden endete. Sie sah sich um und erstarrte, als hinter ihr Mr. Ashburton aus der Nacht auftauchte.

„Wie …?“ Sie sah von einem Mann zum anderen. Es gab zwei von ihnen. Beide groß, mit dunklem Haar und dunklen Augen, mit dem gleichen kräftigen Kinn und der geraden Nase. Als sie genauer hinsah, fielen ihr feine Unterschiede im Aussehen der beiden auf, und vielleicht waren sie auch nicht ganz genau gleich groß, aber es konnte keinen Zweifel daran geben, dass sie eng verwandt waren. Brüder vielleicht. Doch sie hätte es wissen müssen, wenn Mr. Ashburton einen Bruder hatte.

„Leo.“ Der Mann vor ihr, der Mr. Ashburton, den sie fast geküsst hätte, trat rasch vor und umarmte den anderen.

Beth versuchte immer noch, sich zu fassen, während sich ihre Gedanken überschlugen und sie allmählich begriff, warum ihr Mr. Ashburton so anders, so entspannt vorgekommen war. Der Mann, neben dem sie gesessen hatte, Mr. Joshua Ashburton, war nicht der Mann, dem sie versprochen war.

„Lady Elizabeth“, sagte Mr. Leonard Ashburton und verbeugte sich steif vor ihr. „Anscheinend haben Sie meinen Bruder bereits kennengelernt.“

„Allerdings“, brachte sie heraus.

„Ich wollte deinen Ball nicht stören“, erklärte Mr. Joshua Ashburton und klopfte seinem Bruder auf den Rücken. „Mein Schiff ist früher als angenommen eingelaufen, und ich konnte es nicht erwarten, dich zu sehen, als ich dann aber begriffen habe, dass du Gäste hast, wollte ich nicht einfach so hereinplatzen.“

„Stattdessen hast du beschlossen, mit Lady Elizabeth im Garten zu tanzen.“ Es klang vollkommen sachlich, trotzdem fühlte Beth ihre Wangen heiß werden. Sie hatte gehofft, dass er nicht mehr gesehen hatte als zwei Leute, die im Garten unschuldig zusammenstanden und sich unterhielten, doch offensichtlich war ihm ihre Indiskretion nicht völlig entgangen.

„Ich gehe jetzt lieber und überlasse Sie Ihrem Wiedersehen mit Ihrem Bruder“, sagte sie und ging hastig davon.

„Danke für den Tanz, Lady Elizabeth.“

Sie drehte sich um, fing Mr. Joshua Ashburtons Blick auf und fühlte wieder diese unbestreitbare Anziehung.

Allerdings brachte sie nicht mehr als ein Nicken zustande, raffte leicht die Röcke und ging so eilig davon, wie sie nur konnte, ohne dabei loszurennen.

2. KAPITEL

„Du willst mich wirklich begleiten?“

Joshua warf den Kopf zurück und lachte laut über die verwirrte Miene seines Bruders. Es waren erst eineinhalb Tage vergangen seit ihrer Wiedervereinigung nach fünfundzwanzig Jahren, trotzdem fühlte es sich so an, als würde er den Mann, der ihm gegenübersaß, so gut kennen, als wären sie nie getrennt worden. Er war sechs gewesen, als sie ihre Eltern verloren hatten, Leo acht. Aus dem ernsten, nachdenklichen kleinen Jungen von damals war ein ernster, nachdenklicher Mann geworden.

„Ich habe drei Monate in England“, erwiderte Josh und tippte mit dem Finger auf die Lehne des Stuhls. „Wer weiß, wie lange es dauert, bis ich danach wieder herkommen kann? Ich werde keine Minute verschwenden.“

„Es wird kein sonderlich lustiger Nachmittag werden.“

„Das weißt du doch noch gar nicht.“

„Ich trinke Tee mit der Mutter des Mädchens, das ich zu heiraten versprochen habe. Was ich seither aber immer weiter hinauszögere. Das wird eindeutig nicht lustig.“

„Wer ist denn das Mädchen?“

Einen Moment lang musterte Leo ihn, bevor er antwortete: „Du hast sie schon kennengelernt. Lady Elizabeth.“

Das Bild von ihr, wie sie ihm näher gekommen war, den Blick der blauen Augen fest auf ihn gerichtet, die Lippen geteilt, wie bereit für einen Kuss, blitzte vor ihm auf.

„Lady Elizabeth“, murmelte er und genoss die Erinnerung. „Sie scheint doch ein nettes Mädchen zu sein, warum verzögerst du die Hochzeit mit ihr?“ Nett war eine Untertreibung. Alles an ihr war verlockend gewesen: der süße Rosenduft ihres Haars, die Rundung ihrer Taille unter seiner Hand, als sie getanzt hatten, die Art, wie sie errötet war, wenn er sie angesehen hatte.

Sein Bruder seufzte und fuhr sich mit der Hand durch den dichten dunklen Schopf. Dieselbe Geste kannte Josh von sich selbst, wenn er angespannt war.

„Ich habe das Mädchen noch nicht einmal gefragt. Es war ein Arrangement zwischen mir und ihrem Vater. Ich war ihm etwas schuldig zum Dank für … einen Gefallen, den er mir getan hat. Als Gegenleistung für seine Dienste habe ich versprochen, seine Tochter zu heiraten, sobald sie im passenden Alter ist.“

Josh war neugierig, was diesen Gefallen betraf, aber er wusste es besser, als seinen Bruder über etwas auszufragen, was dieser offenbar nicht preisgeben wollte. „Du musst ein ziemlich guter Fang sein, wenn er die Ehe auf diese Weise arrangieren wollte.“

Leo zuckte mit den Schultern. „Wenn Lord Abbingdon stirbt, werde ich der neunte Viscount Abbingdon und erbe den Titel und die gesamten dazugehörigen Ländereien.“

„Und Lady Elizabeth ist die Tochter eines Earls?“

„Das ist sie. Allerdings eines verarmten Earls. Ihr Vater hat sich Sorgen darum gemacht, sie könnte, um das schwindende Familienvermögen wiederherzustellen, gezwungen sein, jemanden zu heiraten, der zwar begütert ist, aber keinen Titel trägt. In mir hat er sowohl Geld als auch einen Titel gesehen – das Beste, worauf er hoffen konnte.“

„Das allein wird dir nicht gerecht. Warum also die Verzögerung?“

Kurz schloss Leo die Augen. „Tatsächlich weiß ich es selbst nicht. Ich muss heiraten. Es ist eine Bedingung in Lord Abbingdons Testament. Natürlich werden Titel und Ländereien in jedem Fall auf mich übergehen, aber er hat gedroht, so viel von seinem Vermögen wegzugeben, wie er nur kann, falls ich zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht verheiratet sein sollte.“

„Was ein bisschen unvernünftig ist.“

„Er hat mir gesagt, es sei schlimm genug, dass er keinen eigenen Sohn hat, der ihn beerben kann, und dass es abgesehen von dir und mir niemanden gibt, der auch nur annähernd dafür geeignet ist, den Titel zu tragen. Daher die Bedingung, dass ich verheiratet sein muss.“

„Gibt es denn eine andere, die du gerne heiraten würdest?“

„Nein. Und natürlich bin ich sicher, dass Lady Elizabeth eine ziemlich gute Ehefrau abgeben wird. Nur kenne ich sie eben kaum.“

„Dann müssen wir das ändern.“

Zehn Minuten später schlenderten sie durch die Straßen und genossen das Sonnenlicht im Gesicht und die warme Brise, die Josh an die Tage kurz vor Einsetzen des Monsuns zu Hause erinnerte.

„Was ist mit dir?“, fragte Leo und hob den Hut, als sie an einer Gruppe junger Frauen vorbeikamen, die ihnen im Chor einen guten Nachmittag wünschten.

„Was soll mit mir sein?“

„Gibt es jemanden, den du gerne heiraten möchtest? Eine Frau in Indien, die dir am Herzen liegt? Oder siehst du dich hier nach einer möglichen Ehefrau um?“

„Herrje, nein. Ich liebe Indien, und ich kann mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben, aber mir ist durchaus bewusst, dass dies vermutlich nicht das Leben ist, das sich eine wohlerzogene englische Dame wünscht. Weshalb ich wohl leider dazu bestimmt bin, Junggeselle zu bleiben.“

„Du musst also zurückgehen?“

„Ja. Ich muss zurück.“ Das musste er wirklich, aber er wollte es auch. England war eine angenehme Abwechslung und bot ihm die Chance, den Mann, der neben ihm ging, besser kennenzulernen als durch die Briefe, die sie im Laufe ihres Lebens geteilt hatten. Trotzdem war dies hier nicht mehr als ein kurzes Zwischenspiel. Sein wahres Leben wartete in Indien auf ihn, das Schifffahrtsunternehmen, das Transportgeschäft, der Trubel auf den Docks.

„Nun gut.“ Allmählich gewöhnte sich Josh an die stoische Akzeptanz, mit der sein Bruder allem begegnete, womit er konfrontiert wurde. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Leo jemals aufgebracht oder wütend werden konnte. Stattdessen nickte er auf die ihm eigene ruhige Art und machte einfach weiter.

Vor einem schmalen Stadthaus, dessen Anstrich nicht mehr ganz so makellos war wie der sämtlicher anderer Häuser in der Straße, blieben sie stehen. Es wirkte leicht vernachlässigt. Nichts, was für sich genommen auffällig gewesen wäre, doch im Vergleich zu den benachbarten Gebäuden machte es den Eindruck, dass ein wenig mehr Geld in die Instandhaltung investiert werden könnte.

Leo trat vor, klopfte an die Tür und wich wieder einen Schritt zurück. Sie warteten, bis ein nervös wirkendes junges Dienstmädchen ihnen öffnete. Sie nannten ihr ihre Namen, die das Mädchen wiederholte, als hätte es Angst, sie wieder zu vergessen, dann führte es Josh und Leo durch einen schmalen Gang und in einen Raum im Erdgeschoss.

„Mr. Leonard Ashburton und Mr. Joshua Ashburton“, verkündete sie und sank in einen wenig eleganten Knicks, als die beiden Männer an ihr vorbei in das Zimmer traten.

Rasch ließ Josh den Blick auf der Suche nach Lady Elizabeth durch den Raum schweifen. Dies geschah vollkommen unwillkürlich, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er wollte nur noch einen einzigen Blick auf sie erhaschen, bevor er sich mit der Tatsache abfand, dass sie bereits so gut wie verlobt mit seinem Bruder war.

Er konnte sie jedoch nicht entdecken. Stattdessen erhob sich eine schlanke Frau Ende vierzig, um sie zu begrüßen. Zweifellos Lady Hummingford. Es bestand durchaus eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter, doch Lady Elizabeths Haut und Haar waren heller, und sie war deutlich kleiner und zierlicher als Lady Hummingford.

„Alice, richte Elizabeth aus, dass wir Gäste haben. Bitte setzen Sie sich, Gentlemen, meine Tochter wird in Kürze zu uns stoßen.“

Josh setzte sich und sah sich um. Es war ein kleiner, aber geschmackvoll eingerichteter Raum, wenn auch gänzlich ohne persönliche Note. Keine Gemälde an den Wänden, keine Figurinen auf dem Kaminsims, und die Möbel passten ein wenig zu gut zueinander. Wenn er sich nicht täuschte, waren dies gemietete Räumlichkeiten und dazu nicht sonderlich teure. Offensichtlich hatte sein Bruder recht damit, dass die Hummingfords finanziell zu kämpfen hatten.

„Mr. Ashburton, ich wusste nicht, dass Sie einen Bruder haben. Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Lady Hummingford.“ Josh neigte den Kopf. Er war nicht in diesen Kreisen aufgewachsen. Mr. Usbourne, sein Vormund, war ein freundlicher Mann, ein reicher Mann, aber er gehörte nicht zur Aristokratie. Die vornehme Gesellschaft in Indien war nur sehr klein, weshalb Josh mit allen möglichen Leuten in Kontakt kam, und dort galten etwas andere Regeln als hier. Glücklicherweise war er ein ziemlich geschickter Nachahmer und musste nur gut beobachten, wie sich sein Bruder verhielt, um diesen perfekt imitieren zu können. Trotzdem fühlte sich diese Förmlichkeit etwas einengend an.

„Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, während wir auf meine Tochter warten?“

„Bitte.“

„Sehr gern.“

Elizabeth kaute auf ihrem Daumennagel herum, während sie sich selbst im Spiegel betrachtete. Was ihr allerdings erst bewusst wurde, als ihr Blick auf ihre Hand an ihrem Mund fiel.

„Er ist nur ein Mann“, betete sie sich zum hundertsten Mal vor. Mr. Ashburton – Mr. Leonard Ashburton – hatte am Vortag eine Nachricht geschickt und darum gebeten, sie an diesem Nachmittag besuchen zu dürfen. Seither war ihre Mutter unentwegt nervös umhergewandert, und Elizabeth hatte sich rasch in ihr Zimmer zurückgezogen. Es war eine Erleichterung gewesen, allein zu sein, doch es hatte auch bedeutet, dass sie sich während der vergangenen vierundzwanzig Stunden nicht von ihren Sorgen bezüglich dieser Begegnung hatte ablenken können.

Ihre größte Befürchtung war, dass Mr. Ashburton ihr ganz und gar unangemessenes Verhalten im Garten bei seinem Ball gesehen hatte, als sie mit seinem Bruder getanzt hatte, und dass er nun hier war, um zu verkünden, dass sie ein zu leichtfertiges Mädchen und als seine Ehefrau völlig ungeeignet war. Ihre zweitgrößte Befürchtung war das genaue Gegenteil: dass er beschlossen haben könnte, es nicht länger hinauszuzögern, und nun hier war, um zu verkünden, dass sie noch in diesem Monat heiraten würden.

Ein leises Klopfen kam von der Tür, dann steckte Alice den Kopf in den Raum.

„Die Gentlemen sind hier, Mylady. Ihre Mutter bittet Sie, nach unten zu kommen.“

„Danke, Alice.“ Beth lächelte dem nervösen Dienstmädchen zu, doch Alice hatte den Blick bereits zu Boden gesenkt und wollte sich zurückziehen. „Moment. Die Gentlemen? Ist es denn mehr als einer?“

„Ja, Mylady.“

„Wer sind denn unsere Gäste?“

Noch bevor Alice den Mund aufmachte, kannte Beth die Antwort. Sie erinnerte sich daran, wie sich Mr. Joshua Ashburtons Hand an ihrer Taille angefühlt hatte, während er sie über ihre ganz eigene Tanzfläche unter den Sternen geführt hatte. An das wilde Klopfen ihres Herzens, als die Musik verklungen war und er sie nur einen Augenblick länger festgehalten hatte, als er es hätte tun sollen. Selbst jetzt noch konnte sie die Wärme spüren, die ihren ganzen Körper durchströmt hatte, diesen kleinen Funken der Freude, den seine bloße Nähe in ihr entzündet hatte.

„Mr. Ashburton und Mr. Ashburton“, sagte Alice, und bevor Beth noch weitere Fragen stellen konnte, war das Mädchen schon davongehuscht.

Beth schloss die Augen und ließ einen langen Atemzug ausströmen. Sie hatte keine Ahnung, was die beiden Männer hier wollten. Es gab absolut keinen Grund für Mr. Joshua Ashburton, ihrer Mutter und ihr einen Besuch abzustatten. Rasch versuchte sie, die aufgeregte Freude zu unterdrücken, die in ihr aufstieg. Sie musste ihre Zeit und Energie auf seinen Bruder konzentrieren und durfte sich nicht gestatten, sich von Joshua Ashburtons fesselndem Lächeln und seiner offenherzigen Art ablenken zu lassen.

Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und lächelte, um zu prüfen, ob es gezwungen wirkte, dann verließ sie die Zuflucht ihres Zimmers und lief die Treppe hinunter.

Das Haus, das sie für ihren Aufenthalt in London gemietet hatten, war klein, und schon während sie die Stufen ins Erdgeschoss hinabstieg, hörte sie das Gemurmel von Stimmen aus dem Empfangsraum.

Als sie eintrat, verstummte die Konversation, und alle Augen richteten sich auf sie. Beide Männer erhoben sich, und wieder war sie verblüfft darüber, wie ähnlich sie einander sahen. Sie waren beide groß, hatten breite Schultern und so dunkles Haar, dass es beinahe schwarz war. Beide betrachteten sie aus tiefbraunen Augen, über eine gerade schmale Nase hinweg. Trotz aller Ähnlichkeiten wusste sie sofort, welcher Bruder welcher war. Leonard Ashburton musterte sie mit ernster Miene und begrüßte sie förmlich. Er wirkte kühl und zurückhaltend, doch auf einmal hatte sie den Eindruck, dass es ihn viel Mühe kostete, seine unlesbare Miene beizubehalten.

Sein Bruder Joshua Ashburton war das genaue Gegenteil. Er lächelte breit, sobald Beth durch die Tür getreten war, und als sie seinen Blick erwiderte, leuchteten seine Augen auf. Er machte tatsächlich den Eindruck, als wollte er auf sie zugehen und ihre Hand nehmen oder eine ähnlich innige Geste ausführen, bevor er sich fing und wieder hinsetzte.

„Guten Tag, Lady Elizabeth“, sagte Leonard Ashburton, nachdem sie alle Platz genommen hatten. Beths Mutter versuchte, ihr mit Blicken irgendetwas zu verstehen zu geben, was Beth jedoch nicht enträtseln konnte, weshalb sie beschloss, es einfach zu ignorieren.

„Guten Tag. Wie freundlich von Ihnen, uns zu besuchen.“

„Sie erinnern sich natürlich noch an meinen Bruder.“

Beth fühlte ihre Wangen heiß werden, als sie gezwungen war, sich erneut Joshua Ashburton zuzuwenden. Dieser hatte sich entspannt auf seinem Stuhl zurückgelehnt und den Knöchel auf ein Knie gelegt.

„Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich meinen Bruder begleitet habe, Lady Elizabeth.“

„Natürlich nicht.“

„Mr. Ashburton hat mir gerade erzählt, dass sein Bruder erst kürzlich aus Indien eingetroffen ist“, erklärte Lady Hummingford.

Indien. Beth gestattete sich einen Moment lang, sich ein Land vorzustellen, dass so vollkommen anders als ihres war. Sie hatte Bücher darüber gelesen und stundenlang die Abbildungen in dem großen Atlas ihres Vaters in der Bibliothek von Birling View betrachtet. Es klang so exotisch, so faszinierend. Die Tatsache, dass er gerade erst in England eingetroffen war, erklärte sowohl, warum sie bisher nichts von Joshua Ashburton gewusst hatte, als auch, warum sein Gesicht leicht gebräunt wirkte.

„Sie freuen sich sicherlich sehr, Ihren Bruder hier zu haben, Mr. Ashburton.“ Beth zwang sich dazu, sich an den Mann zu wenden, dem sie versprochen werden sollte, obwohl sie lieber weiter seinen Bruder angesehen hätte.

„Das tue ich. Auch wenn sein Besuch nur kurz ist. Wir müssen eben das meiste aus unserer Zeit mit ihm machen, solange er hier ist.“

Beth ließ den Blick kurz zurück zu Joshua schweifen, nur um festzustellen, dass er sie unverwandt ansah. Er lächelte sogar, als sich ihre Blicke trafen. Beth fühlte, wie sie schuldbewusst errötete, und rasch richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Leonard Ashburton.

Er schien ein Mann weniger Worte zu sein, den das peinliche Schweigen, das sich nun ausbreitete, offenbar nicht störte, während Beth fieberhaft nach einem weiteren Gesprächsthema suchte.

„Ich habe gehört, dass Sie einen Großteil Ihrer Zeit auf dem Land verbringen, Mr. Ashburton.“

„So ist es.“

Sie wartete einen Moment, bevor offensichtlich wurde, dass er seiner Antwort nichts mehr hinzufügen würde. „Haben Sie einen eigenen Landsitz oder wohnen Sie bei Ihrer Familie?“

„Mein Großonkel hat ein paar Besitztümer in Sussex und Kent. Er ist bereits ein älterer Herr mit einigen körperlichen Gebrechen, sein Verstand ist allerdings messerscharf. Ich führe die Anwesen für ihn und lebe auf einem der kleineren Güter bei Tunbridge Wells.“

„Oh, Tunbridge Wells ist so eine herrliche kleine Stadt, so elegant“, schwärmte Lady Hummingford. „Auf der Reise nach London haben wir früher oft einen Umweg gemacht, um dort eine Nacht zu verbringen.“

Beths Kindheitszuhause – und das einzige Haus, das sie nun noch besaßen, nachdem ihr Londoner Stadthaus vor ein paar Jahren verkauft worden war und die beiden anderen Anwesen mitsamt dem Titel nach dem Tod ihres Vaters an einen entfernten Cousin gefallen waren – lag in der Nähe der Kleinstadt Eastbourne inmitten von grünen Hügeln mit Blick auf die weißen Klippen der Steilküste. Sie liebte es, am Meer zu leben, doch sie wusste, dass dies auch etwas war, das sie als verheiratete Frau würde aufgeben müssen.

„Wo leben Sie, Lady Elizabeth?“, fragte Joshua Ashburton.

„Wir besitzen ein Anwesen an der Südküste in der Nähe von Eastbourne. Ich genieße das Landleben, aber ich kann nicht abstreiten, dass ein Aufenthalt in London einiges an Abwechslung zu bieten hat.“

„Lady Hummingford, vielleicht könnte ich kurz mit Ihnen unter vier Augen sprechen“, warf Leonard Ashburton unvermittelt ein.

Beth fühlte, wie sich ihre Augen erschrocken weiteten. Dies war der Moment, in dem er seine Absichten offenlegen würde. Entweder würde sie als unpassend für einen zukünftigen Viscount abgelehnt werden, oder er würde ein Verlöbnis vorschlagen.

„Natürlich.“ Lady Hummingford wirkte so gelassen, als hätte sie nicht das gesamte vergangene Jahr auf diesen Augenblick hingearbeitet. Sie erhob sich, und nur ihre Mundwinkel verrieten ihr Lächeln. Beth sah ihrer Mutter und Mr. Leonard Ashburton nach, die gemeinsam den Raum verließen, um einen kurzen Spaziergang im Garten zu unternehmen. Ihre Mutter warf einen Blick zurück, um sich davon zu überzeugen, dass die Tür weit offen stand, doch sie war zu erpicht darauf, mit Mr. Ashburton zu sprechen, um dagegen zu protestieren, dass Elizabeth allein mit einem Gentleman zurückblieb.

Die Stille hielt nur einen Moment lang an, nachdem sie fort waren, dann suchte sich Mr. Joshua Ashburton einen anderen Platz und setzte sich direkt neben sie. Es trennten sie immer noch die Stuhllehnen, dennoch fühlte es sich ein wenig unpassend an.

„So sehen wir uns also wieder, Lady Elizabeth.“

„Ich glaube, ich muss Ihnen erklären …“

Er hob die Hand. „Nicht nötig.“

„Doch, das ist es. Normalerweise benehme ich mich nicht so.“

„Sie haben nichts falsch gemacht, Lady Elizabeth.“ Der unvernünftige Wunsch, ihn darum zu bitten, sie Beth zu nennen, erwachte in ihr. So dachte sie von sich selbst, auch wenn nur ihre Schwester sie so nannte. Sie wollte hören, wie ihr Name durch seine Lippen glitt, wie er ihn in seinem perfekten Englisch aussprach, in dem nur der Hauch eines Akzents mitschwang, den sie nicht einordnen konnte.

„Ich hätte nicht einmal allein im Garten sein sollen, ganz zu schweigen davon, dass ich mit Ihnen getanzt habe.“

„Diese Regeln, nach denen hier alle leben.“ Ratlos schüttelte er den Kopf.

„Die gesellschaftlichen Regeln?“

„Warum sollten Sie sich schuldig fühlen, weil Sie ein paar Minuten in angenehmer Gesellschaft verbracht haben? Es ist schließlich nicht so, als wäre etwas Unpassendes vorgefallen.“

Beth dachte an seine Hand an ihrer Taille, an die Art, wie ihre Beine beim Tanzen übereinandergestrichen waren. Ihr Herz klopfte schneller, als sie sich in Erinnerung rief, wie die Musik verklungen war und er ihr Kinn mit dem Finger angehoben hatte, bis ihre Lippen einander so nah gewesen waren. Mr. Leonard Ashburtons Eintreffen mochte verhindert haben, dass sie eine Grenze überschritten, was jedoch nicht bedeutete, dass Beths Verhalten nicht skandalös gewesen war. Sowohl was ihren Spaziergang ohne Anstandsdame im Garten als auch was ihre Gedanken und Wünsche in jenem Augenblick vor der Unterbrechung betraf.

„Obwohl …“ Ein jungenhaftes Funkeln blitzte in seinen Augen auf. „Ich glaube, dass Sie mich küssen wollten.“

Beth verschlug es die Sprache. Das stimmte zwar, aber ein echter Gentleman hätte auf eine solche Indiskretion niemals auch noch hingewiesen.

„Wollte ich nicht.“

„Oh, doch.“

„Ich habe Sie für Ihren Bruder gehalten“, murmelte sie.

„Das glaube ich“, antwortete er leise und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, als hätte er keine Sorge auf der Welt. „Trotzdem war ich es, den Sie küssen wollten.“

Sie erhob sich, weil sie dringend etwas Abstand zwischen sich und den Mann vor ihr bringen musste. Es fiel ihr schwer, den Blick von ihm abzuwenden oder einen vernünftigen Gedanken zu fassen.

Von dem Empfangszimmer aus konnte man auf den kleinen Garten hinausblicken, und Beth brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Dort draußen gingen Mr. Leonard Ashburton und ihre Mutter Seite an Seite spazieren. 

„Warum sind Sie hier?“, fragte sie unvermittelt und drehte sich wieder um.

Autor

Laura Martin
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