Der Gute liegt so nah...

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Der neue Roman von Kristan Higgins - garantiert weibliche Lachtränen und öffnet allen Männern die Augen!

Joe! Für die junge Ärztin Millie Barnes hat die Sehnsucht einen Namen. Nach dem Studium zurück auf Cape Cod, will sie vor allem eins: Joe Carpenter davon überzeugen, dass sie beide zusammen gehören. Schließlich schwärmt sie seit ihrer Highschoolzeit für ihn. Niemand hat so freche Augen und so ein sexy Grübchen wie er, niemand dieses dunkelblonde Haar, das immer so ausseht, als hätte darin gerade eine Frau gewühlt … was wahrscheinlich stimmt. Allerdings gibt es noch einen zweiten Mann in Millies neuem, alten Leben: Ihren Schwager Sam, frisch von ihrer egomanischen Schwester geschieden. Nur ein guter Freund, nur ein verlässlicher Kumpel. Oder?
Aber wer sagt eigentlich, dass die Sehnsucht nur einen Namen trägt?


  • Erscheinungstag 10.01.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783862781409
  • Seitenanzahl 416
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Ich bin eine Stalkerin. Eine von der harmlosen Sorte. Na ja, ich war eine Stalkerin, es ist schon eine Weile her. Trotzdem ist es schwer, zuzugeben, dass man aus Liebe verfolgt, belauscht, spioniert, herumgelungert und bestochen hat. Aber all das habe ich getan, und zwar ziemlich gut, wie ich hinzufügen möchte. Vielleicht wissen Sie, wovon ich rede. Es spielt keine Rolle, wie alt man ist, welche Schulbildung man hat oder wo man wohnt – Stalking ist der weiblichen Psyche angeboren. Wir haben das alle schon mal gemacht.

In meinem Fall habe ich Joe Carpenter nachgestellt, seit ich vierzehneinhalb war, bis ich aufs College ging. Ich wusste, wo mein Opfer lebte, ich kannte den Namen seiner Mutter, den seiner Schwester und den seines Hundes. Ich wusste, welchen Pick-up er fuhr, kannte seine Lieblingsfarbe, die Namen seiner vier Exfreundinnen und sein Lieblingsbier. Ich wusste, in welche Kneipe er freitagabends ging und welche Songs er in der Jukebox spielte. Ich wusste, wo er arbeitete, wie er seinen Kaffee trank und welche Zensur er in Spanisch hatte. Es gab nicht viel, was ich über Joe Carpenter nicht wusste.

Obwohl ich nicht der juristischen Definition einer Stalkerin entsprach, bin ich doch ein- oder zweimal an Joes Haus vorbeigefahren. Vielleicht auch öfter. (Okay, öfter.) Unsere „zufälligen“ Begegnungen waren mit militärischer Präzision geplant, und es brauchte jahrelange Übung, dieses Niveau von Zufälligkeit zu erreichen. Wahrscheinlich sollte ich nicht stolz darauf sein. Trotzdem, Talent ist Talent.

Es begann im ersten Semester Biologie an der Nauset-Highschool in Eastham, Massachusetts. Joes Platz befand sich diagonal vor meinem, und um zur Tafel zu schauen, musste ich an ihm vorbeisehen. Was ich nicht konnte. Nur wenige Frauen schafften es, Joe nicht anzusehen, selbst als er erst vier zehn war. Dann stellte ich fest, dass sein Schließfach nur drei Fächer von meinem entfernt war, und das Stalking fing an.

Mal erwähnte er einem Freund gegenüber, dass er nach der Schule an den Strand gehen würde, wo ich mich dann verbotenerweise in das Seeschwalbennistgebiet schlich, um Joe heimlich beim Herumalbern mit seinen Kumpels zu beobachten. Oder ich sah den Wagen seiner Mutter vor dem Supermarkt, wenn mein Vater mich von irgendwo abholte, und dann rief ich, dass ich dringend noch Tampons bräuchte, weil ich mir sicher sein konnte, dass der Einkauf weiblicher Hygieneprodukte meinen Dad veranlassen würde, auf dem Parkplatz zu warten. Ich schlich durch die Supermarktgänge, in der Hoffnung, einen Blick auf Joe Carpenter zu erhaschen. Oder ich fuhr mit dem Fahrrad in der Stadt herum, auf der Suche nach ihm, und sobald ich ihn gefunden hatte, hielt ich an, um den Luftdruck meiner tadellos aufgepumpten Reifen zu überprüfen, wobei ich sorgfältig darauf achtete, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern mich einfach nur in seiner Gegenwart aufzuhalten.

Joes Nachname erwies sich geradezu als Prophezeiung, denn er wurde Zimmermann und deswegen ironischerweise bekannt als Joe Carpenter the Carpenter. Dank meiner jahrelangen Recherche wusste ich, was anderen vermutlich aufgrund seiner Schönheit entging, nämlich dass er ein aufrichtiger, bescheidener, hart arbeitender und wundervoller Mann war. Er war hilfsbereit, ohne das an die große Glocke zu hängen, stolz auf seine Arbeit und begegnete anderen Menschen offen und fröhlich. Ja, und er sah fantastisch aus.

Bei seinem Anblick blieb einem die Luft weg. Ein Lächeln von Joe konnte eine Kellnerin dazu bringen, ihre Kaffeekanne fallen zu lassen, sodass überall im Restaurant Glassplitter herumflogen, während sie mein Stalking-Opfer verträumt ansah. Autos stießen zusammen, wenn er über eine Kreuzung joggte, Gespräche verstummten, sobald er einen Raum betrat.

Und wenn er bei der Arbeit draußen sein Hemd auszog, hielten Touristen an, um diese Schönheit zu fotografieren. Vergesst Nauset Light, den Leuchtturm, macht ein Foto von dem da!

Keine Frau blieb unbeeindruckt von Joes Aussehen. Dunkelblondes Haar mit goldenen Sonnensträhnchen. Ausdrucksvolle, markante Gesichtszüge. Klare grüne Augen mit dichten, unglaublich langen goldenen Wimpern. Grübchen. Ein schiefes, jungenhaftes Lächeln. Perfekte Zähne. Natürlich wusste Joe, wie toll er aussah – kein Mensch kann so aussehen, ohne sich seiner Wirkung auf andere bewusst zu sein. Aber er setzte sich nie in Szene. Im Gegenteil, es schien ihm egal zu sein, was sein leicht schlampiges Äußeres bewies. Seine Haare waren oft zerzaust, als sei er gerade erst aus dem Bett gestiegen, er war häufig unrasiert und seine Kleidung zerknittert. Er war auf eine wundervoll lässige Art attraktiv.

Joe und ich waren beide am Cape Cod geboren und kamen gleichzeitig in dieselbe Schule. Wir waren nicht befreundet und sagten in der Highschool im Vorbeigehen höchstens Hallo (genau dreimal, und ich war danach völlig aus dem Häuschen und bekam Pickel, weil meine Hormone verrückt spielten).

Aber dann kam der große Moment, jenes Ereignis, das Joe für alle Ewigkeiten einen Platz in meinem Herzen sicherte.

In meinem zweiten Jahr auf der Highschool machte meine Klasse einen Ausflug zur Plymouth Plantation, wie alle Schulkinder in New England, nicht nur weil es vorgeschrieben war, sondern auch aus Patriotismus. Mit der für Fünfzehnjährige typischen eigenartigen Mischung aus Überschwang und Überdruss verbrachten wir eine Stunde in unserem klappernden heißen Bus, bevor wir durch die Straßen des historischen Dorfes wanderten. Während meine Freundinnen mürrisch und gelangweilt waren, war ich fasziniert von „Obad iah“, dem der Epoche entsprechend gekleideten Mann, der Blaubarsch über einem offenen Feuer grillte. Er bot mir einen Happen zum Probieren an. Ich nahm ihn an. Er gab mir noch einen. Den aß ich auch und war ganz beeindruckt von seinem Interesse an mir – ungeachtet der Tatsache, dass er seinen Lebensunterhalt damit verdiente, charmant zu den Touristen zu sein.

Auf dem Heimweg im Bus voller kreischender Kinder, die sich mit Papierkugeln bewarfen und wie eine wilde Affenhorde gebärdeten, machte sich der Blaubarsch bemerkbar. Meine beste Freundin, Katie, fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei – offenbar war ich ein bisschen grün im Gesicht. Statt zu antworten, übergab ich mich auf ihre Füße. Seitdem bekomme ich keinen Blaubarsch mehr hinunter.

Die Kids um mich herum reagierten, wie Teenager eben in so einer Situation reagieren. Begleitet von Spott und angewiderten Schreien übergab ich mich noch ein paar Mal, während Katie beim Busfahrer Papiertücher besorgte. Meine Augen tränten, meine Nase kribbelte, mein Gesicht brannte. Tja, und dann … dann saß Joe neben mir.

„Alles in Ordnung, Millie?“, fragte er und strich sich die Haare aus der Stirn.

„Ja“, flüsterte ich, entsetzt, hingerissen, elend und verliebt.

„Klappe, Leute“, befahl Joe freundlich, und weil er Joe war, gehorchten sie. Er tätschelte mir die Schulter, und selbst in meinem geschwächten Zustand nahm ich jedes Detail wahr – die Wärme seiner Hand, den mitfühlenden Ausdruck in seinen wunderschönen Augen, das Lächeln auf seinen vollkommenen Lippen. Dann kam Katie mit Papiertüchern und Katzenstreu zurück, um die Bescherung zu beseitigen, und Joe ging wieder in den hinteren Teil des Busses, wo die coolen Kids saßen.

Aber ich hatte den Beweis! Den Beweis dafür, dass er nicht nur gut aussah, und weder das College noch die medizinische Fakultät änderten etwas an meiner fixen Idee. Ich fuhr in den Semesterferien nach Hause und machte genau dort weiter, wo ich aufgehört hatte – indem ich Joe suchte. Ihm zufällig begegnete. Ihn ansprach. Klar, ich kam mir ein bisschen albern vor … aber die Liebe war stärker als der Verstand. Er hatte stets die gleiche Wirkung auf mich, sein beiläufiges „Hallo, Millie, wie geht’s?“ sandte ein Beben durch meinen Körper und ließ mich erröten.

Heute, mit fast dreißig, legte ich noch eine ganz gute Imitation dieser Teenagerverliebtheit hin. Ich war nach meiner Assistenzzeit im Krankenhaus gerade wieder aufs Cape gezogen, in die quälende Nähe von Joe. Aber in diesem Jahr würde es anders werden, schwor ich mir. Dies war das Jahr, in dem ich mich seiner wert erweisen würde.

Was mich betraf, so gab ich mich keinen Illusionen hin. Ich war klug und umgänglich, besaß Humor und Verantwortungsbewusstsein. Ich war eine verlässliche Freundin. Obwohl noch neu im Beruf, war ich doch schon eine gute Ärztin. Was mein Äußeres betraf, so war ich eher klein und ein bisschen pausbäckig, mit langen, glatten Haaren, die ich meistens zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Ziemlich gerade Zähne. Braune Augen. Insgesamt nichts Besonderes. Mit einer extrem gut aussehenden älteren Schwester gestraft zu sein, hatte im Lauf der Jahre nicht unbedingt zur Steigerung meines Selbstbewusstseins beigetragen. Und meine Zeit als Assistenzärztin war meiner Attraktivität auch nicht sonderlich zuträglich gewesen – obwohl ich das mit meiner Blässe, den dunklen Ringen unter den Augen und den unrasierten Beinen ganz gut in den Griff bekommen hatte.

Um die Aufmerksamkeit eines äußerlich vollkommenen Mannes zu wecken, musste ich das Beste aus dem machen, was die Natur mir mitgegeben hatte. Die Verwandlung in einen Schwan war kaum drin, aber ich war entschlossen, es wenigstens bis zur, was weiß ich, Kanadagans zu schaffen. Die sehen doch auch ganz hübsch aus, oder? Gegen eine Kanadagans war nichts einzuwenden.

Mein Plan war einfach und unterschied sich vermutlich nicht sehr von dem zahlloser Frauen, die sich entschlossen, den Mann ihrer Träume zu erobern. Ich würde mir eine anständige Frisur gönnen, einen neuen Look verpassen und die überzähligen Pfunde loswerden, mit denen ich wie ein Michelin-Männchen aussah. Mithilfe modisch versierter Freunde würde ich mir dann eine neue Garderobe und einen Hund zulegen, da Joe Hunde mochte. Außerdem würde ich an meinen Kochkünsten arbeiten. Und nachdem all das erledigt war, würde ich Joe mein runderneuertes Ich präsentieren und endlich handeln.

1. KAPITEL

Am ersten Morgen in meinem neuen Zuhause erwachte ich mit dem scharfen, Hoffnung verströmenden Geruch von frischer Farbe in der Nase. Der Heizkörper tickte behaglich an diesem kalten Märztag.

Meine Zukunft lag jungfräulich und verheißungsvoll vor mir. Die Assistenzzeit war beendet, das Haus renoviert. Der Start in die Karriere stand unmittelbar bevor. Und Joe … Joe war an diesem kalten Morgen dort draußen und würde bald erfahren, dass ich die Liebe seines Lebens war. Ich schwang die Beine aus dem Bett und betrachtete stolz die blauen Wände und die antike Bettdecke. Dann ging ich barfuß in die Küche, wo ich die glänzenden Arbeitsflächen und die Porzellanspüle bewunderte. Glücklich und dankbar seufzte ich tief und schaltete die Kaffeemaschine ein.

Während der Kaffee durchlief, kramte ich in einem Karton, den ich noch nicht ausgepackt hatte. Nachdem ich gefunden hatte, was ich suchte, kehrte ich damit in die Küche zurück, wo die Kaffeemaschine gurgelte. Ich schenkte mir einen Becher ein, setzte mich und richtete meine Aufmerksamkeit auf das Objekt vor mir.

Es handelte sich um ein Foto von Joe Carpenter, dessen Silhouette sich vor dem Himmel abhob, während er mit nacktem Oberkörper eine Dachschindel festnagelte. Auf dem Schwarz-Weiß-Foto waren seine Armmuskeln hervorragend zu erkennen. Er stand leicht von der Kamera abgewandt, trotzdem war von seinem Gesicht genug zu sehen. Die Bildunterschrift lautete: Joe Carpenter, Zimmermann aus Eastham, arbeitet an der Restaurierung von Penniman House.

Wie ich an das Foto gekommen bin? Ich habe die Zeitung angerufen und darum gebeten. Es war im Boston Globe erschienen, wo niemand Verdacht schöpfte, als ich behauptete, ich wäre Joes Mutter. Manch mal ist es ganz praktisch, einen altmodischen Namen zu haben. Würde ich Heather oder Tiffany heißen, hätten sie mir wahrscheinlich nicht geglaubt. Natürlich konnte ich das Foto nicht in meiner Wohnung aufstellen, deshalb holte ich es nur in besonderen Momenten aus seinem Versteck. Dies war ein solcher Moment, und ich betrachtete es mit der gebührenden Ehrfurcht.

„Heute fängt alles an, Joe“, sagte ich und kam mir dabei ziemlich idiotisch vor. Doch als ich die Konturen des Mannes, den ich schon so lange liebte, mit dem Finger nachzeichnete, löste sich das idiotische Gefühl auf wie der Morgennebel. „Du wirst dich in mich verlieben. Von jetzt an gibt es nur noch dich.“

Ich widerstand dem Impuls, das Foto zu küssen, stand auf und schlenderte mit dem Becher in der Hand durch mein Haus. Ich genoss es einfach, hier zu sein. Ein Haus auf Cape Cod zu besitzen ist schon etwas … und ich hatte es ganz ohne eigenes Zutun dazu gebracht. Kurz nach Weihnachten ist meine Großmutter gestorben, und bei der Testamentseröffnung erfuhr ich zu meiner Überraschung und Freude, dass sie mir ihr Haus hinterlassen hatte.

Das bescheidene kleine Haus war mit den für Cape Cod typischen, von der Sonne und der salzhaltigen Luft hellgrau gebleichten Zedernschindeln gedeckt. Es gab keinen nennenswerten Garten, nur Kiefernnadeln, Sand und Moos. Aber das Haus war unbezahlbar, denn es stand im Naturschutzgebiet von Cape Cod, was bedeutete, dass nebenan nie gebaut werden und es niemals Nachbarn geben würde. Außerdem lag es nah am Wasser (gut fünfhundert Meter, um genau zu sein, allerdings ohne Meerblick). Aber ich konnte das Rauschen der Brandung des mächtigen Atlantiks hören und nachts den Lichtstrahl des Leuchtturms Nauset Light durch die Dunkelheit wandern sehen.

Seit Monaten war ich regelmäßig aus Boston hergefahren, um das Haus zu renovieren – die Fußböden abzuschleifen, die Wände zu streichen, die Sachen meiner Großmutter auszusortieren. Das Ergebnis war eine hübsche Verbindung aus neu und alt. Grandmas mit Gobelinstickerei verzierter Fußschemel stand neben meinem Couchtisch aus Glas, ihr altes beigefarbenes Sofa war mit hellem neuen Stoff bezogen, und ein hübsches Aquarell hing an der Stelle, an der früher ein Foto des betenden John F. Kennedy gehangen hatte. Ich begutachtete das warme Gelb, das ich für eine Wand des Wohnzimmers gewählt hatte, und es gefiel mir immer noch sehr gut. Dann ging ich ins Badezimmer, um mir die pinkfarbenen Flamingos anzuschauen, die meine Mutter und ich mit einer Schablone auf die hellgrünen Wände gemalt hatten. Warte, bis Joe das alles gesehen hat, fantasierte ich vor mich hin. Er wird nie wieder wegwollen.

Das Telefon klingelte, und ich erschrak, sodass ich mir den Kopf an der Kommode stieß. Ich rannte in die Küche, um meinen ersten Anruf in meinem neuen Haus entgegenzunehmen.

„Hallo Millie, Schätzchen“, sagte meine Mom. „Wie war die erste Nacht? Alles in Ordnung?“

„Hallo Mom“, erwiderte ich fröhlich und rieb mir den Kopf. „Alles bestens. Wie geht es dir?“

„Ach, ganz gut“, lautete ihre wenig überzeugende Antwort.

„Was hast du?“

„Na ja … es ist wegen Trish“, murmelte meine Mom.

„Ah.“ Natürlich ging es um Trish, das übliche Thema bei Familiengesprächen. „Was ist denn passiert?“ Ich öffnete den Kühlschrank und begutachtete dessen mageren Inhalt: Orangen, Milch, außerdem Hefe, die ich bei einem meiner fehlgeleiteten Backanfälle erstanden hatte. Ich musste dringend einkaufen. „Ist Trish bei dir?“

„Nein, nein, sie ist immer noch in … New Jersey. Aber die Scheidung ist seit heute rechtskräftig. Sam hat uns vorhin angerufen.“

„Das tut mir leid“, sagte ich, und es stimmte. Meine Eltern liebten meinen Schwager Sam. Genau wie ich und der Rest der ganzen Stadt. Sam Nickerson war der Sohn, den meine Eltern nie gehabt hatten. Er und mein Vater schauten Football oder machten zusammen Männersachen wie Auffahrten ausbessern und Fahrten zur Müllkippe. Meine Mutter liebte es, ihn und meinen siebzehnjährigen Neffen zu bekochen. „Es ist ja nicht so, als würden wir Nick und Danny nie wiedersehen“, beruhigte ich meine Mutter. „Die bleiben uns auf jeden Fall erhalten.“

„Das weiß ich“, erwiderte sie. „Ich wünschte nur, deine Schwester hätte sich mehr Zeit gelassen für diese Entscheidung. Ich glaube, sie macht einen Fehler.“

Die Missbilligung meiner Mom löste bei mir eine gewisse süße Schadenfreude aus, denn Trish war stets ihr Liebling gewesen. Jahrelang hatte sie über den Egoismus meiner Schwester hinweggesehen. Selbst als Trish gleich nach der Highschool schwanger geworden war, hatte meine Mom sie verteidigt und sich mit der Tatsache getröstet, dass Sam sie sofort heiratete und mit nach Notre Dame nahm, wo er ein Sportstipendium hatte.

Eigentlich sollte ich inzwischen über diesen Dingen stehen, trotzdem … „Selbstverständlich ist es ein Fehler.“ Ich schloss die Kühlschranktür. „Wie geht es Sam und Danny?“

„Ganz gut, aber Sam scheint doch schon sehr traurig zu sein.“

„Ich kann die beiden nachher besuchen“, bot ich an.

„Das wäre nett, Liebes. Oh, Daddy möchte mit dir sprechen. Howard, Millie ist am Telefon.“

„Ich weiß, wer dran ist“, sagte mein Vater. „Ich fahre zum Baumarkt, Schätzchen. Brauchst du etwas?“

„Nein danke, Dad. Fürs Erste bin ich hier fertig.“

„Ich brauche Rohrleitungen. Die Klärgrube der Franklins hat letzte Nacht ihren Garten überschwemmt. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen nur Scott-Toilettenpapier benutzen, aber wer hört schon auf mich?“

„Dann geschieht es ihnen nur recht. Ich brauche nichts, trotzdem danke.“

„Na schön, Kleines. Bye-bye.“

„Bye. Viel Spaß mit der Jauchegrube!“, rief ich. Und den würde er haben, das wusste ich. Meinem Vater gehörte Sea Breeze: der Newcomer in der Branche, ein dynamischer Sanitärservice. Dad übte seinen Job mit einer Begeisterung aus, wie man sie normalerweise eher von Missionaren oder Cheerleadern erwartete.

Mit einem tröstlichen Gefühl der Familienzusammengehörigkeit legte ich auf und bereitete mich innerlich konzentriert auf den nächsten Schritt meines Plans zur Eroberung von Joe Carpenter vor.

Als Ärztin weiß ich, dass es nur eine Methode gibt, um abzunehmen, und die besteht darin, mehr Kalorien zu verbrennen, als man aufnimmt. Ich begnügte mich mit kargen Portionen, daher der Mangel an Lebensmitteln in meinem Haushalt. Meine Selbstbeherrschung reichte einfach nicht aus. Wenn ich mir Ben & Jerry’s Heath Bar Crunch kaufen würde, die vermutlich köstlichste Eiscreme auf diesem Planeten, würde ich den ganzen Becher auf einmal leer essen. Zu meinem Neustart gehörte jedoch, dass ich meine Ernährungsgewohnheiten änderte, und deshalb hatte ich nichts mit zu viel Zucker, Fett oder Butter gekauft – mit anderen Worten, nichts Leckeres. Um mir das Abnehmen zu erleichtern und bald ins Reich der körperlichen Fitness einzutreten, hatte ich außerdem beschlossen, mit dem Joggen anzufangen.

Laufen ist leicht, dachte ich. Man zieht Turnschuhe an und rennt los. Da braucht man so gut wie keine besonderen Vorkenntnisse. Alles Notwendige besaß ich schon: einen Sport-BH, Nikes, schwarze Laufshorts – aber nicht diese engen Spandex-Dinger. Oh Gott, nein, meine Joggingshorts war weit geschnitten und atmungsaktiv. Dazu ein hübsches T-Shirt, auf dem „Tony Blair ist süß“ stand. Ich warf noch einen Blick auf Joes Foto und seufzte verträumt, dann verließ ich das Haus.

Ich habe nie wirklich Sport getrieben. Überhaupt nicht. Okay, als Kind ein bisschen Softball, das war fast eine Religion hier, aber ich habe niemals Aerobic, Jazzgymnastik oder Pilates gemacht, wie zum Beispiel meine Schwester Trish. Und den Unterschied konnte man sehen. Trish, die inzwischen fünfunddreißig war, sah aus wie dreiundzwanzig, mit muskulösen, gebräunten Armen, einer schmalen Taille und einem straffen Hintern. Ich war viel zu sehr mit meinem Studium beschäftigt gewesen, um mich um mein körperliches Wohlbefinden zu kümmern. Assistenzärzte leben notorisch ungesund. Wir kochen nicht, essen stattdessen Kekse und schlafen zu wenig. Sport? Den empfehlen wir unseren Herzpatienten, wir selbst kämen nie auf die Idee!

Nach einer Minute angedeuteter Dehnübungen ging ich meine lange unbefestigte Auffahrt hinunter zur Straße. Da das Cape im März, bevor die Touristen kommen, ziemlich einsam ist, war ich mir sicher, dass ich keine Zuschauer befürchten musste. Es war bewölkt und kühl, ein guter Tag zum Joggen, wie ich fand. Und los ging’s, trab, trab. Nicht schlecht, eigentlich sogar ganz leicht. Zum Glück brauchte man keinerlei Koordinationsvermögen. Trab, trab, trab. Die Luft war kalt und feucht, was ich empfindlich an meinen nackten Armen und Beinen merkte. Ich kam an der Auffahrt meiner Nachbarn vorbei und lief die Straße entlang. Inzwischen musste ich durch den Mund atmen. Mein Magen wurde durchgeschüttelt, und ich fragte mich, wie lange ich wohl schon unterwegs war. Ich schaute auf meine Uhr: vier Minuten.

Ich versuchte mich ganz auf das Laufen einzulassen, indem ich die schöne Aussicht genoss. Gebogene Robinienzweige schlugen in der salzigen Brise gegen einander. Ich kam am rot-weißen Leuchtturm vorbei, der schön anzusehen in den grauen Himmel aufragte. Autsch! Ein stechender Schmerz machte sich in meiner linken Seite bemerkbar. Halt durch, feuerte ich mich an. Schmerz ist Schwäche, die den Körper verlässt. Meine Füße trommelten auf den Asphalt. Neun Minuten. Die kalte Luft kratzte im Hals, und es war nicht gerade ermutigend, wie ich japste. „Agonale Atmung“ oder „Schnappatmung“ nennen wir das bei Sterbepatienten im Krankenhaus. War ich schon eine Meile gerannt? Machte ich irgendetwas falsch? Lag die Sauerstoffkonzentration meines Bluts in einem gefährlich niedrigen Bereich?

Ich blieb gebückt stehen und keuchte erbärmlich. Nur eine kurze Verschnaufpause, tröstete ich mich, während mir das Herz bis in den Schädel pochte. Nach einigen Minuten richtete ich mich wieder auf und lief weiter. Sofort keuchte ich erneut. Ich versuchte, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Wie schwer konnte das sein? Ein, aus, ein, aus, oh Gott, ich hyperventilierte ja! Und jetzt hörte ich ein Auto näher kommen. Ich spielte die Athletin und zwang mich zu größeren Schritten, für den Fall, dass es jemand war, den ich kannte. Trotz unglaublicher Schmerzen lächelte ich und winkte, was mir einen Krampf in der Schulter bescherte. Der Wagen fuhr vorbei, alles in Ordnung.

Nein, ganz und gar nicht, denn vor mir erhob sich ein Hügel. Lauf einfach weiter, Millie, nicht stehen bleiben. Dem bloßen Auge präsentierte sich der Hügel nicht wie ein Hügel, sondern eher wie eine sanfte Steigung, aber für mich war es Heartbreak Hill. Ich stellte mir vor, wie ich beim Boston-Marathon mitlief, diesem Höhepunkt aller sportlichen Wettbewerbe, oft imitiert, nie erreicht … Ladies and Gentlemen, hier kommt Millie Barnes, Dr. Millie Barnes, aus dem wunderschönen Cape Cod …

Verlor ich gerade die Kontrolle über meine Blase? Und/ oder musste ich mich gleich über geben? Dreizehn Minuten, sagte meine Uhr. Die musste kaputt sein. Auf dem Gipfel von Heartbreak Hill drehte ich um und machte mich auf den Rückweg. Ah, das ging leichter, nur dass ich wieder hyperventilierte. Ruhig, befahl ich mir. Bergauf hatte es schrecklich lange gedauert, bergab ging es nun viel zu schnell. Meine Beine waren ungefähr so biegsam wie Eichenbalken, und meine Schienbeine hätten gern vor Schmerz gewimmert. Das Seitenstechen wurde schlimmer, und der Krampf in meiner Schulter dehnte sich auf meinen Nacken aus, sodass ich den Kopf schräg halten musste.

Der Milchsäureanteil in meinem Blut wurde allmählich bedrohlich, und ich malte mir aus, wie sie die Diagnose in der Notaufnahme in Hyannis stellten. „Meine Güte, was ist mit ihr passiert?“

„Sie war joggen, Doktor.“

„Wie weit?“

„Fast eine Meile.“

Verdammt! Wenn ich jetzt anhielt, würde ich es nie wieder versuchen. Denk an Joe, ermahnte ich mich. Stell dir vor, du liegst mit ihm im Bett und hast einen fantastischen Körper. „Du bist wahnsinnig fit, Millie“, wird er andächtig seufzen, während sein Blick … auf den Briefkasten meines Nachbarn fiel. Ich war fast zu Hause! Und da war sie auch schon, meine geliebte Auffahrt, in die ich hineintaumelte, ehe ich schwankend anhielt. Mit zitternden Knien, schweißdurchtränktem T-Shirt und trockener Kehle wankte ich keuchend in mein Haus, wo ich mich auf einen Küchenstuhl fallen ließ.

Hier ist sie, Ladies and Gentlemen! Dr. Millie Barnes, Gewinnerin des Boston-Marathons! Ich schaute erneut auf meine Uhr. Achtundzwanzig Minuten, eins Komma sieben Meilen. Das war beeindruckend! Ich hatte es getan. Es dauerte eine Weile, bis meine Atmung sich wieder normalisierte, aber was für ein Lauf! Nach ungefähr zwanzig Minuten raffte ich mich auf und stürzte ein Glas Wasser hinunter.

Dann beging ich den Fehler, in den großen Spiegel zu sehen. Mein Gesicht war erschreckend rot. Nicht leicht gerötet wie nach angenehmer sportlicher Betätigung, nicht einmal einfach nur rot, sondern dunkel wie Rote Bete, und zwar das ganze Gesicht. Meine Augen waren durch die Reizung vom Schweiß geschwollen, meine Lippen rissig und weiß, der einzige Farbkontrast in diesem Purpurrot. Mein verschwitztes T-Shirt klebte an meinem untrainierten Oberkörper. Auch meine ansonsten blassen Beine waren gerötet, aber vom kalten Wind. Na ja, versuchte ich mich zu trösten, du hast ja gerade erst angefangen.

Ich duschte heiß und leider viel zu kurz, weil mich die Unzulänglichkeit des Heißwassergerätes zwang, die Dusche zu verlassen. Während ich mir eine Kanne grünen Kräutertee zubereitete, beschloss ich, meine Schwester anzurufen. Schließlich war ihre Ehe heute offiziell für beendet erklärt worden, und da sollte man geschwisterliche Anteilnahme zeigen. Ehrlich gesagt machte Trish mir ein bisschen Angst. Ich erinnerte mich noch gut an ihren Wutausbruch bei der Testamentseröffnung meiner Großmutter. Trish erhielt mehrere Tausend Dollar, was allerdings ein Klacks war im Vergleich zum Wert dieses Hauses. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte.

Nach einigem Herumwühlen in den Papieren auf meinem Schreibtisch fand ich ihre Nummer. Der Blick auf die Vorwahl gab mir einen Stich – unsere Trish war ziemlich weit weg von zu Hause.

Auf dem College hatte ich sie öfter angerufen, damit sie mich über Dannys Fortschritte auf dem Laufenden halten konnte, weil ich meinen Neffen über alles liebte. Aber seit er sechs oder sieben gewesen war, reichte Trish den Hörer an ihn weiter. Sie kannte den wahren Grund meines Anrufs. Oder ich sprach mit Sam, der mir ausführlich von den Punktspielen des kleinen Danny berichtete, den Elternsprechtagen, den Klarinettestunden und so weiter.

„Hallo?“ Trish klang wie immer ungeduldig.

„Hallo Trish. Ich bin’s, Millie“, sagte ich und fühlte mich sofort unwohl.

„Oh, hallo Millie. Was gibt’s denn?“ Ich stellte mir vor, wie sie herumzappelte, weil sie zweifellos Besseres zu tun hatte, als mit ihrer jüngeren Schwester zu telefonieren.

„Nichts Besonderes“, erwiderte ich und schenkte mir Tee ein, dessen krautiger Duft das Zimmer erfüllte. „Ich habe nur gehört, dass deine Scheidung seit heute rechtskräftig ist, und wollte mal hören, wie es dir geht.“

Schweigen am anderen Ende. Ich konnte die Gereiztheit meiner Schwester förmlich spüren. „Mir geht’s super“, sagte sie brüsk. „Könnte gar nicht besser sein.“

Ich biss die Zähne zusammen und redete weiter, obwohl ich nun wünschte, ich hätte nicht angerufen. „Na ja, du warst ziemlich lange verheiratet, deshalb dachte ich …“

„Millie, ich bin jetzt glücklich wie seit Jahren nicht. Nur weil du zum Sam-Nickerson-Fanclub gehörst, heißt das noch lange nicht, dass er und ich uns gut verstanden hätten. Was ich jetzt habe, ist das, was ich will. Ich will Avery und nicht Sam. Der ist langweilig.“ Und für meine Schwester gab es kein größeres Verbrechen, als langweilig zu sein.

„Natürlich“, sagte ich. „Es ist nur so … ich dachte, du wärst vielleicht nicht gut drauf. Immerhin wart ihr siebzehn Jahre zusammen. Aber anscheinend habe ich mich geirrt.“

„Ja, hast du.“

„Na gut, Trish. War schön, mit dir zu reden. Viel Spaß noch in New Jersey.“

„Wie geht es dir eigentlich?“, erkundigte Trish sich unerwartet.

„Mir? Gut. Großartig sogar“, antwortete ich und war sofort wieder versöhnt ob dieser unerwarteten Aufmerksamkeit. Das war nun ein mal das Elend der jüngeren Schwester.

„Was macht Grans Haus?“, fragte sie mit nur leicht feindseligem Unterton.

„Es geht voran“, antwortete ich. „Möchtest du etwas von den Sachen haben? Vielleicht einen Teppich?“

„Also bitte, Millie. Nein danke.“ Damit waren wir wieder bei unserem normalen Umgangston angelangt.

„Ich fahre nachher zu Danny und werde ihn von dir grüßen“, sagte ich, in der Hoffnung, ein paar Schuldgefühle zu wecken. Es funktionierte nicht.

„Ich habe ihn schon angerufen. Er kommt mich nächstes Wochenende besuchen.“

„Oh.“ Unsere Unterhaltung war damit beendet. Wir verabschiedeten uns mit dem üblichen Unbehagen und legten auf.

Trish und ich waren so verschieden, wie zwei Menschen mit den gleichen Genen es nur sein können. Während ich in meiner Jugend mit schiefen Zähnen und Übergewicht zu kämpfen hatte, schwebte Trish durch die Pubertät und blieb vollkommen verschont von Essstörungen, Pickeln und peinlichen Frisuren. Trish war Captain der Cheerleader; ich war Vorsitzende des Wissenschaftsklubs. Trish wurde Ballkönigin; ich war die Beste in Biologie. Sie war mit dem Footballstar zusammen; ich mit niemandem.

Um das Gefühl der Unzulänglichkeit und Frustration zu verscheuchen, das meine Schwester in mir weckte, telefonierte ich als Nächstes mit Katie Williams. Wir waren seit dem Kindergarten befreundet, nachdem sie sich auf meinen Maltisch übergeben hatte – solche Erfahrungen schweißen auf ewig zusammen. Jemand, der einen schon kennt, seit man die ersten Milchzähne verloren hat, der einem den ersten BH gekauft und den ersten Drink spendiert hat, ist durch nichts zu ersetzen. Katie wusste von meiner unsterblichen Liebe zu Joe, meinen Plänen, Trish, einfach alles. Als alleinerziehende Mutter zweier kleiner Söhne unterhielt sie sich gerne mal über andere Themen als Töpfchentraining oder „Bob der Baumeister“. Selbstverständlich erhielt sie durch die Patentante ihrer Söhne (ich) eine kostenlose medizinische Versorgung. Jedenfalls war es Katie, die mir stets aufmerksam zuhörte, wenn ich von Joe schwärmte, fantasierte, Pläne schmiedete oder über ihn schimpfte.

Katie lauschte mit gespielter Anteilnahme und angestrengtem Lachen der Schilderung meiner ersten sportlichen Ambitionen, solidarisierte sich mit mir gegen meine Schwester und versprach, am nächsten Tag mit meinen Patenkindern zum Kaffee zu kommen. Nachdem das Gespräch beendet war, zog ich mich an, schaltete meinen CD-Player ein und tanzte zu U2, wobei ich mich für zwei Songs in Bono verwandelte. Dann hörte ich auf, Zeit zu schinden, und stieg in meinen Wagen, um Sam und Danny zu besuchen.

Die beiden wohnten am anderen Ende der Stadt in einer der schönsten Gegenden von Eastham. Als mein Neffe drei oder vier Jahre alt gewesen war, starben Sams Eltern bei einem Autounfall, den ein betrunkener Teenager auf der Route 6 verursacht hatte. Trish, Sam und Danny zogen drei Wochen nach der Beerdigung ins Haus seiner Eltern, und meine Schwester begann sofort mit dem Umbau. Ein Jahr später erkannte man das Haus nicht mehr wieder. Anstelle des alten Baus stand dort jetzt ein modernes eckiges Gebäude, dessen riesige Fenster Aussicht auf die Bucht boten. Sam nahm einen Zweitjob an, um das alles zu finanzieren .

Das modernisierte Haus entsprach überhaupt nicht meinem Geschmack, obwohl ich zugeben musste, dass es beeindruckend war – groß, offen, viel Glas und Terrassenfläche. Vor allem die Aussicht auf den kleinen Strandabschnitt der Bucht war fantastisch. Das Wasser erstreckte sich bis zum Horizont, man sah Ruderboote, Möwen, Kormorane, manchmal einen Schwan. Über das sanfte Rauschen der Wellen hinweg hörte man das Ge schrei der Seevögel im Wind. Bei Ebbe konnte man fast eine halbe Meile weit hinausgehen, und das Hochwasser war tief genug, um darin zu schwimmen. Das Seegras bog sich anmutig – dunkelgrün in der warmen Jahreszeit, golden im Winter. Selbst abgeklärte Einheimische wie ich gingen jeden Abend an den Strand, um den spektakulären Sonnenuntergang zu sehen. Das alles hatte meine Schwester gegen Short Hills, New Jersey, eingetauscht. Da gab’s vermutlich ein tolles Einkaufszentrum.

Ich parkte in der Auffahrt aus Muschelkalk und lief die Stufen zur Eingangstür hinauf. Sam war Polizist, und wenn er uns nicht gerade vor dem Verbrechen beschützte, arbeitete er nebenbei bei einem Landschaftsgärtner. Sein eigener Garten war beeindruckend. Selbst jetzt im März belebten Grünpflanzen die ansonsten grau und braun schlummernden Blumenbeete. In wenigen Monaten würden die Leute auf der Straße stehen bleiben, um das ehemalige Zuhause meiner Schwester zu bewundern.

Ich öffnete die Tür und rief: „Hallo!“ Mein Neffe kam wie ein aufgeregter Irish Setter die Treppe herunter, und ich war einfach froh, dass Danny sich selbst im fortgeschrittenen Alter von siebzehn noch so über meinen Besuch freute. Mein Neffe war das Kind, das sich jeder Mensch wünschte. Er war witzig, großzügig, sehr intelligent, groß und ein wenig schlaksig. Als typischer amerikanischer Junge spielte er natürlich Baseball.

„Hallo Tantchen“, begrüßte er mich und gab mir einen Kuss auf die Wange, wofür er sich zu mir herunterbeugen musste, denn er war schon seit ungefähr fünf Jahren größer als ich.

„Hallo Jungchen“, erwiderte sich. „Was machst du gerade?“

„Hausaufgaben. Integralrechnung. Möchtest du etwas essen? Ich sterbe vor Hunger“, verkündete er und schlug den Weg zur Küche ein. Edelstahlgeräte, Arbeitsflächen aus Granit, weiße Wände und ein schwarz gefliester Fußboden verliehen dem Raum eine strenge Atmosphäre. Ich setzte mich auf einen Hocker am Küchentresen und schaute Danny zu, wie er mit den Schranktüren knallte, mit Gerätschaften klapperte und Essen zusammenklatschte. Ich lehnte seine Einladung zum Mitessen ab. Und das, obwohl mir der Magen knurrte beim Anblick des auf dem Toaster röstenden Bagels und des Glases Milch, das mein Neffe mit vier großen Schlucken leerte. Das waren bestimmt tausend Kalorien, die er da zu sich nahm.

„Ist dein Dad bei der Arbeit?“, fragte ich.

„Nein, er hat sich heute freigenommen“, antwortete Danny und schälte eine Banane, die er sich zur Hälfte in den Mund stopfte, während er weiter auf den Bagel wartete. „Die Scheidung ist seit heute rechtskräftig.“

„Ja, das habe ich schon gehört. Wie kommst du damit klar?“

„Ganz gut, glaube ich.“ Er hielt einen Moment inne und schaute aus dem Fenster auf die Bucht. „Mom ist ja schon eine Weile fort, daran habe ich mich inzwischen gewöhnt. Aber Dad macht es ziemlich fertig.“

„Hast du heute mit deiner Mom gesprochen?“

„Ja, es geht ihr gut.“

Fasziniert beobachtete ich, welche Mengen mein Neffe auf einmal in seinem Mund verschwinden lassen konnte. Ein ganzes Drittel des riesigen Bagels! Unglaublich!

„Sie meint, sie sei froh, weil sie jetzt ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlägt. Eine Tür wird geschlossen, ein Fenster öffnet sich. Ich glaube, sie kommt ganz gut damit zurecht.“

„Na wunderbar“, murmelte ich und versuchte neutral zu bleiben.

„Ach komm schon, Tante Millie. Du kannst ihr nicht die Schuld geben.“ Danny zuckte mit den Schultern und schluckte wie ein Python, die gerade eine Ziege verschlang. „Sie verdient es, glücklich zu sein. Nur weil meine Eltern es vermasselt haben, als sie fast noch Kinder waren, heißt das doch nicht, dass meine Mutter kein neues Leben anfangen darf. Klar, das mit dem Fremdgehen war Dreck, aber sie wollte bestimmt niemandem wehtun.“

So viel Verständnis! Wie konnte dieses Kind den Lenden meiner Schwester entsprungen sein? „Du bist der großartigste Junge der Welt“, sagte ich. „Und deine Eltern haben es nicht vermasselt, weil sie nämlich dich bekommen haben. Du bist das Beste, was den beiden passieren konnte, und für mich bist du das auch. Komm her, damit ich dir in die Wange kneifen kann.“

„So alt bist du noch nicht, Tante Mil“, meinte Danny. „Hey, erinnerst du dich an meinen Freund Connor? Er fand dich süß. Er will Doktor mit dir spielen, wenn du die Klinik eröffnest.“

Ich lachte. „Das ist toll. Also, wo steckt dein Dad?“

„Er macht einen Strandspaziergang.“ Danny wurde ernst. „Er ist schrecklich traurig.“

Ich fühlte mit dem armen Sam. Eine Weile plauderte ich noch mit Danny und erkundigte mich nach seinen Zensuren, damit er nicht vergaß, dass ich hier die Erwachsene war. Danach ging ich raus, um den schrecklich traurigen Sam zu finden.

Wie Trish sich Sam Nickerson geangelt hatte, war mir schleierhaft – na gut, mit Danny schwanger zu werden, hatte vermutlich geholfen. Jedenfalls hatte sie Sam nicht verdient, davon war ich überzeugt. Er war der netteste Kerl weit und breit und außerdem zu mir immer besonders nett gewesen.

Als ich elf oder zwölf gewesen war und Sam und Trish sich als Teenager von den Hormonen hatten steuern lassen, gingen meine Eltern an einem Abend aus. Meine ältere Schwester sollte auf mich aufpassen. Katie schlief bei mir, und Trish steckte nur kurz den Kopf zur Tür herein, um uns darüber zu informieren, dass sie und Sam auf eine Party gehen wollten. Sie warnte uns, Mom und Dad nichts davon zu erzählen, andernfalls müssten wir um unser junges Leben fürchten – eine durchaus ernst gemeinte Drohung.

In diesem Augenblick kam Sam herein, sagte Hallo, machte eine nette Bemerkung über meine Barbie und ihren Dream Van und unterhielt sich ein paar Minuten mit uns. Als er begriff, dass Trish eigentlich den Babysitter spielen sollte, war er nicht mehr bereit, uns einfach allein zu lassen. Schließlich gingen die beiden mit uns ins Kino, wo wir uns einen Kinderfilm ansahen. Sam kaufte uns sogar Popcorn und Cola, und es war ihm dabei vollkommen egal, ob Trish sauer war. Tragischerweise blieb dieser Abend bis jetzt das beste Date, das ich je gehabt hatte.

So war Sam. So war er zumindest gewesen, bevor siebzehn Ehejahre ihn zu einem kreuzbraven Ehemann gemacht hatten, der sich nie mehr gegen Trish durchsetzen konnte. Immerhin hatte er sie einmal geliebt, und als ich ihn jetzt am Strand entdeckte, wo er mit hochgezogenen Schultern aufs Meer hinausblickte, wirkte er tatsächlich schrecklich traurig.

„Hallo Blödmann“, rief ich fröhlich gegen den Wind und lief durch den knirschenden, kühlen Sand zu ihm. Er wandte sich müde um.

„Hallo Kleine“, erwiderte er teilnahmslos.

„Frau Doktor bitte“, neckte ich ihn. Es war unübersehbar, wie elend ihm zumute war. Ich hakte mich bei ihm unter. „Wie geht’s?“

„Ganz gut.“ Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht, dann sah er mit niedergeschlagener Miene wieder aufs Meer. Trotz meines Mitleids ärgerte mich das. Sam war ohne Trish besser dran, aber ich verkniff mir eine entsprechende Bemerkung.

„Weißt du was?“, fragte ich betont gut gelaunt.

„Was denn?“, wollte Sam wissen.

„Wir unternehmen heute Abend was! Komm, wir gehen zurück ins Haus, dieser Wind ist ja mörderisch. Meine Ohren fühlen sich schon wie Eis an.“ Ich dirigierte Sam zum Weg, der sich durchs Dünengras zu seinem Haus schlängelte.

„Tut mir leid, Mädchen, aber ich will nirgendwohin“, sagte er, und da er fast zwanzig Zentimeter größer war als ich, war es nicht so leicht, ihn in die gewünschte Richtung zu drängeln.

„Ich weiß, genau deshalb machen wir es trotzdem. Es ist blöd, am Abend deiner ersten Scheidung zu Hause zu sitzen. Im Gegensatz zur zweiten, da kannst du getrost daheim bleiben. Man amüsiert sich nur nach jeder zweiten Scheidung.“ Meine schwachen Aufheiterungsversuche halfen nicht. „Ehrlich, Sam. Lass uns ein Bier trinken. Ich lade dich ein. Du sitzt heute Abend auf keinen Fall allein zu Hause. Bevor ich das zulasse, kette ich mich lieber an deinen Ofen.“

„Millie …“

„Komm schon!“

Er seufzte. „Na schön. Ein Bier, aber irgendwo außerhalb.“

„Braver Junge!“ Wir stiegen die Stufen zu seinem Haus hinauf, und er sah so deprimiert aus, dass ich schlucken musste. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich wirklich mag, und es mir leidtut für dich.“ Meine Lippen zitterten. „Ich war immer stolz, dich zum Schwager zu haben.“ Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen und lächelte.

Er musterte mich belustigt und legte mir den Arm um die Schultern, bevor wir hineingingen. „Das war nicht schlecht, Kleine. Hast du das im Auto geübt?“

„Ja, hab ich, Klugscheißer. Und dafür musst du die zweite Runde ausgeben.“

2. KAPITEL

Zwei Stunden später saßen wir in einer Bar in Provincetown, tranken Bier und warteten auf unsere Chicken Wings. Solche Läden gibt es noch in P-town, aber man muss sich schon auskennen, sonst landet man in Restaurants, die Seebarsch-Enchiladas an Kreuzkümmel und zarter Dillsoße servieren.

Die Bar war schlicht und nett, und die Chancen standen gut, dass wir niemandem begegnen würden, den wir kannten. Ich verstand, dass Sam nicht in Eastham ausgehen wollte, denn es gab dort kaum jemanden, der nicht wusste, dass er nun endgültig für einen reichen Börsenmakler aus New Jersey verlassen worden war.

Wir saßen schweigend an unserem kleinen Tisch und beobachteten die Leute. Auf der Fahrt hatte Sam meistens deprimiert geschwiegen, und mir reichte diese Leichenbittermiene nun langsam wirklich. Trish hatte ihn immerhin schon vergangenen August sitzen lassen. Und obwohl heute der Tag seiner Scheidung war, aalte er sich ein bisschen zu sehr in seinem Elend. Ich trat ihm unterm Tisch vors Schienbein.

„Weißt du was?“, fragte ich auf meine hinreißend vergnügte Art.

„Was denn?“, erwiderte er mutig.

„Ich habe heute angefangen zu joggen. Irgendwann bin ich beim Boston-Marathon dabei.“

Sam war ein ehemaliger Footballspieler von Notre Dame und noch immer ganz gut in Form. Er joggte, spielte Softball in der Regionalliga und trieb sicher noch andere Sportarten, die mit seinem Beruf zu tun hatten. Deshalb hielt sich sein Interesse in Grenzen. Er nickte bloß und trank einen Schluck Bier.

„Willst du wissen, wie weit ich gelaufen bin?“ Ich war mir nicht zu schade, mich selbst zu demütigen, um meinem Schwager ein Lächeln zu entlocken.

„Klar.“

„Eins Komma sieben Meilen.“

Das riss ihn einen Moment aus seinen trüben Gedanken. „Tatsächlich?“ Seine Miene wirkte schon einen Tick weniger tragisch. „Wie lange hast du dafür gebraucht?“

„Tja, mal überlegen. Ich glaube, ungefähr zwanzig Minuten.“

Er lachte so laut, dass es von den Wänden widerhallte, und ich grinste.

„Oh Gott, Millie, da bin ich ja schneller, wenn ich krieche.“

„Haha, sehr witzig, du Idiot. Ich fange ja auch gerade erst an.“

Unsere Chicken Wings kamen, und weil ich heute so hart trainiert hatte, war ich der Ansicht, dass ich mir mindestens acht verdient hatte. Wir mampften unser Essen wie alte Kumpel. Dabei musterte ich Sam besorgt, ob es erste Anzeichen für eine heraufziehende Selbstmordgefahr oder eine klinische Depression gab. Ich fand keine.

Sam war ziemlich attraktiv. Nicht so makellos wie Joe, um den sich bei mindestens drei Gelegenheiten Frauen so heftig geprügelt hatten, dass die Polizei eingreifen musste. Sam war eher durchschnittlich attraktiv, auf typisch amerikanische Weise, groß und schlank, mit hellbraunem Haar, in das sich die ersten grauen Strähnen mischten, und mit traurigen haselnussbraunen Augen, in deren Winkel sich hübsche Lachfältchen bildeten. Seine Stimme war sanft, sein Lächeln freundlich. Er war so ein wundervoller, hart arbeitender Mann. Und … ich hatte den Masterplan, um sein Leben wieder in Ordnung zu bringen, ihn wieder glücklich zu machen und aus dem Tal der Tränen herauszuholen. Allerdings musste ich das behutsam tun, denn schließlich war der arme Kerl erst seit wenigen Stunden geschieden.

„Wie geht es deinem Dad?“, erkundigte Sam sich, während die Kellnerin unsere Teller abräumte.

„Dad geht es gut. Er ist immer noch wütend auf Trish … na ja, du weißt ja, wie sehr er an dir hängt.“ Hoppla, ich hatte den Namen meiner Schwester nicht erwähnen wollen. Sam quittierte es mit einem mürrischen Laut.

„Aber wie geht es dir eigentlich?“, fragte ich in dem mitfühlenden Ton, den ich sonst für meine Patienten reserviert hatte. Er lächelte traurig.

„Es geht schon.“ Er atmete tief durch, trank noch einen Schluck Bier und wischte sich die Handflächen an seiner Jeans ab. „Ich frage mich nur ständig, was ich falsch gemacht habe. Es kam für mich völlig überraschend.“

„Wirklich?“

„Natürlich wusste ich, dass sie nicht glücklich war. Das waren wir beide nicht, aber wir haben uns gegenseitig auch nicht unglücklich gemacht.“

„Warum war sie nicht glücklich?“, fragte ich neugierig.

„Das weiß ich nicht! Sprecht ihr zwei nicht über solche Sachen? Frag sie, sie ist deine Schwester.“ Sam warf mir einen gereizten Blick zu und fing an, am Etikett seiner Bierflasche zu zupfen.

„Trish und ich stehen uns nicht besonders nahe“, gestand ich. „Ich wollte dich nicht aufregen. Es ist nur … eine Ehe scheitert nun mal nicht einfach so.“

Sam seufzte. „Wahrscheinlich nicht. Sie meinte immer, dass ich zu viel arbeite, aber wir hatten eben viele Rechnungen zu bezahlen. Außerdem hat sie das Geld auch ganz gern ausgegeben.“

Das stimmte, meine Schwester „mochte schöne Dinge“, wie sie ihren Konsumrausch umschrieb. Man hätte ihr Verhalten auch einfach dumm und unverantwortlich nennen können.

„Ach, ich weiß auch nicht, Millie. Wir waren irgendwann an einem Punkt, an dem wir merkten, dass es einfach nicht mehr funktioniert. Und wir wussten nicht, was wir dagegen tun sollten. Es war nichts Konkretes, nur dieses Gefühl, dass es einfach nicht mehr klappte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das wieder in Ordnung bringen kann, und verdrängte es deshalb meistens, bis sie einen Freund hatte.“

Das war vermutlich der längste Vortrag, den ich von Sam je gehört hatte, und er schien prompt zu bereuen, was er gesagt hatte. Er trank einen großen Schluck Bier, dann fügte er hinzu: „Es ist seltsam, nicht mehr verheiratet zu sein. Ich war immer verheiratet, weißt du?“

„Verstehe ich. Es wird einige Zeit dauern, bis du dich daran gewöhnt hast.“ Mindestens sechs Monate, fügte ich im Stillen hinzu. „Und was Trish angeht, na ja, sie hatte schon immer unrealistische Ansprüche.“ Okay, das klang lahm. „Sie macht sich etwas vor, wenn sie glaubt, dass sie mit Mr New Jersey glücklich wird.“

„Klar“, meinte Sam knapp. Ich zuckte innerlich zusammen und nahm mir vor, den Namen von Trishs neuem Lover auf keinen Fall zu erwähnen.

„Weißt du was?“, fragte ich. „Ich will mir einen Hund zulegen.“

„Im Ernst?“

„Ja, und ich glaube, ich nenne ihn Sam.“

Er grinste. „Es ist schön, dass du wieder zurück auf Cape Cod bist, Millie.“

Ich erwiderte sein Lächeln, wir kauten stumm auf unseren Selleriestangen, lauschten der Musik und schauten den Dartspielern zu. Nach einer Weile schaute Sam auf. „Oh, hallo Joe“, meinte er beiläufig.

Mein Herz blieb stehen, mein Gesicht erstarrte, genau wie mein – Sie haben es erraten – Verstand. Auch ich sah hoch. Und da war er.

Es war wie bei einem Theaterstück, wenn das Scheinwerferlicht allein auf den Hauptdarsteller gerichtet ist. Joe Carpenter stand an unserem Tisch, und sein charmantes Lächeln zauberte nicht nur diese sexy Grübchen auf seine Wangen, sondern zeigte auch noch seine weißen Zähne. Verlangen und Panik überfielen mich gleichzeitig.

„Hallo Joe“, begrüßte ich ihn nervös.

„Hey, Leute. Habt ihr etwas dagegen, wenn ich mich eine Sekunde zu euch setze?“, fragte er, drehte einen Stuhl um und ließ sich rittlings darauf nieder. Er trug eine verwaschene Jeans, ein Flanellhemd und Arbeitsschuhe. Ich schwöre Ihnen, er war trotzdem der begehrenswerteste und umwerfendste Mann, den Gott je erschaffen hat.

„Nur zu“, ermunterte Sam ihn. „Was treibst du hier so fern der Heimat?“

„Ach, ich hatte eine Verabredung“, antwortete Joe und richtete seine schönen grünen Augen auf mich. „Hallo Millie.“

„Hallo Joe“, sagte ich noch einmal und überlegte mir krampfhaft etwas Geistreiches.

„Und was ist mit euch beiden?“, erkundigte er sich. „Was macht ihr hier? Verhaftest du jemanden, Sam?“

Inzwischen schlug mein Herz wieder, und zwar heftig. Warum hatte ich kein Make-up aufgetragen? Warum trug ich nur ein altes T-Shirt? Hatte ich Ohrringe drin? Essensreste zwischen den Zähnen? Ich suchte verzweifelt nach der geeigneten Antwort auf Joes Frage, damit Sam seinen Scheidungstag nicht erklären musste.

„Wir haben gehört, dass man hier gut essen kann“, sagte ich.

Mit schwingenden Hüften und wehendem blonden Haar wie in einer Shampoowerbung kam Joes Date auf uns zu. Groß und schlank, trotzdem mit üppigen Brüsten gesegnet, deren Melonenform jedoch darauf schließen ließ, dass sie künstlich waren. Im Gegensatz zu mir schien sie zu wissen, was man für einen Barbesuch in Provincetown an zog, denn sie trug eine Bluse mit weitem Ausschnitt und auffällige Ohrringe, die zu ihren blauen Augen passten.

„Da bist ja“, sagte sie und legte Joe eine Hand auf die Schulter, um die Besitzverhältnisse klarzustellen. Ihre Augen waren wirklich beeindruckend blau, wie ich nun aus der Nähe erkennen konnte – karibisch blau hieß das bei Bausch & Lomb, dem angesagtesten Kontaktlinsenhersteller.

„Oh, hallo“, sagte Joe mit einem unbekümmerten Lächeln zu der Blondine. „Darf ich euch bekannt machen? Dies sind Sam und Millie, und das ist Autumn.“

„Ich heiße Summer“, korrigierte sie ihn gereizt.

Sam musste sich ein Grinsen verkneifen, und ich biss mir auf die Lippe.

„Richtig“, gab Joe zu und schien dabei keinerlei schlechtes Gewissen zu haben. „Du bist so hübsch, dass ich das für einen Moment glatt vergessen hatte.“

Widerlich, dachte ich, aber sie kaufte es ihm offenbar ab, denn sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln. Uns würdigte sie keines Blickes.

„Tja“, meinte Joe. „Dann lassen wir euch mal allein.“

„War nett, Sie kennenzulernen, Summer“, sagte Sam und stand auf. „Wir sehen uns, Joe.“

Ich saß benommen da. Musste ich etwa auch aufstehen? Das würde bedeuten, dass Joe und Summer meine überzähligen Pfunde sehen konnten, an denen auch mein Lauf heute nichts geändert hatte. Aber nein, der liebenswürdige Joe erhob sich ebenfalls und schaute lächelnd zu mir herunter.

Es gelang mir, sein Lächeln zu erwidern. „Mach’s gut“, sagte ich.

„Mach’s gut, Millie“, erwiderte er. Summer hielt ein Wort des Abschieds offenbar nicht für erforderlich, denn sie wandte sich einfach um und rauschte davon, wobei sie mit ihrem kleinen Hinten wackelte.

Ich riss meinen Blick von Joes vollkommenem knackigen Po los und versuchte mir vor Sam nichts anmerken zu lassen. Schnell fragte ich, ob er noch ein Bier wolle.

Es war nie angenehm, Joe mit einer anderen Frau zu sehen, aber es war auch nichts Ungewöhnliches. Seit sechzehn Jahren sah ich andere Frauen an seiner Seite und erwartete auch gar nicht, dass jemand, der so attraktiv und wundervoll war, allein blieb. Aber natürlich wurmte es mich. Es waren stets Frauen wie Summer, die zwar sehr hübsch, aber unsympathisch waren. Seine Beziehungen hielten nie lange.

Ich war zutiefst davon überzeugt, dass Joe in mir all das erkennen würde, was er bisher bei anderen Frauen vermisst hatte – falls es mir gelang, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich war intelligent, nett, witzig und anspruchslos. Nicht zu vergessen Ärztin, die den Kranken half, deren Familien tröstete und gelegentlich sogar Leben rettete! Ein ziemlich cooler Job, und sobald ich meine Attraktivität erhöht hatte (ohne plastische Chirurgie und Diätpillen), würde Joe endlich nicht mehr nur die ehemalige Schulkameradin in mir sehen, sondern sich in mich verlieben.

Vielleicht fragen Sie sich, woher ich denn den Mut nahm, mich an einen Mann wie Joe heranzumachen. Schließlich hatte meine längste Beziehung ganze sechs Wochen gedauert. Die Sache war nur, dass ich nun bereits fast mein ganzes Leben lang in ihn verliebt war und bald dreißig wurde. Also hieß es jetzt oder nie, und wenn ich schon versuchte, Joe für mich zu gewinnen, wollte ich auch alles geben.

Ich verdrängte die Begegnung mit Joe … noch so ein Trick, den ich mir im Lauf der Jahrzehnte angeeignet hatte. Später würde ich mich genussvoll an jedes Detail erinnern und gründlich analysieren, was ich beim nächsten Mal besser machen konnte. Vorerst aber schob ich das Ereignis beiseite, schließlich besaß ich einige Übung darin, so zu tun, als sei Joe bloß irgendein Kerl.

Joe und Wie-hieß-sie-noch waren mit einer Partie Billard beschäftigt, als Sam und ich kurze Zeit später die Bar verließen und zum Wagen gingen.

„Also, Sam, du fährst nicht nach Hause, um dir Norah Jones anzuhören, dich zu betrinken und die Augen aus dem Kopf zu weinen, verstanden?“, sagte ich beim Einsteigen.

„Das werde ich mir wohl schenken“, meinte er. „Ein andermal vielleicht.“

„Braver Junge. Du gibst ein gutes Vorbild für meinen Hund ab.“

„Wage es ja nicht, ihn nach mir zu benennen“, warnte er mich lachend.

Als wir nach Hause kamen, fühlte ich mich wie eine gute Schwägerin, obwohl ich das offiziell nicht mehr war. Sam gab mir einen Kuss auf die Wange, bedankte sich und ging in sein großes Haus. Ich fand, er sah nicht mehr ganz so trübsinnig aus wie vorher. „Halt durch, Kumpel“, murmelte ich und legte den Rückwärtsgang ein. „Irgendwann geht es auch wieder berg auf.“

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen stand ich auf und ging sofort in die Knie. Oh Gott! Was war mit mir passiert? Jeder Muskel unterhalb meiner Schädeldecke schien zu versagen. Ich krallte mich an der Tagesdecke fest, zog mich hoch und schleppte mich steifbeinig ins Badezimmer. Schmerz schoss von meinen Achillesfersen hinauf in meine Waden. Wimmernd beugte ich mich zum Wasserhahn hinunter und trank.

Die Schmerzen verwandelten sich in reine Freude, als ich auf die Badezimmerwaage stieg. Ich hatte nicht nur ein, sondern zwei Pfund verloren! Natürlich war mir klar, dass es sich lediglich um Flüssigkeitsverlust handelte, weil ich gestern so geschwitzt hatte, und dass ich innerhalb eines Tages kaum zwei Pfund Fett verloren haben konnte. Die Komplexität des menschlichen Körpers lässt das nicht zu, aber ich war leider nicht in erster Linie Ärztin, sondern eine leicht übergewichtige Amerikanerin, die gerade feststellte, dass sie zwei Pfund losgeworden war.

Katie und ihre Söhne tauchten kurze Zeit später auf. Corey war sechs, Mikey drei. Genau wie ihre Kinder hatte Katie hellblonde Haare und himmelblaue Augen, was sie äußerlich zu meinem Gegenpol machte. Ihre Schönheit zog dutzendweise Männer an, wegen ihrer Scheidung war sie allerdings ziemlich unzugänglich, was das anging. Seit Elliott sie verlassen hatte, war ihr ihre Zeit zu schade für irgendwelchen Blödsinn. So drückte sie es jedenfalls aus.

Und wann genau hatte Elliott beschlossen, sie zu verlassen, fragen Sie? Tja, unmittelbar nach Michaels Geburt, nach sechsunddreißig Stunden Wehen und dreistündigem Pressen, um ihren neun Pfund schweren Sohn zur Welt zu bringen. Zum Glück war ich während der Geburt für sie da, denn Elliott, der Idiot, hatte sich in Luft aufgelöst. In einer dieser unfassbaren, filmreifen Szenen tauchte er ein paar Stunden später aus dem Nichts wieder auf und eröffnete Katie, er wolle sich scheiden lassen, weil er nicht mehr glücklich sei. Und so verließ ihr Mann sie für eine Jüngere, während sie noch vom Dammschnitt blutete, ihre Brüste steinhart anschwollen und ihr neugeborener Sohn auf ihrem Arm schrie.

Seitdem war sie bei Männern misstrauisch, was nicht weiter verwunderlich sein dürfte. Hinzu kam, dass sie hart arbeiten musste, um ihre Söhne zu versorgen. Sie lebte in einer Wohnung über der Garage ihrer Eltern und arbeitete als Kellnerin im Barnacle. Damit kam sie über die Runden, aber ich wünschte mir etwas Besseres für sie. Obwohl sie schwor, das Letzte, was sie wolle, sei eine Beziehung, kannte ich zufällig einen wunderbaren Mann, der selbst seit Kurzem geschieden war, Kinder mochte und ebenfalls einen tollen Sohn hatte. Einen Mann, den ich sehr mochte und der den perfekten Ehemann für meine beste Freundin abgeben würde. Aber ich musste vorsichtig vorgehen. Katie hätte es gar nicht gepasst, verkuppelt zu werden. Außerdem litt Officer Nickerson noch immer unter dem Verrat meiner eigenen Schwester. Also, sachte, gaaanz sachte …

„Übrigens habe ich Sam gestern Abend getroffen“, platzte ich heraus, als Katie und ich am Küchentisch saßen. Die Jungen waren im Esszimmer mit Bob-der-Baumeister- und Spider-Man-Malbüchern beschäftigt, die ich ihnen mitgebracht hatte.

„Wie geht es ihm?“, erkundigte sich Katie.

„Er ist verständlicherweise geknickt. Dabei ist er viel besser ohne sie dran“, sagte ich.

„Na hör mal, die beiden waren lange zusammen. Es geht ihm bestimmt dreckig.“ Sie trank einen Schluck Kaffee.

„Wir könnten irgendwann mal mit ihm ausgehen und ihn ein bisschen aufmuntern“, schlug ich hinterlistig vor.

„Klar.“ Treffer versenkt! „Wann fängst du an zu arbeiten?“, fragte Katie.

„Am ersten April. Ich hoffe, das ist Zufall und kein schlechtes Omen.“

Ich hätte lieber meine eigene Praxis eröffnet, aber das war für jemanden, der seine Zeit als Assistenzärztin frisch hinter sich hatte, einfach zu teuer. Daher hatte ich mich bei Dr. Whitaker beworben, unserem Land- und meinem alten Hausarzt. Als Partnerin in seiner Praxis. Er wollte, dass ich erst noch mehr Erfahrungen sammelte, und schlug die Cape Cod Clinic vor, die zum Cape Cod Hospital gehörte. Im Herbst wollte er dann noch mal darüber nachdenken.

„Bist du schon aufgeregt?“, wollte Katie wissen.

„Und ob. Ich kann es kaum erwarten.“

„Und wie läuft es mit deinem Eroberungsfeldzug in Sachen Joe?“ Katie warf einen Blick ins Esszimmer zu ihren Jungen, die die Köpfe über den Malbüchern zusammengesteckt hatten. Ein liebevolles Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Joe, Joe“, gurrte ich. Dann berichtete ich, wie toll er am Abend zuvor ausgesehen hatte, wie süß er gewesen war. Und wie lustig ich es fand, dass er Summers Namen verwechselt hatte. Katie lauschte, während meine Stimme den Ton einer Fanatikerin annahm. Ich hörte mich selbst über Joes Qualitäten und seinen Charme plappern und konnte mich einfach nicht bremsen. Schließlich schaffte ich es doch.

„Wie dem auch sei, so ist er eben“, beendete ich meinen Vortrag.

Katie kicherte und tätschelte meine Hand. „Du bist verrückt, weißt du das?“ Sie schob ihre Tasse seufzend zur Seite. „Aber du kochst den besten Kaffee. Kommt Jungs, wir müssen einkaufen. Wenn ihr euch benehmt, bekommt ihr einen Muffin.“

Corey und Mikey rissen fröhlich ihr Meisterwerk aus dem Malbuch und präsentierten mir ihre Krakelbilder, damit ich sie an meinen Kühlschrank heften konnte. Dann wurde ich zum Abschied geküsst und umarmt und half, die beiden Jungen auf den Rücksitz des Corolla zu verfrachten und anzuschnallen. Während der Wagen meine Auffahrt hinunterzuckelte, winkte ich ihm hinterher.

In meinen neuen Hausbesitzerstolz mischte sich Einsamkeit, als ich wieder hineinging. Katie hätte wer weiß was dafür gegeben, mal einen Tag lang allein zu sein, aber bei mir sah das anders aus. Wenn man ständig allein war, kam einem das nicht mehr so toll vor. Also würde ich mich dem nächsten Schritt meines Plans widmen, der Anschaffung eines Hundes.

Oh ja, ein Hund. Keine Katze! Nein, eine Katze signalisierte: „Hi, ich bin Single. Und zwar nicht ohne Grund, denn ich liebe meine Katze. Wir zwei haben eine ganz besondere Beziehung.“ Im Gegensatz dazu war ein Hund ein Beweis für Humor, Energie und Spaß. Eine Frau, die mit ihrem Hund raufte, war einfach cool!

In meiner Kindheit hatten wir immer Hunde gehabt, doch nachdem der letzte gestorben war, schafften meine Eltern sich keinen neuen mehr an. Jetzt mit eigenem Haus war ich entschlossen, wieder stolze Hundebesitzerin zu werden. Dieser Hund, der mein neuer bester Freund und Begleiter auf meinen anmutigen Joggingrunden werden, mich fröhlich begrüßen und ausflippen würde vor Freude, wenn ich nach Hause kam, der mich beschützen, nein, für mich sterben und zweifellos Joe und dessen dreibeinigen Hund lieben würde, wartete schon irgendwo auf mich.

Und zwar im Cape Cod Animal Shelter in Hyannis, zu dem ich mich nun auf den Weg machte. Vorher hielt ich bei einem dieser riesigen Haustierläden, wo ich ein verstellbares Halsband in reflektierenden Farben kaufte, um meinen Liebling vor einem Unfall zu schützen. Dazu eine Leine, ein gemütliches Zedernkuschelkissen, das mit dem Spruch „Süße Hundeträume“ bedruckt war, und einen Fressnapf aus Porzellan, dessen Schüssel blaue Pfoten zierten. Dann noch eine Flasche Shampoo, ein Zeckenmittel, eine Wurmkur und ein Buch über Hundeerziehung. Bevor ich meinen neuen Freund auch nur zu Gesicht bekommen hatte, war ich schon 167 Dollar los.

Die Atmosphäre im Tierheim war überraschend angenehm. Ich hatte es mir immer wie eine Art Todestrakt voller verlassener Tiere in zu engen Käfigen vorgestellt, deren letztes Stündlein bald schlagen würde. Aber dieses Tierheim war gar nicht so übel. In einem sonnigen Foyer schilderte ich der Tierheimleiterin, wonach ich suchte. Sie ermutigte mich, mich umzuschauen, also machte ich mich auf den Weg zu den Hundezwingern.

Eine Kakofonie aus Gebell, wütendem Knurren bis hin zu hohem Jaulen empfing mich. In dem großen hallenden Raum wohnten Dutzende Hunde, jeder in einem eigenen Käfig. Mit Tränen in den Augen ging ich an den armen Gefangenen vorbei. Hier war es tatsächlich wie im Todestrakt für Hunde. Ein riesiges schwarzbraunes Vieh knurrte mich an, und ich wich erschrocken zurück, was mein Mitleid etwas dämpfte. Es gab mehrere von seiner Sorte: große muskulöse Kreaturen mit angsteinflößendem Maul. Ausgezeichnet dazu geeignet, um Junkies zu killen, die mich um meine Barschaft erleichtern wollten. Da ich aber kein Drogendealer war, brauchte ich ein solches Tier nicht. Es gab noch ein niedliches Hündchen, ein wuscheliger Mischling, der allerdings große schorfige Stellen am Rücken hatte. Kein Hund, der Joe nun unbedingt beeindrucken würde. Im nächsten Käfig befand sich ein Chihuahuamischling, der wie eine Fledermaus ohne Flügel aussah und vor Angst zitterte und pinkelte. Sorry, Kleiner.

Und dann entdeckte ich ihn – meinen Hund. Als warte er auf mich, wedelte er mit dem Schwanz, während er sich auf die Hinterläufe aufrichtete und die Vorderpfoten an die vergitterte Tür legte. Er war weiß mit schwarzen Flecken, Schlappohren und süßen hoffnungsvollen Augen. Er sah aus wie eine Mischung aus Bordercollie und Labrador. Ich hielt seiner neugierig schnüffelnden Schnauze meine Hand hin.

„Hallo Kumpel“, begrüßte ich ihn. Er leckte meine Hand. Gekauft.

Natürlich mussten wir erst einige Zeit im Kennenlern-Raum verbringen, bevor ich meinen neuen besten Freund mitnehmen konnte, aber das war nur noch eine Formalität. Wir hatten uns ineinander verliebt. Ich füllte die Formulare aus und machte noch mehr Geld locker. Eine Stunde, nachdem wir uns kennengelernt hatten, gingen Digger und ich zu meinem Wagen. Der Hund war zwei Jahre alt, also schon ausgewachsen, von freundlichem Wesen, kinderlieb und einfach hinreißend. Er wedelte mit dem Schwanz, sprang um mich herum und gehörte ab sofort mir.

Er liebte das Auto und war so aufgeregt, dass er prompt auf den Beifahrersitz pinkelte, als wir vom Parkplatz fuhren.

4. KAPITEL

Der nächste Schritt meines Eroberungsfeldzugs war die absolut unerlässliche Runderneuerung, die zwei Zielen diente: erstens natürlich, um für Joe attraktiver zu sein. Und zweitens, um in der Klinik professioneller auszusehen. In Boston war mir mein Aussehen ziemlich egal gewesen. Ich zog mich bequem an und trug einen einfachen Pferdeschwanz, weil das schnell ging. Das wollte ich jetzt ändern. In Zukunft würde ich eigene Patienten haben, und auf die wollte ich selbstbewusst und kompetent wirken. Und selbstverständlich wollte ich auch sexy rüberkommen – Dr. Sexy …

Mein alter Freund Curtis war von Natur aus ein Experte in Sachen Frauenverschönerung – ein schwuler Mann nämlich.

„Ich bin bereit“, erklärte ich, als ich ihn anrief.

„Na Gott sei Dank“, entgegnete er.

Curtis und ich waren seit dem College befreundet. Er stammte aus Nebraska, und ich brachte ihn zu Thanksgiving mit nach Hause, damit er zum ersten Mal im Leben das Meer sehen konnte. Fasziniert hatte er am Strand gestanden und war seitdem nie mehr länger als achtundvierzig Stunden in seinem Heimatstaat gewesen. Wie dem auch sei, er und sein langjähriger Partner Mitchell erklärten sich jedenfalls freudig bereit, meine Stilberatung zu übernehmen. Neben den beiden wirkten sogar manche Heterosexuellen wie Neandertaler: Curtis’ blonde Haare und blaue Augen unterstrichen seinen schelmischen Sinn für Humor, während Mitchells dunkelhaarige, mystische Schönheit und sein vornehmer Akzent auf Geldadel und zu viele Cary-Grant-Filme schließen ließ. Die beiden passten perfekt zusammen, fand ich. Ihre Beziehung war so glücklich, dass man sich darüber eigentlich nur freuen konnte – mal abgesehen von den Idioten, die sie zusammenschlugen, wenn sie sich zu weit von ihrem neuen Zuhause entfernten.

Curtis und Mitch lebten seit dem College in Provincetown, dem Mekka homosexueller Freiheit, grandioser Gärten, hübscher Läden und des köstlichen Essens. Den Jungs gehörte das Pink Peacock. Eine wunderschöne Pension, die bewies, dass die beiden auch etwas von Inneneinrichtung verstanden. Außerdem besaßen sie, ganz dem Klischee entsprechend, einen untrüglichen Geschmack in allen für Frauen wichtigen Belangen, weshalb ich mich bedenkenlos ihrem kundigen Urteil unterwarf.

Also fuhr ich an einem kalten, stürmischen Mittwoch in meinem rasch alternden Honda nach P-town. Die Fahrt über die Route 6, die sich einmal ganz durchs Cape zieht, war herrlich. Ich kam an Kiefernwäldchen und Salzwiesen vorbei, die aussahen wie auf einer Postkarte, und sang dabei aus voller Kehle „Rosalita“ von meinem anderen alten Freund Bruce Springsteen.

Schließlich verließ ich Route 6, fuhr an den schönen Strandhäusern entlang und bog in die schmale Commercial Street ein, in der es links und rechts von Cafés und Galerien wimmelte. So früh in der Saison war es noch kein Problem, einen Parkplatz zu finden, und auch den Friseursalon, den Curtis und Mitch mir empfohlen hatten, entdeckte ich schnell. Die zwei ließen sich selbst dort die Haare machen, und sie hatten wirklich super Frisuren, gepflegte Nagelhaut und keinerlei sichtbare Poren.

Die Wände im Salon waren apricotfarben gestrichen, und aus diskret verborgenen Lautsprechern plätscherte beruhigende Klaviermusik. Die Jungs erwarteten mich. Ihr Freund Lucien war der Besitzer und hatte sich einverstanden erklärt, sich persönlich um mich zu kümmern, ein Angebot, das für Curtis und Mitch einem Wunder gleichkam. Kaum war ich eingetreten, stürzten sich die drei Männer empört auf mich, was ich ihnen nicht verdenken konnte. Ein Sweatshirt der Boston University und Jeans, die so alt waren, dass sie fast weiß aussahen, entsprachen schwulen Modevorstellungen überhaupt nicht.

Lucien ähnelte mit seiner ebenholzdunklen Haut, den hohen Wangenknochen und der schmalen Statur Grace Jones. Er sprach mit einem lustigen britischen Akzent. Ich vermutete allerdings, dass der nicht echt war. „Schön, dich kennenzulernen“, sagte er mit versteinerter Miene und verzog erst das Gesicht, als er mir das Band aus dem Pferdeschwanz zog und mir mit seiner eleganten Hand durch das volle Haar fuhr. „Ich hoffe, du hast Zeit mitgebracht, Teuerste. Wir werden nämlich den ganzen Tag hier zu tun haben.“

Gut, deshalb war ich schließlich hergekommen. Schneiden und färben, Make-up und Maniküre. Die Pediküre lehnte ich ab, weil mir die Vorstellung, wie jemand meine Zehennägel schnitt, peinlich war. Während ich den schicken schwarzen Bademantel anzog, hörte ich meine Freunde mit Lucien über meine Situation diskutieren.

„Sie ist hinter einem Kerl her“, erklärte Mitchell auf seine typische Art.

„Wer ist das nicht?“, meinte Lucien seufzend. „Abgesehen von euch beiden natürlich.“

„Sie will einen ganz neuen Look“, sagte Curtis. „Seriös, aber interessant und jugendlich. Sie ist Ärztin.“ An dieser Stelle strahlte ich, weil er so stolz klang. Es geht doch nichts über alte Freunde.

„Na schön, Aschenputtel“, rief Lucien. „Fangen wir mit dem Gesicht an. Mal sehen, ob wir aus dieser schrecklichen Winterhaut noch etwas zaubern können.“

Drei Stunden später war ich frisiert, toupiert, geschoren, mit Bimsstein und Wachs behandelt, entgiftet und mit Feuchtigkeitscreme eingerieben. Meine Nagelhäute pochten von der Attacke der Manikürestäbchen, meine Gesichtshaut brannte von der mörderischen Tönungscreme, die Kopfhaut prickelte und juckte vom Haarefärben, und die Augenbrauen taten höllisch weh nach der Wachsbehandlung. Bluteten die vielleicht? Unterzogen Menschen sich tatsächlich freiwillig dieser Tortur? Die Jungs wollten mich nicht in den Spiegel schauen lassen und verhängten ihn mit einem Handtuch, damit wir die „Enthüllung“ feierlich gemeinsam erleben konnten. Ich erinnerte mich daran, dass das alles einem guten Zweck diente, aber selbst der Gedanke an Joes vollkommenes Gesicht machte es nicht besser.

Nachdem die Strähnchenfolie in meinem Haar befestigt war, führte Lucien mich in den Make-up-Bereich. „Wir müssen uns um dieses Gesicht kümmern!“, verkündete er, drückte mich auf einen Stuhl und fing an, mit Wattebällchen kleisterartige Grundierung auf meine noch immer leidende Haut aufzutragen.

„Die Farbe kommt mir ein bisschen zu hell vor“, sagte ich, als er eine weitere Flasche öffnete.

„Lehn dich einfach zurück, Schätzchen, wir regeln das.“ Offenbar zählte meine Meinung nicht. Ich ließ Lucien mit einem rauen Schwamm mein Gesicht bearbeiten und bekam einen Hustenanfall, als er mir die Wangen puderte. „Praktisch keine sichtbaren Wangenknochen“, stellte er seufzend fest. „Na ja, dann müssen wir eben eine Illusion davon erzeugen.“

„Ich habe immer versucht …“, begann ich.

„Nicht sprechen, Schätzchen. Entspann dich und lass mich arbeiten. Mitch, mein Bester, könntest du die Lampe ein bisschen mehr hierher drehen? Ausgezeichnet. So, Millie, du wirst mich hinterher lieben.“

Autor

Kristan Higgins

Kristan Higgins lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Stadt in Connecticut, die über eine schöne Bibliothek, eine große landwirtschaftliche Messe, einen fantastischen Eis-Stand verfügt, aber sonst nicht viel Aufregendes zu bieten hat. Sie ist Mutter von zwei liebenswerten Kindern und Ehefrau eines Feuerwehrmanns, der - und das ist vielleicht...

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