Der Viscount und der Mistelzweig

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Erschrocken sieht Lily, dass auch Gregor St. James, der neue Viscount Marbrook, zum Fest auf Helkirk Place ist! Der Mann, der ihr früher das Herz gebrochen hat - und sie jetzt zärtlich zum Weihnachtstanz auffordert …


  • Erscheinungstag 18.12.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729004
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Yorkshire, England – 1818

Wie, er kommt her?“ Lily verharrte mit dem Pinsel über der Leinwand, und ein großer Tropfen roter Farbe löste sich von der Spitze und tropfte auf die Staffelei.

„Laurus bringt ihn mit“, verkündete Daisy, ihre jüngere Schwester, die, den Brief mit der Unheil versprechenden Nachricht schwenkend, den geräumigen Salon betrat. „Er wird die Weihnachtstage hier verbringen.“

„Hier?“, rief Lily schrill, während sie den Fleck mit dem Zipfel ihres alten Arbeitskittels abwischte. „Hier, auf Helkirk Place?“

„Natürlich. Was könnte ich sonst mit ‚hier‘ meinen?“ Daisy schlenderte zu dem nächsten Sessel, ließ sich hineinfallen und warf den Brief ihres großen Bruders auf den Tisch neben sich, ehe sie die übrigen Umschläge in ihrer Hand durchblätterte. Mit ihren zwölf Jahren unterhielt Daisy eine lebhaftere Korrespondenz als Lily, die zwanzig war.

Lily steckte den Pinsel in seine Halterung und stürzte sich auf den Brief ihres Bruders, wobei sie ein ganzes Rudel auf dem Kaminvorleger schlummernder Zwergterrier aufscheuchte. Die Tierchen protestierten laut kläffend, doch Tante Alice, in ihrem Sessel beim Feuer tief in Schlaf versunken, war unempfänglich für die Empörung ihrer kostbaren Lieblinge.

„Still, ihr Quälgeister!“, befahl Lily, da das Getöse sie ablenkte, doch die Winzlinge gehorchten nicht. Außerdem gelang es ihr nicht, die Angst zu unterdrücken, die jäh in ihr aufstieg. „Heute kommt er, am Heiligabend?“

„Anzunehmen, wenn er über Weihnachten bleiben will.“ Daisy zuckte die Achseln.

Den Brief an ihre Brust gedrückt, betrachtete Lily den betrüblichen Zustand des Salons. Mit Ausnahme ihres kleinen Winkels, in dem die Staffelei ordentlich ausgerichtet auf einem zum Schutz des Bodens ausgebreiteten Öltuch stand, war nichts, wie es sein sollte. Die Räume platzten vor Familie fast aus den Nähten. Außer Tante Alice war gestern Lilys älteste Schwester Rose samt Gemahl Edgar und den fünfjährigen Zwillingen ins Haus eingefallen. James und John hatten nach einem Ausflug in den Schnee ihre Schuhe einfach vor dem Kamin fallen lassen, zusammen mit ihren Fäustlingen, deren einer über einer Stuhllehne hing, während der andere einen nassen Fleck auf dem Polster des Sitzes verursachte, einer lag irgendwo am Boden, und an dem vierten kaute munter Pygmalion, der kleinste der Hunde. Gesteigert wurde das Chaos durch Petunia, Lilys zweitälteste Schwester, die heute Morgen mit Gemahl Charles und kleinem Töchterchen eingetroffen war. Das war nicht die festliche Atmosphäre, in die man einen des Rutherford’schen Durcheinanders ungewohnten Besucher einführen sollte, schon gar nicht jemanden von solcher Arroganz wie Lord Marbrook.

„Hast du Mutter von Laurus’ Absicht erzählt?“ Mit ein wenig Glück würde die protestieren, da die Dienstboten sowieso schon mit Arbeit überlastet waren und dazu, sofern der Butler das heute Nachmittag richtig erkannt hatte, dem in der Küche simmernden Glühwein zu sehr zugesprochen hatten.

Auch hoffte Lily, die Familie würde vielleicht ausnahmsweise einmal, wo es um einen Mann wie Lord Marbrook ging, zu ihr halten, wenn sie auch nicht recht wusste, warum, denn es wäre das erste Mal. Da er Laurus’ ältester Schulfreund war, hatten sie alle nur zu willig die Kränkung übersehen, die er ihr, Lily, zugefügt hatte. Die Erniedrigung schmerzte sie bis heute.

„Mutter findet seinen Besuch wunderbar. Du kennst sie, je mehr, desto lustiger.“ Daisy schwenkte ihre Beine über die Armlehne des Sessels, um ganz gemütlich lesen zu können.

Ärgerlich stieß Lily ihr die Beine wieder von der mit Stickerei versehenen Lehne. „Warum nur? Fand sie, es reichte noch nicht, dass wir unsere Familie der Lächerlichkeit aussetzten, als Gregor St. James das letzte Mal unter uns weilte?“

Vor vier Jahren hatte Petunia Charles Winford, den fünften Baron Winford geheiratet. Auf jenem Fest hatten sie Gregor St. James, Viscount Marbrook, zuletzt gesehen. Damals war er nur der jüngere Sohn gewesen. Nun, da ein Titel vor seinem Namen stand, war er gewiss noch arroganter geworden, und bestimmt nur zu versessen darauf, erneut an seiner scharf geschnittenen Nase entlang auf sie und ihre Familie herabzusehen.

„Einzig du hast dich zum Narren gemacht, als du damals beim Tanz mit ihm gestolpert bist“, betonte Daisy.

„Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst!“ Aber Lily hatte weder das vergessen noch die Kälte, mit der Lord Marbrook und seine Familie sie dann behandelt hatten. Durch deren offen gezeigte Verachtung hatten sich die boshaftesten Klatschmäuler des ton bemüßigt gesehen, dem Beispiel zu folgen, und so für Lily jedes folgende gesellschaftliche Vergnügen zu einer schweren Prüfung gemacht. Kaum einen Monat später hatte sie London hinter sich gelassen und die Stadt seither nie wieder aufgesucht.

„Ich habe keine Lust, auf unserem Weihnachtsball sämtlichen Nachbarn die Stirn zu bieten, die ja fast alle auf Petunias Hochzeit waren. Schlimm genug, dass ich mir jedes Jahr Sir Walters dumme Witze darüber anhören muss, wie anmutig ich doch tanze, aber das dann auch noch in Gegenwart Lord Marbrooks ist mehr, als man ertragen kann.“

„Wieso kümmert dich überhaupt, was der alte, vertrocknete Sir Walter sagt? Da bist du jedenfalls die Einzige. Außerdem hat Lord Marbrook deinen Sturz inzwischen bestimmt längst vergessen. Mutter sagt, er war bei Waterloo dabei, bevor sein älterer Bruder starb und er den Titel erbte.“

Anders als ihre Schwester vertraute Lily nicht darauf, dass die Zeit in Frankreich Lord Marbrook gewandelt hätte. Darüber hinaus konnte sie sich nicht vorstellen, wie ein Marbrook sich die Hände auf dem Schlachtfeld schmutzig machte oder sich von jemandem etwas befehlen ließ, der niederen Standes als er selbst war, da die ganze Familie sich ständig an ihrer Abstammung berauschte.

„Wahrscheinlich ist er nicht einmal in die Nähe von Kampfhandlungen gekommen, sondern war Adjutant eines fetten alten Generals mit einem noch höheren Titel als der seines Vaters.“ Lily stapfte zurück zu ihrer Staffelei, nahm die Palette und mischte mit heftigen Streichen des Malspachtels eine Farbe an. Ihre Wangen brannten, da sie wieder vor sich sah, wie Lord Marbrook, anstatt ihr vom Boden aufzuhelfen, überheblich vor ihr stand und tat, als würde er sie nicht kennen, während die anderen Tänzer sie auslachten. Dabei erregte nicht so sehr die herablassende Haltung des hochmütigen Mannes ihren Zorn, sondern eher die Tatsache, dass er sie unverdient so behandelt hatte. Denn wie mitfühlend hatte sie ihm kurz vor dem Tanz draußen in einer Nische der Halle zugesprochen!

Sie legte den Spachtel fort und griff nach dem Pinsel, doch der glatte Holzstiel glitt ihr aus den bebenden Fingern. Zwar landete er auf dem Öltuch, doch ehe sie ihn aufheben konnte, sauste ein braunes Fellknäuel herbei und schnappte ihn sich.

„Nein, Pygmalion, böser Hund! Aus!“ Lily rannte dem Hündchen hinterher und stöhnte verzweifelt, da das Tier mit seiner Beute unter einem Tisch verschwand und dabei auf einem der Tischbeine einen Streifen roter Farbe hinterließ. Lily hockte sich vor dem Tisch hin und befahl: „Gib das her!“

In dem Moment läutete die Glocke am Portal, und sämtliche Hündchen sprangen auf und flitzten mit Gekläff und unter dem Trappeln kleiner Pfoten los, inklusive Pygmalion, jener immer noch mit dem erbeuteten Pinsel zwischen den Zähnen, sodass er eine Spur roter Farbstreifen an der weißen Türfüllung hinterließ.

„Das ist bestimmt Laurus mit seinem Gast!“ Daisy warf ihre Briefe beiseite und rannte hinaus in die große Halle. Nur Tante Alice schlummerte immer noch in ihrem Sessel, ohne von der Aufregung ihrer Lieblinge etwas mitzubekommen.

Trübsinnig rappelte Lily sich auf, nur zu begierig, in die andere Richtung zu verschwinden, doch zu Weihnachten konnte sie sich wohl kaum vor der Familie verstecken. Außerdem konnte sie nicht zulassen, dass der Hund noch mehr Farbe im Haus verteilte, besonders nicht, wenn ein so erhabener Besuch es mit seiner Anwesenheit beehrte.

Sie eilte den Hunden nach, hüpfte über ein paar von den Zwillingen am Boden verstreute Bleisoldaten und Blechtrompeten und folgte naserümpfend den roten Klecksen und Streifen auf Böden und Fußleisten, die den Weg Pygmalions kennzeichneten. Wenn sie das Tier doch bloß erwischte, ehe es noch mehr Unheil anrichtete und das Haus, das schon schlimm genug aussah, noch gründlicher verunreinigte! Ihre Familie war nicht schlampig, doch die Art Unordnung, die auf Helkirk Place herrschte, verlieh dem alten Herrensitz nicht einfach ein Flair von Gemütlichkeit, sondern ließ ihn recht mitgenommen aussehen. Ihre Mutter war zu nachsichtig mit den Dienstboten, ließ zu, dass sie sich vor ihren Pflichten drückten, wie Lily ihr öfter vorhielt. Sich jedoch solcher Dinge anzunehmen, würde ihren Eltern abverlangen, lange genug von ihren geliebten Pflanzen aufzublicken, um dem Tun der Dienerschaft Aufmerksamkeit zu schenken.

Während Lily an den stoffbespannten, holzvertäfelten Wänden des alten Tudor-Hauses entlanghastete, stieg ihr der würzige Duft der Kiefernzweige in die Nase, mit denen Kommoden und Anrichten geschmückt waren, hinein mischten sich die aus der Küche heraufziehenden, appetitlichen Dünste vom Weihnachtsbraten. In diesen Aromen lebte jedes einzelne Weihnachtsfest, das sie hier gefeiert hatte, sah man von dem Jahr ab, das sie wegen Petunias Hochzeit in London zugebracht hatten – jene Weihnachtszeit, an die Lily sich lieber nicht erinnern wollte.

„Laurus, da bist du ja!“ Petunia umarmte ihren Bruder. Hinter ihr stand Mrs. Smith, die Kinderfrau, Petunias Töchterchen auf dem Arm. Petunias Gemahl trat vor und schüttelte Laurus die Hand, während die Zwillinge um die Wette mit den Hunden die Gruppe lärmend umkreisten.

„Onkel Laurus, hast du uns was mitgebracht?“, riefen die Knaben und zerrten an Laurus’ Rocktaschen.

„Jungs, plagt euren Onkel nicht!“, tadelte Rose, die eben mit ihrem Gatten in die Halle kam.

„Sie plagen mich nicht. Ich muss nur sehen, dass ich dieses süße Zeug loswerde.“ Der junge Mann zog eine Papiertüte aus seiner Tasche und hob sie lockend hoch, ehe er sie James in die Hand drückte. John stürzte herbei, und beide rissen das Papier auf und fischten Zuckerwerk heraus, während die Hündchen zu ihren Füßen hoffnungsvoll warteten, ob etwas für sie abfiele.

Mitten in dem Getümmel entdeckte Lily Pygmalion, der sofort zur Treppe stürzte, fest entschlossen, seinen Schatz nicht abzugeben. Endlich konnte sie ihn in den Winkel zwischen der Standuhr und der Wand treiben und hielt ihn auf, ehe er noch das schon mit Grünzeug geschmückte Geländer mit weihnachtlichem Rot zieren konnte. Knurrend wich der kleine Hund nach rechts und links aus, wobei er Wand und Uhr mit weiteren Pinselstrichen bekleckste.

„Lily, spiel nicht mit dem Hund, komm lieber her und begrüße deinen Bruder.“ Sir Timothy eilte, seine Gattin am Arm, die Treppe hinab; seine tiefe, dröhnende Stimme übertönte spielend den Lärm. Wie immer war sein dunkles Jackett mit gelben Pollen bestäubt. Wehe den Leuten, die von Blütenstaub niesen mussten! Durch dieses Leiden hatten die Rutherfords schon manch ein Hausmädchen verloren.

„Aber ja, sobald ich meinen Pinsel zurückerobert habe“, antwortete Lily.

„Lily, lass den Hund, er tut doch nichts“, meinte Lilys Mutter, ehe sie sich Laurus zuwandte.

Lily packte das eine Ende des Pinsels und zog. Mochte ihre Mutter sich auch nicht daran stören, dass alles mit Farbe verschmiert wurde, ihr selbst war es nicht gleichgültig.

„Vielleicht kann ich helfen“, bot sich eine männliche Stimme an.

„Nein, ich habe ihn schon!“ Lily zerrte wild entschlossen, die Kiefer des Hündchens gaben endlich nach, und plötzlich hatte sie den Pinsel in der Hand, doch der Ruck ließ sie zurückstolpern; sie schwankte, versuchte das Gleichgewicht zu halten, wirbelte herum, traf mit den Pinselborsten auf die harte Brust eines Mannes, und ein breiter roter Streifen prangte auf dem hellbraunen Stoff seines Jacketts.

„Ach, Laurus, das tut mir leid!“ Sie wollte den Fleck abwischen und erstarrte in der Bewegung. Da stand nicht Laurus, sondern kein anderer als Gregor St. James, Viscount Marbrook.

Mit einem Ruck fuhr sie zurück und erwartete, seine leuchtend grünen Augen so kalte Blicke schleudern zu sehen wie damals vor vier Jahren in jenem Ballsaal. In der plötzlichen Stille befiel sie die gleiche schreckliche Demütigung wie damals, als sie auf dem Tanzparkett hockte und sich den schmerzenden Knöchel rieb, während jedermann ringsum sie angaffte – außer Lord Marbrook, der sie angelegentlich übersah.

„Entschuldigung, es tut mir leid“, sagte sie mit dünner Stimme, entsetzt, weil sie ihn mit Farbe befleckt hatte und obendrein in ihrem alten Arbeitskittel vor ihm stand. So hatte sie diesem Mann auf keinen Fall wiederbegegnen wollen. Was musste der verflixte Laurus ihn auch herbringen!

Eilends schlüpfte sie aus dem Kittel und legte ihn sich über einen Arm, während sie tapfer die Schultern straffte. Sollte Lord Marbrook nur wagen, ihr irgendeine Kränkung an den Kopf zu werfen! Sie war nicht mehr die Lily, die er in London damals so verächtlich behandelt hatte, und das würde sie ihm zeigen.

Er holte ein weißes Taschentuch hervor und tupfte damit an dem Fleck herum, wobei er sie eher amüsiert als wütend betrachtete. „Es macht nichts. Das Jackett gefällt mir sowieso nicht sonderlich.“

Lily sank vor Verblüffung das Kinn. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie glauben, er scherzte. Anscheinend ging es den anderen Anwesenden ebenso, denn plötzlich trat Stille ein. Selbst die Zwillinge hielten den Mund, da sie die Verwunderung der Erwachsenen spürten.

Lord Marbrook faltete das Tuch und steckte es zurück in seine Brusttasche, womit er Lilys Blicke auf diese Partie lenkte. Wie viel sein Brustumfang und seine Schultern an Breite gewonnen hatten! Das Kerzenlicht des Kronleuchters hob die rötlichen Strähnen in seinem dunklen, leicht gewellten Haar hervor, das er im römischen Stil kurz geschnitten trug, und das fesselte Lily ebenso wie sein hoher Wuchs und seine kräftige Statur, was ihn beides bei ihrem letzten Zusammentreffen noch nicht ausgezeichnet hatte. Auch sein Gesicht war schärfer geschnitten als früher und von tiefem Ernst geprägt. Linien hatten sich neben seinen Mundwinkeln eingeprägt, und sein Kinn war kantiger. Ob sie wollte oder nicht, sie konnte den Blick nicht abwenden. So war es ihr schon auf dem Hochzeitsball ergangen, als sie verstohlen dorthin gespäht hatte, wo er mit Bruder und Eltern saß. Während seine Familie die anderen Gäste von oben herab musterten, betrachtete er die fröhliche Feier mit den sehnsüchtigen Augen eines Kindes, das sich die Nase an den Scheiben einer Konditorei plattdrückte.

Autor

Georgie Lee
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