Die Bakery-Sisters-Trilogie (3in1)

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FRISCH VERLIEBT

Mit der Liebe ist es wie mit einem Hefeteig: Man muss nur Geduld und ein warmes Plätzchen haben …

Backen und Liebe sind zwei Dinge, mit denen Claire Keyes sich überhaupt nicht auskennt. Ihre Musikkarriere hat der erfolgreichen Pianistin bisher weder Zeit für das eine noch das andere gelassen. Doch jetzt ist ihre Schwester Nicole erkrankt, und irgendjemand muss sich um die Familienbäckerei kümmern. Und auch wenn Claire noch nicht einmal Wasser kochen kann, ist sie fest entschlossen, ihrer Schwester beizustehen. Als dann auch noch der umwerfende Wyatt auftaucht, stellt Claire fest, dass es mit der Liebe ist wie mit einem Hefeteig: Man muss nur Geduld und ein warmes Plätzchen haben, dann geht sie von ganz alleine auf.

FRISCH VERHEIRATET

Ihre Rückkehr nach Seattle hatte sich Jesse anders vorgestellt. Ihre Schwestern sind von ihrem verbesserten Ich nicht wirklich beeindruckt. Und Matt, der Vater ihres Sohnes, reagiert zwar immer noch leidenschaftlich auf sie, will sie aber trotzdem nie wiedersehen. Jesse weiß nicht, ob sie die Fehler der Vergangenheit wieder gutmachen kann. Aber allein die Sehnsucht danach, wieder in Matts Armen zu liegen, ist ein Anreiz, es mit aller Macht zu versuchen. Sie will ihm beweisen: Mit der Liebe ist es wie mit einem Eclair: Man muss hineinbeißen, um die leckere Füllung zu entdecken.

FRISCH VERLOBT

Wenn alles in ihrem Leben so rund laufen würde wie ihr Nudelholz, wäre Nicole Keyes glücklich. Doch nicht nur die Familienbäckerei, sondern auch ihre beiden Schwestern lassen der leidenschaftlichen Konditorin keine Zeit für die Erfüllung ihrer Wünsche. Bis der wundervolle Hawk in ihr Leben tritt und ihr ein Stück von der Freiheit zeigt, nach der sie sich immer gesehnt hat. Und bald schon stellt Nicole fest: Mit der Liebe ist es wie mit einer Torte - man muss nur die richtigen Zutaten haben, dann gelingt sie auch einer Anfängerin.


  • Erscheinungstag 16.03.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783745752236
  • Seitenanzahl 1200
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Susan Mallery

Die Bakery-Sisters-Trilogie (3in1)

1. KAPITEL

Claire Keyes sprang sofort auf, als das Telefon klingelte, denn selbst ein Gespräch mit ihrer wütenden Managerin erschien ihr im Moment reizvoller, als den Berg schmutziger Wäsche zu sortieren, der sich mitten in ihrem Wohnzimmer türmte.

„Hallo?“

„Ja, hi! Hm, Claire? Hier ist Jesse.“

Wenigstens nicht Lisa, dachte Claire, erleichtert, dass es doch nicht ihre Managerin war.

„Jesse wer?“

„Deine Schwester.“

Claire schob mit dem Fuß eine Bluse aus dem Weg und sank aufs Sofa. „Jesse?“, hauchte sie. „Bist du es wirklich?“

„Huhu. Überraschung.“

Mit Überraschung war nicht einmal ansatzweise beschrieben, was Claire empfand. Seit Jahren hatte sie ihre jüngere Schwester nicht mehr gesehen. Nicht mehr, seit sie anlässlich der Beerdigung ihres Vaters versucht hatte, zu dem, was von ihrer Familie noch übrig war, eine Verbindung herzustellen, nur um sich dann sagen zu lassen, dass sie nicht willkommen war, niemals willkommen sein würde, und weder Jesse noch Claires Zwillingsschwester Nicole sich bemüßigt fühlen würden, Hilfe zu rufen, falls sie jemals von einem Bus überrollt werden sollte.

Claire konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie nach dieser Verbalattacke derart fassungslos gewesen war, dass ihr regelrecht der Atem stockte. Sie hatte sich gefühlt, als hätte man sie verprügelt und am Straßenrand liegen gelassen. Jesse und Nicole waren doch ihre Familie. Wie konnten sie sie nur derart ablehnen?

Da ihr nichts Besseres einfiel, hatte sie die Stadt verlassen und war nie wieder zurückgekehrt. Das war nun sieben Jahre her.

Mit einer Fröhlichkeit, die gezwungen wirkte, fuhr Jesse fort: „Also, wie geht es dir?“

Claire schüttelte den Kopf und versuchte klar zu denken. Dann aber sah sie sich in ihrem chaotischen Apartment um. Ein hüfthoher Berg Schmutzwäsche im Wohnzimmer, offene Koffer neben dem Flügel und ein Stapel Post, den sie mit aller Macht ignorierte; dazu kam noch eine Managerin, die ihr bei lebendigem Leib die Haut abziehen würde, wenn sie das ihrem Ziel näherbrächte.

„Prima“, log sie. „Und dir?“

„Viel zu fantastisch, als dass ich’s beschreiben könnte. Bei Nicole sieht es allerdings nicht so rosig aus.“

Claire nahm den Hörer fester in die Hand. „Was ist los mit ihr?“

„Nichts ... jedenfalls noch nicht. Sie muss sich aber operieren lassen. Ihre Gallenblase, irgendwie liegt die wohl nicht richtig oder so. Ich weiß nicht mehr genau. Jedenfalls können sie deswegen nicht diese einfache Operation mit den kleinen Einschnitten machen. Diese Lapi-irgendwas.“

„Laparoskopie“, murmelte Claire abwesend und schielte nach der Uhr, denn in einer halben Stunde begann ihr Unterricht.

„Genau, das war es. Stattdessen werden sie sie aufschneiden wie eine Wassermelone, und das bedeutet dann auch eine längere Genesungszeit. Mit der Bäckerei und allem ist das ein Problem. Normalerweise würde ich ja einspringen und helfen, aber im Moment geht das nicht. Es ist etwas ... kompliziert. Wir haben also darüber geredet und Nicole meinte, ob du nicht vielleicht gerne nach Hause kommen würdest, um dich um alles zu kümmern. Sie wüsste es echt zu schätzen.“

Nach Hause, dachte Claire voller Sehnsucht. Sie könnte wieder nach Hause. Zurück in das Haus, an das sie sich kaum noch erinnerte, das in ihren Träumen aber immer einen großen Raum eingenommen hatte.

„Ich dachte, du und Nicole würdet mich hassen“, flüsterte sie und wünschte, sie könnte es wagen zu hoffen, fürchtete sich aber fast davor.

„Wir waren damals doch völlig durcheinander. Es war eine sehr emotionsgeladene Zeit. Ehrlich, wir haben schon seit Längerem davon gesprochen, dass wir uns mit dir in Verbindung setzen sollten, und Nicole hätte dich auch – ähem – selbst angerufen. Aber ihr geht es nicht gut und sie hatte Angst, du könntest Nein sagen. Im Augenblick wäre sie nicht in der Lage, damit umzugehen.“

Claire stand auf. „Ich würde niemals Nein sagen, und natürlich werde ich kommen. Ich will es wirklich, denn ihr seid doch meine Familie, ihr beide.“

„Prima. Wann kannst du hier sein?“

Claire besann sich auf die Katastrophe, in die ihr Leben sich verwandelt hatte, und dachte an die aufgebrachten Anrufe ihrer Managerin Lisa. Dann waren da noch die Meisterklasse, die sie besuchen sollte, und die wenigen Unterrichtsstunden, die sie selbst am Wochenende geben musste.

„Morgen“, sagte sie entschlossen. „Ich kann morgen da sein.“

„Könntest du mich nicht einfach jetzt erschießen?“, fragte Nicole Keyes, während sie den Küchentresen abwischte. „Im Ernst, Wyatt. Du musst doch eine Waffe haben. Bitte, tu es! Ich werde auch irgendwas schreiben, dass es nicht deine Schuld ist.“

„Tut mir leid. In meinem Haus gibt es keine Waffen.“

In meinem ebenso wenig, dachte sie niedergeschlagen und warf das Spültuch wieder ins Becken.

„Schlechter könnte das Timing für meine dämliche Operation gar nicht sein“, jammerte sie. „Sie haben mir gesagt, dass es sechs Wochen dauern wird, bis ich wieder arbeiten kann. Sechs Wochen. Die Bäckerei wird nicht von allein laufen. Und wage nicht, mir damit zu kommen, dass ich Jesse um Hilfe bitten soll. Das ist mein voller Ernst, Wyatt.“

Ihr zukünftiger Exschwager hielt die Hände hoch. „Ich schwöre, ich werde nichts dergleichen sagen.“

Sie glaubte ihm, und das nicht etwa, weil sie annahm, ihn eingeschüchtert zu haben, sondern weil sie wusste, er verstand, dass ihre Bauchschmerzen sicher auch an der entzündeten Gallenblase lagen, vor allem aber daran, dass ihre Schwester Jesse sie hintergangen hatte.

„Ich hasse das. Ich hasse es, dass mein Körper mich so hängen lässt. Was habe ich ihm je angetan?“

Wyatt zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. „Setz dich lieber. Es bringt doch nichts, sich so aufzuregen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich vermute es mal.“

Weil es leichter war, als darüber zu streiten, ließ sie sich auf den Stuhl fallen. Manchmal fragte sie sich, ob sie überhaupt noch die Energie für einen Streit hatte.

„Was habe ich vergessen? Ich glaube, ich habe alles erledigt. Du hast doch daran gedacht, dass ich mich eine Zeit lang nicht um Amy kümmern kann, oder?“

Amy war seine achtjährige Tochter, die Nicole an ein paar Nachmittagen in der Woche betreute.

Wyatt beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Entspann dich. Du hast nichts vergessen. Ich werde jeden zweiten Tag in der Bäckerei vorbeischauen. Die Leute, die für dich arbeiten, sind in Ordnung. Sie haben dich gern und sind loyal. Alles wird gut gehen. In ein paar Tagen bist du wieder zu Hause und kannst anfangen, dich zu erholen.“

Sie wusste, dass er damit nicht nur die Operation meinte, sondern ebenso die Sache mit ihrem Exmann in spe.

Anstatt aber nun über dieses Ekelpaket Drew nachzudenken, starrte sie Wyatts Hand auf ihrem Arm an. Er hatte große Hände mit Narben und Schwielen. Er war ein Mann, der wusste, wie man für seinen Lebensunterhalt arbeitete. Ein aufrichtiger Mann, gut aussehend und witzig.

Sie hob den Blick und sah in seine dunklen Augen. „Warum konnte ich mich nicht in dich verlieben?“, fragte sie ihn.

Er lächelte. „Die Frage gebe ich dir zurück, Schwesterchen.“

Sie würden perfekt zusammenpassen ... wenn es nur einen Hauch erotischer Anziehung zwischen ihnen gäbe.

„Wir hätten uns mehr Mühe geben und miteinander schlafen sollen“, murmelte sie.

„Stell es dir doch einfach mal eine Minute lang vor“, forderte er sie auf. „Und dann sag mir, ob es dich antörnt.“

„Das kann ich nicht.“ Es war schon richtig, der Gedanke an Sex mit Wyatt machte sie zwar irgendwie nervös, aber nicht auf angenehme Weise. Dafür war er viel zu sehr wie ein Bruder für sie. Wenn doch nur sein Stiefbruder Drew dieselbe Reaktion bei ihr ausgelöst hätte. Zwischen ihnen aber waren unglücklicherweise ganze Feuerwerke explodiert. Feuerwerke, die einen verbrannten.

Sie ließ das Thema fallen und musterte Wyatt. „Genug von mir. Du solltest wieder heiraten.“

Er griff nach seinem Kaffeebecher. „Nein danke.“

„Amy braucht aber eine Mutter.“

„So dringend nun auch wieder nicht.“

„Hier in der Gegend gibt es tolle Frauen.“

„Dann nenn mir eine außer dir.“

Nicole dachte eine Minute lang nach, dann seufzte sie. „Was dagegen, wenn ich später auf das Thema zurückkomme?“

Am frühen Nachmittag landete Claire auf dem Sea Tac Airport. Sie war ziemlich stolz auf sich, weil sie es geschafft hatte, ihre Reise allein zu organisieren. Sogar einen Mietwagen hatte sie gebucht. Normalerweise hätte sie einen Car Service in Anspruch genommen, aber sie würde zwischen Krankenhaus und Bäckerei hin und her pendeln müssen, und vielleicht würde Nicole sie auch brauchen, um irgendwelche Besorgungen zu machen. Da war ein eigener fahrbarer Untersatz schon sinnvoll.

Nachdem sie ihre zwei riesigen Koffer vom Gepäckband heruntergewuchtet hatte, nahm sie in jede Hand einen und zog sie in Richtung Rolltreppe. Der Catwalk zum Parkhaus war lang und die Koffer wogen schwer. Als sie die Fahrstühle erreicht hatte, die zur Mietwagenhalle führten, keuchte sie schon, und als sie endlich vor dem Hertz-Schalter stand, bedauerte sie sehr, dass sie den langen Wollmantel übergeworfen hatte. Der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, und ihr Kaschmirpullover klebte daran fest.

Während sie in der Schlange wartete, war sie ganz aufgeregt, weil sie nun hier war. Sie war nervös, aber voller Entschlossenheit, alles Nötige zu tun, um die Beziehung zu ihren Schwestern wieder zu kitten. Sie erhielten jetzt eine zweite Chance, und sie würde es nicht vermasseln.

Die Frau am Schalter winkte Claire zu sich, und sie zog die zwei Koffer hinter sich her, als sie vortrat.

„Hi. Ich habe eine Reservierung.“

„Auf welchen Namen?“

„Claire Keyes.“ Claire überreichte ihr den Führerschein und ihre Platin-Kreditkarte.

Die Frau sah sich den Führerschein an. „Verfügen Sie bereits über eine Versicherung oder wünschen Sie für den Wagen eine Deckung durch uns?“

„Ich hätte gerne Ihre Deckung.“ Das war einfacher als zu erklären, dass sie keinen eigenen Wagen besaß und tatsächlich noch nie einen Wagen besessen hatte. Und hätte sie nicht damals, als sie achtzehn wurde, darauf bestanden, Unterricht zu nehmen, und anschließend gelernt und geübt, bis sie die Prüfung bestanden hatte, würde sie nicht einmal einen Führerschein besitzen.

„Irgendwelche Strafzettel oder Unfälle?“, fragte die Frau.

Claire lächelte. „Keinen einzigen.“ Strafzettel oder Unfälle setzten schließlich voraus, dass man tatsächlich auch fuhr, und das war etwas, das Claire in den letzten zehn Jahren höchstens ein- oder zweimal getan hatte.

Sie musste ein paar Formulare unterschreiben, dann gab die Frau ihr den Führerschein und die Kreditkarte wieder zurück.

„Nummer sechsundachtzig. Es ist ein Malibu. Sie hatten eine mittlere Größe angegeben. Wenn Sie wünschen, kann ich Ihnen auch etwas Größeres anbieten.“

Claire blinzelte sie an. „Nummer sechsundachtzig was?“

„Ihr Wagen. Er steht auf Stellplatz sechsundachtzig. Die Schlüssel stecken.“

„Oh, prima. Einen Größeren brauche ich nicht.“

„In Ordnung. Wollen Sie eine Straßenkarte?“

„Ja, bitte.“

Claire steckte die Straßenkarte in die Handtasche und zog ihre Koffer aus dem Glasbau. Vor ihr lagen die Autoreihen und sie konnte erkennen, dass an jedem Stellplatz Nummern angebracht waren. Während sie weiterging, zählte sie mit, bis sie schließlich die Nummer sechsundachtzig fand und den silbernen Malibu entdeckte.

Er hatte vier Türen und kam ihr einfach riesig vor. Sie schluckte. Wollte sie denn wirklich fahren? Dann aber sagte sie sich, dass sie diese Frage auch auf später verschieben konnte. Erst einmal musste sie aus dem Parkhaus heraus.

Herausforderung Nummer eins bestand darin, ihr Gepäck in den Kofferraum zu befördern. Anscheinend gab es keinerlei Möglichkeit, ihn zu öffnen. Keine Knöpfe, keine Griffe. Sie drückte dagegen und versuchte zu ziehen, aber nichts bewegte sich. Irgendwann gab sie es schließlich auf und verstaute ihre zwei großen Koffer auf dem Rücksitz. Dann klemmte sie sich hinter das Lenkrad.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie den Sitz so eingestellt hatte, dass sie tatsächlich an die Pedale gelangte. Sie schaffte es auch, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken und umzudrehen. Der Motor sprang sofort an. Sorgfältig stellte Claire die Spiegel ein und holte tief Luft. Nun war sie praktisch schon auf dem Weg.

Zunächst aber widmete sie sich noch dem Navigationssystem. Und das begrüßte sie auf Französisch.

Ungläubig starrte Claire das Gerät an. Was zum Teufel sollte das?

Sie drückte auf ein paar Knöpfe. Jawohl, es sprach Französisch. Okay, sicher, diese Sprache kannte sie zwar auch, aber wahrhaftig nicht gut genug, um damit beim Fahren klarzukommen. Das Potenzial auf der Straße auszuflippen erschien ihr auch so schon groß genug, es musste nicht noch durch eine Fremdsprache getoppt werden. Sie hieb auf die Knöpfe ein, bis sie sich durch Holländisch und Japanisch gescrollt hatte, und endlich hörte sie dann die freundliche Frauenstimme in Englisch.

Ihr Bedürfnis, laut schreiend in die Nacht hinauszurennen, legte sich ein wenig.

Stattdessen las sie nun weiter in der Gebrauchsanweisung und gab dann sorgfältig die Adresse der Bäckerei ein. Sie hatte vergessen, Jesse danach zu fragen, wie das Krankenhaus hieß, in dem Nicole operiert wurde, deshalb schien ihr die Bäckerei die beste Anlaufstelle zu sein. Schließlich wappnete sie sich, um aus der Parklücke herauszufahren.

Die Brust wurde ihr eng. Sie ignorierte es ebenso wie das Kribbeln, das in ihrem Rücken einsetzte und sich über ihren ganzen Körper ausbreitete.

Nicht jetzt, dachte sie verzweifelt. Nicht jetzt. Später kannst du gerne in Panik geraten, aber doch bitte nicht, wenn du gerade losfahren willst!

Sie schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen, dann stellte sie sich ihre Schwester in einem Krankenhausbett vor, wie sie verzweifelt auf ihre Hilfe wartete. Dort muss ich hin, rief sie sich ins Gedächtnis. Zu Nicole.

Der Anflug von Panik ebbte ein wenig ab. Sie öffnete die Augen und fuhr los.

Das Parkhaus kam ihr dunkel und geschlossen vor. Glücklicherweise standen in der Reihe vor ihr keine Autos, sie würde also etwas mehr Platz für ihren Bogen haben, wenn sie aus der Parklücke herausfuhr.

Langsam und vorsichtig stellte sie den Hebel der automatischen Gangschaltung auf Drive. Sofort setzte sich der Wagen in Bewegung. Sie trat so heftig auf die Bremse, dass diese blockierte, und der ganze Wagen mit einem Ruck zum Stehen kam. Vorsichtig ließ sie die Bremse wieder los und setzte sich damit erneut in Bewegung. In Abschnitten von jeweils fünfzehn bis zwanzig Zentimetern auf einmal schaffte sie es, aus ihrer Lücke auszuscheren. Fünfzehn Minuten später hatte sie den Weg aus dem Parkhaus gefunden und befand sich auf der Straße, die aus dem Flughafen herausführte.

„Nach einhundertfünfzig Metern rechts einordnen. Rechts abbiegen auf die 1-5.“

Die Stimme aus dem Navigationssystem klang sehr gebieterisch, so als wüsste sie, dass Claire vom Fahren allgemein keine Ahnung hatte und von der Fahrtstrecke im Besonderen schon gar nicht.

„1-5 was?“, fragte Claire und sah gleich darauf ein Hinweisschild zur Autobahn 1-5. Sie schrie auf und erklärte dem Navi: „Ich kann nicht auf die Autobahn. Wir müssen auf normalen Straßen bleiben.“

Als Antwort erhielt sie ein Ding-Dong: „Rechts abbiegen.“

„Aber das will ich nicht.“

Hektisch sah sie sich um, doch es schien keine andere Möglichkeit zu geben. Die Straße, auf der sie sich befand, ging einfach irgendwie in die Autobahn über. Nach links konnte sie nicht. Da waren viel zu viele Autos im Weg, Autos, die plötzlich anfingen, richtig zu rasen.

Mit beiden Händen umklammerte Claire das Lenkrad. Ihr Körper verkrampfte sich und ihr Geist füllte sich mit Bildern von verunglückten Autos, die in Flammen standen.

„Ich werde es schaffen“, sprach sie sich flüsternd Mut zu. „Ich kann es.“

Sie trat ein wenig fester auf das Gaspedal, bis sie beinahe siebzig fuhr. Das war doch wohl schnell genug, oder? Wer sollte denn schon schneller fahren müssen?

Hinter ihr näherte sich ein großer Laster, der sie anhupte. Sie zuckte zusammen. Und immer mehr Wagen fuhren hinter ihr auf, manche davon kamen ihr wirklich sehr nahe. Sie war so mit dem Versuch beschäftigt, keine Angst vor diesen rechts und links an ihr vorbeischießenden Autos zu haben, dass sie völlig vergaß, sich einzufädeln, bis das Navi sie erinnerte: „Zur 1-5 Richtung Norden rechts abbiegen.“

„Was? Wieso rechts? Will ich nach Norden?“

Dann aber machte die Fahrbahn einfach einen Bogen, dem sie folgen musste. Dabei verspürte sie das verzweifelte Bedürfnis, die Augen zu schließen, aber sie wusste, dass das übel ausgehen konnte. Angst trieb ihr den Schweiß auf die Stirn und sie wünschte, sie könnte sich den Mantel vom Leib reißen. Doch das ging natürlich nicht. Nicht wenn sie keinen Unfall bauen wollte. Sie hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass ihr die Finger schmerzten.

Du tust es für Nicole, erinnerte sie sich. Für deine Schwester. Für die Familie.

Ihre Fahrbahn mündete in die 1-5. Noch immer fuhr sie siebzig, befand sich jetzt aber auf der rechten Spur und Claire schwor sich, dort zu bleiben, bis es an der Zeit war, die Autobahn wieder zu verlassen.

Als sie nördlich des Universitätsviertels dann endlich abfahren konnte, zitterte sie am ganzen Körper. Sie hasste es zu fahren. Es war abscheulich. Autos waren etwas Schreckliches und die Fahrer ungehobelte, bösartige Menschen, die sie anschrien. Aber sie hatte es geschafft, und nur darauf kam es an.

Den Anweisungen des Navigationssystems folgend schaffte sie es auch, ihren weiteren Weg bis auf den Parkplatz der Bäckerei zu finden. Dort stellte sie den Motor ab, lehnte die Stirn ans Lenkrad und bemühte sich, wieder ruhig zu atmen.

Nachdem sie ihre Atemfrequenz schließlich von der eines Kolibris wieder auf die eines mittelgroßen Säugetiers heruntergeschraubt hatte, richtete sie sich auf und betrachtete das Gebäude vor ihr. Seit der Gründung vor achtzig Jahren hatte sich die Bäckerei Keyes immer am selben Ort befunden. Anfangs hatten ihre Urgroßeltern nur die Hälfte der Ladenfront angemietet. Mit der Zeit aber war das Geschäft gewachsen, und sie hatten zuerst noch den Pachtvertrag ihres Nachbarn übernommen, bis sie schließlich vor sechzig Jahren das ganze Gebäude gekauft hatten.

Der untere Teil der beiden Schaufenster war angefüllt mit Torten, Kuchen und Broten. Zierschriften, die die weitere Auswahl auflisteten, bedeckten den oberen Teil. Ein großes Schild über der Tür verkündete: „Bäckerei Keyes – Haus der besten Schokoladentorte der Welt“.

Selbst Könige und Präsidenten hatten diese vielschichtige Schokoladenkreation schon gepriesen, sie wurde von Bräuten kredenzt und fand sich als absolutes Muss in den Verträgen so mancher prominenter Persönlichkeiten, die sie am Set von Filmaufnahmen oder nach Konzerten hinter der Bühne zu genießen wünschten. Es handelte sich um eine Million Kalorien aus Mehl, Zucker, Butter, Schokolade und einer geheimen Zutat, die nur der Familie bekannt war. Nicht, dass Claire wusste, was es war. Aber sie würde es erfahren. Sie war sich sicher, Nicole würde ihr nun auch das Geheimnis anvertrauen.

Sie stieg aus dem Wagen und zog sich vorne den Pullover glatt. Es war kalt genug, sodass sie den Mantel anbehalten konnte, und sie hoffte, dass er nicht allzu sehr von der Fahrt zerknittert war. Sie nahm ihre Handtasche und verschloss sorgsam die Tür auf der Fahrerseite. Dann atmete sie tief durch und ging in die Bäckerei.

Es war Nachmittag und relativ ruhig. An einem Ecktisch saßen zwei junge Mütter bei Kaffee und Kuchen. Zwei Kindersportwagen standen zwischen ihren Stühlen. Claire lächelte sie an, während sie auf den langen Verkaufstresen zuging. Ein Mädchen im Teenageralter sah sie an.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Das hoffe ich. Ich bin Claire. Claire Keyes.“

Der Teenager, eine dralle Brünette mit großen, braunen Augen, stöhnte. „Ja klar, was möchten Sie haben? Das Rosmarin-Knoblauch-Brot kommt gerade frisch aus dem Ofen.“

Claire lächelte hoffnungsvoll. „Ich bin Claire Keyes“, wiederholte sie.

„Hör ich zum ersten Mal.“

Claire wies mit dem Finger auf das Schild an der Wand.

„Keyes, wie die Schwester von Nicole.“

Nun wurden die Augen des Teenagers sogar noch größer. „Oh, mein Gott. Das gibt’s doch gar nicht. Sind Sie es wirklich? Die Klavierspielerin?“

Claire wand sich. „Genau genommen bin ich Konzertpianistin.“ Solistin, aber warum kleinlich sein? „Ich bin gekommen, weil Nicole operiert wird. Jesse rief mich an und bat mich ...“

„Jesse?“ Die Stimme des Mädchens wurde schrill. „Das kann doch nicht wahr sein. Sie machen wohl Witze? Oh, mein Gott! Ich kann es nicht glauben.“ Während sie noch sprach, bewegte sie sich schon rückwärts in Richtung der Hintertür. „Nicole wird sie umbringen. Wenn sie es nicht schon getan hat. Ich will bloß ...“ Sie hob die Hand. „Warten Sie hier, okay? Ich bin gleich wieder da.“

Noch bevor Claire etwas sagen konnte, verschwand das Mädchen nach hinten.

Claire rückte die Tasche auf der Schulter zurecht und inspizierte die Auslagen in der Glastheke. Da lagen mehrere Torten und ein paar Kuchen neben verschiedenen Broten. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie den ganzen Tag über noch nichts gegessen hatte, denn im Flugzeug war sie viel zu nervös gewesen, um irgendetwas zu sich zu nehmen.

Vielleicht sollte sie sich doch ein Rosmarin-Knoblauch-Brot mitnehmen und dann bei einem Feinkostladen halten, um ...

„Was zum Teufel wollen Sie hier?“

Claire musterte den Mann, der da auf sie zukam. Er war groß und hatte etwas Raues an sich, mit seiner gebräunten Haut und diesem Körper, der darauf schließen ließ, dass er entweder mit physischer Arbeit seinen Lebensunterhalt verdiente oder aber viel zu viel Zeit im Fitnessstudio zubrachte. Sie riss sich zusammen, um nicht beim Anblick seines karierten Hemdes und der abgetragenen Jeans die Nase zu rümpfen.

„Ich bin Claire Keyes“, begann sie.

„Ich weiß, wer Sie sind. Ich habe gefragt, weshalb Sie hier sind.“

„Nein, Sie haben gefragt, warum zum Teufel ich hier bin. Das ist ein Unterschied.“

Er kniff die Augen zusammen. „Und der wäre?“

„Die eine Frage impliziert ein ernsthaftes Interesse an der Antwort, während die andere mir zu verstehen gibt, dass ich Sie irgendwie verärgert habe. Es interessiert Sie nicht wirklich, warum ich gekommen bin, Sie wollen mich bloß wissen lassen, dass ich nicht willkommen bin. Und das ist schon eigenartig, wenn man in Betracht zieht, dass wir beide uns noch nie begegnet sind.“

„Ich bin mit Nicole befreundet, da muss ich Ihnen nicht begegnen, um alles über Sie zu wissen, was nötig ist.“

Autsch. Claire verstand nichts mehr. Wenn Nicole noch immer wütend auf sie war, warum hatte Jesse sie dann angerufen und durchblicken lassen, dass sich die Dinge geändert hätten. „Und wer bitte sind Sie?“

„Wyatt Knight. Nicole ist mit meinem Stiefbruder verheiratet.

Nicole war verheiratet? Seit wann? Und mit wem?

Bei diesen Fragen fühlte sie eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen. Ihre eigene Schwester hatte es nicht für nötig befunden, ihr von der Hochzeit zu erzählen oder sie gar einzuladen. War das nicht absolut armselig?

Die Emotionen huschten über Claires Gesicht, aber Wyatt unternahm keinen Versuch, darin zu lesen. Frauen und ihre Gefühle waren ein Geheimnis, das sterbliche Männer besser ungelüftet ließen. Der Versuch, das weibliche Gemüt zu begreifen, konnte einen Mann nur in den Alkoholismus treiben und am Ende umbringen.

Stattdessen taxierte er die große, schlanke Blondine, die vor ihm stand, und suchte nach Ähnlichkeiten zu Nicole und Jesse.

Ihre Augen, dachte er, während er deren große, blaue Iris betrachtete. Vielleicht auch der Schwung ihres Mundes. Die Haarfarbe ... irgendwie. Nicole war einfach blond. Claires Haar hingegen glänzte in einem Dutzend verschiedener Schattierungen.

Weitere Gemeinsamkeiten aber gab es nicht. Nicole war seine Freundin, jemand, den er seit Jahren kannte. Eine Frau, die gut genug, aber normal aussah. Claire war ganz in off-white gekleidet, von ihrem viel zu langen Mantel angefangen bis hin zum Pullover und der Hose, die sie darunter trug. Auf ihn wirkte sie wie eine Eisprinzessin ... und zwar eine böse.

„Ich würde gerne meine Schwester sehen“, sagte Claire mit Entschiedenheit. „Ich weiß, sie ist im Krankenhaus, aber ich weiß nicht genau, in welchem.“

„Das werde ich Ihnen auf gar keinen Fall sagen. Ich habe keine Ahnung, was Sie hierher geführt hat, Lady, aber ich kann Ihnen versichern, Nicole will Sie nicht sehen.“

„Da habe ich etwas anderes gehört.“

„Von wem?“

„Jesse. Sie hat mir gesagt, dass Nicole nach ihrer Operation Hilfe brauchen wird. Gestern rief sie mich an, und heute bin ich hierhergeflogen.“ Sie streckte das Kinn ein wenig vor. „Ich werde nicht weggehen, Mr. Knight, und Sie werden mich wohl kaum dazu zwingen können. Ich werde meine Schwester sehen. Und wenn Sie es für richtig halten, mir die Information zu verweigern, wo sie ist, werde ich ganz einfach jedes einzelne Krankenhaus in Seattle anrufen, bis ich sie gefunden habe. Nicole ist meine Familie.“

„Seit wann?“, murmelte er, wobei ihm der trotzige Winkel in der Form ihres Kinns ebenso bekannt vorkam wie der entschiedene Ton ihrer Stimme. Die beiden waren also doch Zwillinge, die vieles gemein hatten.

Warum hatte Jesse das getan? Wollte sie etwa noch mehr Schwierigkeiten machen? Oder hatte sie nur versucht, für eine verzweifelte Situation eine Lösung zu finden? Fakt war, dass Nicole Hilfe brauchte, und sie war doch mindestens so kompliziert, dass sie niemals darum bitten würde. Er wollte ja tun, was er konnte, aber er musste ein Geschäft am Laufen halten und sich um Amy kümmern. Unter keinen Umständen würde Nicole Drew in ihrer Nähe dulden, einmal vorausgesetzt, dass sein nichtsnutziger Bruder nicht eh davongelaufen war, um sich irgendwo zu verstecken. Jesse war eine noch schlechtere Alternative, womit genau genommen niemand mehr übrig blieb.

Wieso sollte eigentlich er die Entscheidung treffen? Er unterdrückte einen Fluch. „Wo werden Sie wohnen?“

„Im Haus. Wo sonst?“

„Prima. Tun Sie das. Nicole wird in zwei Tagen zurück sein, dann können Sie es mit ihr ausmachen.“

„Ich werde keine zwei Tage darauf warten, dass ich sie sehen kann.“

Selbstsüchtig, verzogen, egoistisch, narzisstisch. Wyatt erinnerte sich an die ihm wohlbekannte Aufzählung, wenn Nicole sich über ihre Schwester beklagte. Im Augenblick konnte er jedes einzelne dieser Attribute sehr gut nachvollziehen.

„Hören Sie zu“, sagte er. „Sie können im Haus warten oder nach Paris zurückfliegen, oder wo immer Sie wohnen mögen.“

„New York“, verbesserte sie ihn gelassen. „Ich lebe in New York.“

„Egal. Worauf ich hinaus will, ist, dass Sie Nicole nicht sehen werden, bevor sie nicht wenigstens zwei Tage Zeit hatte, sich zu erholen, selbst wenn das bedeuten sollte, dass ich in ihrem Krankenzimmer Wache schieben müsste. Haben Sie das verstanden? Sie hat nach der Operation schon genug Schmerzen. Auf eine Nervensäge wie Sie kann sie da sehr gut verzichten.“

2. KAPITEL

Wie ein angestochener Ballon sank Claire in sich zusammen, woraufhin Wyatt sich wie das größte Arschloch diesseits der Rocky Mountains fühlte. Er redete sich ein, dass alles Theater war, denn schließlich war sie dazu geboren, den Menschen etwas vorzuspielen, und konnte mit den Jahren nur besser darin geworden sein. Sie, die behauptete, so sehr an ihrer Schwester zu hängen, hatte sich schließlich nicht ein einziges Mal in all den Jahren, die er Nicole jetzt kannte, hier oben sehen lassen. Nicht zu Geburtstagen und noch nicht einmal zu der verfluchten Hochzeit ihrer Schwester. Jesses Abschluss von der Highschool hatte sie ebenfalls versäumt. Sie war einfach nur gut in ihrer Opferrolle, das war alles. Und er würde sich nicht auf ihr Spiel einlassen.

Gerade als er vorhatte, sich umzudrehen und zu gehen, richtete sie sich auf, nahm die Schultern zurück, reckte das Kinn hoch und sah ihm gerade in die Augen. „Meine Schwester hat mich angerufen.“

„Das hatten Sie bereits gesagt.“

„Und Sie glauben mir nicht.“

„Es interessiert mich einfach nicht genug, als dass ich so oder so darüber urteilen würde.“

Sie neigte den Kopf, sodass ihr langes, glänzend blondes Haar über eine Schulter fiel. „Nicole hat in Ihnen einen guten Freund. Ich hoffe, sie weiß das zu schätzen.“

Jetzt ist sie also dazu übergegangen, mich einzuwickeln, dachte er. Bei jemandem, der nicht über sie aufgeklärt war, dürfte das allerdings eine sehr effektive Strategie sein.

„Jesse hat mich angerufen“, fuhr sie fort. „Sie hat mir von der Operation erzählt. Ihnen dürfte ja wohl klar sein, dass so viel schon mal stimmt, denn woher sollte ich es sonst wissen? Jesse hat mir auch gesagt, dass Nicole möchte, dass ich ihr hinterher behilflich bin, und dass sie sich freut, wenn ich komme. Unter diesen Umständen neige ich dazu, ihr eher zu glauben als Ihnen.“

„Ich kann Ihnen versichern, dass Nicole bis zwanzig Minuten vor ihrer Operation keinen Schimmer davon hatte, dass Sie hier auftauchen würden. Glauben Sie mir. Sie hätte es erwähnt.“

Claire runzelte leicht die Stirn. „Das alles ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Weshalb sollte Jesse denn lügen? Und warum sollten Sie das tun?“

„Das würde ich auch nicht.“

Sie wirkte ehrlich verwirrt, und Wyatt nahm es ihr beinahe ab. Diese verzwickte Situation trug deutlich Jesses Handschrift. Es stellte sich die Frage, warum die Kleine das getan hatte? Nur, um alles noch schlimmer zu machen? Oder wollte sie Nicole tatsächlich helfen? Bei Jesse war das schwer zu sagen.

„Ich werde bleiben“, sagte Claire. „Nur, damit Sie Bescheid wissen. Ich werde bleiben, und ich werde ins Krankenhaus gehen, und ...“

„Nein.“

„Aber ich ...“

„Nein.“

Sie sah ihn an. „Sie sind sehr entschlossen.“

„Ich beschütze, was mir gehört.“

In ihren Augen flackerte etwas auf. Etwas Kleines und Trauriges, von dem Wyatt gar nicht wissen wollte, was es war.

Schließlich sagte Claire: „Also gut. Ich werde so lange in ihrem Haus warten, bis Nicole so weit ist, dass sie nach Hause kommen kann. Dann können wir gemeinsam herausfinden, was überhaupt los ist.“

„Glauben Sie mir, es wäre leichter, wenn Sie einfach wieder nach New York zurückgingen.“

„Ich mache es mir nicht leicht. Das habe ich noch nie getan. Schätze, das ist mein Berufsrisiko.“

Wyatt hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Glaubte sie etwa, ihr würde irgendwer abnehmen, dass es hart wäre, für einen Haufen reicher Leute in fantastischen Städten Europas Klavier zu spielen?

Er zuckte die Schultern. Schließlich konnte er Nicoles Schwester nicht dazu zwingen, wieder zu verschwinden. Er würde sich da raushalten, solange sie nicht versuchte, Nicole im Krankenhaus zu nerven.

„Nicole wird also in zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen?“, fragte Claire.

„So etwas in der Art.“

Sie lächelte ihn an. „Sie sind sehr entschlossen, keinerlei Information preiszugeben, Mr. Knight. Da ich aber nun einmal im selben Haus wohnen werde, wird es schwierig sein, Nicoles Ankunft vor mir zu verbergen.“

„Mein Name ist Wyatt. Ich bin nicht Ihr Boss, und Sie sind nicht mein Banker.“

„Ihre Angestellten sprechen Sie also mit dem Nachnamen an?

„Nein. Ich wollte damit nur etwas klarstellen.“

„Mein Banker nennt mich Claire.“

„Das tut mein Banker nicht.“

Ihr Lächeln schwand. „Sie mögen mich nicht besonders.“

Er machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten.

„Sie kennen mich doch überhaupt nicht“, fuhr sie fort. „Das ist ja wohl kaum fair.“

„Ich weiß genug von Ihnen.“

Sie erstarrte, als ob er sie geschlagen hätte. Egoistisch und sensibel zugleich, dachte er grimmig. Eine teuflische Kombination.

Claire machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Bäckerei. Wyatt ging ihr nach, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich ins Auto stieg und wegfuhr.

Er sah sich auf dem Parkplatz um und erwartete beinahe, eine Stretchlimousine oder einen Mercedes vorzufinden. Claires Mietwagen jedoch war nur ein Viertürer mittlerer Größe mit Gepäck, das sich auf dem Rücksitz stapelte.

„Wie viel Mist haben Sie eigentlich mitgeschleppt?“, platzte die Frage aus ihm heraus, bevor er sich bremsen konnte. „Hat nichts mehr in den Kofferraum gepasst?“

Sie blieb stehen und sah ihn an. „Nein. Das ist alles, was ich dabeihabe.“

„Was haben Sie denn gegen den Kofferraum? Hatten Sie Angst, Sie könnten sich einen Nagel abbrechen?“

„Um in Ihrer eleganten Ausdrucksweise zu bleiben, ich spiele Klavier, und deshalb habe ich auch keine langen Fingernägel.“ Sie richtete sich auf und schien sich gegen ihn zu wappnen. „Wie ich Ihnen schon sagte, ich lebe in New York und dort habe ich keinen Wagen. Überhaupt fahre ich nirgendwo viel. Daher habe ich einfach nicht herausfinden können, wie man den Kofferraum öffnet.“

Nun wusste er, weshalb sie sich gewappnet hatte. Sie wartete nur darauf, dass er ihr wieder einen Schlag versetzte. In der Tat, es war eine nette kleine Falle und ihm fielen hundert billige Witze dazu ein. Wer wusste denn nicht, wie man einen Kofferraum öffnete? Das konnte sogar seine achtjährige Tochter.

Was ihn davon abhielt, dies und anderes zu äußern, war die Tatsache, dass sie nur darauf wartete, von ihm auseinandergenommen zu werden, und dass sie ihm eine verwundbare Stelle gezeigt hatte, obwohl sie genau wusste, dass er sie nicht mochte. Wyatt war es völlig gleichgültig, ob sie ihn für einen gemeinen Mistkerl hielt, aber wie ein Rüpel würde er sich dennoch nicht verhalten.

Er ging also zu ihr, nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und wies auf den Anhänger. „So etwas schon einmal gesehen? Die kleinen Bildchen sagen Ihnen, was die einzelnen Knöpfe tun.“ Er drückte auf den Knopf, mit dem der Kofferraum geöffnet wurde, und er sprang auf.

Claire grinste ihn an. „Im Ernst? Ist das alles?“ Sie ging hinüber und sah in die Öffnung. „Der ist ja riesig. Ich hätte mehr Gepäck mitbringen können. Gibt es noch andere Knöpfe?“

Sie war in einem Grad begeistert, wie es der Schlüsselanhänger gar nicht verdient hatte. „Sie kommen wohl nicht viel raus?

Ihr Lächeln breitete sich übers ganze Gesicht aus. „Sogar noch weniger, als Sie glauben.“

„Tür abschließen. Tür aufschließen. Der Panic Button.“

„Das ist ja total cool.“

Sie freute sich wie ein Kind über ein neues Spielzeug. Damit hält sie mich doch nur zum Narren, dachte er.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie schließlich. „Im Ernst, in dieser Mietwagengarage kam ich mir vor wie ein Idiot. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.“ Sie zog die Nase kraus. „Wenn doch bloß das Fahren auch so einfach wäre. Müssen die Leute auf der Autobahn eigentlich so rasen?“

Er hatte nicht die geringste Idee, was er von ihr halten sollte. Aufgrund der gelegentlichen Kommentare, die Nicole über ihre Schwester abgab, wusste er, dass er ihr nicht trauen durfte. Aber während sie tatsächlich so unpraktisch war, wie Nicole behauptet hatte, war sie doch nicht annähernd so kalt und distanziert.

Es war ja nicht sein Problem, erinnerte er sich.

Dann hielt er Claire den Schlüssel hin und sie griff danach, um ihn zu nehmen. Eine Sekunde lang, vielleicht auch zwei, kam es dabei zu einer Berührung. Seine Finger auf ihrer Handfläche. Es war nur ein kurzes Streifen über Haut, und völlig belanglos. Wenn nur nicht plötzlich ein Feuer in ihm ausgebrochen wäre.

Du verfluchter Hurensohn, dachte er grimmig, riss seine Hand zurück und steckte sie in die Jackentasche. Auf keinen Fall. Nicht sie. Lieber Gott, jede andere außer ihr.

Claire plapperte weiter, vermutlich dankte sie ihm. Er hörte nicht mehr zu. Stattdessen fragte er sich, warum von allen Frauen der Welt es ausgerechnet sie war, die bei ihm diese heiße, leuchtend helle sexuelle Energie auslöste.

Die Frau mit der ruhigen Stimme aus dem Navigationssystem leitete Claire zu dem Haus, in dem sie die ersten sechs Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Direkt davor fand sie in der schmalen Straße einen Parkplatz, und zwar gleich in der Auffahrt, sodass sie nur vorwärts hineinfahren musste, um ihn zu belegen. Niemals würde sie in der Lage sein, rückwärts einzuparken.

Sie stellte den Motor ab, stieg aus und schloss den Wagen ab, indem sie den Schlüsselanhänger zum Einsatz brachte. Es war zwar albern, aber sie war stolz auf sich selbst, und so ging sie ums Haus herum nach hinten, wo sie den Ersatzschlüssel an dem Platz fand, den Jesse ihr bezeichnet hatte. Sie schloss die Hintertür auf und betrat das Haus.

Seit Jahren hatte sie dieses Haus nicht mehr von innen gesehen. Fast zwölf, dachte sie und erinnerte sich an die einzige Nacht, die sie unter diesem Dach verbracht hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war. Eine Nacht, in der Jesse sie wie eine Fremde angestarrt und Nicole sie mit offenkundiger Abscheu angefunkelt hatte. Und nicht, dass Nicole sich mit schweigender Kommunikation zufriedengegeben hätte. Mit sechzehn fühlte sie sich sehr wohl dabei, ihre Meinung laut zu verkünden.

„Du hast sie umgebracht“, schrie sie. „Du hast sie uns weggenommen und dann hast du sie getötet. Das werde ich dir nie verzeihen. Ich hasse dich. Ich hasse dich.“

Lisa, Claires Managerin, hatte sie damals von dort weggeholt. Sie hatten eine Suite im Four Seasons gemietet und bis nach der Beerdigung dort gewohnt. Anschließend waren sie gleich von Seattle nach Paris geflogen. Frühling in Paris, hatte Lisa gesagt. Die Schönheit der Stadt würde sie heilen.

Das hatte sie nicht getan. Erst die Zeit hatte die Wunden geschlossen, die Narben aber waren immer noch vorhanden. „Springtime in Paris“ – die Worte erinnerten sie an den Song, und jedes Mal, wenn sie ihn hörte, erinnerte sie sich umgekehrt an den Tod ihrer Mutter und daran, wie Nicole gebrüllt hatte, dass sie Claire hasste.

Claire schüttelte die Erinnerungen ab und ging in die Küche. Sie hatte sich verändert und wirkte jetzt irgendwie moderner und größer. Offensichtlich hatte Nicole das Haus renoviert, jedenfalls zum Teil. Sie sah sich weiter im unteren Stockwerk um und stellte fest, dass einige kleinere Zimmer zu größeren Räumen zusammengefügt worden waren. Es gab jetzt ein großes Wohnzimmer mit bequemen Sitzmöbeln in warmen Farben. An der Wand stand ein Glasschrank, der einen Flachbildfernseher und andere Elektronik verbarg. Das Esszimmer sah aus wie immer, aber das kleine Schlafzimmer hier unten war in eine Art Arbeitszimmer oder Rückzugsraum umgestaltet worden.

Das Haus war dunkel und kalt. Sie entdeckte den Thermostat und stellte die Heizung an. Ein paar Lampen sorgten dann auch für Licht, was das Haus aber nicht im Geringsten einladender machte. Vielleicht ist aber auch das Haus gar nicht das Problem, überlegte sie. Es mochte viel eher an ihr selbst liegen, und an den Erinnerungen, die sie nicht vertreiben konnte.

Das letzte Mal war sie zur Beerdigung ihres Vaters nach Seattle gekommen. Irgendein Mann hatte sie kurz angerufen und mitgeteilt, dass ihr Vater gestorben war. Vermutlich Wyatt, dachte Claire, als sie sich auf dem Rand des Sofas niederließ. Er hatte ihr Datum, Uhrzeit und Ort der Beerdigung bekannt gegeben und dann gleich wieder aufgelegt.

Anschließend hatte Claire unter Schock gestanden, denn sie hatte ja nicht einmal gewusst, dass ihr Vater überhaupt krank war. Niemand hatte es ihr gesagt.

Sie war sich im Klaren darüber, was man hier von ihr dachte – dass sie sich nichts aus ihrer eigenen Familie machte, dass ihr alles gleichgültig war. Wie oft hatte sie versucht, zu erklären, dass sie schließlich diejenige war, die fortgeschickt wurde. Ihren Schwestern hatte man erlaubt zu bleiben, wo sie in Sicherheit leben konnten und wo sie geliebt wurden. Nicole aber hatte das nie so sehen können. Sie war immer nur wütend.

Claire strich mit den Händen über das weiche Material der Couch. Nichts davon war ihr vertraut. Wyatt hatte recht, sie gehörte nicht hierher. Nicht, dass sie abreisen wollte. Nicole und Jesse waren schließlich alles, was ihr an Familie noch geblieben war. Claires Anrufe und Briefe in den letzten Jahren mochten sie ignoriert haben, aber nun war sie einmal hier, und sie würde nicht wieder gehen, bis sie irgendwie zu ihnen durchgedrungen war und sie sich versöhnt hatten.

Claire stand auf und ging die Treppe hoch ins obere Stockwerk. Dort gab es drei Schlafzimmer. Vor der Master Suite blieb sie stehen. Aufgrund der Farbanordnung und den Dingen, die auf dem Toilettentisch herumstanden, nahm sie an, dass Nicole jetzt wohl dort schlief. Am anderen Ende des Flurs befanden sich die beiden übrigen Schlafzimmer und das Bad, das sie miteinander teilten.

Einer der Räume sah aus wie ein typisches Gästezimmer mit dem viel zu ordentlichen Bett und den neutralen Farben. Das letzte Zimmer im Flur hingegen war ganz in Violett gehalten, mit Postern an den Wänden und einem Computer, der auf einem Schreibtisch stand, der eine ganze Ecke ausfüllte.

Claire betrat diesen Raum und sah sich um. Das Zimmer roch nach Vanille.

„Was hast du getan?“, fragte sie laut. „Jesse, hast du mich hereingelegt? Ist Nicole wirklich bereit, mir zu verzeihen?“

Verzweifelt wünschte sie sich, ihrer Schwester glauben zu können, aber sie merkte, dass sie doch Zweifel hegte. Wyatt war in seiner Abneigung ihr gegenüber sehr überzeugend gewesen.

Die Ungerechtigkeit, dass ein Fremder sie verurteilte, verursachte ihr Schmerzen in der Brust, aber sie ignorierte das Gefühl. Irgendwie würde sich alles regeln.

Sie ging wieder nach unten und wollte zum Haupteingang. Auf dem Weg dorthin entdeckte sie eine schmale Treppe, die in den Keller führte. Sie wusste, was sich dort unten befand.

Jede einzelne Zelle ihres Körpers warnte sie, es nicht zu tun. Nicht dort unten nachzusehen. Und dennoch kam sie erst wieder zu sich, als sie schon auf die Öffnung zuging und dann langsam, sehr langsam die Treppe hinabstieg.

Diese führte in einen Keller, und was irgendwann einmal als offener Raum angelegt worden war, wurde durch eine Wand unterteilt, in der sich eine Tür befand. Nicole hatte es also nicht eingerissen, dachte Claire und wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Bedeutete es etwa, dass es noch Hoffnung gab, oder wäre die Maßnahme einfach mit allzu viel Aufwand verbunden gewesen?

Die Hand schon auf die Türklinke gelegt, zögerte Claire. Wollte sie wirklich dort hinein?

Als Nicole und sie drei Jahre alt waren, hatten ihre Eltern sie einmal in das Haus eines Freundes mitgenommen. Keins der beiden Mädchen war vorher schon dort gewesen, und anfangs war der Besuch auch nicht weiter bemerkenswert verlaufen. Es war bloß einer dieser Regentage in Seattle und zwei Kleinkinder, die in einem Haus voller Erwachsener in der Falle saßen.

Dann hatte einer der Gäste versucht, den Mädchen ein wenig Unterhaltung zu bieten, indem er Klavier spielte. Nicole war es schnell langweilig geworden und sie hatte sich bald getrollt. Claire aber hatte sich auf die harte Bank zu ihm gesetzt und war völlig verzaubert von den Tasten und den Tönen, die sie hervorriefen. Nach dem Mittagessen war sie dann allein zurückgekehrt. Viel zu klein, um die weißen und schwarzen Tasten überhaupt sehen zu können, wusste sie doch, dass sie dort waren, und vorsichtig hatte sie über ihren Kopf hinweg nach oben gegriffen und angefangen, eins der Lieder zu spielen.

Auch wenn sie damals noch sehr jung war, Claire erinnerte sich an alles, was an diesem Nachmittag geschehen war. Wie ihre Mutter hereinkam und sie eine ganze Zeit lang beobachtet hatte. Wie sie sie dann auf ihren Schoß hob, sodass sie vor dem Klavier sitzen und die hübsche Musik viel leichter spielen konnte.

Sie hatte nie erklären können, woher sie wusste, welche Taste welchen Ton hervorrief, und wie die Musik scheinbar irgendwie in ihrem Innern entstand, nach oben blubberte und schließlich aus ihr herausfloss. Es war eins dieser Dinge, die einfach geschehen und nichts weiter als die Marotte eines ansonsten unauffälligen Genpools sind.

Auch Nicole hatte auf dem Schoß ihrer Mutter gesessen, aber sie hatte kein Interesse am Klavierspiel gezeigt, und wenn sie ihre kleinen Hände auf die Tasten legte, kam dabei nur Lärm heraus.

Dieser Tag hatte alles verändert. Schon zwei Tage später begann Claire mit dem Unterricht. Dann wurden die Arbeiten im Keller aufgenommen und ein schalldichter Übungsraum gebaut. Zum ersten Mal in ihrem Leben taten die Zwillinge nicht mehr genau dasselbe zur selben Zeit. Die Musik und Claires Talent hatten sich zwischen sie gestellt.

Claire stieß die Tür auf und konnte das Klavier sehen, dass ihr als Kind so wunderschön und perfekt erschienen war. Vermutlich hatten die Kosten das Sparkonto ihrer Eltern damals ganz schön dezimiert, wenn nicht mehr als das. Inzwischen hatte Claire auf vielen der berühmtesten Konzertflügeln der Welt gespielt, aber an keinen erinnerte sie sich so gut wie an dieses Klavier.

Sie stand davor und starrte auf den Staub der Abdeckung. Wahrscheinlich war es seit Jahren nicht benutzt worden und musste gestimmt werden.

Sie verspürte nicht im Geringsten den Wunsch, darauf zu spielen. Schon der Gedanke daran, sich auch nur auf die Bank zu setzten, schnürte ihr die Brust zu. Sie zwang sich dazu weiterzuatmen und sagte sich, dass sie es ja auch nicht tun müsse. Alles war in Ordnung. Nicht einmal Ausreden würde sie nun erfinden müssen, um sich vor den Stunden der Meisterklasse zu drücken, denn schließlich trennte sie nun ein ganzer Kontinent von dieser Welt.

Am Rande ihres bewussten Denkens lauerte die Panik und Claire kämpfte dagegen an. Als die sich aber partout nicht vertreiben ließ, zog sie sich nach oben auf sichereres Terrain zurück, und sobald sie das Parterre betreten hatte, konnte sie auch wieder leichter atmen.

Sie nahm sich vor, das Klavier zu ignorieren, einfach so zu tun, als sei es überhaupt nicht mehr hier. Mit einer Ausnahme – sie wollte es stimmen lassen. Ihr lebenslanges Training ließ einfach nicht zu, dass sie es vernachlässigt stehen lassen konnte.

Nachdem sie im Keller den Dämon zwar nicht besiegt, aber immerhin doch ziemlich wütend angestarrt hatte, ging sie zum Wagen und schleppte ihre zwei Koffer herein, die sie die Treppe hinaufzog und ins Gästezimmer stellte. Dann ging sie zurück in die Küche, um sich etwas zu Essen zu machen.

Da gab es nicht viel. Sie entdeckte aber eine Dosensuppe, die sie sich auf dem Herd anwärmen konnte. In der Zwischenzeit nahm sie ein Telefonbuch zur Hand und fing an, Krankenhäuser anzurufen. Bald schon hatte sie das gefunden, in dem ihre Schwester lag. Man bot ihr an, sie mit dem Schwesternzimmer zu verbinden, was Claire aber ablehnte. Dann legte sie auf.

Das Gute daran war, dass sie jetzt wusste, dass die Operation offensichtlich gut verlaufen war, denn Nicoles Zimmer lag auf einer normalen und nicht der Intensivstation. Weniger gut war natürlich, dass, jedenfalls Wyatt zufolge, Nicole von Claires Besuch gar nichts wusste und keinerlei Interesse daran hatte, sie zu sehen. War sie etwa den ganzen Weg umsonst gereist?

Sie checkte ihr Handy und stellte fest, dass sie zwei Anrufe von Lisa erhalten hatte. Da ihre Managerin unmöglich etwas sagen könnte, was sie hören wollte, löschte Claire die Nachrichten einfach, ohne sich die Mühe zu machen, sie abzuhören.

Während sie die Suppe gleich aus dem Topf löffelte, blieb sie an der Spüle stehen und sah in den kleinen, eingezäunten Garten hinter dem Haus.

Sie wusste doch, wann die Dinge mit Nicole angefangen hatten schiefzulaufen. Sie wusste genau, was das Problem war. Warum also konnte sie es nicht lösen?

Egal. Sie war hier, in diesem Haus, und entschlossen, Nicole und Jesse in ihr Leben zurückzuholen. Was auch immer die beiden tun oder sagen mochten, sie würden sie nicht wieder los. Claire würde sie dazu bringen, sie zu lieben, und um gekehrt würde sie die beiden lieben. Sie waren ihre Familie, und das war wichtiger als alles andere.

Nicole gab ihr Bestes, um sich nicht zu bewegen. Alles tat ihr weh. Der Schmerz war zwar durch die Wunderwirkung moderner Medikamente gedämpft, aber dennoch war er vorhanden, lauernd und bedrohlich. Sie ignorierte sein Stechen und pries den unbekannten Erfinder von Betten, die mit einem Knopfdruck aufgerichtet und wieder abgesenkt werden konnten. Die nächsten sechs bis acht Jahre würde sie jetzt einfach hier so liegen bleiben, bis sie wiederhergestellt war.

Jemand betrat das Zimmer. Sie hörte Schritte und wappnete sich schon gegen die unvermeidliche Fragerei und die aufmunternden Sprüche, die nun folgen würden. Stattdessen war dann aber nur Schweigen. Sie öffnete die Augen und sah Wyatt neben ihrem Bett stehen.

Sie fühlte sich einfach mies und ging davon aus, dass sie auch nicht wesentlich besser aussah. In solchen Momenten war sie dankbar, dass sie und Wyatt immer nur gute Freunde waren.

„Da wird bestimmt eine Wahnsinnsnarbe zurückbleiben“, teilte er ihr mit.

„Männer stehen auf Narben“, flüsterte sie mit trockenem Mund. „Ich werde sie mit dem Stock verjagen müssen. Nicht, dass ich mir vorstellen kann, jemals wieder die Kraft zu besitzen, einen Stock heben zu können. Ob ich sie wohl auch mit einem Strohhalm vertreiben kann? Mit einem Strohhalm könnte ich umgehen.“

„Ich werde da sein und helfen.“

„Da habe ich aber Glück.“

Er streichelte ihr über die Wange, zog einen Stuhl heran und setzte sich. „Wie fühlst du dich?“

Sie brachte ein Lächeln zustande. „Das fällt unter die Kategorie der wirklich dummen Fragen. Ist dir eigentlich klar, was der Begriff Operation alles beinhaltet? Man hat mich aufgeschlitzt und in Scheibchen geschnitten, und ich denke daran, schmerzmittelsüchtig zu werden.“

„Die Entziehungskur würde dir nicht gefallen. Dafür bist du zu zynisch.“

„Und reizbar. Vergiss das nicht, reizbar.“ Sie wies auf einen Plastikbecher, der auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand. „Könntest du mir den bitte reichen?“

Wyatt nahm ihn und hielt ihn ihr hin. Sie wollte einen Schluck riskieren. Beim letzten Mal hätte sie sich danach fast übergeben müssen, aber eine sehr gemein aussehende Krankenschwester hatte sie davon in Kenntnis gesetzt, dass sie anfangen müsse, wieder zu trinken und zu pinkeln. Nicole hatte nicht verstanden, wozu das gut sein sollte, aber die Schwester hatte darauf beharrt.

Also trank sie einen kleinen Schluck und erschrak, als eine Welle von Übelkeit sie durchschwemmte. Aber zumindest war es diesmal weniger heftig als beim ersten Mal. Sie nippte also noch ein zweites Mal, und diesmal spürte sie von all dem kaum noch etwas. Ein Fortschritt.

Sie gab Wyatt das Wasser zurück und atmete tief durch.

„Erzähl mir was. Ich höre dir zu. Aber bitte keine Scherze. Ich will nicht lachen. Das würde mir zu sehr wehtun.“

Wyatt beugte sich vor und nahm ihre Hand. „Ich war in der Bäckerei. Da ist alles in Ordnung.“

„Gut. Sie werden ohne mich klarkommen. Sie wissen, wie man das Geschäft führt. Da brauche ich mir um nichts Sorgen zu machen.“

Natürlich würde sie sich Sorgen machen, einfach schon, weil es in ihrer Natur lag, aber es war doch gut zu wissen, dass es nicht nötig war.

„Also, hm, ich bin dort jemandem begegnet.“

Trotz ihrer Schmerzen und den Medikamenten schlug Nicole die Augen auf. Da war etwas in der Art, wie Wyatt sie nicht anschaute. Fast schon irgendwie ... schuldbewusst.

„Eine Frau?“

Er nickte.

Sie verstand nicht. Was sollte denn jetzt das Problem sein? Er war jemandem begegnet. Das war doch gut so. „Dann geh doch mit ihr aus!“

„Wie bitte?“ Er richtete sich auf und starrte sie an. „Du hast nicht ...“ Er beugte sich wieder zu ihr vor. „Ich wollte nicht sagen, dass ich jemandem begegnet bin, den ich mag. Ich habe jemanden getroffen, mit dem ich dort nicht gerechnet hatte.“

„Vielleicht liegt es ja an der Operation und allem, aber ich werde nicht schlau aus dem, was du sagst.“

„Ich bin Claire begegnet.“

„Welcher Claire?“ Aber noch während sie die Frage aussprach, hatte sie die Antwort auch schon gefunden. Claire, ihre Schwester. Claire, die Perfekte, die Prinzessin. Die Konzertpianistin und Solistin. Die Weltreisende. Die reiche Tussi. Ihre selbstsüchtige, narzisstische, hohle, grausame, schreckliche Schwester.

„Unmöglich“, murmelte sie und schloss die Augen. Schlaf wäre gut, sagte sie sich. Sie würde jetzt schlafen und all das würde einfach verschwinden.

„Wie es aussieht, hat Jesse sie angerufen und ihr von deiner Operation erzählt, also ist sie eingeflogen.“

Nicole riss die Augen wieder auf. „Wie bitte?“

„Sie ist hier, um dir während deiner Genesung zu helfen.“

Würde Nicole sich nicht so elend und benebelt gefühlt haben, hätte sie jetzt gelacht. „Hilfe? Sie will helfen? Wo zum Teufel hat sie sich denn die letzten zweiundzwanzig Jahre herumgetrieben? Wo war sie denn, als ich hier festsaß und mich um Jesses Erziehung und die Bäckerei kümmern musste? Wo war sie, als unsere Mutter wegging, nur um bei ihr zu sein, und dann gestorben ist? Wo war sie, als Dad starb? Macht sie sich tatsächlich die Mühe, einmal hier aufzutauchen? Ich kann es nicht glauben. Sie muss sofort verschwinden. Sie soll ihren Arsch mit den Designerklamotten aus meiner Stadt heben und in ihre Cocktail-Party-Kreise zurücktragen, oder wo sonst sie die vergangenen ...“

Nicole hatte den Fehler gemacht zu versuchen, sich allein aufzusetzen. Der Schmerz zerriss sie, nahm ihr den Atem und ließ sie laut aufstöhnen. Sie sank aufs Bett zurück und schloss die Augen. Claire hier? War ihr Leben ohne sie etwa noch nicht ätzend genug?

„Ich hasse sie.“

„Ich weiß.“ Wyatt drückte ihre Hand. „Sie glaubt, sie würde helfen.“

Es ist einfach zu viel, dachte Nicole. „Im Moment kann ich nicht mit ihr umgehen. Halt sie einfach von mir fern. Im Ernst, Wyatt, lass nicht zu, dass sie hierher ins Krankenhaus kommt.“

„Ich werde es verhindern“, versprach er und küsste sie auf die Stirn.

Ein guter Kerl, dachte sie beim Einschlafen. Einer der besten. Warum bloß war ich nicht so klug, mich in ihn zu verlieben? Aber nein, es musste ja Drew sein. Eine einzige Katastrophe, das Ganze. Und jetzt auch noch Claire? Was mochte als Nächstes kommen? Heuschrecken?

Claire traf viel zu früh im Krankenhaus ein, um Nicole abzuholen. Am Tag zuvor hatte sie die Fahrt zweimal geprobt, um sich mit der Strecke vertraut zu machen. Auch das Fahren selbst war nun etwas weniger beängstigend. Solange sie sich von den Autobahnen fernhielt, fühlte sie sich schon beinahe kompetent. Bei der Gelegenheit hatte sie auch mit Nicoles Krankenschwester gesprochen und ihr erklärt, dass sie zur Familie gehöre und dass sie, Claire, sie abholen wolle. Daraufhin wurde ihr mitgeteilt, wann sie ungefähr entlassen wurde. Also war Claire jetzt hier und bereit zu helfen.

Sie versuchte, nicht allzu viel über Wyatts Behauptung nachzudenken, dass Nicole von ihrem Besuch keine Ahnung hatte und sich kaum darüber freuen würde, sie zu sehen. Trotz ihrer wiederholten Versuche, Jesse auf dem Handy zu erreichen, war es ihr weder gelungen, sie zu erwischen, noch hatte Jesse auf ihre Nachrichten reagiert. Offensichtlich war da irgendetwas im Schwange, aber Claire war zuversichtlich, dass es sich um kaum mehr als ein Missverständnis handeln konnte, das leicht aufzuklären war. Zumindest war es das, was sie sich immer dann einredete, wenn sich ihr der Magen umdrehte oder die Brust anfing, enger zu werden.

Als sie aus dem Fahrstuhl trat, fasste sie ihre Handtasche etwas fester und begann, den langen Flur hinunterzugehen. Schilder wiesen ihr den Weg zum Schwesternzimmer, jedoch bevor sie dort noch ankam, entdeckte sie Nicole in einem Rollstuhl, der von einer Pflegerin geschoben wurde, und Wyatt, der die Nachhut bildete.

Claire wurde von Gefühlen übermannt, sodass sie einfach stehen blieb und ihre Schwester anstarrte, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Nicole sah gut aus, zwar etwas blass, aber das war ja verständlich. Die Frau war schließlich gerade operiert worden. Über einem T-Shirt trug sie einen Kapuzen-Pullover mit Reißverschluss. Die Haare waren in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf der Stelle fühlte Claire sich overdressed.

„Nicole“, flüsterte sie voll überschwänglicher Freude. Sie waren wieder zusammen! Endlich.

„Oh, großer Mist“, knurrte Nicole. „Kann ich noch mehr Schmerzmittel haben?“

„Ihre Schwester?“, fragte die Pflegerin. „Sie sehen sich ähnlich. Fast wie Zwillinge.“

„Zweieiige“, stellte Nicole klar. „Und machen Sie nicht alles noch schlimmer, indem Sie davon sprechen.“

Wyatt legte ihr die Hand auf die Schulter. „Ich werde mich darum kümmern.“ Er ging zu Claire hinüber. „Was wollen Sie hier? Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen nicht hierherkommen.“

Claire ignorierte ihn einfach, und ebenso die höhnischen Bemerkungen ihrer Schwester. Stattdessen lief sie zu Nicole und hockte sich vor ihr auf den Boden. Gern hätte sie sie umarmt, fürchtete jedoch, es könnte ihr wehtun. Daher gab sie sich damit zufrieden, nach Nicoles Arm zu greifen und ihr lächelnd in die Augen zu sehen.

„Du siehst großartig aus. Wie geht es dir?“

Nicole starrte sie an. „Als ob man mir ein Organ herausgerissen hätte. Was tust du hier?“

„Ich fahre dich nach Hause.“

„Nein, das werden Sie nicht“, unterbrach Wyatt. „Deshalb bin ich hier.“

„Was machst du in Seattle?“, fragte Nicole. „Sag mir bitte, dass es nur ein kurzer Besuch ist, der in einer Stunde beendet ist.

„Ich habe von deiner Operation erfahren, deshalb bin ich hierhergeflogen, um mich um dich zu kümmern.“

„Wie süß von Ihnen“, meinte die Pflegerin.

„Ich brauche deine Hilfe nicht“, fauchte Nicole. „Verschwinde wieder.“

Claire musste all ihre Kräfte aufbieten, um auf diese geballte Feindseligkeit nicht zu reagieren. Sie sagte sich, dass ihre Schwester Schmerzen hatte und Wyatt sie nicht kannte. Sehr viel Zeit und massenhaft negative Emotionen hatten sich zwischen die Geschwister Keyes geschoben, da würde es mehr als einen Tag brauchen, um die alten Wunden zu heilen.

Am liebsten aber wäre sie aufgesprungen, hätte mit dem Fuß gestampft und darauf hingewiesen, dass sie hier die betrogene Partei war. Schließlich war es Nicole, die Claire vor Jahren den Rücken gekehrt hatte und sich seitdem weigerte, ihre Haltung zu überdenken. Nicole gab Claire die Schuld für Ereignisse, an denen sie ebenso litt wie ihre beiden Schwestern. Aber das anzusprechen, würde gar nichts bringen. Claire war hier, weil sie ein Ziel verfolgte.

Sie blieb also, wo sie war. „Ich werde nirgendwo hingehen. Du brauchst mich.“

Nicole stöhnte. „Ich brauche vieles, aber du gehörst bestimmt nicht dazu. Wyatt, hatte ich dich nicht bereits gebeten, mich zu erschießen? Hast du da zugehört?“

Wyatt legte ihr die Hand auf die Schulter. „Und ich hatte dir bereits gesagt, dass ich das nicht tun kann.“

„Männer sind zu nichts zu gebrauchen“, maulte Nicole und sah dann wieder zu Claire. „Möchtest du nicht vielleicht aufstehen, damit ich hier rauskann? Ich habe Schmerzen, ich bin müde, und ich will einfach nur nach Hause.“

„Mein Wagen steht vor der Tür“, erklärte ihr Claire. „Ich kenne den Weg, ich habe die Fahrt geprobt.“

„Wir sind ja alle so stolz auf dich.“

Die Pflegerin lächelte Claire mitfühlend an und schob ihre Patientin zu den Fahrstühlen. Unsicher, was sie tun oder sagen könnte, ging Claire ihnen langsam hinterher. Sie würde Nicole nicht zwingen können, sich in ihr Auto zu setzen. Vielleicht war es ja auch besser, es Wyatt zu überlassen, Nicole nach Hause zu bringen, wo Claire dann übernehmen könnte.

Dennoch, es schmerzte, zurückgewiesen und ignoriert zu werden. Sie hatte gehofft, alles wäre anders.

„Ich werde sie ändern“, nahm sie sich vor, während sie in den kalten Frühlingsmorgen hinausging.

Vor dem Eingang parkte ein großer Pickup-Truck. Wyatt öffnete die Tür auf der Beifahrerseite, dann hob er Nicole in den Wagen und ließ sie auf dem Sitz nieder.

Claire sah zu und ihr fiel auf, wie viel Zärtlichkeit und Sorgfalt er dabei an den Tag legte. Ihr tat das Herz weh, denn davon hätte sie gern selbst ein wenig für sich. Nicht von Wyatt natürlich, aber von irgendwem. Sie sehnte sich nach einem Mann, der sich um sie kümmerte, der sich um sie sorgte. Sie wünschte sich Freunde und eine Familie. Sie wollte ein Leben haben.

Das vor allem war es, was sie hier zu Hause suchte.

3. KAPITEL

Ich dachte, du lügst“, sagte Nicole, als sie vom Krankenhausparkplatz fuhren. „Oder dass ich schon Halluzinationen von all den Medikamenten hätte. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie hier ist. Sie ist vermutlich der Mensch auf der Welt, der am wenigsten zu irgendetwas zu gebrauchen ist. Warum ich? Warum jetzt?“

Diese Fragen konnte Wyatt ihr nicht beantworten, also hielt er den Mund. Über die Jahre hinweg hatte er genug von Claire gehört, um sich eine wenig schmeichelhafte Meinung über sie zu bilden. Heute im Krankenhaus aber hatte sie so hoffnungsvoll ausgesehen und zugleich so verletzt, dass sie ihm beinahe leidtat.

Das bewies natürlich nur, was für ein Idiot er war, wenn es um Frauen ging. Immer suchte er sich die Falsche. Seine Scheidung war der beste Beweis dafür. Nicole kannte ihre Schwester schließlich wesentlich besser, und er vertraute Nicole. Was sie sagte, traf zu.

„Was wirst du nun mit ihr machen?“, fragte er.

„Dich bitten, sie zu erschießen, wäre vermutlich Zeitverschwendung.“ Sie seufzte. „Ich weiß nicht. So tun, als ob sie Luft wäre, und hoffen, dass sie verschwindet.“

„Du wirst aber Hilfe brauchen können. Zumindest für ein paar Tage, denn du bist nicht in der Lage, dich selbst zu versorgen.“

Er hielt die Augen auf die Straße gerichtet, merkte aber, wie Nicole ihn verärgert anstarrte. „Das soll wohl ein Witz sein, denn du willst mir ja wohl nicht ernsthaft nahelegen wollen, dass ich sie bei mir wohnen lasse und ihr erlaube, dass sie versucht, sich um mich zu kümmern. Hast du eine Ahnung, wie unglaublich unpraktisch sie ist? Sie ist keine Person, Wyatt, sie ist ein trainierter Affe. Ich wundere mich schon, dass sie überhaupt Auto fahren kann. Ah Moment! Den Wagen habe ich ja gar nicht gesehen. Ich wette um jede Summe, dass es irgendeine Limousine mit Fahrer ist. Claire würde doch nicht ihre sensiblen, wertvollen Hände aufs Spiel setzen, um wirklich zu arbeiten. Ein Lenkrad in die Hand zu nehmen, könnte schließlich ihre Leistungsfähigkeit beeinträchtigen, und das wollen wir doch nicht.“

Wyatt hatte immer gewusst, dass die Schwestern nicht miteinander auskamen, und er kannte auch im Wesentlichen die Ursachen für die Entfremdung, aber das Ausmaß von Nicoles Wut und Verbitterung hatte er noch nie verstanden.

Nicole war verletzt worden, als Claire gegangen war, aber bis heute war ihm nicht klar gewesen, dass die Wunden so tief lagen. Hinter ihrem Sarkasmus und dem schwarzem Humor verbarg sie eine große Verletzung. Es passte zu Nicole, das verbitterte Weib zu spielen, um sich zu schützen.

„Ich kann abends nach der Arbeit vorbeikommen“, versprach er.

Sie krümmte sich auf dem Sitz zusammen, drückte ihren Arm gegen die Körpermitte und stöhnte. „Nein, das will ich nicht. Du musst dich um Amy kümmern. Ich werde schon klarkommen.“

„Nein, wirst du nicht.“

„Ich will nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt.“

Eigentlich sollte das alles überhaupt kein Problem sein, erinnerte er sich, denn als der Operationstermin geplant wurde, war Nicoles Mann Drew noch mit von der Partie.

Sowie Wyatt an seinen Stiefbruder dachte, verspürte er augenblicklich den Wunsch, ihn in den Boden zu stampfen. Was für ein Vollidiot! Schlimmer ging es ja wohl nicht! Drew hatte wirklich die Grenze überschritten, und Nicole würde ihm das nie verzeihen. Auch Wyatt selbst war sich keineswegs sicher, ob er noch in der Lage war, seinem Bruder zu vergeben.

Er warf einen Blick in den Rückspiegel und erkannte Claire in dem Auto hinter sich. Selbst auf die Entfernung von zwei Wagenlängen hin konnte er die Entschlossenheit in ihrem Gesicht erkennen und sah, wie sie todesmutig das Lenkrad umklammert hielt.

„Du solltest zu mir und Amy übersiedeln“, schlug er vor. „Das wäre die beste Lösung.“

„Nein.“

„Du bist wirklich ein Sturkopf.“

„Das gehört zu meinem Charme.“

Unter normalen Umständen hätte auch Jesse einspringen können, aber in naher Zukunft würde das nicht geschehen.

„Wenn du mich nicht willst, wirst du jemand anderes brauchen“, fuhr er fort. „Zumindest die ersten paar Tage. Claire kann einkaufen und dir etwas zu Essen machen.“

„Ha! Glaubst du etwa, die Pianoprinzessin könnte kochen?“

„Jedenfalls kann sie einen Lieferservice anrufen.“

„Das kann ich auch.“

„Und sie kann sich auch sonst um dich kümmern.“

„Hatte ich trainierte Affen nicht schon erwähnt? Die wären wesentlich hilfreicher. Oder einen dieser Diensthunde.“

„Sie ist deine Schwester.“

Nicole warf ihm einen wütenden Blick zu. „Sie war der Anfang meiner Pechsträhne.“

„Du übertreibst. Nutze sie doch einfach. Das sollte dir doch eigentlich Spaß machen.“

„Weniger als du glaubst.“

Sie erreichten das Haus, und nachdem sie geparkt hatten, kam Wyatt zur Beifahrerseite und öffnete die Tür.

Nicole sah ihn an. „Denk nicht mal daran, mich tragen zu wollen. Ich kann laufen.“

„Wann hat dich denn das letzte Mal ein Mann von den Füßen gehoben?“

„Das würde ich nie zulassen.“

„Du solltest mal an deinem Vertrauenspotenzial arbeiten.“

Und damit nahm er sie auf die Arme. Claire hatte die Hintertür schon aufgeschlossen und folgte ihnen ins Haus.

Er ging die Treppe hoch und in Nicoles Schlafzimmer. Irgendjemand, vermutlich war es Claire, hatte die Bettdecke zurückgeschlagen. Als er Nicole auf dem Bett absetzte, schnappte sie nach Luft und zwang sich zu einem Lächeln.

„Danke.“

Sie war ganz blass geworden und er wusste, dass sie Schmerzen haben musste.

„Wann darfst du wieder ein Schmerzmittel einnehmen?“

„Erst mal nicht. Im Krankenhaus haben sie mir eine Spritze gegeben. Es wird schon gehen.“

So sah sie allerdings nicht aus.

Er zog ihr die Sportschuhe aus und öffnete anschließend den Reißverschluss ihres Sweatshirts. Sie schlüpfte heraus und er warf es auf einen Stuhl.

Einen BH trug sie nicht. Er konnte erkennen, wie sich ihre Brüste unter dem dünnen T-Shirt abzeichneten, und wünschte, ihre Kurven könnten ihn reizen. Sich in Nicole zu verlieben, würde ihm eine Menge Probleme ersparen. Aber unglücklicherweise empfand er gar nichts.

Er deckte sie zu und setzte sich auf den Bettrand.

„Es ist ja nur für ein paar Tage“, redete er ihr zu. „Abends bleibe ich gerne bei dir und du weißt ja, dass Amy dich gern hat. Aber tagsüber brauchst du einfach Hilfe.“

Sie schloss die Augen.

„So schlimm wird es schon nicht werden“, tröstete er sie.

„Ich hasse dich.“

„Heißt das jetzt ja?“

Sie seufzte. „Also gut.“

Er stand auf. Claire lehnte im Türrahmen und er ging an ihr vorbei aus dem Zimmer, wo er wartete, dass sie ihm in den Flur und dann die Treppe hinunter folgte. Als sie in der Küche standen, sah er sie an.

„Sie sagten, Sie wären gekommen, um Ihre Schwester zu versorgen.“

„Ja. Offensichtlich. Warum sonst?“

„Schön. Dann ist es genau das, was sie tun werden. Helfen. Es geht jetzt nicht um Sie. Nicole hat große Schmerzen und muss sich jetzt erholen. Ihre einzige Aufgabe dabei wird sein, ihr das Leben etwas leichter zu machen. Sie werden nicht dazu kommen, irgendwelche Klubs zu besuchen oder mit Ihren Freunden abzuhängen. Sie werden hierbleiben und die Verantwortung übernehmen. Das ist eine ernsthafte Verpflichtung. Ich werde jeden Abend kommen und nach ihr sehen, und ich verspreche Ihnen, wenn Sie das vermasseln, wird es Ihnen leidtun.“

Claire sah ihn an, als käme er von einem anderen Stern. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.“

„Was ist daran unklar?“

„Schätzen Sie mich wirklich so ein?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ach, vergessen Sie es.“ Sie ging zum Küchentresen und lehnte sich an. „Einerseits würde ich Sie zwar gerne fragen, was Nicole Ihnen erzählt hat, aber andererseits will ich es gar nicht wissen. Ich meine, warum sollte ich mir derart die Schuld in die Schuhe schieben lassen? Ich bin die Böse und sie ist die Gute. So war es immer.“

Sie unterbrach sich und schluckte. Wyatt hatte plötzlich das deutliche Gefühl, dass sie mit den Tränen kämpfte. Und obwohl er normalerweise als typischer Mann alles dafür tun würde, eine Frau vom Weinen abzuhalten, sagte er sich, dass dies hier nichts anderes war als die perfekte Vorstellung einer Expertin, und er lehnte es ab, sich von dem, zugegeben gekonnten Spiel vereinnahmen zu lassen.

Aber Claire weinte nicht. Sie holte nur ein paarmal tief Luft und sah ihn dann an.

„Sie kennen mich nicht. Abgesehen davon, was Nicole Ihnen über mich erzählt hat, wissen Sie gar nichts von mir. Ich könnte von ihr dasselbe behaupten, und das ist traurig. Wir sind Zwillinge, zwar nur zweieiige, aber immerhin. Ich hasse es, wie wir uns gegenseitig das Leben schwergemacht haben, und ich hasse es, wie die Dinge jetzt stehen. Ich habe nicht die Absicht ...“ Sie unterbrach sich und presste die Lippen zusammen. „Entschuldigung. Das alles dürfte Sie ja wohl kaum interessieren, nicht wahr?“

Schweigend sah er sie nur an.

Sie nahm die Schultern zurück und hob das Kinn. „Ich bin gekommen, weil ich helfen will. Nachtklubs interessieren mich nicht und haben es nie getan. In Seattle habe ich keine Freunde, also müssen Sie sich um irgendwelche Ablenkungen keine Sorgen machen. Ich will mich um Nicole kümmern und auch wieder eine Verbindung zu ihr herstellen. Weiter nichts. Das ist alles, was ich dazu sagen kann, und Sie können mir das nun glauben oder es lassen. Fazit ist, ich werde nirgendwo hingehen. Nicht, solange es Nicole nicht wieder besser geht.“

Sie sprach mit einer ruhigen Würde, die Wyatt beeindruckte. Sein Instinkt sagte ihm, dass er ihr glauben konnte, aber Nicole hatte immer davon gesprochen, dass Claire den Menschen ebenso leicht und gekonnt etwas vormachen konnte, wie sie Klavier spielte.

Und doch, er hatte keine andere Wahl. Er konnte sich von der Arbeit nicht frei machen, und er hatte eine Tochter, um die er sich kümmern musste.

„Ich werde da sein und aufpassen“, warnte er sie.

„Verurteilen wollen Sie mich. Das ist ein Unterschied.“

Er zuckte gelangweilt die Schultern. Ihm war es egal, ob er sie gekränkt hatte.

Dann zog er eine Visitenkarte aus der Hemdtasche. „Hier ist meine Handynummer. Da können Sie mich jederzeit erreichen. Wenn es ein Problem gibt, rufen Sie mich an.“

„Das wird nicht nötig sein.“

Anstatt nun aber die Karte auf den Küchentresen zu legen, gab er sie ihr in die Hand. Seinen Fehler bemerkte er in dem Moment, als sich ihre Finger berührten.

Die Hitze, die ihn durchfuhr, war so hell und erbarmungslos, dass er glaubte, die Küche müsse explodieren. Er unterdrückte einen Fluch und warf Claire einen wütenden Blick zu, denn er gab ihr die Schuld an dem unwillkommenen Feuer, das da zwischen ihnen zu knistern begann.

Sie warf einen Blick auf die Karte und sah ihn dann verwundert an.

„Das war seltsam“, meinte sie.

In ihrer Stimme und dem fragenden Ausdruck ihrer Augen lag echte Verwirrung, so als hätte sie es auch gefühlt, aber ohne zu wissen, was es bedeutete.

Alles klar, dachte er. Sie spielt tatsächlich mit dir.

Sollte sie nur weiterspielen. Ihm war es gleich, denn wie auch immer er auf eine Berührung von ihr reagieren mochte, von diesen Gefühlen würde er sich niemals leiten lassen. Er ließ sich von seinen Hormonen nicht beherrschen. Er war ein vernunftgelenkter Mann, der mit seinem Kopf dachte und nicht mit dem Schwanz.

Und doch, als sie ihn dann anlächelte und sagte: „Danke, dass Sie sich so um sie kümmern“, und ihm dabei die Hand auf den Arm legte, hätte er sie am liebsten an sich gerissen und so lange geküsst, bis sie ihn um Gnade bat. Die Vorstellung war so übermächtig, dass er einen trockenen Mund und binnen eines Herzschlags eine Erektion bekam. Es war wirklich erniedrigend.

Er stolzierte aus der Küche, ohne sich zu verabschieden, und schwor, sich von Claire fernzuhalten. Das Letzte, was er in seinem Leben brauchen konnte, war eine weitere nutzlose Frau, die ihn verrückt machte und alles zerstörte, was sie berührte.

Claire musterte ihre Kleidung, die sie auf dem Bett ausgebreitet hatte, und seufzte. Offensichtlich gehörte Kofferpacken nicht zu den Fähigkeiten, die man intuitiv erlernen konnte, denn obwohl sie mit allem so vorsichtig gewesen war, lagen ihre Sachen nun hier und waren völlig zerknittert.

Normalerweise nahm Lisas Assistentin die Klamotten einfach mit, und wenn sie sie dann wiederbrachte, waren sie perfekt gebügelt. Und sollte sie einmal nicht da sein, konnte Claire selbst immer noch den Hotelservice anrufen. Aber das hier war kein Hotel.

Eine Seidenbluse sah sie sich genauer an und überlegte, ob man es wohl wagen könnte, sie zu bügeln. Aber mit einem weiteren Seufzer erinnerte sie sich daran, dass sie keine Ahnung hatte, wie man mit einem Bügeleisen umging, und wenn sie es denn tatsächlich üben wollte, war eine Designerseidenbluse vielleicht doch nicht so ganz das geeignete Stück, damit zu beginnen.

„Bin ich denn wirklich völlig unbrauchbar oder ist das hier nur ein Einzelfall?“, fragte sie sich. Dabei sprach sie die Worte leise vor sich hin. Lieber der Wahrheit ins Auge sehen, als sich etwas vormachen! Es war ihr Ziel, sich zu ändern. Sie wollte ins wirkliche Leben passen, und sie musste wissen, wo sie herausfinden konnte, was nötig war, um das zu schaffen.

Vom Flur her hörte sie ein Geräusch, das ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Die Bluse noch in der Hand, lief sie in Nicoles Zimmer und sah, wie ihre Schwester aus dem Bad kam, in der Taille eingeknickt und einen Arm vor den Bauch gepresst. Gesicht und Mund vor Schmerz verzerrt.

„Du hättest mich rufen sollen“, sagte Claire und eilte ihr zur Seite. „Ich bin doch hier, um dir zu helfen.“

„Wenn du eine Möglichkeit findest, wie du für mich pinkeln kannst, bin ich ganz Ohr. Ansonsten lass mich in Ruhe.“

Claire überhörte die höhnische Bemerkung und ging schnell zum Bett, um die Laken zu glätten und die Bettdecke zurückzuschlagen. Nicole ignorierte sie und ihr Tun, während sie langsam und vorsichtig in ihr Bett kroch. Dann aber griff Claire nach der Bettdecke.

„Wenn du mich zudeckst, werde ich dich umbringen. Das schwöre ich dir. Vielleicht nicht heute, aber bald, und zwar dann, wenn du es am wenigsten erwartest.“

Claire trat vom Bett zurück.

Nachdem Nicole ihre Position gefunden hatte, schloss sie die Augen, öffnete sie nach einer Sekunde aber gleich wieder. „Willst du einfach da stehen bleiben?“

„Brauchst du etwas? Noch Wasser? Eiswürfel? Damit kannst du dich mit ausreichend Flüssigkeit versorgen, ohne dass dir davon übel wird.“

„Woher weißt du das?“

„Ich habe ein paar Artikel im Internet gelesen.“

„Na, wenn das nicht Mamas kleiner Engel ist.“

Claire griff mit einer Hand nach ihrer Bluse. „Davon, dass Operationen einen gehässig machen, wurde nichts erwähnt, also vermute ich mal, dass der Sarkasmus ganz allein von dir stammt.“

„Ich trage ihn mit Stolz wie ein Ehrenzeichen.“ Nicole verlagerte ihre Position und zuckte zusammen. „Was willst du hier, Claire?“

„Jesse hat mich vor ein paar Tagen angerufen und mir von der Operation erzählt. Sie hat mir gesagt, du würdest meine Hilfe brauchen.“ Den Rest hätte Claire am liebsten verschwiegen, da es offensichtlich nicht der Wahrheit entsprach, aber ihr fiel nicht ein, wie sie es hätte vermeiden können. Immerhin hatte sie Wyatt bereits davon erzählt und sie konnte davon ausgehen, dass er es an Nicole weitergegeben hatte. „Sie sagte, es täte dir leid, dass wir uns so entfremdet haben, und dass du dir wünschst, wir könnten wieder eine Familie sein.“

Sie sprach, ohne dass ihre Stimme zitterte und verriet, wie sehr sie litt. Aber der Schmerz war da, wenn auch nicht sichtbar, denn wenn es eins gab, das sie sich wünschte, dann war es, die Verbindung wiederherzustellen.

„Und du hast ihr das abgenommen?“ Nicole schüttelte den Kopf. „Ernsthaft? Nach all der Zeit glaubst du, dass ich plötzlich meine Meinung über dich geändert habe?“

„Deine Meinung über das Bild, das du dir von mir machst“, konterte Claire. „In Wirklichkeit kennst du mich gar nicht.“

„Das gehört zu den wenigen Segnungen meines Lebens.“

Claire überhörte das. „Nun bin ich einmal hier, und ganz offensichtlich brauchst du Hilfe. Ich sehe niemanden sonst, der sich um den Job reißt. Wie es aussieht, bleibt dir also gar nichts anderes übrig.“

Nicoles Miene wurde hart. „Ich habe Freunde, die ich anrufen könnte.“

„Aber das wirst du nicht tun, denn du hasst es, jemandem etwas schuldig zu sein.“

„Wie du es gesagt hast, in Wirklichkeit kennst du mich gar nicht.“

„Ich kann es vermuten.“ Auch Claire hasste es nämlich, sich jemandem verpflichtet zu fühlen.

„Tu nicht so, als hätten wir etwas gemeinsam“, giftete Nicole. „Du bedeutest mir nichts. Bitte, wenn du meinst, du könntest helfen, dann hilf. Mir ist es gleich. Nur gut, dass ich nicht davon ausgehe, du könntest zu mehr fähig sein, als dich von anderen bedienen zu lassen, daher sind meine Erwartungen auch ziemlich niedrig.“

Betrübt dachte Claire, dass alles völlig anders war, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatte gehofft, dass sie es schaffen könnten, wieder einen Weg zueinander zu finden. Nicole und sie waren doch Zwillinge ... nur zweieiige zwar, aber von Geburt an miteinander verbunden. Hatten die lange Zeit der Trennung, die Wut und die Missverständnisse dieses Band tatsächlich zerrissen?

Sie war hier, um es herauszufinden.

„Du wirst dich sicher ausruhen wollen“, meinte sie. „Ich werde dich nicht weiter stören.“

„Gute Idee.“

Das überhörte Claire und wollte sich schon zurückziehen, als ihr etwas einfiel. „Hast du eigentlich einen Reinigungsservice?

„Für das Haus? Nein. Ich habe es geschafft, alles selbst zu schrubben.“

„Oh. In Ordnung. Ich meinte aber nicht ... ach, vergiss es.

Nicole sah sie prüfend an. „Was hast du gemeint?“ Dann fiel ihr Blick auf die Bluse in Claires Hand. „Du meinst eine Reinigung, die meine Sachen wäscht?“

Claire trat einen Schritt zurück. „Es ist nicht so wichtig.“

„Ja, natürlich. Lass mich raten. Von einer Pianoprinzessin kann man ja unmöglich erwarten, dass sie selbst ihre Kleidung in Ordnung hält. Ich könnte dir ja erklären, wie man die Waschmaschine bedient, aber das wird wahrscheinlich auch nicht helfen, oder? Viel zu viel Seide und Kaschmir, möchte ich wetten. Arme, arme Claire. Noch nie hat sie eine Jeans besessen. Da wirst du dich jede Nacht in den Schlaf weinen müssen.“

Claire bemühte sich, die schmerzenden Pfeile abzuwehren, die da auf sie einprasselten. „Ich werde mich nicht für mein Leben entschuldigen. Es ist anders als deins, aber deshalb nicht weniger wertvoll. Du hast dich verändert, Nicole. Ich habe nie vergessen, wie wütend du auch früher schon warst, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass du böse gewesen wärest. Wann ist es dazu gekommen?“

„Sieh zu, dass du hier verschwindest, aber sofort.“

Claire nickte. „Ich bin am andern Ende des Flurs, falls du mich brauchst.“

„Das wird nicht vorkommen. Ich würde lieber verhungern, als mich mit dir abzugeben.“

„Nein, das würdest du nicht.“

Ohne ihre brennenden Augen oder das niederschmetternde Gefühl, einen Verlust erlitten zu haben, weiter zu beachten, ging Claire in ihr Zimmer zurück, entschlossen, alles, was schiefgelaufen war, wieder geradezurücken.

Der Wecker läutete um Viertel vor vier. Claire stellte ihn ab und starrte verständnislos auf das rote Licht, das jetzt nicht mehr blinkte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Wer sollte denn so früh aufstehen?

Dann erinnerte sie sich: Menschen, die in einer Bäckerei arbeiteten. Sie war eine der Geschwister Keyes, und damit hatte sie auch eine Verpflichtung gegenüber dem Familiengeschäft. Da Nicole nicht in der Lage war, nach dem Rechten zu sehen, und Jesse einfach verschwunden war – aus Gründen, die immer noch unklar waren – , lag es nun an Claire.

Sie stand auf und warf sich ein paar zerknitterte Sachen über, die auch, nachdem sie eine Zeit lang im Badezimmerdampf gehangen hatten, nur wenig besser aussahen. Dann wusch sie sich das Gesicht, legte ein leichtes Make-up auf, band sich ihr langes Haar in einem Pferdeschwanz zusammen und schlich die Treppe hinunter. Weniger als fünfzehn Minuten später war sie an der Bäckerei und parkte hinter dem Gebäude neben den Wagen der Angestellten.

Im Haus brannte Licht. Claire eilte zur Hintertür und ging hinein.

Drinnen war es hell und warm, und es roch nach Zucker und Zimt. Gerätschaften und Vorräte füllten die Regale und säumten die Wände. Riesige Öfen verbreiteten eine enorme Hitze. Da waren Fritteusen und gewaltige Mixer, Berge von Mehl und Zucker, und schließlich Unmengen von dem, was nach der leckersten Schokolade der Welt roch.

Claire blieb stehen und sog die köstlichen Düfte ein. Gestern Abend hatte sie wieder einmal bloß eine Suppe aufwärmen können, und wenn auch Nicole nicht sonderlich an Essen interessiert war, so fühlte Claire sich nach drei Tagen Diät mit fast ausschließlich flüssiger Nahrung ziemlich hungrig.

Ein ganz in Weiß gekleideter Mann mittleren Alters sah sie und schlug die Stirn in Falten. „Hey Sie. Sie müssen hier raus. Die Bäckerei öffnet um sechs.“

Sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. „Hi. Ich bin Claire Keyes. Nicoles Schwester. Ich bin hergeflogen, weil sie operiert werden musste, und springe für sie ein.“

„Schwester? Sie hat doch nicht ...“ Der Mann war klein, mindestens zehn Zentimeter kleiner als sie, aber er war gebaut wie ein Bulle. Er zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. „Sind Sie etwa diese Pianistin? Die so versnobt sein soll?“

„Ich bin die Pianistin“, bestätigte Claire und fragte sich, was Nicole den Leuten alles über sie erzählt hatte. „Aber ich bin nicht wirklich versnobt. Nicole, hm, hat mich hergebeten, um zu helfen, wo sie doch jetzt die ganze Zeit liegen muss und alles.“

Der Mann runzelte die Stirn. „Das glaube ich nicht. Sie mag Sie nämlich nicht.“

Eine Sache, die Nicole offensichtlich in aller Welt verkündete. Claire hatte sich schuldig gefühlt, weil sie geschwindelt hatte, das war nun nicht mehr der Fall. Sie würde schon einen Weg finden, sich anzupassen, und die Bäckerei war ganz klar der Ort, damit zu beginnen.

„Wir haben uns vertragen“, behauptete sie und zwang sich, weiterzulächeln. „Es muss doch etwas geben, wobei ich helfen kann. Ich bin ihre Schwester. Das Backen liegt mir im Blut.“

Zumindest sollte es das. Allerdings hatte Claire die Theorie nie überprüft, indem sie tatsächlich einmal etwas gebacken hätte.

„Also sehen Sie, ich habe keine Ahnung, was hier läuft, aber mir gefällt es nicht. Sie müssen hier raus.“

Der Mann ging davon, Claire hinter ihm her. „Ich kann doch helfen. Harte Arbeit bin ich gewöhnt, und mit meinen Händen bin ich wirklich geschickt. Irgendetwas muss es doch geben. Ich will ja auch nicht gleich die berühmte Schokoladentorte der Bäckerei Keyes backen oder so.“

Der Mann fuhr herum und sah ihr ins Gesicht. „Halten Sie sich bloß von der Schokoladentorte fern, haben Sie mich verstanden? Die wird nur von Nicole und mir gebacken. Ich bin seit fünfzehn Jahren hier und weiß, was ich tue. Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie wegkommen.“

„Hey, Sid, komm mal eine Sekunde her.“

Die Stimme, die ihn rief, befand sich hinter einer Wand von Öfen. Sid warf Claire einen finsteren Blick zu und eilte in diese Richtung davon. Nunmehr allein nutzte sie die Zeit, um die internen Abläufe einer richtigen Bäckerei ein wenig weiter zu erkunden. Sie lächelte einer jungen Frau zu, die eine köstlich aussehende Füllung in Gebäcktaschen einspritzte. Die Frau beachtete sie nicht, also ging Claire weiter.

Eine andere Frau bediente eine Maschine, die Donut mit Zuckerguss überzog. Es war ein himmlischer Duft und Claires Magen fing an, in froher Erwartung zu knurren. Sie trat einen Schritt auf die Maschine zu und stieß mit einem Mann zusammen, der irgendetwas in der Hand hielt.

Während sie beide darum kämpften, ihre Balance wiederzufinden, flog der Beutel, den der Mann trug, hoch in die Luft. Reflexartig wollte Claire danach greifen, aber anstatt ihn aufzufangen, stieß sie ihn nur von der Seite her an, wodurch er ins Taumeln geriet und seinen Inhalt über sie beide, den Fußboden und die bereits glasierten Donuts verstreute, die über das schmale Transportband liefen. Wieder und wieder drehte er sich, bis er schließlich mit der offenen Seite nach oben in einem gewaltigen Teigbottich landete.

„Was um Himmels willen haben Sie da angestellt?“, verlangte der Mann zu wissen, bevor er anfing in einer Sprache zu fluchen, die Claire nicht verstand.

Sid kam angerannt. „Sie! Sind Sie immer noch hier?“

Die Frau, die die Donuts verarbeitete, stellte das Transportband ab und lief hin, um sie zu prüfen. „Salz“, kreischte sie. „Es ist überall. Sie sind völlig verdorben.“

Claire wünschte, sie könnte sich davonschleichen. „Es tut mir leid“, begann sie. „Wir sind zusammengestoßen und ...“

„Sie sollten überhaupt nicht hier sein“, brüllte Sid. „Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen gehen? Hatten Sie das nicht verstanden? Mein Gott, es ist wirklich kein Wunder, dass Nicole von Ihnen spricht, wie sie es tut.“ Er beugte sich über den Teigbottich und fluchte. „Salz“, schrie er. „Da liegt ein Beutel mit zwei Kilo Salz im Baguetteteig. Glauben Sie etwa, das möchte jemand haben? Es war unsere Tagesmenge. Die für den ganzen Tag.“

Oh nein, dachte sie und fragte mit winziger Stimme: „Könnten Sie nicht noch mehr machen?“ Sie fühlte sich so schrecklich.

„Haben Sie eine Ahnung, was es bedeutet, bei Brot wieder von vorne anzufangen? Was frage ich? Natürlich nicht. Verschwinden Sie! Gehen Sie einfach nur raus. Wir können heute Morgen keine weiteren Katastrophen hier gebrauchen.“

Gern hätte Claire etwas gesagt, um die Situation zu retten. Aber was hätte das gebracht? Alle drei starrten sie an, als wäre sie die niedrigste Lebensform, die ihnen je begegnet war. Sie interessierte nicht, dass sie bloß versucht hatte zu helfen und den Mann schließlich nicht absichtlich angerempelt hatte und dass es nur ein Unfall war.

Da ihr nichts Besseres einfiel, drehte sie sich um und ging.

Es war kurz nach fünf, als sie wieder ins Haus zurückkam. Claire sah nach Nicole, die noch schlief, und ging dann runter in die Küche, um Kaffee zu kochen. Die erste Kanne roch merkwürdig und schmeckte noch schlimmer. Sie schüttete ihn weg und versuchte es noch einmal.

Die zweite Ladung war genießbar. Sie schenkte sich eine Tasse ein und sank auf einen Stuhl am Tisch.

Warum musste ihr Tag nur so fürchterlich beginnen? Wie konnte sie alles so schrecklich vermasseln, ohne überhaupt dazu gekommen zu sein, es zu versuchen? Das war einfach nicht fair. Sie war kein schlechter Mensch. Okay, ja, sie führte ein fremdes, verrücktes Leben, das die meisten Menschen nicht nachvollziehen konnten, aber das änderte doch nichts daran, wie sie eigentlich war.

Allerdings schien es viel härter zu sein, als anfangs gedacht, außerhalb ihres goldenen Käfigs zu existieren.

„Ich werde nicht aufgeben“, sagte sie laut. „Ich werde es herausfinden.“

Im Übrigen hatte sie auch keine große Wahl. Wenn sie nicht mehr Klavierspielen konnte, würde sie sich ein Leben ohne Musik aufbauen müssen.

Ohne Musik! Allein der Gedanke daran machte sie traurig. Musik bedeutete ihr alles. Sie war die Luft, die sie zum Atmen brauchte.

„Dann werde ich eben einen anderen Grund finden“, sagte sie sich. „Tief in meinem Innern gibt es Ebenen, die ich noch gar nicht erforscht habe.“ Jedenfalls hoffte sie doch, dass es so war. Kurz nach sechs begann sie, nach dem Toaster zu suchen, denn im Tiefkühlfach lag eine Menge Brot. Sie schaffte es, die ersten drei Scheiben zu verbrennen, bis sie schließlich die richtige Einstellung gefunden hatte. Als sie gerade dabei war, nach einem Tablett zu suchen, wurde die Tür zum Garten geöffnet.

Sie richtete sich auf und sah, wie Wyatt die Küche betrat. Wyatt, der sie fast so sehr hasste wie Nicole. Wyatt, dessen Berührung gestern in ihrer Hand ein so merkwürdiges Prickeln ausgelöst hatte.

Bevor sie aber dazu kam, sich darüber Gedanken zu machen, was das zu bedeuten hatte, entdeckte sie das kleine hübsche Mädchen, das hinter ihm hereinkam.

Wyatt stelle mehrere Einkaufstüten auf dem Küchentresen ab. „Irgendetwas riecht hier komisch.“

„Mir ist der Toast verbrannt.“ Claire konnte die Augen nicht von dem Mädchen abwenden. „Ihre Tochter?“, fragte sie. Wyatt hatte eine Tochter? Das würde ja bedeuten, dass er auch eine Frau hatte.

Diese Erkenntnis veranlasste sie, einen Schritt zurückzutreten, obwohl sie nicht hätte sagen können, weshalb. Dennoch wollte sie das Mädchen gern kennenlernen. Claire hatte Kinder immer gemocht und träumte davon, selbst eine eigene Familie zu haben.

„Das ist Amy“, stellte Wyatt seine Tochter vor. Dabei gestikulierte er mit den Händen. „Amy, das ist Claire.“ Es war merkwürdig, wie er seine Finger bewegte. „Amy ist taub.“

„Oh.“ Claire sah, dass das Kind in beiden Ohren Hörgeräte trug.

Noch nie zuvor war sie einem Menschen begegnet, der taub war. Kein Ton? Wie mochte das sein? Niemals ein Mozartkonzert oder eine Symphonie hören zu können? Keine Melodie, keinen Rhythmus. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich, wenn sie nur daran dachte.

„Wie schrecklich.“

Wütend funkelte Wyatt sie an. „Wir sehen das nicht so, aber danke, dass Sie uns Ihre aufgeklärte und verständnisvolle Meinung dazu mitgeteilt haben. Wenn Sie auf der Straße einen Mann mit einem Bein sehen, treten Sie es ihm dann weg?“

Sie wurde rot und warf seiner Tochter einen Blick zu. „Nein. Es tut mir leid. So hatte ich es nicht gemeint. Ich hatte an Musik gedacht und wie ...“ Ich werde es nicht retten können, dachte sie schuldbewusst. „Ich habe es nicht böse gemeint.“

„Das tun Menschen wie Sie nie.“

Er würde es nicht verstehen, vor allem weil er es nicht verstehen wollte, denn er dachte das Schlimmste von ihr und sie tat alles, um ihn in seiner Meinung zu bestätigen.

Wyatt fing an, die Lebensmittel aus den Tüten zu räumen. Claire dachte daran, ihm ihre Hilfe anzubieten, wusste aber, dass er das ablehnen würde. Stattdessen zog sie sich also ins Wohnzimmer zurück, wo sie darüber nachdachte, ob sie nicht einfach eine Pflegerin für Nicole anheuern und nach New York fliehen sollte. Dort passte sie wenigstens hin.

Sie sank auf einem der Sofas nieder und kämpfte nach Kräften gegen die Tränen an. Warum nur lief alles dermaßen schief? Was konnte sie tun, um es besser zu machen? Denn so leicht es auch wäre, die Flucht anzutreten, sie wollte nicht aufgeben. Sie hatte noch nie aufgegeben. Nicht ein einziges Mal, auch wenn es noch so schwierig war.

Aber diesmal war die Situation schlicht unmöglich.

Amy kam ins Zimmer und Claire fing an, sich für das, was sie gesagt hatte zu entschuldigen. Doch dann fiel ihr ein, dass das Kind sie wohl kaum verstehen konnte, was bedeutete, dass sie nun eigentlich erklären müsste, warum sie sich entschuldigte, was jedoch wiederum voraussetzen würde, dass sie es überhaupt schaffte, sich irgendwie verständlich zu machen. Sie saß also nur da und fühlte sich dumm und unbehaglich, ohne sagen zu können, was jetzt schlimmer war.

Amy schien von alledem nichts zu bemerken. Sie ging einfach zu einem Bücherregal, das in der Ecke stand, nahm ein großes Bilderbuch, trug es zum Sofa und drückte es Claire in die Hand.

„Du willst, dass ich dir vorlese?“, fragte Claire und sah sich das Buch an. „Bist du nicht zu alt für dieses Buch?“

Amy gab Claire mit den Händen zu verstehen, sie solle zu ihr hinsehen. Dann zeigte sie mit dem Finger auf Claires Lippen, danach auf ihre eigenen Augen.

„Sehen, wie du sprichst.“

Amy sprach die Worte sehr langsam und überbetont aus.

Claire staunte. „Du kannst sprechen?“

Amy hob die rechte Hand und wackelte damit hin und her, dann hielt sie Daumen und Zeigefinger ungefähr einen Zentimeter weit auseinander.

„Ein wenig“, übersetzte Claire triumphierend. „Du kannst ein wenig sprechen.“

Amy nickte. „Meine Schule unterrichtet mich.“

„In deiner Schule unterrichtet man dich zu sprechen?“

Amy nickte und zeigte dann wieder auf ihren Mund.

„Lippen.“

„Und Lippen lesen?“

Wieder ein Nicken. Das Mädchen lächelte und wies auf das Buch. Claire schlug es auf. Dort war ein Mädchen abgebildet, das ein Buch in der Hand hielt. Amy zeigte auf das Mädchen, schloss die Hand dann zur Faust und strich sich mit dem Daumen über die Wange.

„Mädchen.“ Amy wiederholte die Bewegung. „Mädchen.“

In Claire dämmerte Verständnis auf. „Ich hab’s, das ist das Gebärdenzeichen für Mädchen, nicht wahr?“

Amy grinste und zeigte auf das Buch. Sie legte beide Handflächen aneinander, so als wollte sie beten, und öffnete sie dann.

Claire machte die Handbewegung nach. „Die Gebärde für Buch?“

Amy nickte.

Claire schlug die Seite um. „Das ist ja cool. Kannst du mir noch mehr zeigen?“

Wyatt trug Kaffee und seine mitgebrachten Bagels zu Nicole ins Zimmer.

„Hallo, du Schlafmütze.“

Sie öffnete die Augen und stöhnte. „Hallo.“

„Wie geht es dir?“

„Wie sehe ich denn aus?“

„Wunderschön.“

Schmerzen durchfuhren sie, als sie sich in Sitzposition hochschob und dann gleich wieder in die Kissen sank. „Du bist ein solcher Lügner, aber ich danke dir dafür. Ich fühle mich scheußlich und kann dir sagen, dass die Medikamente, die sie dir im Krankenhaus verabreichen, wesentlich besser sind als das Zeug aus der Apotheke. Ist das etwa Kaffee?“

„Ja, aber ich war mir nicht sicher, ob du den überhaupt trinken darfst.“

„Du hast ihn also nur mitgebracht, um mich zu ärgern?“ Sie griff nach dem Becher. „Mir wurde gesagt, ich soll’s nicht eng sehen und zu mir nehmen, was für mich gut klingt. Und Kaffee klingt für mich im Moment geradezu wie ein Wunder.“

Er stellte das Tablett auf den Nachttisch und zog sich einen Stuhl ans Bett. Nachdem sie den ersten Schluck getrunken hatte und erfreut seufzte, fragte er: „Alles in Ordnung mit Claire?“

Nicole verdrehte die Augen. „Habe ich denn eine Alternative? Sie lässt mich in Ruhe, was ich auch vorziehe. Sid hat mich vor einer halben Stunde auf dem Handy angerufen.“ Sie deutete auf das kleine Telefon neben dem Tablett. „Heute Morgen ist sie in der Bäckerei aufgetaucht, wohl, weil sie helfen wollte. Er hat sie wieder weggeschickt, aber anstatt zu gehen, hat sie es dann fertiggebracht, mit Phil zusammenzustoßen und bei der Gelegenheit einen Beutel mit zwei Kilo Salz in einer Ration Brotteig zu versenken. Der ist nun völlig hinüber.“

„Wie ist es denn passiert?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Sie wird es ja wohl nicht absichtlich getan haben, oder?“

Nicole funkelte ihn wütend an. „Wohl kaum, aber wage es nicht, dich auf ihre Seite zu stellen.“

„Das habe ich nicht vor.“

„Gut, denn ich weiß nicht, ob ich das verkraften würde. Sie ist sogar noch unpraktischer, als ich anfangs dachte. Sie hat mich doch tatsächlich nach einem Reinigungsservice für ihre Klamotten gefragt. Wie es aussieht, sind ein paar Teile zerknittert, und sie weiß nicht, was sie da machen kann. Wenn wir doch nur alle solche Probleme hätten! Ich hasse sie.“

„Du hasst sie nicht.“

„Ich weiß, aber ich wünschte, sie würde verschwinden.“

Das wünschte sich Wyatt allerdings auch. Wie die Dinge standen, hielt er sich auf Distanz von Claire, denn das Letzte, was er brauchen konnte, war noch einmal so ein Feuer zu erleben, das ihn eine ganze Nacht lang nicht schlafen ließ. Immer wieder war er aufgestanden ... und das in der doppelten Bedeutung des Wortes.

Warum sie? Warum konnte es keine andere Frau sein? Eine normale Frau? Jemand wie Nicole? Sein Körper besaß wirklich Sinn für Humor.

Nicole warf einen Blick auf die Uhr. „Wo ist Amy?“

„Unten bei deiner Schwester.“

„Dann sieh sie dir genau an, bevor du gehst. Wer weiß schon, was Claire mit ihr alles anstellen könnte.“

„Ich werde mich vergewissern, dass sie noch in einem Stück ist, bevor ich gehe.“ Er stand auf, ging zum Bett und gab Nicole einen Kuss auf den Scheitel. „Ruf mich an, wenn du etwas brauchst.“

„Mach ich.“

„Ich bin bald zurück.“

„Komm aber bitte sofort, wenn du Rauchzeichen am Himmel aufsteigen siehst.“

„Versprochen.“

Er ging wieder nach unten. Als er ins Wohnzimmer trat, hörte er Gelächter. Amy saß neben Claire und beobachtete konzentriert, wie Nicoles Schwester langsam die Geschichte aus dem Bilderbuch, das auf ihrem Schoß lag, in Gebärdensprache wiedergab. Zwar musste sie bei den einzelnen Bewegungen noch überlegen, aber für alle Wörter fand sie die richtigen Zeichen, und als seine Tochter ihr gut gebärdete, lachte Claire noch einmal.

„Du bist eine gute Lehrerin“, sagte sie langsam.

Und Amy gebärdete: „Gute Schülerin.“

Claire umarmte sie und Amy ließ es gerne geschehen.

Wyatt aber ließ sich nicht beirren. Claire mochte ja vielleicht ein Kind beeindrucken, aber er wusste es schließlich besser. Ihn würde sie nicht so leicht um den Finger wickeln.

4. KAPITEL

Am nächsten Morgen wartete Claire so lange, bis sie sicher sein konnte, dass Wyatt nicht mehr auftauchen würde. Dann bereitete sie selbst ein Frühstück zu und trug es nach oben. Zu ihrer Überraschung war ihre Schwester schon wach. Jedes Mal, wenn sie am Tag zuvor nach Nicole gesehen hatte, schlief sie oder gab vor zu schlafen.

„Du bist ja noch hier, wie ich sehe“, sagte Nicole anstelle einer Begrüßung.

„Bist du morgens immer so schlecht gelaunt oder liegt es nur daran, dass ich das Schlimmste in dir zutage fördere?“

„Das darfst du dir ganz allein als Verdienst anrechnen.“

„Wie schön für mich.“

Claire setzte das Tablett auf dem Nachttisch ab und Nicole musterte das schlichte Mahl.

„Danke“, sagte sie schließlich. Offensichtlich hatte sie dabei die Zähne zusammengebissen.

Vor Stolz wäre Claire fast abgehoben. „Der Haferbrei ist wirklich gut. Ich habe ihn selbst gemacht.“

„Zwei Zutaten, das Wasser mit eingeschlossen. Wirklich sehr beeindruckend.“

Claire wollte nicht zulassen, dass Nicoles Sarkasmus ihr die glückliche Stimmung verdarb. Dies war ihr erstes richtiges Frühstück und es war ihr gleich beim ersten Versuch gelungen. Das war doch schon mal was. Heute Haferbrei und morgen ein Sandwich!

Nicole griff nach der Schale. „Ich dachte, du würdest vielleicht abreisen wollen?“

„Nein, tut mir leid. Ich werde so lange hierbleiben, bis du wieder auf den Beinen bist.“ Dann fiel ihr Jesse ein, die aus bisher ungeklärten Gründen durch Abwesenheit glänzte. „Es sei denn, du willst, dass ich Jesse anrufe und sie herbitte.“

„Nein.“

Nicoles Blick wurde eisig. „Jesse will ich hier nicht sehen.“

Aha, da gab es also ein Problem. Claire hatte sich schon so etwas gedacht. „Seit wann sprecht ihr nicht mehr miteinander?“

„Das werde ich mit dir nicht erörtern.“

„Was hat sie denn angestellt?“

„Was hast du an meiner Antwort gerade nicht verstanden? Sie ist eine geborene Lügnerin und Betrügerin. Dich hat sie angelogen, als sie dir sagte, ich würde mir wünschen, dass du kommst, und sie ...“ Nicole ließ den Löffel in die Schale fallen. „Geh bitte einfach.“

Claire nahm an, dass sie wohl eher das Schlafzimmer meinte und nicht gleich das Haus. Wie auch immer, sie blieb, wo sie war. „Jesse ist doch noch ein Kind.“

„Sie ist einundzwanzig Jahre alt und du hast keine Ahnung, wovon du redest.“

Gern hätte Claire gewusst, was das Problem war, aber sie hatte das Gefühl, dass es nicht half, Nicole zu bedrängen. „Du solltest ein wenig essen, dann wirst du auch schneller wieder gesund.“

„Motivation. Das ist gut.“ Nicole probierte ein wenig von dem Haferbrei. „Brauner Zucker?“

„Hm, ja.“

Nicole aß langsam weiter, während Claire an der Tür stehen blieb. Lieber wäre sie hineingegangen und hätte sich gesetzt, aber das wäre wohl zu aufdringlich.

Die ganze Situation ist doch verrückt, dachte sie. Warum nur muss alles so schrecklich sein? Und obwohl sie die Antwort kannte, wünschte sie, es wäre anders. Sie wünschte sich, dass sie anders wären.

„Wieso bist du eigentlich nicht auf Tournee?“, fragte Nicole und griff nach ihrem Kaffee. „Ist es nicht das, womit du deine Tage verbringst? Indem du für die Leute Klavier spielst? Werden deine dich anbetenden Fans dich nicht vermissen?

Claire erstarrte. Ohne es zu wollen, erinnerte sie sich an ihre letzte Vorstellung. Die Hitze der Scheinwerfer, der Druck in den Ohren, das Raunen der Menge und vor allem der Druck auf ihrer Brust.

Vor dem Konzert hatte sie keine Gelegenheit gehabt, sich zu entspannen. Daher war sie mit dem Gefühl auf die Bühne getreten, jeden Moment einen Herzanfall zu bekommen und sterben zu müssen. Unfähig, sich auf ihr Spiel zu konzentrieren, nahm sie dann nichts mehr war als ihren donnernden Herzschlag und wusste, dass sie jeden Augenblick zusammenbrechen konnte.

Deshalb habe ich auch schlecht gespielt, dachte sie, während sie sich diese Blamage ins Gedächtnis rief. Sie vergaß nie, dass es für ihr Publikum immer ein besonderes Ereignis war, auch wenn sie immer wieder dieselben Stücke spielte. Die Leute hatten sich neben ihrem geschäftigen Leben die Zeit genommen, eine Eintrittskarte zu kaufen und ins Konzert zu kommen, um sie zu sehen. Sie war es ihnen einfach schuldig, dass sie ihr Bestes gab, und in jener Nacht hatte sie versagt. Schließlich war sie dann auch tatsächlich zusammengebrochen, und man musste ihr von der Bühne helfen.

Sie war voller Scham, denn sie hatte sich in aller Öffentlichkeit eine Blöße gegeben. Sie hatte zugelassen, dass die Panik sie besiegte. Noch schlimmer war, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie sie davon abhalten sollte, auch weiterhin zu siegen.

„Es war nicht meine Absicht, eine so schwerwiegende Frage zu stellen“, sagte Nicole.

„Ich mache gerade eine Pause“, murmelte Claire.

Nicoles Handy summte. Sie nahm das Gespräch entgegen. „Hey Sid. Was gibt’s?“ Nach einer Weile stöhnte sie. „Du machst wohl Scherze. Nein, nein, ich verstehe.“ Ihr Blick blieb an Claire haften. „Auf keinen Fall. Ist das dein Ernst? Aber erinnerst du dich denn nicht ... Also gut. Es ist deine Entscheidung. Ich werde es ihr sagen.“

Nicole legte auf und sah Claire an. „Wir haben ein Problem in der Bäckerei.“

Claire dachte an den fliegenden Salzbeutel und fragte sich, welchen Schaden er sonst noch angerichtet haben mochte. „Und das wäre?“

„Unsere beiden Hilfskräfte für den Vormittag haben sich krank gemeldet. Wir haben niemanden für die Ladentheke. Normalerweise würde ich ja einspringen, oder auch Jesse, aber das ist beides nicht möglich. Du wirst es übernehmen müssen.“

„Wie? Was meinst du damit?“

Nicole verdrehte die Augen. „Was ist denn daran nicht klar? Du arbeitest an der Theke und nimmst einfach Geld gegen Ware entgegen. Keine Panik. Dazu brauchst du keine Mathematik. Das übernimmt die Registrierkasse für dich. Nimm einfach ihr Geld entgegen und gib den Kunden das Wechselgeld zurück. Das muss doch sogar jemand wie du schaffen.“

Claire wollte nicht. Sie wollte es wirklich nicht.

Das Potenzial, alles zu vermasseln, schien ihr enorm groß. Aber Nicole brauchte sie.

„Also gut“, sagte sie. „Ich mache es.“

„Prima. Halt dich bloß von der Backstube fern.“

Fünfzehn Minuten später hatte Claire sich umgezogen und wollte losfahren. Sie beeilte sich, aus dem Haus zu kommen, nur um dann Jesse zu entdecken, die an ihrem Mietwagen lehnte.

„Hallo, große Schwester. Wie geht’s denn so?“

„Wie geht’s denn so? Wie geht’s denn so? Ist das alles, was du mir zu sagen hast? Du willst dich wohl auch noch über mich lustig machen?“ Einerseits war Claire zwar glücklich, ihre Schwester zu sehen, andererseits aber auch wieder so wütend, dass sie überschäumte. „Du hast mich geleimt. Mich belogen. Nicole will mich nicht hierhaben. Sie hasst mich. Was sollte das? Und wieso bist du eigentlich nicht hier und kümmerst dich um alles?“

„Nicole und ich haben da ein paar Probleme.“

„Und jetzt soll ich wohl raten? Mir ist es völlig egal. Wie konntest du mich nur so anlügen?“

Jesse richtete sich auf. Sie war groß, schlank und hübsch und besaß Haare, die ihr bis zur Taille reichten. „Ich habe nicht gelogen. Nicole musste operiert werden und sie braucht dich.“

„Aber sie hasst mich. An einer Aussöhnung hat sie keinerlei Interesse, und alle Leute, die sie kennt, können mich nicht leiden.“

„Tja, das mag wohl so sein.“ Jesse grinste tatsächlich. „Sie erzählt die tollsten Geschichten über dich.“

„Toll für wen?“

„Für alle, die zuhören. Für dich wahrscheinlich weniger.“ Jesse seufzte. „Sie braucht Hilfe. Ich weiß, dass sie glaubt, sie wäre mir gleichgültig. Das stimmt aber nicht. Und dann wusste ich nicht, wen ich sonst anrufen sollte. Jetzt bist du hier, und das ist das, worauf es ankommt.“

Claire stöhnte. „Darauf kommt es überhaupt nicht an, denn ich gehöre nicht hierher.“ Nicht dass sie abreisen wollte, aber trotzdem. „Jede Minute ist mir unangenehm. Und wer ist dieser Wyatt? Auch er hasst mich. Hat sie denn ihre ganze Zeit damit verbracht, ihm schreckliche Dinge über mich zu erzählen?“

„Nun ja, nicht die ganze Zeit, aber schon recht viel. Wyatt und Nicole sind Freunde, und das schon seit Langem. Sein Stiefbruder Drew hat Nicole geheiratet. Erst vor zwei Wochen, ähem, haben sie sich getrennt und ich weiß nicht, ob sie wieder zusammenkommen werden.“

Während sie sprach, verschränkte Jesse die Arme vor der Brust. Claire bemerkte einen Unterton in dem, was sie sagte, ohne zu wissen, was es war.

„Nicht einmal zu ihrer Hochzeit hat sie mich eingeladen“, murmelte Claire.

„Hattest du das von ihr erwartet?“

„Natürlich. Ich wäre auch gekommen.“

„Vorausgesetzt, du hättest an diesem Abend nicht für die Königin spielen müssen.“

Claire warf ihr einen wütenden Blick zu. „Wage es nicht, mir gegenüber frech zu werden. Das Ganze ist vor allem deine Schuld.“

„Ich bin nicht diejenige, die weggegangen ist und ihre Familie zurückgelassen hat, um berühmt zu werden.“

Die Stimme ihrer Schwester klang bitter. Claire runzelte die Stirn. „Du glaubst also wirklich, dass es so war? Dass ich ganz einfach beschlossen habe, berühmt zu werden? Ich war sechs Jahre alt, da kam ich überhaupt nicht dazu, irgendetwas zu entscheiden. Sie haben für mich die Entscheidungen getroffen.“ Ihre Eltern, die Lehrer. Sie hatte ihr Leben in Seattle verbracht und von einem Tag auf den anderen saß sie dann plötzlich in einem Flugzeug nach New York. „Sie haben mich von meiner Familie getrennt, und ich konnte betteln so viel ich wollte, sie ließen mich nicht wieder nach Hause zurück.“

„Armes, kleines Wunderkind. Wird dir der Ruhm zu viel? Oder hast du einfach nur zu viel Spaß?“

„So, wie du dir das vorstellst, ist es wahrhaftig nicht.“

Aber Claire legte keinen Wert darauf, es ihr zu erklären. Niemand wollte die Wahrheit wissen. Weder über die Vergangenheit noch die Gegenwart. Niemand wollte von den vielen Stunden hören, die sie üben musste, den langen Nächten und frühen Morgen, den Flugverspätungen, dem mörderischen Terminplan. Es interessierte niemanden, dass die Hotelzimmer nach einer Weile alle gleich aussahen und sie nur noch durch einen Blick in die Tageszeitung auf ihrem Frühstückstablett feststellen konnte, in welcher Stadt sie sich gerade befand, und dass sie zwar die tollsten Orte der Welt besucht hatte, ohne sie allerdings je gesehen zu haben. Dazu reichte die Zeit nicht.

„Ich bin ein trainierter Zirkusaffe“, sagte sie schließlich. „Weiter nichts.“

„Du warst die Prinzessin.“ Jesse verzog den Mund. „Um dich wurde ein riesiger Wirbel gemacht. Du wurdest verwöhnt. Du warst begehrt, was du vermutlich noch immer bist. So etwas gab es hier nicht. Zumindest nicht für mich.“

„Was meinst du damit?“

Jesse zuckte die Schultern: „Ach, macht nichts.“

Claire hatte das Gefühl, dass es eine Menge machte. „Warum habt ihr euch gestritten, Nicole und du?“

Jesse versteifte sich. „Darüber will ich nicht reden.“

„Das solltest du aber. Es ist der Grund, weshalb du mich angelogen hast, weshalb du mich den ganzen Weg hierher manövriert hast, damit ich mich um ein Chaos kümmere, mit dem du nicht fertig wurdest. Also, was ist los?“

„Ich ...“ Jesse holte Luft und sah Claire herausfordernd an. „Nicole hat mich mit ihrem Mann im Bett erwischt. Sie war darüber nicht erfreut.“

Claire machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Sie war völlig geschockt. „Du hast mit dem Mann deiner Schwester geschlafen? Du hattest Sex mit ihm?“ Es war einfach unmöglich. Wer tat denn so etwas? „Sie ist doch deine Familie!“

„Da würde unsere Schwester dir jetzt nicht zustimmen. Nicole hat mich verstoßen.“

Und bei alledem klang Jesse so gelassen, als würde ihr das, was sie getan hatte, gar nichts ausmachen. Am liebsten hätte Claire sie geschüttelt.

„Kannst du ihr das verübeln? Was hast du dir dabei gedacht?“

„Ich habe nichts gedacht. Und ich habe auch nicht viel gemacht, aber das will ja niemand hören.“

Claire funkelte sie wütend an. „Du wirst schon eine bessere Entschuldigung brauchen. Sex geschieht ja nicht einfach so. Du bist schließlich nicht über ihn gestolpert und dann plötzlich mit ihm im Bett gelandet. Dazu gehört doch auch ein Plan, irgendeine Form von Beziehung. Ich kann es einfach nicht glauben. Wie lange hattet ihr denn ein Verhältnis?“

„Wir hatten kein Verhältnis. Das habe ich dir doch schon gesagt. Es ist einfach ... Es ist nicht ...“ Jesse richtete sich auf und ging zu ihrem Wagen zurück. „Ich will mit dir nicht darüber reden.“

„Glaubst du etwa, das interessiert mich?“ Kein Wunder, dass Nicole aus der Fassung geraten war und schlechte Laune hatte. Ihre eigene Schwester und ihr Mann! „Liebst du ihn?“

„Oh, bitte. Ein wenig solltest du mir schon vertrauen. Abgesehen davon, ich habe einen Freund.“

„Und dann hast du mit Drew geschlafen?“ All das machte für Claire überhaupt keinen Sinn. „Warum?“

„Ich habe nicht mit ihm geschlafen.“

„Was soll denn das? Nicole ist also hereingekommen, bevor ihr so weit wart, und deshalb ist jetzt alles in Ordnung, oder was?“

Jesse sah sie lange an. „Mir ist klar, dass du mir nicht glauben wirst. Nicole hat es auch nicht getan. Ich weiß nicht, warum das geschehen ist. Warum es geschehen musste. Vielleicht, weil ich mein ganzes Leben lang diejenige war, die immer alles vermasselt. Diesmal habe ich die Dinge bloß auf eine andere Art schlimmer gemacht als sonst.“

„Die Antwort ist nicht gut genug.“

Wieder sah Jesse sie lange an, bevor sie die Wagentür öffnete: „Ziemlich witzig. – Das ist das, was Nicole dazu gesagt hat.“

Wyatt knöpfte seiner Tochter die Bluse auf dem Rücken zu und griff nach der Haarbürste. Er sah, dass sie ihm etwas mitteilen wollte, gab aber vor, ihre Gebärden nicht zu bemerken, denn Amy sagte nichts, was er hören wollte.

Als sie sich dann aber umdrehte, die kleinen Hände in die Hüften stemmte und ihn ansah, wusste er, dass er keine Wahl mehr hatte. Er legte die Bürste weg und streckte beide Hände mit den Handflächen nach oben aus, das Zeichen für „Was?“

„Du weißt doch, was“, erwiderte Amy.

Das war richtig. Ihm gefiel sie zwar nicht, aber die Botschaft seiner Tochter war deutlich genug.

„Keine gute Idee“, gebärdete er, womit er sich natürlich nur das unvermeidliche „Warum?“ einhandelte.

Warum? Es gab tausend Gründe, aber nicht einen, den er einer Achtjährigen erklären konnte.

„Ich will Claire“, beharrte sie und ihr Gesicht bekam diesen störrischen Ausdruck, den er fürchtete.

Gewöhnlich kümmerte Nicole sich um Amy, wenn sie mit der Schule fertig war, bis Wyatt sich von der Arbeit frei machen konnte. Wenn er im Büro zu tun hatte, kam sie stattdessen dorthin, aber meistens musste er nachmittags zu irgendeiner Baustelle, kein Ort also, wo er sein achtjähriges Töchterchen spielen sehen wollte.

Da Nicole sich aber nun von ihrer Operation erholen musste, wurde das Babysitting zum Problem, und Amy wollte jetzt ihre eigene Lösung vorschlagen.

Er nahm nicht an, dass es sonderlich hilfreich wäre, ihr zu erklären, dass Claire nicht so ganz der Babysittertyp war. Amy würde nicht verstehen, was das bedeutet. Ebenso wenig konnte er ihr sagen, warum er beschlossen hatte, Claire so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Die Funken, die zwischen ihnen flogen, waren einfach viel zu gefährlich, um nicht zu sagen unerwünscht.

„Ich mag sie“, fügte Amy hinzu. „Sie ist nett.“

Wyatt fielen eine Menge Worte ein, um Claire zu beschreiben, aber das Wort nett war nicht darunter.

„Sie würde es nicht wollen“, behauptete er. „Sie ist viel zu beschäftigt.“

Amy grinste. „Sie mag mich.“

Er wusste einfach nicht, wie er damit umgehen sollte. Vielleicht mochte Claire sein Kind ja tatsächlich, vorausgesetzt, sie wäre in der Lage, überhaupt jemand anderen zu mögen als sich selbst.

„Ich bitte doch nicht um ein Pony“, gebärdete Amy und er musste lächeln.

Es war ihr persönlicher Scherz. Nichts war zu groß, solange es kein Pony war.

Er saß in der Falle, weil er seiner Tochter die Wahrheit nicht sagen konnte, denn er konnte ihr ja wohl kaum erklären, dass er Claire nicht traute und sich nicht hundertprozentig sicher war, in ihrer Gegenwart die Kontrolle nicht zu verlieren. Das klang ja wohl nach einer ziemlich erbärmlichen Ausrede.

„Ich werde mit Nicole und Claire sprechen“, versprach er schließlich. „Aber nicht drängen.“

Als Antwort warf sich Amy in seine Arme. Er zog sie an sich, drückte sie fest und war von Liebe erfüllt, wie immer in ihrer Gegenwart.

Mit Frauen mochte er ja wirklich kein Glück haben, aber was Kinder anging, da war er mit dem besten gesegnet. Der Kundenparkplatz der Bäckerei war überfüllt. Claire musste sich durch die Autos schlängeln, um auf den Hinterhof zu gelangen. Dort fand sie vor einer Wand einen Parkplatz und es gelang ihr einzuparken, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie rückwärts wieder herauskommen sollte.

Entschlossenen Schrittes ging sie zur Hintertür des Gebäudes und trat ein. „Hallo?“

Als sie keine Antwort erhielt, strebte sie dahin, wo sie den Verkaufstrakt der Bäckerei vermutete. Sie stieß eine Schwingtür auf und befand sich mitten im Chaos.

Der Laden war voller Menschen. Sie standen im Wartebereich herum, verschoben Tische und wirkten alle sehr ungeduldig.

So viele Leute, dachte sie, und ihr wurde ganz flau im Magen. Mussten die denn alle gleichzeitig kommen?

Sid hatte sie entdeckt. „Wieso haben Sie so lange gebraucht?“, wollte er wissen. „Hier ist der Teufel los.“

Bevor sie antworten konnte, hatte er sie schon am Arm gepackt und zerrte sie nach hinten. Ihre Handtasche stellte er auf einem kleinen Schreibtisch ab, griff dann in eine Schachtel und holte ein Haarnetz heraus.

„Ziehen Sie das über.“

Sie nahm es und fingerte eine Sekunde lang daran herum, bevor er es ihr auch schon wieder aus der Hand riss und über den Kopf zog. Nachdem er ihr dann noch eine Schürze in die Hand gedrückt hatte, zog er sie in den Verkaufsraum zurück.

„Maggie wird Ihnen zeigen, wie man die Registrierkasse bedient. Es ist leicht. Geben Sie nur ein, was gekauft wurde, dann nennen Sie dem Kunden die Summe und nehmen das Geld entgegen. Kreditkarten sind sogar noch einfacher. Viel Glück.“

Damit entschwand er in die Backstube und ließ Claire stehen, ohne dass sie die geringste Ahnung hatte, was sie tun sollte.

Die Frau, die sie am Tag zuvor schon gesehen hatte, händigte jemandem das Wechselgeld aus und eilte dann zu ihr. „Die Preise stehen auf dieser Liste hier.“ Sie zeigte Claire ein laminiertes Blatt Papier, das neben der Kasse lag. „Donuts, Bagels, Gebäck. Den Knopf für die Anzahl lassen Sie einfach außer Acht. Wenn jemand fünf Stück kauft, dann drücken Sie einfach fünfmal auf die Taste.“

Schnell ging sie mit Claire die Grundfunktionen der Maschine durch, erklärte ihr auch, wie das Ganze mit Kreditkarten funktionierte, dann wies sie auf eine Nummer, die an der Wand leuchtete. „Rufen Sie den Nächsten auf.“

Das war alles? Dreißig Sekunden Einweisung, und sie waren schon damit fertig? Unsicher, was sie tun sollte, sah Claire sich um. Dann warf sie wieder einen Blick auf die Wand.

„Hm, Nummer einsachtundsechzig?“

„Hier.“ Eine gut gekleidete Frau drängte sich zur Theke vor. „Ich brauche zwei Dutzend gemischte Bagels und dieselbe Anzahl Muffins. Dann Frischkäse, normal und fettarm.“

Claire begab sich dorthin, wo die Bagels in Metallkörben lagen. Sie zog eine kleine braune Tüte heraus, griff nach einer Papierserviette und fing an, einen Bagel von jeder Sorte in die Tüte zu legen. Nach zwei Sekunden merkte sie, dass die Tüte nicht groß genug sein würde, also zog sie eine größere heraus, wusste dann aber nicht, wie sie die Bagels von der ersten in die zweite Tüte befördern sollte.

„Könnten Sie etwas schneller machen?“, fragte die Frau ungeduldig. „Ich bin spät dran.“

„Hm, sicher.“ Da Claire nichts Besseres einfiel, schüttete sie die Bagels einfach in die zweite Tüte und füllte sie dann weiter. Als sie bei zehn angelangt war, hatte sie alle Bagelsorten einmal durch, also fing sie wieder am oberen Ende der Auslage an. Dabei bemühte sie sich, nicht mit Maggie und dem anderen Mann, der dort arbeitete, zusammenzustoßen.

Dann trug sie die Bagels zu der Frau hinüber. „Es tut mir leid. Was hatten Sie sonst noch für Wünsche?“

Die Frau sah sie an, als ob sie es mit einer Idiotin zu tun hätte. „Frischkäse. Normal und fettarm. Und zwei Dutzend Muffins. Bitte schnell.“

Unsicher, wo der Frischkäse zu finden war, drehte Claire sich um, da drückte Maggie ihr auch schon zwei Behälter in die Hände.

„Danke“, murmelte Claire und machte sich auf, um die Muffins einzusammeln.

Als sie fertig war, ging sie zur Registrierkasse. Ihre Kundin gab ihr eine Kreditkarte. Claire starrte erst die Karte, dann die Maschine an.

„Lieber Himmel, langsamer geht es wohl nicht?“, murmelte die Frau.

Claire wurde die Brust eng, aber sie ignorierte den Druck.

Stattdessen sagte sie mit einem Lächeln: „Tut mir leid. Das habe ich noch nie gemacht.“

„Darauf wäre ich nie gekommen.“

In dem Moment kam Maggie und nahm ihr die Kreditkarte aus der Hand. „Lassen Sie mich das eingeben. Kümmern Sie sich um den nächsten Kunden.“

Claire nickte und sah auf den Zähler. „Eins-vierundsiebzig.“ Zwei Teenager in Schuluniformen kamen nach vorne.

„Einmal dänische Kirschquarktorte und ein Kaffee, mittelgroß. Lassen Sie viel Platz für Milch, bitte“, sagte das erste Mädchen.

„Aber sicher.“ Claire atmete tief ein und aus, was gegen den Schmerz jedoch wenig half. Im Gegenteil, das Gefühl, zugeschnürt zu sein, wurde nur stärker, bis sie schließlich Ohrensausen bekam.

Sie ging um Maggie herum, stellte sich hinter die Glasauslage und fragte den Teenager: „Welche bitte?“

„Die mit den Kirschen und dem Quark drauf“, antworte das Mädchen und zeigte auf die Torte. „Hallo. Diese hier.“

Claire griff nach einer Serviette und holte das Stück aus der Auslage. Sie reichte es dem Mädchen und ging nach hinten, um den Kaffee zu holen.

Dort standen vier Dispenser in einer Reihe. Sie nahm eine Tasse und schaffte es auch, Kaffee einzugießen, bis sie fast voll war. Als sie damit aber zu dem Teenager zurückkehrte, starrte das Mädchen sie nur an.

„Mittelgroß, nicht klein, und richtigen Kaffee, keinen koffeinfreien. Was ist mit Ihnen los?“

Claire sah erst auf die Tasse, dann zurück zu den Stapeln mit den verschiedenen Größen. Gleichzeitig entdeckte sie ein kleines Schild über dem Dispenser, den sie benutzt hatte, und auf dem stand „koffeinfrei“.

Der Schmerz in ihrer Brust verstärkte sich und sie konnte nicht mehr atmen. Egal wie viel Luft sie auch einsaugte, sie gelangte nicht in ihre Lungen. Jeden Moment musste sie jetzt ohnmächtig werden und dann würde sie sterben.

„Ich kann nicht ...“, keuchte sie und stellte den Kaffee auf die Ladentheke. „Ich kann es einfach nicht.“

„Was ist mit Ihnen?“, fragte das Mädchen. „Bekommen Sie einen Anfall? Hat sie jetzt einen Anfall gekriegt? Kann ich erst noch meinen Kaffee haben?“

In ihren Ohren war ein Summen. Claire taumelte zurück und lehnte sich an die Wand.

Maggie lief zu ihr. „Was haben Sie?“

„Ich kann nicht ... atmen. Panik...attacke.“

„Sie sind ja schlimmer, als Nicole erzählt hat. Sehen Sie einfach zu, dass Sie hier verschwinden. Gehen Sie. Sie verschrecken unsere Kunden.“

Es war genauso wie damals, als sie das letzte Mal auf der Bühne gestanden hatte, nur dass diesmal niemand herbeistürzte, um ihr zu helfen. Niemand drängte sie jetzt, sich hinzulegen oder Wasser zu trinken. Es war, als existiere sie überhaupt nicht.

Während sie so an der Wand lehnte und nach Atem rang, sah sie zu, wie Kunde um Kunde bedient wurde und den Laden verließ. Sie gingen ihrer Wege und hatten ein Leben. Und was hatte sie?

Noch immer keuchend ließ sie sich an der Wand nach unten in die Hocke gleiten. In ihren Augen brannten Tränen. Das ist bestimmt nicht, was ich mir wünsche, dachte sie grimmig. Sie wollte mehr sein als nur eine Verrückte mit Mutantenhänden. Stark und leistungsfähig wollte sie sein. Einfach normal. Aber wie?

Dann versuchte sie sich klarzumachen, dass sie unabhängig davon, wie sie sich fühlte, in Wirklichkeit doch atmete. Andernfalls wäre sie schon längst tot. Bei Panikattacken ging es bloß um Gefühle. Es waren Empfindungen, die zwar eine biologische Reaktion bewirkten, aber keine biologische Ursache hatten.

Am liebsten hätte sie sich so klein wie möglich zusammengekauert, bis es vorüber war. Stattdessen zwang sie sich aber aufzustehen. Nach zwei langen, tiefen Atemzügen ging sie zur Theke zurück und rief die nächste Nummer auf.

Ein Mann trat vor. „Ein Dutzend Donuts“, sagte er. „Sie sind für die Sekretärinnen in meinem Büro, deshalb viele mit Schokolade bitte.“

Sie nickte und nahm sich eine Schachtel. Nachdem sie zwölf Donuts hineingelegt hatte, die meisten mit Schokolade, ging sie zur Registrierkasse und sah auf die Liste. Es gab einen Sonderpreis für ein Dutzend.

„Fünf-fünfzig“, sagte sie.

Er gab ihr zehn.

Claire legte das Geld in die Kasse, nahm das Wechselgeld und gab es ihm. Der Mann lächelte sie an.

„Danke.“

„Nichts zu danken.“

Sie sah nach der nächsten Nummer und rief sie auf. Noch immer tat ihr die Brust weh und das Atmen fiel ihr schwer, aber sie machte weiter, ließ Sorgfalt walten, versuchte zu lächeln und jedem Kunden das zu geben, was er oder sie verlangte.

Aus einem Kunden wurden zwei, und aus zwei wurden fünf. Schließlich wurde es im Laden ruhiger. Als sie endlich allein waren, sah Maggie sie an.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Claire nickte. „Das mit der Panikattacke tut mir leid. Das kommt hin und wieder bei mir vor.“

Neuerdings eigentlich ständig, aber das wollte sie jetzt nicht vertiefen.

„Aber Sie haben nicht aufgegeben“, sagte Maggie. „Das ist doch etwas. Und Sie haben uns geholfen. Also danke dafür.“

„Gern geschehen!“

„Sie können jetzt gehen. Von jetzt an bis zum Mittagessen wird nicht viel los sein. Und dann wird Tiff kommen.“

Claire nickte und ging nach hinten. Nachdem sie sich Schürze und Haarnetz ausgezogen hatte, nahm sie ihre Handtasche und ging zum Auto.

Sie ließ den Motor an, lehnte sich dann aber im Sitz zurück, denn sie war völlig erschöpft. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass seit ihrer Ankunft weniger als zwei Stunden vergangen waren. Das erschien ihr geradezu unmöglich, denn sie fühlte sich, als hätte sie tagelang gearbeitet.

Ihr Handy klingelte. Claire zog es aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Schon wieder Lisa. Der Anruf konnte nichts Gutes bedeuten. Also stellte sie das Telefon ab und schob es zurück in die Tasche.

Zweifellos würde Nicole wieder irgendeinen schnippischen Kommentar zu ihrer Panikattacke abgeben, aber Claire beschloss, sich nichts daraus zu machen. Sie hatte es geschafft, sich da durchzuarbeiten, und war auf der anderen Seite heil herausgekommen. Für sie war es der erste Sieg seit Langem, und das konnte ihr niemand mehr nehmen.

5. KAPITEL

Claire wärmte das letzte Außer-Haus-Gericht auf, das Wyatt vorbeigebracht hatte, und während sie darauf wartete, dass die Mikrowelle ihre Arbeit tat, hatte sie die Hände auf den Küchentresen gelegt und die Augen geschlossen. Dabei begannen ihre Finger sich auf dem kühlen Granit zu bewegen, ohne dass sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Im Geist allerdings spielte sie die Noten und hörte die Musik. Der Klang erfüllte sie, bis ihr Körper leicht wurde und zu schweben schien.

Das Klingeln der Mikrowelle riss sie in die Realität zurück, die Realität, in der sie nicht mehr Klavier spielte, keinen Unterricht mehr nahm oder erteilte, oder überhaupt noch in diese Welt passte.

Sie vermisste das Klavierspiel. Ziemlich verrückt, wenn man bedachte, dass sie das verdammte Instrument kaum ansehen konnte, ohne eine Panikattacke zu bekommen. Aber vielleicht war es ja auch weniger das Klavier, das sie vermisste, als vielmehr das Gefühl, sich in der Musik zu verlieren, sich selbst in der Fülle des Klangs vergessen zu können. Nicht zuletzt hatten Üben und Spielen schließlich ihr Leben ausgemacht, und wie jemand, der sich das Rauchen abgewöhnt, hatte auch sie ihre alten Gewohnheiten noch nicht ablegen können, selbst wenn es dabei keine physische Abhängigkeit gab.

Sie schielte in Richtung der Treppe, die in den Keller führte, und während sie einerseits zwar keineswegs noch einmal dort hinuntergehen wollte, sollte sie sich andererseits doch zumindest um das Klavier kümmern. Das Instrument konnte schließlich nichts für ihre seelischen Probleme.

Nachdem sie kurz nach Nicoles Abendessen gesehen hatte, nahm sie sich also ein Telefonbuch zur Hand und suchte nach Klavierstimmern. Sie musste drei verschiedene Nummern anrufen, bis sie schließlich jemanden gefunden hatte, der noch in dieser Woche kommen wollte, um das Klavier zu stimmen. Als das erledigt war, stellte sie den Teller auf ein Tablett, eine Kanne Kräutertee und etwas Brot dazu und trug dann alles nach oben.

Nicoles Tür stand offen, also trat Claire ein und lächelte ihrer Schwester zu. „Ich dachte, du könntest allmählich Hunger haben, deshalb habe ich dir heute etwas mehr mitgebracht als gestern Abend. Wie geht es dir?“

Nicole lag auf der Tagesdecke. Irgendwann hatte sie sich tagsüber eine andere Jogginghose und ein neues T-Shirt angezogen. An den Füßen trug sie dicke Socken und die Farbe war wieder in ihr Gesicht zurückgekehrt.

„Mir geht’s gut“, sagte sie.

„Wie schön.“

Claire stellte das Tablett ab. „Das ist der Rest von dem Essen. Morgen werde ich etwas anderes besorgen.“

„Du kochst?“

„Uh, nein. Ich dachte vielleicht eher an etwas Chinesisches.“

Nicole sagte nichts, was bei Claire aber doch das Gefühl hinterließ, wieder einmal versagt zu haben. Sie hatte vom Kochen einfach keine Ahnung. Wann denn hätte sie auch die Zeit dazu haben sollen?

Sie sagte sich zwar, dass sie sich bei niemandem für ihr Leben entschuldigen musste, konnte sich aber gegen das Gefühl nicht wehren, wieder einmal geprüft und nicht für gut befunden worden zu sein.

Nicole zog sich das Tablett auf den Schoß und sah dann zu Claire hoch.

„Danke, dass du heute Morgen in der Bäckerei ausgeholfen hast. Da war ja heute die Hölle los.“

Eifrig kam Claire auf sie zu. „Es war unglaublich, wie viele Leute da waren. Ein richtiger Massenauflauf. Alles ging so schnell. Ich fand es ganz schön schwierig, mit der Registrierkasse klarzukommen, aber gegen Ende des morgendlichen Ansturms wusste ich dann so ungefähr, was ich da tat.“

Sie hatte es überstanden, und das war alles, was zählte. Jede Herausforderung würde sie nur stärker machen.

„Ich habe gehört, dass du eine Art Anfall hattest“, fuhr Nicole fort, wobei sie eher neugierig als besorgt klang. „Nimmst du irgendwelche Medikamente dagegen?“

Claire merkte, wie sie rot wurde, aber sie zwang sich dazu, dies durchzustehen. „Ich hatte eine Panikattacke, aber ich bin selbst damit fertig geworden.“

„Erwarte bloß keine Auszeichnung dafür, dass du aufgekreuzt bist“, knurrte Nicole.

Claires Verlegenheit schlug in Ärger um. „Habe ich dich etwa um eine Auszeichnung gebeten? Habe ich dich überhaupt um irgendetwas gebeten? So wie ich mich an die Ereignisse der letzten Tage erinnere, habe ich einen Anruf von Jesse erhalten, in dem sie mich bat, nach Hause zu kommen, weil du Hilfe brauchen würdest. Ich habe alles stehen und liegen lassen und bin gleich am nächsten Morgen losgeflogen und hier aufgekreuzt, um genau das zu tun, nämlich mich um dich kümmern. Ich habe dich mit Mahlzeiten und Snacks versorgt, dir ins Badezimmer geholfen, dir gebracht, was auch immer du haben wolltest, und ich habe in der Bäckerei ausgeholfen. Im Gegenzug bist du nichts als gehässig und sarkastisch. Was ist los mit dir?“

Nicole legte die Gabel aufs Tablett. „Was soll mit mir los sein? Du bist diejenige, die alles verkorkst hat. Du denkst, ich müsste dafür dankbar sein, dass du dein ach so exquisites Ego einmal für ein paar Tage in die Welt der Arbeiter und Bauern geschleppt hast? Und du glaubst, damit könntest du alles wieder aufwiegen?“

„Das sagst du, nicht ich.“ Claires Stimme wurde jetzt lauter. „Und da du davon sprichst, dass ich endlich einmal hier auftauche – ich habe seit Jahren versucht, Verbindung zu dir aufzunehmen. Ich habe Briefe geschickt und E-Mails, ich habe dir Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Von dir bekomme ich keine Antwort. Nie. Ich habe dich eingeladen, mich auf Tournee zu begleiten. Ich habe dich gefragt, ob ich nach Hause kommen kann. Die Antwort ist immer dieselbe: nein. Oder genauer gesagt: Fahr zur Hölle.“

„Warum sollte ich wohl Zeit mit dir verbringen wollen? Du bist doch nichts anderes als eine egoistische, eigennützige Prinzessin, die ihre Mutter auf dem Gewissen hat.“

Und ich hasse dich!

Die letzten Worte sprach Nicole zwar nicht aus, aber das war auch nicht nötig.

Eine Zeit lang starrte Claire ihre Schwester nur an und wusste nicht, mit welchem Vorwurf sie sich als Erstes auseinandersetzen sollte. „Du kennst mich doch überhaupt nicht“, sagte sie schließlich leise. „Seit mehr als zwanzig Jahren kennst du mich nicht mehr.“

„Und wessen Schuld mag das wohl sein?“

„Meine jedenfalls nicht.“ Claire atmete tief durch. „Ich habe sie nicht auf dem Gewissen. Wir saßen zusammen im Auto. Es war spät und es regnete. Dann tauchte aus dem Nichts plötzlich ein Wagen auf, der auf ihrer Seite in unseren hineinfuhr. Wir waren eingeklemmt und kamen nicht mehr raus. Sie starb und es gab nichts, was ich hätte tun können.“

Bei der Erinnerung an diesen Albtraum schloss Claire die Augen. Die Kälte jener Nacht, die Art, wie der Regen in das zerstörte Auto getropft war, und dann, wie ihre Mutter gestöhnt hatte, als sie starb.

„Auch ich habe sie verloren“, flüsterte Claire und sah ihre Schwester an. „Sie war alles, was ich hatte, und auch ich habe sie verloren.“

„Glaubst du, das interessiert mich?“, schrie Nicole. „Nicht im Geringsten. Sie ist weggegangen. Sie hat uns deinetwegen verlassen, und sie war alles, was ich hatte. Als sie fort war, musste ich mich um alles kümmern. Damals war ich zwölf. Ich war zwölf Jahre alt, als ich begriff, dass sie lieber bei dir war als bei mir oder Jesse und Dad. Sie war einfach weg, und ich musste alles tun. Mich um Jesse kümmern, um das Haus, und in der Bäckerei aushelfen. Dann war sie tot. Kannst du dir vorstellen, wie es danach war? Kannst du das?“

Claire erinnerte sich an die Beerdigung. Wie sie dabei mehr mit Lisa zusammengestanden hatte als mit ihrer Familie, denn sie waren ihr alle fremd geworden. Und sie erinnerte sich, wie sie sich gewünscht hatte, weinen zu können, aber keine Tränen mehr hatte.

Sie wusste auch noch, dass sie mit Nicole zusammen sein wollte, ihrer Zwillingsschwester. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, dass ihr Vater nun sagen würde, es wäre jetzt an der Zeit nach Hause zu kommen, zu Hause zu bleiben. Stattdessen hatte Lisa ihm Claires Stundenplan erläutert, von ihren Konzertterminen gesprochen und davon, dass sie für ihr Alter schon sehr reif sei und in der Lage wäre, dieses Leben auch ohne einen Beschützer oder Betreuer führen zu können. Und ihr Vater hatte zugestimmt.

Die zehnjährige Jesse war für Claire schon damals eine Fremde gewesen, und Nicole war ihr gegenüber nur distanziert und wütend, wie sie es auch heute noch immer war.

„Geh doch zurück in dein vornehmes Leben“, forderte ihre Schwester sie jetzt auf. „Geh zurück zu deinem blöden Klavier und deinen Hotels. Geh dahin zurück, wo du nicht alles verdienen musst, was du erhältst. Ich will dich hier nicht haben. Ich habe dich nie hier gewollt. Und weißt du auch, warum?“

Claire hielt die Stellung, weil sie das Gefühl hatte, dass ihre Schwester es einmal aussprechen musste, und es ihre Aufgabe war, sich das alles anzuhören.

Nicoles blaue Augen funkelten vor weiß-glühendem Zorn. „Weil ich nach ihrem Tod jede Nacht darum gebetet habe, dass Gott die Zeit zurückdrehen würde und dich an ihrer Stelle sterben ließe. Und das wünsche ich mir immer noch.“

Claire saß auf ihrem Bett im Gästezimmer und ließ den Tränen freien Lauf. Eine nach der anderen kullerte ihr über die Wangen, ohne dabei allerdings irgendetwas wegzuwaschen. Sie sickerten ganz einfach nur aus der großen offenen Wunde in ihrem Innern.

Nicoles Wut und Feindseligkeit waren ihr ja bekannt gewesen, allerdings hätte sie nie gedacht, dass ihre Schwester sich wünschte, sie wäre tot.

Das Ganze ist hoffnungslos, dachte sie finster. Es war vollkommen sinnlos gewesen, nach Hause zu kommen. Niemand wollte sie hier haben, und sie wusste nicht, wohin sie sonst gehen konnte.

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte noch ein paar Minuten länger. Dann schniefte sie und machte sich klar, dass sie sich wohl kaum für immer selbst leidtun konnte. Für den Rest des Abends aber erschien es ihr dann doch noch akzeptabel.

Sie stand auf und ging zu dem Koffer, auf dessen Boden ein kleines Fotoalbum lag. Sie nahm es heraus und setzte sich wieder aufs Bett.

In dem Album gab es nur ungefähr ein Dutzend Bilder, die alle aus der Zeit stammten, bevor sie mit sechs Jahren Seattle verlassen hatte. Da waren Claire und Nicole, lachend. Claire und Nicole auf einem Pony. Ihre identischen Halloweenkostüme, als sie beide die Dorothy aus dem Zauberer von Oz sein wollten. Ein Bild zeigte sie beide, wie sie im Bett schliefen und sich dabei wie Kätzchen aneinandergekuschelt hatten.

Claire berührte die kalte, glatte Oberfläche der Bilder und schwelgte in Erinnerungen und Sehnsucht. Dabei war ihr völlig klar, dass weder das eine noch das andere etwas von dem zurückbringen konnte, was die Zeit zerstört hatte.

Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen hatte, griff sie sich eine Schachtel mit Papiertaschentüchern und stellte sie neben das Bett. Dann zog sie sich um und schlüpfte in ein übergroßes T-Shirt, das sie einmal in London gekauft hatte und auf dem vorne ein riesiges Kopfbild von Prinz William prangte. Anschließend kroch sie ins Bett. Sie wusste, sie würde nicht schlafen können, aber das Heulen würde ihr leichter fallen, wenn sie sich dabei zusammenrollen konnte.

Mit dem kleinen Fernseher, der auf der Anrichte stand, zappte sie sich durch die Kanäle, und während die Bilder an ihr vorbeizogen, fragte sie sich, ob sie und Nicole es wohl je schaffen würden, mit der Vergangenheit fertig zu werden und Frieden zu schließen. Oder sollten sie dazu verdammt sein, sich auf ewig fremd zu bleiben? Sie hatte keineswegs vor aufzugeben, aber schließlich war sie nur eine Hälfte in dieser Gleichung.

Und was war eigentlich mit Jesse los? Claire dachte an ihr Gespräch am frühen Morgen. Wie konnte Jesse nur Nicoles Vertrauen derart missbrauchen? Hatte sie wirklich mit Drew geschlafen? Könnte es nicht alles auch ein Missverständnis sein? Wenn nicht, dann dürfte es nahezu unmöglich sein, die beiden wieder zu versöhnen. Und es war ja schließlich nicht so, als machte sie selbst großartige Fortschritte. Wenn sie ehrlich war, dann ließ ihr Privatleben ihre beruflichen Probleme in einer völlig anderen Perspektive erscheinen.

Claire schloss die Augen. Sie fühlte, wie sie einschlummerte, und begrüßte das Entkommen, das der Schlaf bieten würde. Wenige Sekunden später – es konnten auch ein paar Stunden gewesen sein – vernahm sie ein Knarren, das von der Treppe herkam. Sie drehte sich um und hörte es wieder.

Es sind bloß Fußtritte, beruhigte sie sich, und wollte sich schon wieder umdrehen, setzte sich dann aber auf. Nicole konnte die Treppe doch noch gar nicht hinuntergehen und Jesse wog nicht genug, um so laut zu sein. Die Möglichkeit, dass es Wyatt sein könnte, ging ihr durch den Kopf, aber dazu klangen die Schritte wiederum zu heimlichtuerisch. Es war, als wäre derjenige, der da die Treppe heraufkam, bemüht, keinen Lärm zu machen.

Claire stieg aus dem Bett und ging auf Zehenspitzen zur Tür, die sie einen Spaltweit öffnete, um hinauszusehen. Tatsächlich, dort stand ein Fremder auf dem Treppenabsatz und starrte auf Nicoles Tür.

Er war nur wenig größer als sie selbst und schien auch nicht sonderlich kräftig gebaut zu sein. Instinktiv sah sie sich nach einer Waffe um. Das Einzige, was sie entdecken konnte, war ein Paar Schuhe mit hohen Absätzen. Sie nahm einen Schuh in die Hand und schlüpfte leise durch die Tür auf den Flur.

Der Mann ging jetzt auf Nicoles Tür zu und öffnete sie. Claire nahm sich nicht die Zeit nachzudenken, sondern ging gleich zum Angriff über. Sie sprang ihm auf den Rücken und schlug gleichzeitig mit dem Absatz des Schuhs auf ihn ein. Der Kerl stieß einen gellenden Schrei aus, torkelte in Nicoles Zimmer und brüllte dabei, sie solle ihn loslassen.

„Ruf die 911 an!“, schrie Claire noch, bevor sie und der Kerl zusammen zu Boden gingen.

Sie wappnete sich vor dem Aufprall, aber glücklicherweise schlug dann nur der Mann auf dem Holzfußboden auf, während sie obenauf landete. Während er noch nach Atem rang, ließ sie den Schuh fallen, umfasste mit beiden Händen sein rechtes Handgelenk, legte es ihm auf den Rücken und zog es fast bis zu den Schulterblättern hoch. Er brüllte vor Schmerz. Gleichzeitig setzte sie ihm dann noch ihren Fuß in den Nacken und drückte ihn so fest nach unten, wie sie nur konnte.

Der Mann stieß laute Flüche aus. „Ich blute, verdammt noch mal. Lieber Himmel Nicole, was zum Teufel ist hier los?“

„Ruf die 911 an“, wiederholte Claire. „Ich kann ihn nicht mehr lange halten.“

Nicole setzte sich auf und starrte sie an. „Claire, ich muss wirklich sagen, du bist beeindruckend. Wo hast du denn das gelernt?“

Claire merkte, wie ihr die Kraft schwand. „Seit ein paar Jahren habe ich außerhalb der Spielzeit Kampfsport gemacht. Dann habe ich auch meinen Bodyguards bei der Arbeit zugesehen.“

„Du hast Bodyguards?“

Wieder mal das falsche Wort zur falschen Zeit, dachte Claire und stöhnte. „Nicht immer. In New York nicht, aber in Europa manchmal. Fans können sehr aggressiv sein.“

„Nicole!“

Das hatte dieser Kerl gerufen. Claire sah erst ihn an, dann ihre Schwester. „Er kennt dich?“

„Offensichtlich, ja. Du kannst ihn loslassen. Das ist Drew. Mein Mann.“

Ihr ... „Was?“ Claire ließ das Handgelenk des Kerls los und nahm den Fuß von seinem Nacken. „Drew?“ Das also war dieser hinterhältige Mistkerl, der mit der Schwester seiner Frau schlief?

Besagter Mann erhob sich langsam und sah sie wütend an. „Wer zum Teufel sind Sie?“

Er scheint ja ganz gut auszusehen, dachte sie abwesend. Einmal abgesehen von dem tiefen Loch auf der Wange, aus dem Blut sickerte, und einem weiteren gleich unter seinem Ohr. Die Wunden gaben dem Ausdruck „Killerpumps“ jedenfalls eine völlig neue Bedeutung.

Sie ignorierte ihn einfach und hob ihren Schuh auf. „Ich bin hinten auf dem Flur, falls du mich brauchst.“

Nicole sah sie an. „Danke.“

„Keine Ursache.“

Claire ließ die Tür zu Nicoles Zimmer offen und zog sich ins Gästezimmer zurück. Als sie die Tür hinter sich schloss, hörte sie noch, wie Drew entnervt seine Frage wiederholte: „Wer zum Teufel ist das?“ Nicoles Antwort konnte sie nicht mehr verstehen.

Sie war stolz auf sich selbst und fühlte sich von Nicole bestätigt. Sie sank auf ihr Bett und grinste. Das hatte sie gut gemacht. Vielleicht sollte sie ja anfangen, im Fitnessstudio zu trainieren, um kräftiger zu werden. Oder auch den Kampfsport wieder aufnehmen. Sie könnte sich zu einer richtig gefährlichen Waffe entwickeln. Aber dann betrachtete sie ihre langen, spitz zulaufenden Finger, die ein Teil ihrer begnadeten Hände waren. Es wurde von ihr erwartet, dass sie die unter allen Umständen schützte, deshalb sollte sie es vielleicht doch lieber lassen.

Am liebsten hätte sie sich an die Tür gestellt und gelauscht, aber das gehörte sich natürlich nicht. Daher lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher und gab sich alle Mühe, einer Sendung des Home & Garden TV Interesse abzuringen, nur um dann aufzuschrecken, als Drew anfing zu brüllen.

„Du verstehst das alles völlig falsch!“

„Und was könnte ich da falsch verstehen?“, konterte Nicole in derselben Lautstärke. „Willst du mir etwa sagen, dass ihr bloß auf dem Teppich ausgerutscht und dann versehentlich im Bett gelandet seid? Sie ist meine Schwester, du Widerling. Meine kleine Schwester. Wenn du schon herumhuren musst, solltest du dich zumindest von der Familie fernhalten.“

„Versteh doch, ich weiß, es ist schlimm, aber es ist nicht so, wie du glaubst.“

„Es wird dir nicht helfen, wenn du sagst, dass es keine Bedeutung hatte.“

„Das sage ich ja auch gar nicht. Es ist nur ... ich will, dass du weißt, wie leid es mir tut, dass es dich so sehr verletzt.“ Seine Stimme war jetzt leiser geworden.

Claire stellte den Ton des Fernsehers ab und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Als sie immer noch nichts hören konnte, öffnete sie sie einen kleinen Spalt.

„Es war nie meine Absicht, dich zu verletzen“, sagte Drew gerade.

Claire runzelte die Stirn. Sie war ja bereit zuzugeben, dass sie nichts von Mann-Frau-Beziehungen wusste und die damit verbundenen Komplikationen nicht kannte, aber Drew schien sich aus ihrer Sicht doch für das Falsche zu entschuldigen. Das Problem war ja wohl weniger, dass er Nicole verletzt hatte, das Problem war vor allem, dass er mit ihrer Schwester Sex hatte.

Nicole schien der gleichen Meinung zu sein. Erst war ein lautes Krachen zu hören, und gleich darauf ein: „Verschwinde, du schleimiger Mistkerl. Raus hier!“

Claire schob die Tür etwas weiter auf. Wenn es sein müsste, war sie bereit, Drew aus dem Haus zu eskortieren. Sie fragte sich, wie er überhaupt hereingekommen war, und überlegte, dass er wohl immer noch einen Schlüssel haben musste. Daher nahm sie sich vor, mit Nicole zu besprechen, dass die Schlösser ausgetauscht werden mussten. Bevor sie aber noch dazu kam, zu entscheiden, ob sie sich nun einmischen sollte oder nicht, hörte sie erneut Schritte auf der Treppe. Wer war es wohl diesmal?

Wyatt konnte nicht fassen, dass Drew dumm genug war, sich hier blicken zu lassen. Es gab Beziehungen, die nicht mehr zu retten waren, und seine Ehe mit Nicole gehörte dazu. Die Sache mit Jesse war einfach nicht wiedergutzumachen. Wyatt war sich noch nicht ganz im Klaren darüber, ob Drew einfach viel zu optimistisch war, oder nur zu dumm, um sich das selbst denken zu können.

Er eilte die Treppe hinauf, nur um dann, kurz bevor er oben ankam, abrupt stehen zu bleiben, als er Claire auf dem Treppenabsatz erkannte. Sie sagte etwas. Zumindest nahm er das an, denn ihre Lippen bewegten sich und vermutlich waren da auch Laute. Laute, die er aber nicht hören konnte. Jedenfalls nicht, solange sich jede einzelne Zelle in seinem Körper nach ihr umdrehte, um einen Blick auf sie zu erhaschen, wie sie dort stand, nur mit einem übergroßen T-Shirt bekleidet, unter dem sie – er fluchte und betete zugleich – nichts weiter anhatte.

Ihr Gesicht war frei von jeglichem Make-up und ihr Haar fiel lang und glatt herunter. Das T-Shirt reichte nur knapp bis zu den Oberschenkeln, und er hätte jeden Penny, den er besaß, darauf gewettet, dass sie keinen BH trug.

„Er ist einfach so hier aufgekreuzt. Ich wusste ja nicht, wer er war, also habe ich ihn angesprungen. Ich glaube nicht, dass die Löcher wirklich tief sind, und mir ist es auch ziemlich egal, aber vielleicht sollte ja doch einmal jemand danach sehen. Rein vorsorglich. Die Wunden könnten sich schließlich entzünden.“

Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wovon sie eigentlich sprach.

Dann trat sie einen Schritt auf ihn zu. Jepp, kein BH! Schlimmer noch, er konnte erkennen, wie sich die Umrisse ihrer Brustwarzen abzeichneten und ihre Nippel gegen den weichen Baumwollstoff drückten.

Höschen, sagte er sich. Sie musste doch zumindest ein Höschen tragen. Das war doch schon mal etwas, oder?

Es reichte aber nicht. Nicht solange er sich Claire nur in Seide und Spitzen vorstellte. Er rieb sich den Nasenrücken. Warum sie? Das war alles, was er wissen wollte. Gut, sein Geschmack in Bezug auf Frauen war miserabel, das akzeptierte er ja. Aber warum sie? Warum nicht eine, die halbwegs intelligent war und Mitgefühl besaß? Oder doch zumindest einfach eine ganz normale Person? Nicht diese Eisprinzessin!

Er ging an Claire vorbei in Nicoles Schlafzimmer. Seinen Stiefbruder ignorierte er einfach, stattdessen fragte er Nicole: „Alles in Ordnung?“

Nicole schüttelte den Kopf. „Bring ihn bloß hier raus!“

„Natürlich.“ Wyatt sah Drew an. „Du hättest nicht kommen dürfen. Du ...“

Erst dann fielen ihm die Lochwunden auf Drews Wange und an seinem Hals auf. „Wie ist denn das passiert?“

„Claire hat ihn angegriffen“, erklärte Nicole. Sie schniefte, musste dann aber gleichzeitig lachen und weinen. „Es war wirklich beeindruckend. Sie ist von hinten auf ihn gesprungen und hat dann angefangen, mit einem Pumps auf ihn einzuschlagen. Dann sind sie beide zu Boden gegangen, und sie hat ihn in so eine Art Polizeigriff genommen und ihm dann ihren Fuß in den Nacken gesetzt. Sie scheinen doch recht interessante Fächer an dieser Musikschule zu haben.“

Claire hatte Drew angegriffen, um ihre Schwester zu verteidigen? Wer hätte das gedacht.

„Sie hat mich vollkommen überrascht“, erklärte Drew defensiv. „Ich hab ein wenig getrunken und meine Reflexe funktionieren wohl nicht richtig.“

Wyatt konnte nicht anders, er musste einfach grinsen. „Ein Mädchen hat dich also zu Boden geworfen?“

„Halt die Klappe.“

„Ich würde ja sagen, sorg doch dafür, dass ich es tue. Aber wir wissen ja beide, dass du das nicht schaffst. Ich möchte bezweifeln, dass Claire dreiundsechzig Kilo auf die Waage bringt. Mensch, Drew, wenn das mal nicht echt peinlich ist.“ Wyatt griff nach dem Arm seines Bruders. „Komm schon. Ich fahre dich nach Hause. Da kannst du deinen Rausch ausschlafen.“

Drew riss sich von ihm los. „Ich werde nicht gehen. Ich gehöre hierher. Zu Nicole. Ich liebe sie.“

„Du hast eine merkwürdige Art, ihr das zu zeigen“, brummte Wyatt. „Los jetzt. Sonst muss ich Claire bitten, dich noch einmal zu verprügeln.“

„Lass mich in Ruhe. Ich bin wenigstens bereit, um meine Frau zu kämpfen.“

Wyatt ignorierte die Stichelei. Shanna war es nicht wert, dass man um sie kämpfte. „Wärst du treu gewesen, müsstest du jetzt nicht kämpfen.“

Drew warf ihm einen wütenden Blick zu und stolzierte auf den Flur hinaus. Wyatt sah ihm nach, um sicherzustellen, dass er nicht in Claires Zimmer lief. Dann drehte er sich wieder zu Nicole um.

„Alles in Ordnung mit dir? Einer seiner Kumpels hat mir erzählt, dass er heute Abend ziemlich viel getrunken hat und davon schwafelte, wie sehr er dich vermisst. Er hielt es bloß für Geschwätz, aber ich bin zu Drew nach Hause gefahren, um mich zu vergewissern, dass er dort auch angekommen ist. Aber dort war er nicht. Deshalb bin ich hier vorbeigefahren und sah dann seinen Truck vor dem Haus stehen.“

Nicole ließ sich in die Kissen zurückfallen. „Er ist ein Idiot und will sich nicht einmal für das entschuldigen, was er getan hat. Es tut ihm zwar leid, dass er erwischt worden ist, aber ich habe nicht den Eindruck, dass er es sonderlich problematisch findet, dass es ausgerechnet Jesse war, mit der er Sex hatte.“ Ihr standen Tränen in den Augen. „Ich kann einfach nicht fassen, was passiert ist.“

Wyatt setzte sich zu ihr. „Ich weiß. Er ist zu dumm fürs Leben.“

Sie nickte. „Ich liebe ihn nicht mehr. Ich kann es nicht. Aber trotzdem tut es immer noch weh.“ Sie trocknete sich das Gesicht mit einem Papiertaschentuch. „Danke, dass du vorbeigekommen bist.“

„Das klingt fast so, als hättest du dich wieder gefangen.“

Etwas angeschlagen lächelte Nicole. „Claire war wie ein Tier. Ich war echt beeindruckt.“

„Drew wird sich wochenlang gedemütigt fühlen. Das ist schon einiges wert.“

„Allerdings.“

Er klopfte ihr auf den Arm und erhob sich. „Ich will mal dafür sorgen, dass er in einem Stück zu Hause ankommt.“

„Okay.“

„Dann bis morgen früh.“

Er wappnete sich gegen den Effekt, den eine weitere Begegnung mit Claire auf ihn haben würde. Sie lungerte dann auch tatsächlich im Flur herum, sah in jeglicher Hinsicht umwerfend sexy aus und war praktisch nackt. Vermutlich gehörte sie zu den Frauen, die behaupteten, dass sie keine Ahnung hatten, was sie einem Mann antaten, wenn sie so herumhüpften.

Er hasste dieses Bedürfnis, das ihn überkam, diese Hitze und das Verlangen, das ihn auf seine Urinstinkte zurückwarf und so hungrig machte. Sie war nun wirklich die völlig falsche Frau für ihn – nicht, dass er jemals der richtige Mann für sie sein könnte.

Claire sah an Wyatt vorbei zu ihrer Schwester hinüber. Wie gern hätte sie mit Nicole geredet, um sie zu trösten und ihr die schreckliche Situation vielleicht ein wenig zu erleichtern.

„Ich muss mit Ihnen sprechen“, sagte Wyatt und klang dabei fast zornig.

Sie straffte die Schultern. „Ich bedaure nicht, Drew verletzt zu haben.“

„Das tue ich auch nicht.“

„Oh. Okay. Ich dachte Sie wären wütend auf mich oder so.

„Ich bin nicht wütend.“

Er fixierte irgendetwas, das sich über ihrem Kopf befinden musste, daher drehte Claire sich um, konnte aber nicht feststellen, was seine Aufmerksamkeit so fesselte.

„Es geht um Amy“, stieß er schließlich hervor. „Meine Tochter.“

Sie kreuzte die Arme vor der Brust. „Ich weiß, wer Amy ist.

„Normalerweise kümmert Nicole sich an ein paar Tagen in der Woche um sie. Nach der Schule. Und bloß so lange, bis ich mich von der Arbeit frei machen kann. Da Nicole aber jetzt im Bett bleiben und sich erholen muss, ist das nicht mehr möglich. Ich bin Bauunternehmer, deshalb kann Amy nicht immer bei mir sein. Baustellen sind kein sicherer Platz für ein Kind.“

Claire hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte. Vielleicht wollte er sie ja bitten, Amy zu ihrem neuen Babysitter zu fahren.

„Sie mag Sie“, sagte er und klang dabei, als würde ihn das unglücklich machen. „Wären Sie eventuell bereit, sie zu betreuen? Es würde ja nicht für lange sein. Eine Woche oder so. Ich werde Sie bezahlen.“

Claire blinzelte. Amy mochte sie? Ihr wurde ganz warm ums Herz. „Wirklich? Sie hat tatsächlich gesagt, dass sie mich gerne als Babysitter hätte?“

„Stellen Sie sich vor“, brummte er.

Amy mochte sie! Am liebsten hätte Claire gleich hier auf dem Treppenabsatz einen kleinen Freudentanz aufgeführt. Endlich, es gab hier jemanden, der sich über ihre Gesellschaft freute.

„Ich mag sie auch“, beeilte sie sich, Wyatt zu versichern. „Natürlich werde ich mich um sie kümmern. Ich wäre entzückt. Sagen Sie mir nur, wann und wo, und ich werde da sein. Dafür müssen Sie mich nicht bezahlen. Ich freue mich, wenn ich helfen kann.“

„Machen Sie nicht mehr daraus, als es ist.“

„Das werde ich nicht.“

„Sie strahlen so. Das ist seltsam.“

„Ich bin ganz aufgeregt. Es ist eine Möglichkeit für mich, die Taubstummensprache zu lernen.“

„Daran ist nichts Aufregendes. Sie ist ein Kind und Sie passen auf sie auf. Punkt.“

Für ihn mochte es ja so sein, aber für sie war es das erste positive Ereignis, seit sie nach Seattle gekommen war.

„Soll ich morgen anfangen?“, fragte sie ihn.

Er seufzte schwer. „Ich werde es bereuen, oder?“

Claire unterbrach ihren inneren Freudentanz. „Nicht einmal für eine Minute. Ich danke Ihnen, Wyatt.“

Er brummte irgendetwas in seinen Bart und verließ das Haus. Claire tänzelte in ihr Zimmer, wo sie sich aufs Bett fallen ließ.

Das ist ein Zeichen, dachte sie. Die Dinge wendeten sich, und alles würde ein gutes Ende nehmen.

6. KAPITEL

Am nächsten Morgen erschien Claire um vier Uhr dreißig in der Backstube. Als Sid sie sah, schüttelte er auf der Stelle den Kopf.

„Nein.“

Claire ignorierte das einfach. „Ich bin gekommen, um zu arbeiten.“

„Ihre Hilfe können wir uns nicht leisten.“

„Gestern ging es ganz gut.“

„Sie hatten einen Zusammenbruch.“

Claire mochte nicht daran denken. „Ich hatte eine Panikattacke und bin damit fertig geworden. Ich habe Ihnen geholfen, als Sie Schwierigkeiten hatten. Sie schulden mir etwas.“

„So ein Blödsinn.“

Nun stemmte sie die Hände in die Hüften. „Es ist wahr, und das wissen Sie. Abgesehen davon, ich bin Nicoles Schwester. Dies ist eine Familienbäckerei und ich gehöre zur Familie. Jetzt geben Sie mir schon etwas zu tun.“

Wütend funkelte er sie an. „Weshalb sind Sie eigentlich hier?“

Sie dachte an Richard Gere in dem Film Ein Offizier und Gentleman, die Stelle, als er leidenschaftlich ausruft, er hätte keinen anderen Ort, wohin er gehen könnte. „Es ist mir einfach wichtig. Ich biete Ihnen an, kostenfrei zu arbeiten. Wo ist da das Problem?“

„Vor zwei Tagen haben Sie eine komplette Ration Baguette verdorben. Sie sind eine Nervensäge.“

Claire zuckte zusammen. „Die Sache mit dem Salz war nicht allein meine Schuld.“

Sid funkelte sie nur an.

Abwehrend hob sie die Hände. „Nicht, dass ich meine Verantwortung für diese Situation nicht übernehmen würde. Also seh’n Sie, ich will doch nur helfen. Es muss doch etwas geben, das ich tun kann.“

Trotz des Lärms der Mixer und dem Summen der Ofen hätte sie schwören können, dass sie sein ungeduldiges Schnauben hören konnte. Aber dennoch wies er sie nicht noch einmal ab. Stattdessen brüllte er: „Phil, die Prinzessin ist wieder da.“

Phil, ein großer, dünner Mann, streckte seinen Kopf hinter einem Stapel Backbleche hervor. „Sag ihr, sie soll sich von mir fernhalten.“

„Ich dachte, sie könnte vielleicht das Streuen übernehmen.“

„Was?“

Sid stieß sie mit dem Finger an. „Vermasseln Sie das bloß nicht.“

„Das ist doch mal ein Wort, mit dem ich leben kann. Ich schwöre, ich werde es nicht vermasseln.“

Im Davongehen wirkte Sid wenig überzeugt.

Claire wandte sich Phil zu und schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. Er sah sie nur düster an. „Kommen Sie.“

Sie folgte ihm, schlängelte sich durch enge Durchgänge hindurch und vermied dabei jeglichen Kontakt mit sämtlichen Ausrüstungsgegenständen. Vor einem der langsamen Transportbänder hielten sie schließlich an.

„Die Streuvorrichtung ist kaputt“, erklärte Phil und reichte ihr ein Haarnetz und Handschuhe. „Sie werden mit der Hand streuen. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Haben Sie das verstanden, Goldlöckchen?“

Sie nickte und wünschte nur, sie wüsste, wie viel die richtige Menge war.

„Wollen Sie in den Klamotten arbeiten?“, fragte er.

Claire sah an sich hinunter auf ihre schwarze Hose und den Strickpullover, dann nickte sie.

Er murmelte irgendwas, reichte ihr einen Gegenstand, der aussah wie ein riesiger Salzstreuer, und drückte dann auf einen Knopf an dem Transportband, das sich sogleich in Bewegung setzte.

Stück für Stück kamen nun mit Schokoladenguss überzogene Donuts auf sie zu.

„Fangen Sie an zu streuen!“, rief Phil ihr zu.

Sie hasste es, falsch gekleidet zu sein, und es machte sie nervös, wie er sie missbilligend beobachtete. Schlimmer noch, als sie den Streuer über dem ersten Donut auf den Kopf stellte, fiel gleich mindestens ein ganzes Pfund der bunten Zuckersprenkel heraus.

„Na super“, meckerte er.

„Ich werde es schon lernen“, sagte sie, wobei sie sich bemühte, nicht defensiv zu klingen.

„Sie sollen nur streuen. Da ist nichts zu lernen.“ Mit diesen Worten zog er von dannen.

Schnell hatte Claire dann den richtigen Winkel heraus, in dem sie den Streuer halten musste, und begann, alle Donuts gleichmäßig zu besprenkeln. Schokoladenüberzug wechselte mit Zuckerüberzug, und Claire streute und streute. Als ihr rechter Arm müde wurde, benutzte sie den linken, und so immer wieder hin und her.

Dreißig Minuten später hatte sie in beiden Armen stechende Schmerzen und ihre Hände zitterten, aber sie gab nicht auf, bis Phil wieder auftauchte und das Transportband abstellte.

„Muffins auf Tabletts“, erklärte er knapp und ging los.

Sie setzte den Sprenkelstreuer ab und folgte ihm.

Als sie vor unendlich vielen Backblechen mit riesigen, warmen, dampfenden Muffins standen, machten sie Halt. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen.

Phil zeigte erst auf die Muffins, dann auf große leere Tabletts, die in die Ladentheke passten. „Immer eine Sorte auf jedes Tablett. Und machen Sie die Tabletts voll. Haben Sie das verstanden?“

Sie nickte und machte sich an die Arbeit.

Nachdem sie ihren Dienst an den Muffins erledigt hatte, stopfte sie noch Dutzende und Aberdutzende Bagels in Brotkörbe. Um sechs Uhr dreißig stahl sie sich aus der Backstube davon und fuhr zum Haus zurück. Dort machte sie Kaffee und trug ihn zusammen mit zwei frischen Muffins die Treppe hinauf.

Nicole schlief noch. Claire schlich sich ins Zimmer, stellte alles auf ihren Nachttisch und ging auf Zehenspitzen wieder hinaus. Um Viertel nach sieben stand sie wieder in der Backstube, diesmal mit der Aufgabe beschäftigt, Brotlaibe in Plastiktüten zu stopfen.

Als Nicole erwachte, rollte sie sich erst einmal auf die andere Seite. Sie brauchte einen Moment, bis sie sicher war, dass der Duft von Kaffee nicht nur in ihrer Einbildung existierte und dass neben der Kaffeekanne auch noch ein Teller mit frischen Muffins stand. Muffins, die nur aus der Bäckerei stammen konnten.

Es war kaum halb acht, was bedeutete, dass Claire früh aufgestanden und zur Bäckerei gefahren sein musste, die Muffins geholt hatte und wieder zurückgekommen war. Für jeden anderen mochte das ja keine große Sache sein, aber für die Pianoprinzessin? Richtige Arbeit?

Langsam setzte Nicole sich auf und unterdrückte ein Stöhnen, als die Bewegung an ihrer Operationswunde zerrte. Sie hatte Schmerzen, und damit begannen neuerdings alle ihre Tage. Sie wusste zwar, dass die Genesung voranschritt, aber der Prozess dauerte doch sehr viel länger, als sie es sich gewünscht hätte. Da waren ...

Auf einmal stürzten die Erinnerungen vom Vorabend auf sie ein. Ihr Streit mit Claire; das, was sie, Nicole, ihr an den Kopf geworfen hatte; dann Drew, der plötzlich aufgetaucht war, und wie Claire ihn angegriffen hatte.

Wie eine Besessene war sie ihm auf den Rücken gesprungen und hatte diesen Pumps dabei wie ein Messer geschwungen. Sie hatte es geschafft, Drew zu Boden zu werfen, eine wirklich imponierende Leistung. Claire hatte sie beschützt, und das nach allem, was sie ihr vorgeworfen hatte.

Nicole griff nach der Kanne, schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und trank die heiße Flüssigkeit in kleinen Schlucken.

Claire kam ihr vor wie ein Hündchen, das einem immer wieder hinterherlief, egal wie oft man ihm sagte, es solle verschwinden. Nur – Claire war kein Hündchen, und Nicole hatte ihr auch nicht bloß gesagt, sie solle verschwinden, sie hatte ihr gesagt, sie wünschte, sie wäre tot.

„Jemandem so etwas zu sagen, ist wirklich ziemlich scheußlich“, murmelte sie vor sich hin. Noch schlimmer aber war, dass sie es zu der Zeit auch so gemeint hatte. Nicht gestern, aber vor zwölf Jahren, nach dem Tod ihrer Mutter. Damals hatte sie sich wirklich gewünscht, es hätte Claire an ihrer Stelle getroffen.

So weit hätte es nie kommen dürfen, dachte Nicole traurig. Alles hätte anders sein müssen. Als sie klein waren, standen sie und Claire sich doch so nahe. Wie die meisten Zwillinge wussten sie immer, was die andere dachte. Sie waren füreinander da. Und dann war Claire eines Tages einfach weg und Nicole hatte sich gefühlt, als hätte man ihr einen Arm abgehackt.

Wochenlang war sie weinend von Zimmer zu Zimmer gelaufen und hatte geglaubt, wenn sie nur lange genug suchte, würde sie ihre Schwester schon wieder finden. Aber Claire war wirklich nicht mehr da und, dachte Nicole bitter, hatte vermutlich derweil ihr neues Prinzessinnendasein in vollen Zügen genossen.

Der übliche Ärger kam in ihr hoch, der Neid auf alles, was Claire erfahren durfte, der Verdruss darüber, dass sie, Nicole, überhaupt noch an ihr hing. Und richtige Wut, weil sie selbst in Seattle festsaß und sich um alles kümmern musste.

Dann trank sie noch ein wenig mehr von dem Kaffee, den Claire gekocht und ihr hingestellt hatte. Nun gut, vielleicht war es ja nicht gleich der Beginn des Weltfriedens, aber Claire gab sich wirklich Mühe. Schließlich hätte sie auch schon beim ersten Mal, als Nicole sie dazu aufgefordert hatte, wieder abreisen können. Aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte durchgehalten und es weiter versucht.

Bei jedem anderen hätte Nicole ja gerne angenommen, dass es etwas zu bedeuten hatte. Aber bei Claire ...? Nicole konnte sich nicht darüber klar werden, ob dies nun alles ein Spiel war oder nicht. Vielleicht aber, und auch nur vielleicht, war es nun doch an der Zeit, nicht immer nur das Schlimmste anzunehmen.

Kurz nach Mittag kam Claire die Treppe herauf. Sie klopfte kurz an Nicoles Tür, die offen stand, und trat ein.

„Wie geht es dir?“, fragte sie.

„Etwas besser.“

„Das ist gut.“

„Danke für den Kaffee und die Muffins. Die waren lecker.“

Claire strahlte. „Gern geschehen. Es war mir ein Vergnügen.“

Auf der Stelle explodierten in Nicoles Hirn tausend sarkastische Bemerkungen, die so schnell auf sie einstürzten, dass sie Schwierigkeiten gehabt hätte, sich eine davon auszusuchen. Aber sie erinnerte sich daran, was gestern geschehen war, an das, was sie zu Claire gesagt hatte und was Claire für sie getan hatte, und sie schwor sich zu versuchen, nicht mehr so ein Biest zu sein.

„Du bist früh aufgestanden.“

Claire machte es sich auf dem Stuhl beim Bett bequem. „Um halb fünf war ich in der Bäckerei. Sid hat fast einen Herzanfall bekommen. Ich habe ihm dann versprochen, dass ich ihm nichts mehr verderbe, und habe ihm gesagt, dass ich nur helfen will. Zuerst hat er mir gar nichts geglaubt, aber dann hat er mich arbeiten lassen. Ich habe die Zuckersprenkel verteilt und die Bagels sortiert. Solche Sachen halt.“

Idiotenarbeit, dachte Nicole. Das, womit die Kids immer anfingen. Und „Kids“ war dann auch das Stichwort.

„Wieso tust du das?“, fragte sie. „So früh aufstehen und dann dort hingehen und diese miesen Jobs machen?“

Claire legte die Stirn in Falten. „Weil es ein Familiengeschäft ist und du im Moment selbst nicht dorthin kommst. Natürlich weiß ich, dass ich gerade dich nicht ersetzen kann, aber vielleicht kann ich ja damit jemanden entlasten, der sich dann um anderes kümmern kann, das wichtiger ist.“

Die Worte ergaben zwar Sinn, waren für Nicole aber im Zusammenhang gesehen etwas verwirrend.

„Du bist eine berühmte Konzertpianistin. Wahrscheinlich verdienst du Millionen im Jahr. Was sollte dir die Bäckerei bedeuten?“

Claire starrte sie an, als wäre sie nicht ganz gescheit. „Du bist doch meine Schwester. Natürlich bedeutet mir das etwas.“

Nach allem, was geschehen war. Nach allem, was gesagt worden war. Zum ersten Mal seit Langem ... vielleicht das erste Mal überhaupt ... fühlte Nicole sich sehr, sehr klein.

„Versteh doch, ich ...“ Sie presste die Lippen zusammen. Sich zu entschuldigen, war nicht unbedingt ihre Stärke. „Wegen gestern Abend. Das, was ich gesagt habe.“ Sie seufzte. „Es tut mir leid.“

Claire nickte. „Ich weiß. Und ich bin mir sicher, dass ich an deiner Stelle dasselbe gesagt hätte.“

Irgendwie bezweifelte Nicole das.

„Ist schon in Ordnung“, fügte Claire hinzu.

Auch das konnte Nicole nicht so recht glauben, aber sie hatte sich entschuldigt und wollte jetzt versuchen, freundlicher zu sein.

„Ich finde die Bäckerei wirklich interessant“, sagte Claire. „Alles geht so schnell. Und all diese Produkte. Sid hat mich ja von der Schokoladentorte ferngehalten, aber ich habe gesehen, wie ein paar davon aus dem Ofen kamen.“

„Die berühmte Schokoladentorte aus dem Hause Keyes“, knurrte Nicole. „Ein echter Verkaufsschlager.“

Seit Generationen war das Rezept ein Familiengeheimnis, und in Seattle war sie allseits beliebt. In den Achtzigerjahren wollte ein Lokalpolitiker Eindruck schinden und hatte eine Torte an Präsident Reagan geliefert. Als sie dann bei einem Dinner im Weißen Haus serviert wurde, hatte der Präsident erklärt, sie sei besser als Jellybeans.

Vor drei Jahren hatte Nicole dann einmal einen Anruf von einem Produzenten der Oprah Winfrey Show erhalten, der sie einlud, den Kuchen in der Show vorzustellen. Um die erwartete Flut der Anrufe bewältigen zu können, hatte Nicole ein Callcenter beauftragt, ihre Angestellten auf Achtzehnstundenschichten eingestellt und war mit hohen Erwartungen nach Chicago geflogen.

Oprah war bezaubernd und hatte auch insgesamt acht Sekunden lang von der Torte geschwärmt. Dann aber hatte sie das Gespräch auf Claire und eins ihrer Konzerte gelenkt, welches die Talkshowqueen bloß ein paar Wochen vorher besucht hatte. Nach der Sendung hatte es dann eine kurze Welle von Bestellungen gegeben, dem nichts weiter gefolgt war.

„Ich weiß nicht, wie du es schaffst, dieses Geschäft zu führen“, sagte Claire ernsthaft. „Es ist eine Menge Arbeit. Woher weißt du, wie viel Donuts und Bagels produziert werden müssen? Und wie viel von welcher Sorte? Dann auch diese ganzen Leute, die für dich arbeiten, das muss ganz schön schwierig sein. Ich habe ja nur Lisa, und schon das ist manchmal ein Problem.“

„Wir wissen ja, was gekauft wird“, erklärte Nicole und verkniff sich das Bedürfnis, sie anzublaffen. „Schließlich können wir auf jahrelange Erfahrung zurückblicken.“

„Aber du führst das Geschäft sehr erfolgreich.“

Nicole zuckte die Schultern. „Ich mache das jetzt seit Jahren. Als Kind habe ich damit angefangen auszuhelfen, und als ich in der Highschool war, habe ich schon fast alles gemacht. Komplett übernommen habe ich das Geschäft dann zwei Jahre später.“

Ihr Vater hatte sich nie für die Bäckerei interessiert. Er hatte es nur getan, weil er sich dazu verpflichtet fühlte, aber Nicole machte die Arbeit wirklich Spaß.

„Das hätte ich nie gekonnt“, meinte Claire. „Ich besitze keinerlei Geschäftssinn.“

„Du hast keine Praxis“, erwiderte Nicole. „Es würde anders aussehen, wenn du hiergeblieben wärest.“

Claire biss sich auf die Lippe. „Ich bedaure, dass ich weggegangen bin.“

Nicole hatte das Gefühl, dass die Konversation in eine Richtung lief, in die sie nicht wollte. „Du warst damals sechs“, sagte sie widerwillig. „Da hattest du ja wohl kaum eine Wahl.“

„Aber hier ist dann alles an dir hängen geblieben. Die Bäckerei. Jesse. Mit allem musstest du allein fertig werden.“

„Bei Letzterem habe ich jedenfalls versagt, das ist mal sicher“, murmelte Nicole und versuchte, nicht in dieser unguten Kombination aus Demütigung, Wut und Schmerz zu versinken, die sich immer dann einstellte, wenn sie daran dachte, wie Jesse und Drew sie betrogen hatten.

„Das tut mir wirklich leid.“

„Wie hast du es erfahren?“ Nicole konnte sich nicht vorstellen, dass Wyatt ihr davon erzählt hatte.

„Jesse hat es mir erzählt. Vor zwei Tagen hat sie hier vor dem Haus kurz gehalten. Sie war es ja auch, die mich angerufen hatte, um zu fragen, ob ich nicht helfen kann.“ Claire verzog den Mund. „Es ist mir unbegreiflich, wie sie so etwas tun konnte.“

„Mir auch“, sagte Nicole und hasste sich dafür, dass sie gern gefragt hätte, wie es Jesse geht. Vermisste sie ihre Schwester etwa? Nach allem, was sie ihr angetan hatte? Unmöglich. „Lass uns das Thema wechseln.“

„In Ordnung. Wyatt hat mich gebeten, auf Amy aufzupassen.“

„Hast du Erfahrung im Babysitten?“

„Nein. Aber ist es denn so schwierig?“

Durch Nicoles Kopf schössen ein Dutzend schnippischer Bemerkungen, eine verletzender als die andere, aber anstatt sie anzubringen, lächelte sie. „Bei jedem anderen Kind könnte es das vermutlich sein, aber nicht bei Amy. Sie ist wirklich eine ganz Süße. Ich bin mir sicher, dass ihr beiden prima miteinander auskommen werdet.“

Claire wartete bereits an der Bushaltestelle, als Amy ihren Freundinnen zuwinkte und dann aus dem Bus stieg.

„Wie war dein Tag?“, gebärdete Claire und nahm dem Mädchen die Schultasche ab.

„Gut“, antwortete Amy mit dem entsprechenden Zeichen und sprach dann weiter: „Du hast geübt.“

„Ein wenig. Ich versuche es.“ Claire wies auf ihren Mietwagen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, Amy nur abzuholen und sie in Nicoles Haus mitzunehmen. Doch nun blieb sie an der Beifahrertür stehen.

„Ich muss einkaufen.“ Sie sprach langsam und sah die Kleine dabei an, damit sie ihre Lippen lesen konnte. „Ich brauche andere Kleidung. Jeans vielleicht.“

Daraufhin gebärdete Amy irgendetwas, das Claire nicht verstand.

„Sportliche Sachen“, wiederholte Amy, indem sie die Worte deutlich aussprach.

„Genau. Und dann brauche ich noch ein Kochbuch.“ Mit den Fingern buchstabierte sie „Koch“ und fügte anschließend die Gebärde für „Buch“ hinzu. „Irgendetwas ganz Leichtes. Möchtest du mit mir kommen oder sollen wir lieber ins Haus von Nicole gehen?“

Amy zeigte auf sie und sagte: „Einkaufen.“

Claire lächelte. „Wie schnell die Kleinen doch groß werden.“

Also rief Claire bei Nicole an und teilte ihr mit, dass es eine Weile dauern könnte, und zwanzig Minuten später standen sie dann auch schon vor dem Alderwood Einkaufszentrum. Nachdem sie geparkt hatten, steuerte sie mit Amy das Kaufhaus „Macy’s“ an.

„Du brauchst Jeans“, sprach und gebärdete Amy gleichzeitig.

Claire strich mit der Hand über ihre Wollhose. Mit Jeans allein war es nicht getan. Sie brauchte einen ganzen Schrank voll von Sachen, die nicht teuer waren und sich problemlos instand halten ließen. Kaschmir war ja schön, aber nicht jede Minute an jedem Tag.

Autor

Susan Mallery

Die SPIEGEL-Bestsellerautorin Susan Mallery unterhält ein Millionenpublikum mit ihren Frauenromanen voll großer Gefühle und tiefgründigem Humor. Mallery lebt mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen, aber unerschrockenen Zwergpudel in Seattle.

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