Die Rache der schönen Lady

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Sein schlechter Ruf? Darauf gibt Ross Jameson keinen Penny! Nur zu gern spielt der Charmeur den rücksichtslosen Halunken. Da ist die Eroberung seiner rätselhaften Hausdame natürlich Pflicht! Die er teuer bezahlen muss, denn Hannahs Küsse betören ihn so sehr, dass er beinahe nicht bemerkt, was sie im Schilde führt...


  • Erscheinungstag 15.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729516
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

White’s Club, Mai 1818

Die Menge, die um den Kartentisch versammelt stand, gab sich Handzeichen, die verschiedene Dinge bedeuten konnten: Entweder stand irgendwer kurz davor, eine beachtliche Geldsumme zu gewinnen, oder jemand würde in Kürze sein letztes Hemd verlieren. Von dem Spektakel wurde Ross Jameson wie eine Motte vom Licht angezogen. Am Kartentisch saß der Earl of Runcorn, der – die Augen geweitet – aus allen Poren schwitzte, während Viscount Denham einen beachtlich großen Stapel an Banknoten, den er offenbar soeben gewonnen hatte, langsam vom Tisch aufklaubte.

Ross ging zu seinem Freund Carstairs, um sich die Situation erklären zu lassen. „Was ist los?“, murmelte er, während er einen Schluck von seinem Getränk nahm.

John Carstairs tat es ihm nach, ohne den Blick von der Tragödie am Tisch abzuwenden. „Denham hat Runcorn soeben ausgenommen. Es liegen über eintausend Pfund auf dem Tisch.“

Das überraschte Ross nicht. Seit Jahren steuerte Runcorn auf den Ruin zu, und Viscount Denham bereitete es Freude, einen Dummkopf um sein Geld zu bringen.

Selbstgefällig erhob Denham sich und grinste seinen Gegenspieler an. „Es war mir ein Vergnügen, Runcorn.“

Der Geschlagene, der offensichtlich neben sich stand, blinzelte schnell. Als er in seine Jackentasche griff, sah es so aus, als würde er jeden Moment eine große Dummheit begehen. Er holte ein großes, amtliches Dokument heraus und warf es kurzerhand in die Mitte des Tisches.

„Die Besitzurkunde von Barchester Hall“, verkündete er mit verzweifeltem Eifer. „Es muss nicht innerhalb der Familie vererbt werden und steht inmitten einer wunderschönen Park- und Wiesenlandschaft. Ich setze alles, was ich verloren habe, auf das Haus.“

Die versammelte Menge hielt den Atem an.

„Was für ein Mann bringt die Besitzurkunde seines Hauses mit zu einem Kartenspiel?“, zischte Carstairs.

„Einer, der töricht genug ist, es zu verlieren“, antwortete Ross ruhig. Runcorn war nicht der erste Mann, der das Familienerbe verspielte, und er würde zweifellos auch nicht der letzte sein.

Beklommen warteten die Anwesenden, wie Denham auf die Herausforderung reagieren würde. Sie lebten für diese Art von Spektakeln und konnten es gar nicht abwarten, den Niedergang eines Mannes aus den eigenen Reihen zu erleben.

Denham hatte sich noch nicht wieder hingesetzt, betrachtete Runcorn jedoch mit unverhohlener Neugier. Für Ross war es unverkennbar, dass er sein Glück noch einen Moment auskosten wollte.

Und tatsächlich hielt Denham den Mann noch etwas hin. „Ich bezweifele stark, dass das Grundstück viel mehr als dreitausend wert ist“, sagte er abfällig, „aber mit mir lässt sich reden. Unter den Umständen werde ich …“

Ross unterbrach ihn, bevor er den Satz beenden konnte. „Ich werde die Wette annehmen, Runcorn.“ Er legte ein riesiges Bündel Banknoten auf den Tisch. „Fünftausend auf dein Haus.“

Angesichts dieser interessanten und vollkommen überraschenden Wende der Ereignisse schnappte die Menge hörbar nach Luft. Es wurde aufgeregt geflüstert, und ein oder zwei Männer empörten sich darüber, dass sich Ross’ Einmischung nicht gehören würde. Dies war Denhams Spiel – er hätte zumindest erst ablehnen sollen. Doch ein derart ordinärer Emporkömmling wie Jameson würde nie verstehen, wie die Dinge in der gehobenen Gesellschaft geregelt wurden. Andere versetzte seine scheinbare Großzügigkeit in Staunen. Fünftausend auf ein altes, heruntergekommenes Haus erschien ihnen zu viel.

Ross ignorierte sie. Stattdessen beobachtete er, wie Runcorn gierig das Geld musterte, und wusste genau, was der verdammte Narr dachte: dass er mit diesem stattlichen Betrag seine Verluste decken und ein paar Schulden begleichen könnte. Spieler wie Runcorn waren von der jämmerlichen Hoffnung getrieben, dass sich ihre Pechsträhne wandeln würde. Weiter konnten sie nicht denken.

„Abgemacht!“, rief Runcorn aufgeregt, ohne den Blick ein einziges Mal vom Geld zu nehmen.

Ross sah, wie Denham kurz seine hellen Augen zusammenkniff, bevor er widerwillig zur Seite trat, um Ross seinen Platz zu überlassen. „Was spielen wir?“, fragte Ross beiläufig, obwohl er bereits wusste, dass es Pikett sein würde.

Der arme Runcorn hatte nicht die geringste Chance. Für viele war Pikett nicht so risikoreich wie das Würfelspiel Hazard, doch in Wahrheit fiel es leichter zu betrügen, wenn man das beabsichtigte. Bei Hazard war selbst der beste Spieler nicht vor Zufall und Glück gefeit, wohingegen Pikett für jemanden mit Ross’ Verstand vorhersehbar war. Er gab ein Zeichen, damit die Karten ausgeteilt wurden, und trank noch einen Schluck von seinem Getränk, bevor er sein Blatt langsam aufnahm.

Da seine Karten gut waren, legte er sie ab und zog fünf neue. Er wollte sein Gegenüber nicht schon zu Beginn vernichtend schlagen.

Runcorn gewann die erste Runde und atmete erleichtert auf. Der Mann war tatsächlich ein erbärmlicher Spieler; kein Wunder, dass Denham ihm die Taschen geleert hatte. Er trug seine Gefühle offen zur Schau. In der zweiten Runde spielte Ross absichtlich ungeschickt und ließ es so aussehen, als ob sein letzter, siegreicher Trick Zufall gewesen wäre. Das dritte Blatt legte er ohne Umschweife ab und gewann, doch das vierte verlor er – allein um der Unterhaltung willen. Die Menge war bester Stimmung.

Runcorn war viel zu leichtsinnig und sein angespannter Zustand ließ ihn nachlässig werden. Er war so dankbar für jeden Punkt, dass er den Überblick über die abgelegten Karten verlor und offenbar nicht wusste, welche noch im Spiel waren.

Als das vorletzte Blatt ausgeteilt wurde, blieb Ross Blick an John hängen. Sein Freund sah bedeutungsvoll auf seine Taschenuhr, um ihn daran zu erinnern, dass sie an einem anderen Ort erwartet wurden. Ross hörte auf, mit seiner Beute zu spielen. Berechnend legte er eine Karte nach der anderen ab und wandte jeden Trick an, den er kannte. Am Ende der Partie bekam Runcorn sichtlich Angst. Schweißtropfen rannen ihm über das Gesicht und fielen auf den hohen Stehkragen seines modischen Hemdes.

Dieses Detail spricht ebenfalls Bände über den Mann, dachte Ross. Es war allgemein bekannt, dass der Earl of Runcorn bei allen angesehenen Geschäftsmännern Londons hohe Schulden hatte – und ebenfalls bei den weitaus weniger angesehenen. Lange Zeit hatte er über seine Verhältnisse gelebt, doch anstatt sich zu mäßigen, hatte der leichtsinnige Runcorn es vorgezogen, die Fassade des Wohlstands aufrechtzuerhalten. Damit konnte er jedoch niemanden hinters Licht führen – am wenigsten Ross, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Männer wie Runcorn ausfindig zu machen. Aus diesem Grund tat ihm sein Gegenüber auch nicht leid.

Das letzte Blatt wurde in Stille ausgeteilt, während die Zuschauer versuchten, ihre Schadenfreude zu verbergen. Runcorn brauchte mindestens dreißig Punkte, um ihn zu schlagen. Für einen brillanten Spieler, der das Spiel aufmerksam verfolgte, wäre ein derartiger Schachzug möglich gewesen. Leider traf das jedoch nicht auf Runcorn zu. Ihm mangelte es sowohl an Können als auch an Achtsamkeit.

Nachdem Runcorn seine beste Karte zu früh gespielt hatte, Ross jedoch noch zwei Könige und eine Königin auf der Hand hielt, war Runcorns Niederlage unvermeidlich. Sein Gesicht färbte sich weiß und dann zunehmend grünlich, als Ross so viele Punkte erzielte, dass sich Runcorn keine Möglichkeit mehr bot, seine Verluste wettzumachen. Als seine letzte Karte vom Herzkönig übertrumpft wurde, bedeckte Runcorn sein Gesicht mit den Händen. Um sie herum brach Applaus los.

Still nahm Ross seine fünftausend und die gefaltete Urkunde auf, um sie in der Innentasche seiner Jacke zu verstauen. Jetzt wäre auf jeden Fall ein guter Zeitpunkt gewesen, um eilig zu verschwinden.

Leise stellte sich Viscount Denham hinter ihn und flüsterte: „Wie ich sehe, ist das Glück weiterhin auf Ihrer Seite, Jameson.“

Ross nickte kurz. Er hatte soeben einen Mann in den Ruin getrieben; damit musste er sich nicht brüsten. Auch wollte er sich nicht eine Sekunde länger als nötig in Denhams Gesellschaft aufhalten. Der Mann verursachte ihm Gänsehaut.

In diesem Moment kam der Earl of Runcorn schwankend auf die Füße, ohne zu bemerken, dass er seinen Stuhl umwarf. „Gut … Gut gespielt, Sir“, stammelte er – eher aus anerzogener Höflichkeit als aus Respekt, vermutete Ross. Anschließend drehte er sich zur versammelten Menge um und neigte den Kopf. „Wenn die Gentlemen mich bitte für eine Minute entschuldigen würden.“

Ross sah, wie er taumelnd in Richtung Tür ging, und tauschte einen vielsagenden Blick mit seinem Freund aus. John nickte verständnisvoll und heftete sich an Runcorns Fersen. Er würde wissen, was zu tun war.

„Ich frage mich, Jameson“, sagte Denham mit schneidender Stimme, „sind Sie von der Aufregung des Spiels angezogen oder bereitet es Ihnen einfach immer wieder aufs Neue Vergnügen, meine Pläne zu durchkreuzen?“

Die Antwort blieb aus, als ein vereinzelter Schuss zu hören war.

Schnell stürzten alle Anwesenden zur Tür, die in den Marmorflur des Herrenclubs führte. Noch bevor Ross den Gang erreichte, ahnte er bereits, was geschehen war. Dennoch folgte er den anderen. John war natürlich schon da. Er sah erschüttert aus.

Eine gespenstische Stille breitete sich aus, während sie den schaurigen Anblick auf sich wirken ließen. Die Alabasterwände vom White’s waren übersät mit Runcorns Blut, das von den Wänden lief. Auf dem schwarz-weißen Marmorboden schimmerte rund um den Toten eine immer größer werdende Blutlache, während die Pistole, mit der sich der Earl in den Kopf geschossen hatte, in seiner zuckenden Hand qualmte.

Mit einem heimtückischen Glänzen in den Augen wandte sich Denham an Ross. „Nun ja, jetzt dürften die Zeitungen etwas haben, worüber sie morgen berichten können.“

1. KAPITEL

Gut ein Jahr später

Lady Hannah Steers las den Brief noch einmal mit zunehmender Aufregung. Wenn sie Cook Glauben schenken konnte, war das endlich die Gelegenheit, alles in Ordnung zu bringen.

„Was hast du da, Liebes?“, fragte ihre Tante Violet, die verwundert darüber war, dass Hannah überhaupt einen Brief erhalten hatte. So etwas kam nur sehr selten vor.

„Es ist ein Brief von Cook mit Nachrichten über Barchester Hall. Dieser Schuft beabsichtigt nun, dort einzuziehen. Könnt ihr das glauben?“

„Ach, meine Liebe, ich wünschte, du würdest versuchen, diesen Ort zu vergessen“, sagte Tante Beatrice besorgt. „Es ist an der Zeit, dass du dein Leben weiterlebst.“

Ihre beiden in die Jahre gekommenen Tanten setzten mitleidsvolle Mienen auf. Hannah spürte, wie Ärger in ihr aufstieg, da die beiden ihr immer noch kein Verständnis entgegenbrachten.

Wieso erwarteten sie, dass sie ihr Leben weiterlebte, wenn ihr der wichtigste Teil darin gestohlen worden war? Barchester Hall war alles, was ihr blieb.

„Tante Beatrice“, sagte sie unter Aufbringung all ihrer Geduld, „ich kann erst weitermachen, wenn ich Ross Jameson am Galgen hängen sehe. In der Zwischenzeit muss irgendwer der Welt zeigen, wie sein wahrer Charakter aussieht.“

„Unsinn!“, meinte ihre Tante. „Er wird seine wohlverdiente Strafe noch bekommen, aber es liegt nicht an dir, dafür zu sorgen. Du hast fünftausend Pfund von deinem Vater auf der Bank und du bist immer noch jung genug, um einen Mann zu finden.“

Ha! Als ob das nun jemals geschehen würde. Nach dem Skandal würde kein Mann, der etwas auf sich gab, sie anrühren – unabhängig davon, mit wie viel Zuversicht ihre Tanten auch auf sie einredeten. Außerdem wollte sie nie wieder einem Mann ihr Vertrauen schenken. In den vergangenen Jahren hatte sie gelernt, dass sie auch hervorragend allein zurechtkam.

„Du solltest jetzt dein Leben genießen. Dieser ganze Groll gegen Mr. Jameson ist nicht gesund. Tatsächlich wissen wir fast nichts über ihn. Bist du dir überhaupt sicher, dass er so schuldig ist, wie du glaubst? Schließlich kam es nie zu einer Anklage.“

Hannah spürte, wie ihr Blut bei dieser Andeutung in Wallung geriet. „Verteidige diesen verachtenswerten Gauner nicht auch noch. Ich kann dir versichern, dass er es nicht wert ist, mit Freundlichkeit behandelt zu werden. Alle meine Nachforschungen und alle Beweise, die ich zusammengetragen habe, lassen nur eine Schlussfolgerung zu. Er ist ein Verbrecher und ein Betrüger – darüber sollten wir uns im Klaren sein. Allerdings hat er seine Spuren gut verwischt. Ein jeder, der sich von einem derart niedrigen Stand einen Weg in die Gesellschaft bahnen kann, verfügt über ein besonderes Talent im Betrügen. Natürlich ist er charmant. Sein Vermögen hat ihm die Türen von einigen gehobenen Häusern in London geöffnet, doch im ton gibt es immer noch viele, die ihm den Rücken kehren. Sie wissen, was er in Wahrheit ist. Die Klatschseiten sind voll von seinen Eroberungen.“

„Muss ich dich daran erinnern, dass die Eskapaden deines Bruders ebenfalls regelmäßig in den Skandalblättern standen?“, entgegnete ihre Tante Violet. „Wir wissen alle, dass George kein Heiliger war. Auch von dir würden sich die meisten in der Gesellschaft immer noch abwenden, was du natürlich nicht verdient hast. Deshalb würde ich über diesen speziellen Punkt hinwegsehen.“

Ihre beiden Tanten tauschten einen bedeutungsvollen Blick aus, und Hannah seufzte verdrossen. Für kurze Zeit war tatsächlich auf den Skandalseiten über sie berichtet worden – sogar auf sehr spektakuläre Art und Weise. Zwar war nichts davon wahr gewesen, doch davon würde sie sich jetzt nicht ablenken lassen. Obwohl die Geschichten erlogen waren, entbehrten sie nicht jeglicher Grundlage. Schließlich waren alle – ihr eigener Verlobter eingeschlossen – von ihrer Schuld überzeugt gewesen, bevor die grausamen Worte überhaupt in den Zeitungen erschienen waren. Man hatte lediglich die Nachrichten gedruckt.

„Ich weiß, dass ihr meinen Wunsch, ihn vor Gericht zu bringen, nicht teilt, aber ich kann nicht tatenlos mitansehen, wie er Barchester Hall ruiniert. Es ist mein Zuhause, und ich liebe es. Ich muss zumindest versuchen, es zurückzubekommen. Auch wenn ich im Grunde ebenfalls glaube, dass der Gesellschaft nicht zu trauen ist, wurde zu viel über ihn geschrieben, als dass es alles falsch sein könnte. Es gibt mindestens eine Geschichte pro Woche, die entweder von einer Frau oder seinen zweifelhaften Geschäftsmethoden handelt. Er streitet nie etwas ab. Warum sollte er zulassen, dass solche Dinge gedruckt werden, wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen? Er könnte Anklage wegen Verleumdung erheben. Wusstet ihr, dass in einer Zeitung sogar behauptet wurde, er habe seinen Vater umgebracht?“

„Das kann nicht sein!“ Tante Violet legte sich die Hand über den offenen Mund.

Angesichts der Bestürzung in den Gesichtern ihrer Tanten erläuterte Hannah ihnen, was sie gelesen hatte. „Na ja, vielleicht nicht direkt. Er lieferte ihn wegen der Belohnung an die Behörden aus und sagte gegen ihn aus, sodass er in die Kolonien geschickt wurde. Auf der Überfahrt starb er dann.“

„Das macht aus ihm keinen Mörder, Hannah“, sagte Beatrice erleichtert.

„Aber es gibt Einblick in seinen Charakter, Tante. Er hat seine eigene Familie verraten und es nicht geleugnet. Welcher Mensch tut so etwas?“ Da keine ihrer Tanten etwas erwiderte, stimmten sie offenbar mit ihr überein. „Vielleicht ist Barchester Hall nicht verloren, wenn ich beweisen kann, dass er es sich auf unehrenhafte Art und Weise zu eigen gemacht hat. Vielleicht würde es wieder in unseren Familienbesitz übergehen. Falls nicht, wird die Krone das Grundstück zum Verkauf freigeben, wenn Jameson hinter Gittern sitzt. Dann könnte ich es mit meinen fünftausend Pfund kaufen.“

Sie würde tun, was nötig war, um nach Hause zurückzukehren. Hier hatte sie das Gefühl, langsam zu sterben. Tage, Wochen, Monate, Jahre … Alles floss in einem unaufhörlichen Strom der Eintönigkeit zusammen. Manchmal fühlte sich Hannah so niedergeschlagen, dass sie Schwierigkeiten hatte, aus dem Bett zu steigen.

Vor Jahren war sie anders gewesen – voller Lebensfreude, Hoffnung und frohen Mutes. Wohin war dieses muntere Mädchen verschwunden? Die lange Zeit in der Verbannung hatte alle Freude aus ihrem Herzen vertrieben, und sie war es leid, sich wie eine Gefangene zu fühlen. Wenn sie nur nach Hause nach Barchester Hall gehen könnte … Vielleicht würde sie dann aufblühen, wieder zu der Frau werden, die sie einst gewesen war, und das Leben führen, das ihr gebührte.

Tante Violet schüttelte langsam den Kopf. „Aber Liebes, wir sind im abgelegenen Yorkshire, und Barchester Hall ist sehr weit weg. Wie willst du das aus dieser Entfernung bewerkstelligen?“

Ihre beiden Tanten hielten sie immer noch für ein Kind. Hannah unterdrückte ein leichtes Grinsen. Sie war nicht länger das unbescholtene Mädchen von einst. Der gesellschaftliche Ruin hatte sie robuster werden lassen, und sie würde jede auch noch so kleine Möglichkeit nutzen, um ihren Plan zu verwirklichen. Wenn ihre Tanten jedoch ahnten, was sie im Sinn hatte, würden sie Hannah nicht unterstützen. Mit dem Brief hatte Cook ihr einen Rettungsanker zugeworfen, den sie mit beiden Händen fest umklammern würde. Dies war ihre Chance auf eine neue Zukunft.

„Ich wollte noch über etwas anderes mit euch sprechen“, sagte sie nach mehreren Minuten des Schweigens. „Cook sagte, dass Jane Barton mich eingeladen hat, sie diesen Sommer zu besuchen.“

Mit der jungen Frau hatte Hannah nicht mehr gesprochen, seit sie auf ihrem letzten Ball gewesen war – kurz bevor sie auf so aufsehenerregende Art und Weise nach Yorkshire verbannt worden war. Davon wussten ihre Tanten jedoch nichts. Seit jenem entsetzlichen Ereignis hatte keine ihrer ehemaligen Freundinnen aus London mehr mit ihr gesprochen. Alle waren sofort davon ausgegangen, dass sie schuldig sei. Dabei hatte sie nie mit ihnen über jene schrecklichen Vorkommnisse geredet … Ihre jetzige Lüge war ein guter Vorwand, um dem Leben hier zumindest für ein oder zwei Monate zu entfliehen.

„Das ist schön, Liebes“, sagte Violet beschwingt, während sie ihre Stickerei aufnahm. „Du solltest sie besuchen gehen. Es wird dir guttun, zur Abwechslung etwas Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen.“

Beherzt pflichtete Tante Beatrice ihr bei: „Ein Urlaub wird dich auf andere Gedanken bringen und dich von diesen leidigen Racheplänen abhalten. Vielleicht lernst du sogar einen netten Herrn kennen, der dir den Kopf verdreht. Wäre das nicht schön?“

Hannah lächelte höflich bei diesem Vorschlag, den sie nicht zum ersten Mal hörte. Die beiden Frauen waren davon überzeugt, dass Hannahs zukünftiges Glück allein von einem Mann abhängen würde. Normalerweise hätte sie den beiden unverzüglich die Meinung gesagt. Ein Mann war das Letzte, was sie in ihrem Leben gebrauchen konnte. Schließlich war es den Männern zu verdanken, dass sie sich überhaupt in dieser misslichen Lage befand. Solange ihre Tanten jedoch darauf hofften, dass sie ihre Haltung änderte und sich der Vorstellung, zu heiraten, nicht länger verweigerte, würden sie Hannah dazu ermutigen, ihre vermeintliche Freundin zu besuchen.

„Ja, vielleicht …“, sagte sie etwas widerwillig. Als ihre Tanten in Anbetracht ihres scheinbaren Sinneswandels einen vielsagenden Blick wechselten, musste sie an sich halten, um nicht triumphierend zu lächeln. „Vielleicht ist genug Zeit vergangen.“

„Es ist sieben Jahre her“, meinte Tante Beatrice aufgeregt. „Niemand wird sich mehr daran erinnern. Außerdem bist du eine hübsche junge Frau, Hannah. Die Männer haben dir schon immer hinterhergesehen. Zudem bist du aufmerksam und einfühlsam. Du solltest eine eigene Familie gründen. Wenn du den richtigen Gentleman gefunden hast, wird ihm das dumme Geschwätz von damals nichts mehr ausmachen. Aber damit das geschieht, musst du mit Leuten deines Alters verkehren – wie mit Jane Barton. Am besten schreibst du ihr sofort, um die Einladung anzunehmen.“

„Dann werde ich alles in die Wege leiten“, sagte Hannah und erhob sich.

Da sie nun den gesamten Sommer freihatte, würde sie Cooks überaus interessante Information zu ihrem Vorteil nutzen. Jameson würde in Kürze nicht nur nach Barchester Hall ziehen, sondern hatte Cook auch gebeten, eine Anzeige für eine Haushälterin aufzugeben. Endlich bot sich ihr die Gelegenheit, sich in die Höhle des Löwen zu begeben und Jameson aus der Nähe zu beobachten. Die Bewerbungen sollten alle nach Barchester Hall geschickt werden, wo Cook mit der Aufgabe betraut war, sie durchzusehen und die geeignetsten Kandidatinnen für ein Gespräch mit Jameson in London nächste Woche auszuwählen. Seinem viel beschäftigten Anwalt wollte der neue Hausherr derart alltägliche Dinge nicht aufbürden.

Hannahs Bewerbung würde zu den wenigen gehören, die er zu Gesicht bekommen würde.

Sie ging aus dem Raum, ohne zurückzuschauen. Wenn sie morgen früh die Postkutsche nehmen wollte, hatte sie viel zu erledigen. Zuerst müsste sie eine Bewerbung schreiben und ein paar Empfehlungen fälschen. Irgendwann heute Abend müsste sie auch noch ihre wenigen Habseligkeiten packen.

Zum Glück war es so schlecht um ihre Garderobe bestellt, dass sie keine neuen Kleider erwerben brauchte, um wie eine Hausangestellte zu wirken. Ihre bestehende Kleidung war bereits trist und schlicht genug. Wahrscheinlich sah sie ein bisschen zu jung aus, um für eine Haushälterin gehalten zu werden, doch sie könnte ihr Haar zu einem unvorteilhaften Knoten binden und vielleicht irgendeine Verkleidung tragen, die sie geeigneter für die Anstellung erscheinen ließ.

Ross verschränkte die Arme vor seiner nackten Brust und starrte Francesca an. Was er vor all den Monaten in ihr gesehen hatte, war ihm heute unbegreiflich. Sie war eine starrsinnige, hartherzige und eigennützige Dirne, die ihn beeinflussen wollte und zu viel über sich selbst redete.

„Du musst jetzt gehen – und diesmal möchte ich, dass du den Schlüssel, den du dem Türsteher entlockt hast, hierlässt.“ Um seine Worte zu unterstreichen, streckte er die Hand aus und wartete.

„Oh, Ross, wir wissen beide, dass du das nicht so meinst“, erwiderte sie mit verführerischer Stimme, während sie sich gegen die Kissen lehnte und begann, ihr tief ausgeschnittenes Oberteil aufzuknöpfen. „Komm ins Bett, und ich werde dafür sorgen, dass du deinen Ärger vergisst.“

Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er dieses Angebot nur zu gerne angenommen. Trotz ihres eigentümlichen Charakters war Francesca immer eine angenehme Bettgespielin gewesen. Natürlich hatte er sich dieses Privileg teuer erkauft.

„Ich denke, du vergisst da etwas, über das ich nicht hinwegsehen kann, Francesca. Unsere Vereinbarung lautete, dass wir uns während unserer Liaison mit niemand anderem vergnügen.“ Ross wusste jedoch, dass sie in den letzten Wochen das Bett mit einem anderen geteilt hatte.

„Ich hätte mich nie woanders umgesehen, wenn du dich mehr für mich interessiert hättest.“ Mit ihren geschminkten Lippen zog sie einen Schmollmund, während sie langsam ihr Oberteil aufknöpfte, bis ihre überaus großen, runden Brüste zu sehen waren.

„Lord Marlow hat mir persönlich versichert, dass er von jetzt an für dich sorgen wird“, erklärte Ross ruhig.

Francesca schnaufte und bedeckte ihre üppigen Brüste wieder mit dem Kleid. „Warte nur ab. Irgendwann wirst du wieder vor meiner Tür stehen und darum betteln.“

Anscheinend war es ihr entgangen, dass er das seit zwei Monaten nicht getan hatte.

„Also, in der Zwischenzeit halte ich es für das Beste, wenn du mir den Schlüssel zurückgibst. Bitte sieh in Zukunft davon ab, unangekündigt in meinen Gemächern zu erscheinen. Du hast mir einen Riesenschreck eingejagt.“

Das hatte sie tatsächlich. In der einen Minute hatte er tief und fest geschlafen, in der anderen hatte er gespürt, wie er unsittlich von jemandem berührt wurde. Sonderlich zaghaft war Francesca noch nie gewesen.

Seufzend holte sie den Schlüssel aus ihrem Pompadour und legte ihn in Ross’ ausgestreckte Hand, unternahm jedoch keine Anstalten, ihre aufreizende Haltung auf dem Bett aufzugeben.

„Bist du sicher, dass du nicht ein letztes Mal zu mir kommen willst, Rossy? Um der alten Zeiten willen?“ Gekonnt warf Francesca ihm einen verführerischen Blick zu und begann, ihre Tüllröcke langsam an ihren gespreizten Beinen hochzuziehen.

„Da wären wir, Mum.“ Die Tür des Schlafgemachs flog auf, und Reggies große Statur erschien im Türrahmen. „Dein Termin ist da, Ross“, sagte er grinsend, offenbar ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass er weder angeklopft noch sonst irgendeine Vorwarnung gegeben hatte, bevor er eine vollkommen fremde Person in Ross’ Schlafgemach geführt hatte.

Ross stieß einen missmutigen Seufzer aus, als er zur Tür ging. „Danke, Reggie. Aber erinnerst du dich daran, dass ich dir gesagt habe, dass Besucher im Salon Platz nehmen und eine Tasse Tee serviert bekommen sollen?“

Reggie nickte mit seinem großen Kopf und machte ein bestürztes Gesicht. „Ich erinnere mich, Ross. Entschuldige …“ Er drehte sich zu der Frau, die – die Augen weit geöffnet – neben ihm stand. Rasch geleitete er sie von der Türschwelle weg. „Ich soll Sie in den Salon bringen und Ihnen Tee servieren, Mum.“

Ross schloss die Tür und schlüpfte in ein frisches Hemd. Das war nicht unbedingt die Art und Weise, wie er seinen Tag hatte beginnen wollen. Zuerst war er genötigt gewesen, sich mit Francesca auseinanderzusetzen, und jetzt hatte er wahrscheinlich die einzige vernünftige Bewerberin für die Stelle der Haushälterin verschreckt. Er bezweifelte, dass die Frau geblieben war. So entsetzt hatte sie soeben gewirkt, dass sie wahrscheinlich schon auf dem Weg nach Mayfair war.

Ohne ein weiteres Wort an Francesca zu richten, verließ Ross das Schlafgemach, um zum Salon zu gehen. Zu seiner großen Überraschung traf er die Frau dort an. Kerzengerade saß sie auf dem Rand eines Sessels und erweckte den Eindruck, als wollte sie jeden Moment davonlaufen. Ross setzte ein entschuldigendes, freundliches Lächeln auf. Ob er die Lage vielleicht mit seinem üblichen Charme retten könnte?

Was machte er sich nur für Gedanken? Natürlich würde er die Situation mit seinem Charme retten. Es war das, was er am besten konnte.

Seine Suche nach einer Haushälterin war bisher ergebnislos geblieben. Wer hätte gedacht, dass es eine derart mühsame Aufgabe war, Bedienstete einzustellen? Da Ross bisher noch nie Diener gebraucht hatte, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass es schwierig sein konnte, welche zu finden. Er bot ein gutes Gehalt und mehr freie Tage, als üblich war, doch bisher waren alle Frauen, die er empfangen hatte, vollkommen unannehmbar gewesen. Eine war unverkennbar betrunken gewesen, die zweite sehr speziell und tatsächlich etwas Angst einflößend und die dritte so alt und gebrechlich, dass sie jeden Moment hätte tot umfallen können.

Waren anständige Bedienstete vielleicht ebenfalls hochmütig? Ross hatte keinen Titel. Er war noch nicht einmal ein Gentleman. Alle in London wussten das. Aus seiner Vergangenheit machte er kein Geheimnis, weil er sich ihrer nicht schämte. Auch wenn er in der Gosse groß geworden war, hatte er sich seinen Weg hinausgekämpft. Sogar Lesen und Schreiben hatte er sich beigebracht. Jetzt verfügte er über ein eindrucksvolles Vermögen und genoss den Ruf, einer der gewieftesten Geschäftsmänner der Stadt zu sein – diese Stellung verlieh ihm sowohl Ansehen als auch Macht, was ihm wiederum die Art von Sicherheit gab, nach der er sich immer gesehnt hatte.

Er war ein Mann, dem man mit Respekt begegnen musste, und niemand, der auf Kosten anderer lebte. Es freute ihn, dass seine Dienste von wichtigen Leuten in Anspruch genommen wurden, und es erfüllte ihn mit Genugtuung, im Leben etwas erreicht zu haben.

Anscheinend machte das alles keinen Unterschied, wenn es darum ging, Bedienstete einzustellen. Dies hier war die letzte Bewerbung, die er erhalten hatte. Es gab keine anderen Anwärterinnen mehr. Obwohl sie ihm zu jung erschien, war er gewillt, über mehr als einen Schwachpunkt hinwegzusehen, solange sie nur ansatzweise geeignet war.

Ohne Haushälterin wäre es unmöglich, mit der Instandsetzung seines neuen Hauses zu beginnen. Er selbst hatte nicht die nötige Zeit, um all die Handwerker und Diener zu engagieren. Außerdem musste jemand vor Ort sein, um ihnen Anweisungen zu geben. Insbesondere jetzt, da die neuen Schiffe so viel seiner Aufmerksamkeit beanspruchten.

Er hatte es noch nicht einmal geschafft, einen Butler zu finden. Reggie hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Butler zu mimen, und Ross brachte es nicht übers Herz, die Träume dieses Tollpatsches zu zerschmettern.

„Es tut mir sehr leid, dass wir uns unter diesen Umständen begegnet sind, Mrs. … äh …“ Verdammt, er hatte den Namen der Frau vergessen.

„Mrs. Preston“, erwiderte sie angespannt und sah ihn kühl über den Rand ihrer wenig schmeichelhaften Brille an.

„Ja, natürlich.“ Ross schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, aber als er erkannte, dass die Frau nicht die geringste Absicht hegte, es zu erwidern, erstarb es auf seinen Lippen.

Schon jetzt spürte er, dass er diese Frau nicht mochte. Sie sah ihn voller Abneigung und kaum verhohlener Missbilligung an. Er hasste es, wenn Leute ihm so gegenübertraten. Leider kam das viel zu häufig vor – insbesondere seit in den Zeitungen ständig die Rede von seinen angeblichen Eroberungen war. Dennoch mochte er insgeheim den Ruf des rücksichtslosen Halunken, den er sich aufgebaut hatte. So erschien er wie ein ernst zu nehmender Gegenspieler, und das konnte auf lange Sicht sicherlich nicht schaden.

Die Frau sah ihn immer noch so geringschätzig an, als wäre er der schlimmste Schurke. Schlimmer hätte das Bewerbungsgespräch nicht beginnen können. Allerdings konnte er sich vorstellen, dass Mrs. Preston immer noch vom Anblick der sich auf dem Bett rekelnden Francesca erschüttert sein musste, weshalb er beschloss, ihr gegenüber Nachsicht walten zu lassen.

„Ich denke, wir hatten einen schlechten Start“, erklärte er gutmütig. „Was Sie vorhin gesehen haben, ist nicht so, wie es scheint.“

Verschmitzt grinste er sie an. Damit gewann er in der Regel selbst die distanziertesten und würdevollsten Frauen für sich – jedoch nicht diese. Ruhig starrte sie ihn an, was ihm mit der Zeit immer unangenehmer wurde. Durch die dicken Brillengläser wurden ihre blauen Augen stark vergrößert, sodass er sich an einen Frosch erinnert fühlte.

„Tatsächlich? Wie soll ich das, was ich soeben miterlebt habe, sonst auslegen?“ Je länger sie ihren unverwandten Blick auf ihn gerichtet hielt, desto mehr kam er sich wie ein unartiges Kind vor.

„Francesca ist wie aus dem Nichts aufgetaucht“, sagte er, obwohl er nicht wusste, warum er überhaupt das Bedürfnis hatte, sich zu erklären. „Es ist nichts Unsittliches geschehen.“

„Vielleicht nicht heute Morgen“, erwiderte sie kühl. „Aber ich denke, es war unverkennbar, dass Sie und die Dame eine … eine besondere Beziehung verbindet. Habe ich recht?“

Bei ihrem rügenden Ton stellten sich Ross’ Nackenhaare auf. Er musste sich weder vor dieser Frau noch vor sonst jemandem rechtfertigen. Er würde ihren Lohn zahlen, und es war ihm vollkommen gleichgültig, ob sie ihn für einen anständigen Menschen hielt.

„Mrs. Preston, ich bin ein alleinstehender Mann und wohne in einem Junggesellenhaushalt. Es tut mir leid, dass Reggie Sie aus Versehen in mein Schlafgemach gebracht hat, aber was in diesem Raum geschieht, geht Sie nichts an.“

Innerlich bereitete er sich darauf vor, dass sie hinausstürmen würde, doch sie bewegte sich nicht von der Stelle, sondern biss sich nur unruhig auf die Unterlippe.

Die bedrückende Stille wurde von Reggie unterbrochen, der mit einem beladenen Teetablett hereinstolperte. Stolz grinste er Ross an, bevor er das Tablett klappernd auf den Nebentisch stellte. Heißer Tee schwappte aus der Teekanne, sodass die wahllos ausgesuchten Tassen in der braunen Flüssigkeit standen. Unbeirrt goss Reggie Tee in eine der Tassen und überreichte sie Mrs. Preston ohne Unterteller.

„Hier bitte, Mum, eine Tasse Tee.“ Als ein paar heiße Tropfen auf ihren Rock fielen, zuckte sie vor Schmerz zusammen und sprang unverzüglich auf.

„Oh! Lassen Sie mich Ihnen helfen, Mum!“ Reggie benutzte den Saum seines Hemdes, um den Fleck abzuwischen, ohne sich gewahr zu sein, dass er dabei auf höchst unziemliche Art und Weise an ihrem Oberschenkel rieb.

Zunächst schien sie über diese Indiskretion empört zu sein, doch dann passierte etwas Ungewöhnliches. Ihre Gesichtszüge wurden weich und spiegelten Mitgefühl wider, während sie Reggie erlaubte, ihr zu helfen, auch wenn er das im Grunde nicht tat. Erst in diesem Moment sah Ross, wie Entsetzen in Reggies Augen trat – so sah er immer aus, wenn er erkannte, dass er etwas falsch gemacht hatte, jedoch nicht wusste, wie er es wiedergutmachen konnte.

„Es ist jetzt alles in Ordnung. Ich habe mich nur erschrocken.“ Mit einer Hand berührte sie sanft Reggies kräftige Schulter. Sie tätschelte sie leicht, um ihn zu trösten, und strafte damit ihre vorherige, unterkühlte Art Lügen.

Wie ein reuiger Hund trat Reggie zurück und blieb befangen stehen. Dann wurde Ross erneut von der strengen Frau überrascht.

„Ich mag meinen Tee mit ein bisschen Zucker“, sagte sie, setzte sich wieder und bedachte Reggie mit einem aufrichtigen, freundlichen Lächeln, wodurch der Ärmste sich sofort etwas weniger beklommen fühlte. Erst jetzt schien sie sich wieder an Ross’ Anwesenheit zu erinnern, denn als sie in seine Richtung blickte, wurde ihr Gesichtsausdruck erneut hart.

„Bitte sehr“, sagte Reggie, als er Mrs. Preston die zweite Tasse Tee so vorsichtig reichte, als handelte es sich um die Kronjuwelen der Königin.

Mrs. Preston schaute in Reggies erwartungsvolles Gesicht und ihre Lippen formten ein hübsches Lächeln, während sie sich höflich bedankte. „Das ist perfekt. Sie haben offenbar ein Talent dafür, den Tee genau so zu servieren, wie man ihn mag.“

Reggie strahlte vor Stolz und gab ein leises, verlegenes Lachen von sich. Offenbar hatte diese seltsame, rätselhafte Frau ihn bereits für sich eingenommen.

Da sie sich dem Tollpatsch gegenüber so liebenswürdig verhalten hatte, war Ross sofort besänftigt. Durch und durch schlecht konnte sie nicht sein, wenn sie sich so benahm. Die wenigsten hätten so gehandelt. In der Regel versetzte Reggie die Leute in Angst und Schrecken. Vielleicht war sie einfach aufgeregt. Oder schüchtern?

„Sie haben hervorragende Empfehlungen, Mrs. Preston“, meinte er schließlich, während er die Tasse nahm, die Reggie ihm anbot. „Können Sie mir sagen, in welcher Art von Haushalt Sie zuletzt gearbeitet haben?“

Hannah versuchte, sich zu entspannen und etwas Vernünftiges, Freundlicheres zu sagen. „Nair House war kein großer Haushalt, Mr. Jameson, aber ich hatte die Leitung über zehn Bedienstete“, log sie.

Sie konnte nicht behaupten, dass sie ein großes Anwesen wie Barchester Hall geleitet hätte – eine falsche Angabe wie diese wäre schnell entlarvt worden. Allerdings wollte sie ihn davon überzeugen, dass sie für die Stelle geeignet war.

„Ich war für alles verantwortlich – von der Speiseplanung über die Etataufstellung bis zum Schlichten von Streitigkeiten unter den Bediensteten.“

Hannah zwang sich, eine nichtssagende Miene zur Schau zu tragen, um zu überspielen, wie unwohl sie sich in seiner Nähe fühlte. Sie hatte gehört, dass Jameson ein zügelloser Schürzenjäger war, jedoch nicht erwartet, sofort auf derart unwiderlegbare Art und Weise mit seinen Ausschweifungen konfrontiert zu werden. Der Anblick jener stark geschminkten Frau, die in schamloser Pose auf der zerknitterten Bettwäsche gesessen und die Röcke bis zu den Knien hochgezogen hatte, war schon schlimm genug gewesen. Als ihr Blick dann jedoch zum ersten Mal auf Ross Jameson gefallen war, fand sie sich in einer ungeheuerlichen Situation wieder.

Er war ein ungestümer Riese, der mehr nackte Haut zeigte, als es ein jeder Gentleman für sittlich empfunden hätte. Natürlich gab es auch keinen edlen Herrn, der den Körper eines Landarbeiters hatte. Jameson war stabil und muskulös – ein sicheres Zeichen dafür, dass er eine gewöhnliche Erziehung genossen hatte. Die Männer des ton waren schlanker und nicht so … kräftig. In einem maßgeschneiderten Anzug machte er wahrscheinlich eine lächerliche Figur. Womöglich würden weniger anspruchsvolle Frauen sein zerzaustes schwarzes Haar und seine funkelnden grünen Augen als gut aussehend empfinden, doch er setzte sein gutes Aussehen zu seinem Vorteil ein. Hannah erkannte in ihm genau das, was er war: ein charmantes, gefährliches und scheinheiliges Scheusal. Jedenfalls würde sie ihm niemals über den Weg trauen.

Es war auch unübersehbar, dass sein Lakai – Reggie? – alles andere als klug war. Allerdings war er vermutlich nicht für seine Fähigkeit, strategisch zu denken, eingestellt worden. Er hatte einen breiten, markanten Kiefer und eine Nase, die einst so schlimm gebrochen gewesen sein musste, dass sie sich kaum von seinem Gesicht abhob. Hannah hatte jedoch bereits erkannt, dass er hinter seiner Furcht einflößenden Fassade ein bisschen langsam war und sich nur nach Anerkennung sehnte. Der Ärmste. Er brauchte offensichtlich ein bisschen Zuwendung. Seine Hauptaufgabe bestand aber sicherlich darin, seinen ruchlosen Herrn zu schützen und jeden zu bedrohen oder zum Krüppel zu machen, der sich nicht einfügte. Weshalb die Behörden Jameson erlaubten, sich frei in der Gesellschaft zu bewegen, war ihr ein großes Rätsel.

„Würden Sie mir etwa von Ihrem Haus erzählen?“, fragte Hannah, denn sie wusste, dass sie keinen guten ersten Eindruck hinterlassen hatte, und wollte es nun wiedergutmachen. Alles hing davon ab, dass sie diese Anstellung bekam.

„Barchester Hall liegt etwas zwölf Meilen von London entfernt“, erwiderte er lächelnd. „Ich befürchte, dass es momentan eher einem Trümmerhaufen gleicht. Äußerlich ist es solide gebaut, und das Anwesen ist wunderschön, doch es wurde von den vorherigen Besitzern jahrelang heruntergewirtschaftet, und das sieht man.“

Dass er ihren Bruder und ihr geliebtes Zuhause so leichtfertig verurteilte, machte sie wütend, doch es gelang ihr, ihren Ärger zu verbergen. Durch Tante Beatrices Brille konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht richtig ausmachen. Außerdem bekam sie langsam schreckliche Kopfschmerzen von den dicken Gläsern.

„Natürlich werde ich ein paar dringende Renovierungen in Auftrag geben. Das gesamte Haus muss neu eingerichtet werden. Es müssen Möbel und weitere Ausstattungen gekauft werden, um das gegenwärtige Interieur zu ersetzen. Ich werde auch noch weitere Bedienstete einstellen müssen. Haben Sie Erfahrung auf diesem Gebiet, Mrs. Preston?“

Hannah nickte. Das war eine Sache, über die sie reden konnte, ohne zu lügen. Als sie in Barchester Hall gelebt hatte, war es sehr schwierig gewesen, das Hauspersonal zu halten – hauptsächlich weil ihr Bruder dazu geneigt hatte, die Löhne nicht rechtzeitig oder gar nicht auszuzahlen. Ständig hatte sie neue Diener suchen müssen, da die alten sich geweigert hatten, zu bleiben.

„Ja. Ich musste viele Bedienstete einstellen, und ich weiß genau, welcher Dinge es bedarf, um die besten Angestellten anzuwerben.“ Auf die Entlohnung legten sie den größten Wert. Das wusste sie mit Sicherheit.

„Sie sehen etwas jung aus, um eine Haushälterin zu sein.“

Autor

Virginia Heath
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