Diese Nacht ist erst der Anfang

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Top-Strafverteidiger Brendan Hart bekommt alles, was er will. Außer seiner besten Freundin Hannah Rose, denn sie ist verheiratet! Doch dann steht sie eines Tages völlig verzweifelt in New York vor ihm. Als er die frisch Geschiedene zärtlich tröstet, stürzt die Barriere plötzlich ein, die Brendan gegen Hannahs femininen Zauber errichtet hat – sie verbringen eine spontane Liebesnacht miteinander. Die Brendan möglichst schnell vergessen will, um ihre Freundschaft unverändert zu bewahren. Doch das Schicksal hat einen anderen Plan …


  • Erscheinungstag 05.03.2024
  • Bandnummer 052024
  • ISBN / Artikelnummer 0800240005
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

1. KAPITEL

Hannah Rose starrte auf die Papiere in ihrer Hand und wünschte, sie würden sich in Luft auflösen. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, fingen an zu tanzen, fanden aber immer wieder in derselben Reihenfolge zusammen: SCHEIDUNG.

Leon hatte die Scheidung eingereicht. Nach acht Jahren war ihre Ehe am Ende.

Perfekte Heirat, perfektes Zuhause, perfektes Leben: Erledigt.

„Perfekter Ehemann“ fehlte in der Aufzählung, denn das war Leon nie gewesen, auch wenn sie so getan hatte, als ob. Ihr Hang zur Perfektion hatte sie im Laufe ihres Lebens zu einer wahren Meisterin im Vortäuschen reifen lassen.

Doch damit war es jetzt offenkundig vorbei.

Scheidung! Die ganze Welt würde Zeuge ihres Versagens sein.

Zum Glück musste ihre Mutter das nicht mehr miterleben. Sie war vor wenigen Monaten an den Spätfolgen eines schweren Unfalls vor einigen Jahren verstorben. Aus diesem Grund hatte Hannah ihre Eheprobleme für sich behalten. Und ihre jüngere Schwester konnte so eine deprimierende Nachricht in ihrem anhaltenden Zustand von Trauer und Verzweiflung schon gar nicht gebrauchen.

Schäm dich!, rügte die kleine nagende Stimme in ihrem Hinterkopf. Jetzt verschanzt du dich hinter dem Vorwand, Jessie schonen zu wollen, dabei hast du nur die Augen viel zu lange vor der Wahrheit verschlossen.

Hannah musste ihrer inneren Stimme notgedrungen recht geben, angesichts des Gesprächs, das sie vor über einem Jahr mit Brendan geführt hatte. Als ihr Partner in der Anwaltskanzlei und bester Freund hatte er sich verpflichtet gefühlt, sie über Leons Affären aufzuklären, doch sie hatte es nicht glauben wollen und den Kopf in den Sand gesteckt.

Jetzt konnte es nicht mehr geleugnet und schon gar nicht begraben werden.

Ihr Magen rebellierte, als sie die Scheidungspapiere umklammerte und versuchte, ihren Blick über die Trümmer ihres Lebens hinaus in eine Zukunft zu richten, die sie so nicht geplant hatte.

Sie musste mit Brendan reden! Er war der Einzige, der sie verstand, der Einzige, der von diesem Desaster wusste.

Und du bist nicht der Meinung, dass du ein Jahr zu spät dran bist?

Sie überhörte ihre stichelnde innere Stimme, zerrte einen Koffer aus dem Schrank und zog sich um. Sie wollte nach New York fliegen und mit Brendan sprechen. Er kannte sie, er kannte Leon und er würde ihr helfen, sich einen Reim auf das Ganze zu machen.

Ist das wirklich eine gute Idee, Brendan zu treffen? Du bekommst doch allein bei seinem Anblick schon weiche Knie?

Auch das hatte sie nicht wahrhaben wollen. Die Chemie zwischen ihnen stimmte einfach. Er konnte sie mit einem einzigen Blick entzünden. Doch sie war verheiratet, zumindest noch, und durchaus in der Lage, die Büchse der Pandora verschlossen zu halten. Als notorischer Kontrollfreak hatte sie alles fest im Griff!

Nur dich selbst nicht …

Brendan Hart starrte die blonde Frau an, die durch sein Wohnzimmer schwebte, als sei sie eine Erscheinung. Die elfenbeinfarbene Seidenbluse, der weiße Rock und die nude-farbenen High Heels ließen die Frau wirklich wie einen Geist wirken.

Er hatte sie seit Monaten nicht mehr gesehen. Im Büro hatte er nur einen flüchtigen Blick auf sie erhaschen können, zuletzt hatten sie sich anlässlich der Beerdigung ihrer Mutter kurz ausgetauscht, mehr nicht. Denn mehr würde bedeuten, dass sie immer noch Freunde wären und ihr Gespräch vor über einem Jahr nie stattgefunden hätte. Aus Sorge, oder besser Fürsorge, hatte er sie damals über die Affären ihres Ehemannes aufgeklärt, was sie wortlos hingenommen und abgetan hatte, als wäre es bedeutungslos.

„Brendan?“

Sein Name war nicht mehr als ein Flüstern, ihre Unsicherheit und der Schmerz in ihren blaugrauen Augen trafen ihn mitten ins Herz. Was war geschehen? Was war der Grund für diesen besorgniserregenden Zustand? Und wie sollte er darauf reagieren, ohne sich zu verraten?

Er schluckte trocken und bewegte sich betont lässig, ehe seine Körpersprache ihn verriet. Statt in ihre Richtung ging er zum Barschrank, ignorierte das wilde Hämmern seines Herzens, schenkte Whisky in zwei Gläser und bot seinem Überraschungsgast eines davon an.

Als sie das Glas entgegennahm, achtete sie darauf, seine Finger nicht zu berühren.

„Warum bist du hier, Hannah?“

Keine Vorrede, kein: „Wie geht es dir?“

Ihre Augen weiteten sich ein wenig, aber er hatte es plötzlich satt, immer nur den sanften, verständnisvollen Kumpel zu mimen.

Sie hob das Kinn, und ihre wundervollen Augen, von denen er viel zu oft träumte, verdunkelten sich, als sie seinen Blick festhielt. „Wusstest du, dass Leon die Scheidung eingereicht hat?“

Leon! Der letzte Mensch auf der Welt, über den er sprechen wollte. Und schon gar nicht mit ihr. Er schüttelte den Kopf, wandte sich ab und hielt erst inne, als er vor dem raumhohen Fenster stand und auf die glitzernde Skyline von Manhattan starrte, und nicht auf Hannah, die sich hinter ihm hörbar aufs Sofa sinken ließ.

„Wieso sollte ich davon wissen?“ Ein Muskel auf seiner Wange zuckte verdächtig, während er fieberhaft überlegte, was er sagen sollte.

Sag ihr die Wahrheit! Lass alles raus und zum Teufel mit den Konsequenzen …

„Wie konnte er das tun, Brendan, nach all dieser Zeit?“

Nur mit äußerster Willenskraft gelang es ihm, darauf nicht zu reagieren. Von allen Fragen, die sie hätte stellen können …

Ihr untreuer Gatte hatte sich eine ganze Reihe von Affären geleistet und damit ihre Ehe schon lange zu einer Farce verkommen lassen.

„Brendan?“

Er spürte ihren fordernden Blick im Rücken und konnte ihr verschwommenes Spiegelbild im Fensterglas sehen, ein verführerischer elfenbeinfarbener Traum. Er hätte sie nie reinlassen dürfen, jetzt war es zu spät für Reue. Sie war hier und er in Schwierigkeiten.

Als renommierter Strafverteidiger und verwaister Erbe eines dank seines Einsatzes inzwischen milliardenschweren Hotelimperiums stand er oft unter immensem Leistungsdruck. Doch zu keinem Zeitpunkt war er zusammengebrochen, noch nie hatte er die Fassung verloren.

Aber Hannah? Sie hatte die Macht, ihn zu vernichten …

Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte er seine Gefühle weggesperrt, und nun war er kurz davor, seine eiserne Beherrschung zu verlieren. Und warum? Weil ihre Welt, oder wie sie jetzt beide wussten, ihre Scheinwelt in sich zusammenbrach. Zum ersten Mal in all den Jahren, in denen er sie kannte, verlor sie die Fassung. Und das, weil ein Mann, der sie nicht verdient hatte, sie verlassen wollte.

Er schluckte heftig und trank noch einen ordentlichen Schluck Whisky.

„Brendan? Sprich mit mir!“

Seine Knöchel waren weiß, so fest umklammerte er sein Whiskyglas. „Noch mal, Hannah“, sagte er rau. „Warum bist du hier?“

„Warum?“ Ihre Stimme klang so angespannt, wie er sich fühlte. „Weil du der Einzige bist, der weiß, was los ist. Der Einzige, mit dem ich reden kann und der mich versteht.“

Er lachte auf, hart und schneidend. „Und genau darin irrst du. Ich verstehe das nicht … dich nicht. Schon nicht vor einem Jahr und jetzt noch weniger.“

Im Hintergrund lief leise Musik, die er kurz vor Hannahs überraschendem Besuch angestellt hatte. Am liebsten hätte Brendan sich zu ihr aufs Sofa gesetzt, sie beruhigt und …

„Ich brauche dich, Brendan.“

Ihr geflüstertes Geständnis schien auf der sanften Melodie, die den Raum erfüllte, zu ihm zu schweben und ließ sein Blut wie flüssige Lava durch die Adern strömen. Das war es, wonach er sich seit einer gefühlten Ewigkeit verzehrte – Worte, nach denen er sich mit jeder Faser seines Körpers immer noch sehnte.

Selbst dann noch, als sein Verstand ihn daran erinnerte, dass ihre Freundschaft rein platonisch war.

„Du brauchst mich nicht, Hannah.“ Er trank noch einen Schluck Whisky und genoss das brennende Gefühl in der Kehle. „Wie alles in deinem Leben wirst du auch diese Krise meistern und einfach weitermachen.“

Er hörte sie scharf einatmen und wusste, der Pfeil hatte ins Schwarze getroffen. „Wie kannst du so etwas sagen?“

Nur mit Mühe unterdrückte er das Bedürfnis, sich zu entschuldigen und auf sicheres Terrain zurückzukehren, aber wozu? Er hatte schon zu viele Jahre damit verbracht, seine Zunge und seine Gefühle im Zaum zu halten, geduldig im Hintergrund zu warten, dass Hannah endlich aufwachte. Nur um schließlich festzustellen, dass sie die ganze Zeit über wach und er ihr egal war.

Bis jetzt.

„Weil es die Wahrheit ist.“

„Ich dachte, gerade du würdest das verstehen. Du kennst Leon, du kennst mich und du bist der Einzige, der mir helfen kann, das alles zu verkraften.“

Mit einem bitteren Auflachen schüttelte er den Kopf. „Glaub mir, du könntest dich nicht mehr irren.“

„Aber du warst es doch, der zu mir gekommen ist und mich über Leon und … seine Machenschaften aufgeklärt hat.“

„Das ist über ein Jahr her“, warf er rau ein und versuchte, seinen Ton zu mäßigen. „Wenn du damals so wie heute reagiert hättest, könnte ich das nachvollziehen, aber jetzt?“

„Das war was anderes.“

„Inwiefern?“

„Er hat nicht die Scheidung verlangt.“

Brendan lachte hart auf. „Dabei hättest du die Scheidung verlangen sollen!“

„Ich weiß“, flüsterte Hannah wie erloschen.

„Wirklich? Als ich zu dir kam und dir von Leons Affären erzählte, tatest du, als ginge es um einen Mandanten, der sich für eine andere Anwaltskanzlei entschieden hat.“ Wieder lachte er hart auf ob der frustrierenden Erkenntnis. „Um den abgesprungenen Mandanten hättest du gekämpft wie eine Löwin, bei deinem Mann hast du es einfach laufen lassen.“

„So einfach habe ich es nicht ad acta gelegt“, wehrte sie sich schwach.

„Aber gekümmert hast du dich auch nicht darum.“

„Wie hätte ich? Mum lag im Sterben, Jessie war körperlich und seelisch ein Wrack, die Arbeit in der Kanzlei … Ich hatte nicht die Kapazität, alles unter einen Hut zu bringen.“

„Die Kapazität?“, wiederholte er rau. „Wir reden über deine Ehe, Hannah. Über Liebe, nicht von einem schwierigen Fall in der Kanzlei. Siehst du wirklich nicht, was an diesem Bild falsch ist?“

Sie schluckte heftig. „Du meinst, mit mir stimmt was nicht?“

„Das hast jetzt du gesagt, nicht ich.“

Sie schluckte erneut und holte zitternd Luft. Als er den Schmerz in ihren Augen sah, wollte er am liebsten seine harschen Worte zurücknehmen.

„Leon und du, ihr habt in den letzten zwei Jahren selten auf demselben Kontinent gelebt. So verhält sich doch kein Paar, das um seine Ehe kämpft, oder? Wieso überrascht dich sein Scheidungsantrag jetzt so sehr?“

„Ich weiß es nicht, Brendan.“ Abwehrend und nachdenklich zugleich schüttelte sie den Kopf. „Mit seiner Untreue habe ich mich irgendwie arrangiert. Gefallen hat es mir nicht, aber solange er es für sich behielt, dachte ich, wir könnten es irgendwie schaffen.“

„Ihr könntet es irgendwie schaffen? Hörst du dir eigentlich selber zu?“

„Ich weiß, wie das klingt.“

„Das glaube ich nicht.“

Sie seufzte. „Versetz dich doch mal in meine Lage. Mein Leben lang habe ich um Effizienz und Perfektion gekämpft, um auf diese Weise meine Familie zu schützen. Ich musste nur alles unter Kontrolle haben, damit es uns gut ging. Wir …“

„Gut?“ Er spuckte das Wort fast aus, und sein Lachen klang kalt und verächtlich. „Du hast dir eine Scheinwelt errichtet. Was soll daran gut sein?“

„Falsch war das auch nicht.“

„Die Scharade von einer glücklichen kleinen Familie?“

„Wir hatten keine Familie, sondern nur uns. Leon und ich wollten keine Kinder.“

„Dem Himmel sei Dank!“

„Brendan!“ Hannah sprang förmlich auf die Füße, zögerte kurz und kam dann näher. Er konnte es am Rascheln ihrer Kleider hören, und ihr Duft …

„Du musst verstehen …“

„Das sagst du immer wieder, aber das macht es nicht einleuchtender.“ Sie stand jetzt so dicht hinter ihm, dass er ihre verlockende Wärme spürte und wie sein Herz bedrohlich schnell schlug.

„Bitte verurteile mich nicht. Die letzten Jahre vergingen wie im Flug und waren voller Kummer und Qual. Jessies Zusammenbruch, Mums Unfall, dann ihr Tod und jetzt verlässt mich Leon.“ Ihre Stimme bebte. „Ich könnte es nicht ertragen, dich auch noch zu verlieren.“

Er trank einen kräftigen Schluck und mit dem Whisky schluckte er auch die Worte herunter, die ihm bereits auf der Zunge lagen, und den kaum zu bezwingenden Drang, Hannah in seine Arme zu schließen und ihr zu versichern, dass sie für immer in seinem Herzen …

So viel Abstand er im Laufe der Jahre auch aufgebaut hatte, sie schaffte es stets, ihn zu überwinden. „Du wirst mich nicht verlieren“, murmelte er schließlich rau.

„Ganz sicher?“ Ihre Stimme zitterte. „Du bist so distanziert seit Mamas Beerdigung. Eigentlich auch schon vorher.“

Wie sonst sollte er sich selbst schützen?

Er hatte zusehen müssen, wie Hannah sich immer mehr abschottete. Dabei wusste er, was hinter verschlossenen Türen, hinter der perfekten Fassade geschah. Es lag nicht daran, dass es ihn nicht interessierte, aber …

„Ich hatte viel zu tun“, sagte er fast barsch. „Du weißt das.“

„Ja, du warst … du bist immer beschäftigt.“ Sanft berührte sie seinen Oberarm.

Er wandte den Kopf, starrte auf ihre Hand und schluckte mühsam. „Wenn du mich für so distanziert hältst, wieso kommst du dann zu mir?“

„Weil ich diesen Zustand nicht länger ertrage. Mein Leben gerät aus den Fugen und du bist der Einzige, an den ich mich wenden kann.“

Brendan stockte der Atem. Ihr Geständnis, wenn auch aus Panik geboren, berührte sein Herz. Noch nie hatte er sie so hilflos und verzweifelt erlebt. Selbst auf der Beerdigung ihrer Mutter hatte sie beherrscht gewirkt, nahezu stoisch, bereit, ihrer Schwester und jedem, der es brauchte, eine Stütze zu sein.

Genau wie an dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal über den Weg liefen …

Vor fünfzehn Jahren, in einer Vorlesung, die er mit Leon besuchte. Als erfolgreiche Oxford-Absolventin sprach sie zu einem Saal voller hoffnungsfroher Studienanfänger. Die weiblichen Studenten wollten alle sein wie sie, die männlichen mit ihr ins Bett, so wie er.

Leon hatte von ihr geschwärmt, bevor sie den Hörsaal betraten, er war lächerlich verknallt in sie gewesen. So wie er selber, als er sie zum ersten Mal sah.

Und dann hielt Hannah ihr Referat, wortgewandt und kenntnisreich, mit dem richtigen Maß an Leidenschaft und Begeisterung für Gerechtigkeit in einer Welt, die nicht immer fair war. Einer Welt, an der seine eigenen Eltern gescheitert waren.

Er war vollkommen hingerissen gewesen und hatte mit dem gesamten Kolloquium gebannt dem Vortrag der zukünftigen Weltklasse-Anwältin gelauscht. Eine beeindruckende Erscheinung und ganz anders als die Frau, die jetzt vor ihm stand und ihn flehend anschaute.

„Was soll ich nur tun?“

Brendan holte tief Luft. „Du willigst in die Scheidung ein und lässt das Ganze hinter dir.“

Ihre Finger zuckten auf seinem Arm, und er wich zurück, um den Abstand zu schaffen, den Kopf und Herz genauso dringend brauchten wie sein restlicher Körper.

„Hannah, warum nimmst du das so schwer?“, kam es brüsker als beabsichtigt heraus. „Du weißt seit Langem, dass eure Ehe am Ende ist.“

„Ich werde es Jessie sagen müssen, und mir ist der Gedanke unerträglich, dass sie sich Sorgen um mich macht.“

„Während es in Ordnung ist, wenn du dich ständig um sie sorgst?“

„Sie ist doch meine kleine Schwester und es geht ihr nicht gut, Brendan. Sie hat ihr Leben in London aufgegeben und sich zu Hause eingeschlossen, umgeben von Mums Sachen. Ich habe keine Ahnung, wie ich sie aus diesem Loch rausholen soll.“

Er verstand ihre Sorgen. Ihre Mutter und ihre Schwester standen bei ihr immer an erster Stelle. So war es, seit er Hannah kannte. Und jetzt hatte sie nur noch ihre Schwester.

„Sie ist eine erwachsene Frau und wird ihren Weg finden.“

„Das kannst du nicht wissen, nicht mit ihrer Vergangenheit. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihr helfen …“ Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. „Wenn sie vielleicht eine Weile alles hinter sich lassen könnte. Ein Urlaub, eine Pause von allem, was geschehen ist. Sie sagt, sie vergräbt sich in Mums Sachen, um sie zu sortieren.“

„Mach ihr doch ein Angebot, dass sie nicht ausschlagen kann.“

„Zum Beispiel?“

Er konnte nicht anders, als ihr beizustehen. „Sie kann mein Haus auf Mustique nutzen samt Personal, die Reisekosten übernehme ich. Für mich ist das kein Problem und für sie könnte es die Lösung sein.“

Hannah blinzelte und holte tief Luft. „Das würdest du für mich tun?“

„Für dich, für sie …“ Er zuckte betont lässig mit den Schultern, doch im Grunde seines Herzens wusste er, dass es sehr viel mehr bedeutete.

„Das wäre fantastisch, aber …“

„Aber was, Hannah? Wenn es ihr hilft und dir auch …“

„Danke.“

Brendan nickte nur knapp, da er seiner Stimme nicht länger traute. Er hasste es, sich in Hannahs Nähe schwach und verletzlich zu fühlen.

„Wie kann ich dir das vergelten?“

„Gar nicht, zumindest nicht in finanzieller Hinsicht“, versuchte er, seine harsche Erwiderung wenigstens eine Spur abzumildern. „Aber du musst mit deiner Schwester ins Reine kommen. Wenn sie dir ähnlich ist, was ich stark vermute, liegt ihr vor allem an deinem Glück. Und auch ich hoffe, dass du es findest, wie auch immer es aussehen mag …“

Bestimmt nicht so, wie ein Durchschnittsmensch sich das Glück vorstellte. Da war er sich ganz sicher!

„Und bestimmt würde Jessie nicht wollen, dass du mit diesem … Mann verheiratet bleibst, nach allem, was er dir angetan hat.“

„Diesem Mann? Seit wann sprichst du so über Leon? Er ist dein Freund und …“

„War, Hannah! Er war mein Freund. Glaubst du wirklich, ich könnte tatenlos zusehen, wie er dich behandelt? Wir sprechen seit Jahren kaum noch miteinander, was du längst bemerkt hättest, wenn du deine rosarote Brille abgenommen hättest.“

Sie runzelte die Stirn. „Das ist nicht fair.“

„Nicht?“ Er lachte hart auf.

„Immer wenn es Spannungen zwischen euch gab, habe ich dich oder ihn befragt, und beide habt ihr mir ständig versichert, alles sei in Ordnung“, erinnerte sie ihn.

„Wir haben dir gesagt, was du hören wolltest, Hannah, und das bedaure ich nachträglich. Aber Leon und ich sind schon lange keine Freunde mehr. Und deine Ehe, die ist ungefähr genauso lange vorbei.“

Als sie verbissen schwieg, dachte Brendan an ihr Gespräch vor einem Jahr zurück. An ihre ähnlich kühle, ruhige Haltung, als er ihr erzählte, was er wusste. Und plötzlich traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht.

„Du wusstest schon Bescheid, bevor ich es dir sagte, oder?“ Wie hatte er nur so blind sein können? Der berühmt-berüchtigte Strafverteidiger, der die Unwahrheit direkt vor seiner Nase nicht erkannte! „Antworte mir, Hannah.“

Im Gerichtssaal war sie unglaublich souverän, aber am Pokertisch könnte sie selbst den blutigsten Anfänger nicht täuschen.

„Hannah!“

„Ja! Ich wusste es.“

Sein Magen krampfte sich zusammen, während er sie keine Sekunde aus den Augen ließ. „Und du bist nicht auf den Gedanken gekommen, mir das zu sagen? Weißt du, wie schwer es mir fiel, dich in diesem elenden Zustand zu sehen? Du hattest deinen ungeheuer fordernden Job, warst nebenbei verantwortlich für deine todkranke Mutter und hattest außerdem deine jüngere Schwester mit ihren Problemen am Hals. Diese Last noch vergrößern zu müssen, hat mich eine ungeheure Überwindung gekostet.“

„Tut mir leid, ich hätte es dir sagen sollen. Aber Leons Untreue auf die Spur gekommen zu sein, war schon eine Überforderung. Und es dann ausgerechnet von dir noch mal zu hören …“

Sie begann zu zittern, und er wünschte nichts mehr, als sie in die Arme zu schließen. „Du hast mit keinem Wort angedeutet, dass du Bescheid wusstest. Hast du auch nur eine Ahnung davon, wie schwer es mir fiel, dir das zu erzählen?“ Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, während seine Gedanken in die Vergangenheit reisten. „Du weißt, dass ich ihn zur Rede gestellt habe, oder?“

Ihr betroffenes Gesicht trug nicht dazu bei, seine Wut und seinen Schmerz zu lindern.

„Ich habe ihm gesagt, dass er dir das nicht antun darf, dass er mit sich ins Reine kommen und mit dir reden muss. Er konterte, dass du es bereits wüsstest. Dann lachte er zynisch und fragte mich, wer mehr zu verurteilen sei: er, weil er sich auch mal außer Haus vergnüge, oder seine Frau, die offenbar kein Problem mit einer Lebenslüge habe und lieber nach außen perfekt funktionierte, als ein persönliches Scheitern zu akzeptieren. Ich habe dich bis aufs Blut verteidigt und mich geweigert, ihm zu glauben.“

„Das tut mir sehr leid, Brendan“, sagte sie leise und streckte die Hand nach ihm aus, doch er wich zurück. „Ich hätte dir die Wahrheit sagen und alles erklären sollen.“

„Wie lange wusstest du es schon?“

Sie befeuchtete ihre Lippen. „Lange genug.“

Sein Blut, das zuvor heiß durch seine Adern rauschte, gefror zu Eis. „Einen Monat, zwei? Oder noch länger?“

Sie senkte die Lider.

„Noch vor dem Unfall deiner Mutter?“ Der Unfall ihrer Mutter wäre aus seiner Sicht die einzig akzeptable Entschuldigung. Doch ihre zusammengepressten Lippen waren Antwort genug. „Du bist wirklich unglaublich!“

„Ich hatte nur eine Ahnung, einen Verdacht. Wir verbrachten damals so viel Zeit auf verschiedenen Kontinenten, und wenn wir zusammen waren, gab es keine … Leidenschaft.“ Sie senkte den Blick, ihre Wangen brannten.

„Und das rechtfertigt sein Verhalten? Ich habe nicht gesehen, dass du diese Leidenschaft woanders gefunden hättest.“

„Ich will sein Verhalten nicht rechtfertigen. Anfangs war es eher ein Verdacht als Gewissheit. Aber dann fand ich Kontoauszüge mit Abbuchungen für Restaurantbesuche und Hotelzimmer und Rechnungen für Schmuck und Blumen. Inzwischen glaube ich, er wollte, dass ich es herausfinde, damit ich ihn damit konfrontiere. Wie auch immer, ich wusste, dass es irgendwann zu einem Knall kommt.“

„Zu dem du weder Anlass noch Munition geliefert hast, sondern Leon einfach nur auf Abstand gehalten hast, so wie mich.“

Ihre Augen blitzten. „Nein, nicht wie dich. Du bist nicht wie er.“

„Sondern?“

„Du bist mein bester Freund, Brendan.“

„Und er war, nein, er ist dein Ehemann.“

„Der, wie er sagt, endlich sein wahres Glück an der Seite einer anderen Frau gefunden hat und mich verlässt.“

„Ihr habt euch schon vor langer Zeit getrennt“, erinnerte Brendan sie spröde.

„Ich war bereit zu bleiben.“

„Im Ernst, Hannah?“

„Ich weiß, das klingt …“

„Das klingt, als sei dir der äußere Schein wichtiger als alles andere.“

„Aber genau darum geht es. Das ist es, woran meine Mutter und meine Schwester glauben und was mir das Gefühl gegeben hat, mein Leben im Griff zu haben. Nebenbei überzeugt es alle anderen davon, dass ich eine ebenso fähige wie vertrauenswürdige Anwältin bin.“

„Und jetzt, da Leon die Scheidung will, hast du Angst, das zu verlieren?“

„Ich habe alles verloren, Brendan.“ Der Schmerz in ihrer Stimme griff ihm ans Herz.

Mit der stoischen Hannah kam er zurecht. Selbst mit der gelassenen Hannah, die angesichts der Seitensprünge ihres Mannes kaum mit der Wimper zuckte. Er musste es nicht verstehen, konnte aber damit umgehen. Aber dies hier …

„Einen Mann zu verlieren, der eine andere liebt, bedeutet nicht, alles zu verlieren, Hannah.“ Er trank einen großen Schluck Whisky, bevor er weitersprach. „Was du jetzt brauchst, ist eine neue Perspektive.“

Das entlockte ihr überraschenderweise ein schallendes Lachen. „Oh, es gibt jede Menge Perspektiven, die mich reizen, Brendan. Und falls du denkst, diese Tränen würden Leon gelten, dann täuschst du dich. Es geht um das große Ganze: Mum ist nicht mehr bei uns, Jessie einsam und allein, nachdem Adam sie verlassen hat, und mein Leben löst sich gerade auf, dabei sollte ich diejenige sein, die alles im Griff hat. Ich müsste auf meine Schwester aufpassen, nicht andersherum. Jetzt gibt es nur noch uns beide.“

„Und es wird euch beiden gut gehen, Hannah. Eine lieblose Beziehung tut niemandem gut.“

„Was weißt du schon davon? Ich kenne dich seit mehr als zehn Jahren und du hattest noch nie eine Beziehung, die lange hielt.“

Volltreffer! Wie sollte er darauf reagieren?

„Verzeih, das hätte ich nicht sagen sollen. Es geht mich ja auch nichts an.“

„Trotzdem hast du es gesagt.“ Wäre ihr das auch rausgerutscht, wenn sie die Wahrheit kennen würde? Dass er es mit keiner Frau lange aushielt, weil es keine gab, die sie aus seinem Gedächtnis löschen konnte?

„Tut mir wirklich leid, Brendan, aber ich stehe gerade irgendwie neben mir“, entschuldigte sich Hannah nochmals. Dann sackte sie völlig unerwartet vor seinen Augen zusammen und erst im letzten Moment gelang es ihm, sie in seinen Armen aufzufangen. „Nach all der Zeit will mein Mann unser Leben für eine Frau wegwerfen, die er gerade erst kennengelernt hat.“ 

„Eine Frau, die er liebt“, korrigierte Brendan mit einiger Überwindung.

Autor

Rachael Stewart
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