Ein Fest der Liebe für uns zwei?

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Lichterglanz, der Duft von gerösteten Maronen, Zimt und Nelken … Verzückt plant Historikerin Etta einen viktorianischen Weihnachtsmarkt auf Derwent Manor. Doch den Küssen des attraktiven Hausherrn sollte sie besser widerstehen! Denn der Earl of Wycliffe gilt als Playboy …


  • Erscheinungstag 30.11.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728434
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Gabriel Derwent starrte den Mann an, der ihm aus dem gerahmten Spiegel des luxuriösen Hotelzimmers entgegenblickte, und nickte zufrieden. Das makellose weiße Hemd saß korrekt unter dem schwarzen Smoking, und auch an den kurzen blonden Haaren gab es nichts auszusetzen. Kein Anzeichen des inneren Aufruhrs, in dem er sich seit fast einem Jahr befand. Sehr gut. Er konnte es nun wirklich nicht gebrauchen, dass alle Welt ihm die Wahrheit ansah. Dass irgendjemand sie ihm ansah.

Den anderen Gästen des Adventsballs der Cavershams würde sich das erwartete Bild bieten – der ebenso elegante wie lässige und charmante Gabriel Derwent mit den markanten Gesichtszügen, Earl of Wycliffe, Erbe des Duke of Fairfax. Zweifellos wollte man wissen, wo er so lange gesteckt hatte. Er würde unbekümmert antworten. Auch, falls jemand Näheres über seine Trennung von Lady Isobel Petersen wissen wollte.

Heute Abend wurden Spenden gesammelt für einen Zweck, der Gabriel am Herzen lag. Bei der Aussicht, belanglosen Small Talk zu machen und sich den Reportern zu stellen, biss er die Zähne zusammen. Da musste er durch. Er brauchte die Kulisse, um den wahren Grund seiner Anwesenheit zu verbergen. Gabriel war hier, um jemanden aufzuspüren. Kummer schnürte seine Brust zusammen.

Hör auf, Gabe. Verzweifeln kam nicht infrage. Die Lektion hatte er schon als Kind gelernt.

Ein Klicken des Türschlosses riss ihn aus seinen Gedanken. Er drehte sich um und zwang sich zu einem Lächeln. „Hey, Schwesterherz. Alles in Ordnung?“

Cora Martinez kam näher. Ihr smaragdgrünes Kleid schimmerte. „Sag du es mir. Ich habe zweimal vergeblich geklopft und mir Sorgen gemacht.“

„Dazu gibt es keinen Grund. Übrigens siehst du bezaubernd aus.“

Sie wischte das Kompliment mit einer Handbewegung beiseite. „Lenk nicht ab. Letztes Jahr habe ich dich ein einziges Mal gesehen. Keine Ahnung, wo du warst. Plötzlich rufst du an und bittest mich, dich den Cavershams vorzustellen. Dann bekommst du auf den letzten Drücker eine Einladung zu diesem Ball. Das verstehe ich nicht.“

„Ich weiß.“

Forschend blickte sie ihn mit ihren türkisblauen Augen an. „Ist das alles?“

Gabe bemühte sein überzeugendstes Lächeln. „Ich bin wieder da. Mehr musst du nicht wissen.“

Auf keinen Fall würde er sich Cora anvertrauen. Was sollte er auch sagen? Vor neun Monaten habe ich erfahren, dass ich keine Kinder zeugen kann. Sein Leben würde nie wieder wie früher sein – jene Zukunft, die er jahrelang geplant hatte, war hinfällig. Dank archaischer juristischer Regeln starb der Titel des Duke of Fairfax, der seit Jahrhunderten vom Vater auf den Sohn überging, möglicherweise aus. Es sei denn, Gabe fand einen Erben, der in direkter Linie von einem früheren Duke of Fairfax abstammte. Da war er wieder, der Kummer. Gabe versuchte, seinen Körper zu entspannen.

„Erde an Gabe.“ Cora stemmte ihre Hände in die Seiten und tippte mit einer Schuhspitze auf den weichen Teppich. „Ich mache mir immer noch Sorgen. Du bist mein Bruder, auch wenn ich sechs Jahre jünger bin und wir uns nie nahegestanden haben.“

Nie nahegestanden haben.

Richtig. Cora und ihre Zwillingsschwester Kaitlin waren erst zwei gewesen, als die Eltern ihn ins Internat geschickt hatten. Später hielt er es für sinnlos, enge Bindungen einzugehen. Nähe führte zu quälendem Schmerz. Dazu, Menschen und das Zuhause zu vermissen. Durch Nähe wurde man schwach und machtlos.

Cora zog die Stirn kraus. „Hat es mit Dad zu tun? War sein Herzinfarkt schlimmer, als ich dachte? Oder bist du traurig wegen Isobel? Liebe kann echt kompliziert sein, aber …“

„Stopp.“

Liebe wollte er gar nicht. Für ihn war sie der Inbegriff von Nähe. Wer liebte, verlor all seine Kraft. Was Lady Isobel betraf: Die Beziehung hatte auf einem Pakt beruht. Gabe war stets klar gewesen, dass er sein Playboy-Dasein zugunsten der Pflicht aufgeben musste, und Lady Isobel hätte eine pflichtbewusste Ehefrau abgegeben. Im Gegenzug hätte sie den ersehnten Titel der Duchess erhalten und wäre Mutter des künftigen Duke of Fairfax gewesen.

Als Gabe erfuhr, dass er seinen Teil der Vereinbarung womöglich nicht erfüllen konnte, bat er Isobel, die Verlobung um ein paar Monate zu verschieben. Den Grund nannte er ihr nicht, doch sie willigte ein – um ihn anschließend in Talkshows als flegelhaften Herzensbrecher anzuschwärzen. Er wollte nicht über sie reden.

„Isobel ist Geschichte. Und was Dad angeht – ich habe mit seinen Ärzten gesprochen. Seine Prognose ist gut. Der Infarkt war ernst, aber der Stent dürfte weitere Anfälle verhindern, und Mum hat ihn ja dorthin gebracht, wo er sich erholen kann. In der Zwischenzeit halte ich die Stellung.“ Beruhigend hob Gabe beide Handflächen. „Alles im grünen Bereich. Wie gesagt: Mach dir keine Sorgen.“

Cora gab sich keine Mühe, ihre Skepsis zu verbergen. „Klar, Gabe. Wie du meinst.“ Sie drehte sich um.

Er folgte ihr eine mächtige Eichenholztreppe hinunter und durch einen holzvertäfelten Korridor mit erlesenen mittelalterlichen Wandteppichen in den Empfangssaal des Caversham Castle Hotels. Elegant gekleidete Menschen standen in dem Gewölbe und unterhielten sich. In ihr Geplauder mischten sich Gläserklirren und das leise Ploppen von Champagnerkorken.

Cora lächelte, und ihr ganzes Wesen schien plötzlich aufzuleuchten. Rafael Martinez musste in der Nähe sein. Ihr großer dunkelhaariger Ehemann bahnte sich einen Weg durch die Gästeschar und blieb neben ihr stehen.

„Gabriel.“ Rafael nickte knapp.

„Rafael. Schön, dich zu sehen.“

Ungläubig zog sein Schwager eine dunkle Braue hoch. Gabe konnte es ihm nicht verdenken. Er hatte kein Problem mit Coras Wahl, war aber auch nicht gerade mit überschwänglichen Glückwünschen zu dem Brautpaar geeilt.

Gabe ließ den Blick durch den festlich dekorierten Saal schweifen. Üppige Kränze aus grüner Stechpalme hingen an den Steinwänden, und Choräle sorgten am Vorabend des ersten Advents für unaufdringliche Hintergrundmusik. Bald war Weihnachten – das Ende jener Frist, die er sich gesetzt hatte, um zu klären, ob es außer ihm einen weiteren Erben gab.

Nicht zum ersten Mal verfluchte er die Regel, dass der Erbe aus direkter männlicher Linie abstammen musste. Ohne diesen Nachkömmling starb der Titel aus. Gabe spürte einen bitteren Geschmack im Mund.

Konzentrier dich.

Er registrierte, wie er bei seinem ersten öffentlichen Auftritt seit knapp einem Jahr zunehmend in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte. Jetzt kam es drauf an. Kein Journalist durfte erraten, warum er diesen Ball besuchte. Er musste mit vielen Leuten reden, damit niemandem auffiel, wer sein Ziel war.

Lächelnd steuerte er auf seine Gastgeber zu – sie konnten ihm gewiss sagen, wo er die gesuchte Person fand.

Etta Mason verdrückte sich hinter eine buschige Kübelpflanze und holte so tief Luft, dass es wehtat, während sie zum x-ten Mal ihr Handy zückte.

Sie hatte einen Riesenfehler begangen. Weiteratmen, Etta. Es würde schon klappen. Cathy befand sich in Sicherheit. Bilder ihrer hübschen sechzehnjährigen Tochter stiegen vor ihr auf. Zugegeben, manchmal war es hart gewesen, doch kein einziges Mal hatte sie bereut, wie sie sich selbst als Sechzehnjährige entschieden hatte. Egal, wie hoch der Preis gewesen war.

Alles gut. Cathy ist in Sicherheit.

Das Mädchen übernachtete bei seiner besten Freundin. Tommy kam nicht an sie heran. Etta ballte ihre freie Hand zur Faust. Cathy war bis heute ohne ihren Vater ausgekommen, und so sollte es auch bleiben.

Etta hatte die Lage im Griff. Jetzt musste sie sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Dieser Ball war wichtig, und sie hatte Ruby Caversham versprochen, vor dem Dinner eine Rede zu halten. Da gehörte es sich nicht, hinter einer Kübelpflanze zu kauern. Sie würde in ihrem rosa-weiß gestreiften Kleid hervorkommen und … gegen einen Gast mit einem breiten Brustkorb prallen.

„Entschuldigen Sie bitte. Das liegt an der Kombination von hohen Absätzen und angeborener Ungeschicklich…“

Sie brachte keine Silbe mehr heraus, als sie den Mann anschaute, dessen Füße sie fast mit ihren pinkfarbenen Absätzen aufgespießt hätte.

Kurze dunkelblonde Haare, blaugraue Augen, die im Kerzenschein glänzten und Etta in ihren Bann zogen. Ein ebenso entschlossener wie sinnlicher Mund, auf den sich ihr Blick wie von selbst heftete – erst recht, weil der Mann jetzt lächelte.

Etta blinzelte. Menschenskind! Niemand konnte bestreiten, dass dieser Mann Charisma besaß. Stopp. Endlich funktionierte ihr Gehirn wieder. Sie starrte ihr Gegenüber nicht länger an und schaltete. Gabriel Derwent, Earl of Wycliffe, Erbe des Duke of Fairfax.

Super! Ausgerechnet der erste Mann, der sie seit Ewigkeiten aus dem Konzept brachte, entpuppte sich als jemand, den sie verachtete. Na gut, sie kannte ihn nicht persönlich, aber welche Historikerin verfolgte nicht die Berichte über dieses Mitglied des Hochadels? Seine Vorfahren hatten entscheidende Momente der englischen Geschichte mitgeprägt.

Gabriel Derwents Lebensstil war Etta kein Dorn im Auge. Seine jüngsten Entscheidungen hingegen waren es schon. Vor neun Monaten hatte er den Playboy an den Nagel gehängt, Lady Isobel Petersen umworben und seinen Eltern vorgestellt. Das konnte man in allen Hochglanzmagazinen nachlesen. Ein Paparazzo hatte ihn sogar dabei fotografiert, als er sich bei einem Juwelier Verlobungsringe anschaute. Und dann das Aus! Statt der Lady einen Heiratsantrag zu machen, hatte Gabriel sie verlassen und sich ins Ausland abgesetzt.

Ein gefundenes Fressen für die Medien – bis die effizienten PR-Fachleute der Derwents einschritten. Etta wusste, wie es sich anfühlte, getäuscht zu werden und festzustellen, dass man auf eine Illusion hereingefallen war. Sie konnte Lady Isobels Schmerz gut nachempfinden. Schmerz, den dieser Mann verursacht hatte.

Ihre Augen verengten sich.

Er sah sie aufmerksam an und hielt ihr die rechte Hand hin. Etta glaubte, in seinen Augen etwas aufblitzen zu sehen. „Ich bin Gabriel Derwent.“

Ihr Blick senkte sich kurz auf seine Hand. Eine starke Hand, mit breiten Fingern. Lass das, Etta. Um keinen Preis wollte sie ihrem Gegenüber signalisieren, dass er sie durcheinanderbrachte.

Also schüttelte sie seine Hand kurz und lächelte kühl. „Etta Mason.“ Das merkwürdige Gefühl, das die Berührung in ihr auslöste, ignorierte sie. Sicher nur Einbildung.

„Etta Mason … Die renommierte Historikerin.“

Keine Frage, sondern eine Feststellung. Ein verrückter Gedanke schoss Etta durch den Kopf: Hat er mich etwa abgefangen? Lächerlich, rief sie sich zur Ordnung.

Sie nickte. „Genau.“

Flüchtig dachte sie daran, wie hart sie sich ihre Qualifikationen erkämpft hatte. An den Zustand permanenter Erschöpfung, weil sie die bestmögliche Mutter sein wollte, während sie außerdem lernen und Geld verdienen musste. Vor diesem Hintergrund gab es keinen Anlass für falsche Bescheidenheit – sie war eine der Besten ihres Fachs.

Ihr entging nicht, dass Gabriel sie schnell von Kopf bis Fuß musterte. Er wirkte erstaunt. Mein Outfit passt wohl nicht zu seinem Bild von einer renommierten Historikerin, dachte sie verärgert und sagte: „Sie sehen überrascht aus.“

Er antwortete nicht sofort. Schließlich hob er beide Hände, als wollte er sich ergeben. „Stimmt. Ich gebe zu, dass in meiner Vorstellung von einer profilierten Historikerin kein Kleid mit pinkfarbenen Streifen auftaucht. Entschuldigen Sie bitte mein Vorurteil. Wie wäre es, wenn wir noch einmal von vorn beginnen? Ich vergesse, dass Sie mich fast mit Ihren hohen Absätzen aufgespießt hätten, und Sie vergessen meine Voreingenommenheit. Abgemacht?“

Da war ihr Stichwort, um die Unterhaltung zu beenden und wegzugehen. Doch die Entschlossenheit in seinem Blick strafte sein entspanntes Lächeln Lügen. Gabriel Derwent kehrte den Charmeur heraus, und Etta wollte den Grund dafür erfahren. Sie war nicht sein Typ. Man sagte ihm Affären mit schönen, berühmten und oberflächlichen Frauen nach. Nichts Ernstes, bis zu dem Debakel mit Lady Isobel.

Warum also interessiert er sich für mich?

Lachhaft. Gabriel Derwent und eine Historikerin, die mit siebzehn alleinerziehende Mutter geworden war. Okay, das wusste er nicht, aber in diesem Ballsaal standen mehr als genug Frauen, die empfänglicher für sein umwerfendes Lächeln waren als sie. Vielleicht las sie zu viel hinein, und Gabriel knipste den Charme automatisch an, wenn er den Mund aufmachte. Ihr Instinkt sagte ihr jedoch etwas anderes. Ettas Neugierde erwachte.

„Abgemacht.“ Eine Unterhaltung konnte nicht schaden, oder? „Und wie bewerkstelligen wir das?“

„Vielleicht erzählen Sie mir etwas über sich? Ein Tag im Leben einer Historikerin?“

Er schien aufrichtig interessiert zu sein, wenngleich Etta sich das nicht erklären konnte. „Ich liebe meine Arbeit, weil jeder Tag anders verläuft. Neulich habe ich einen Schriftsteller bei Recherchen für einen historischen Roman unterstützt. Ich erstelle Familienstammbäume und helfe beim Organisieren historischer Veranstaltungen. Außerdem schreibe ich für den Blog eines Geschichtsvereins, verfasse Artikel für Fachzeitschriften, halte Gastvorlesungen …“

„Ruby hat mir erzählt, dass Sie ungemein engagiert sind.“

„Nun, genauso denke ich über Ruby. Und Ethan. Es ist beeindruckend, was sie mit ihrer Stiftung für Jugendliche tun. Ich wünschte …“ Etta brach ab. Ihre Bewunderung für Ruby und Ethan Caversham und deren Initiative, Teenagern in Schwierigkeiten zu helfen, beruhte auf eigener Erfahrung. Wie schön wäre es gewesen, wenn sie sich früher an Leute wie die Cavershams hätte wenden können. Nicht dass sie diesen Wunsch herausposaunen wollte.

„Was wünschten Sie?“

Das Mitgefühl in Gabriels Stimme überraschte Etta. Es klang fast, als könnte auch er sich in Jugendliche hineinversetzen, die in Heimen oder auf der Straße lebten. Plötzlich fühlte sie Wärme in sich aufkeimen. Albern. Gabriel Derwent war mit einem silbernen Löffel im Mund zur Welt gekommen.

„Ich wünschte, ich würde so viel Gutes tun wie die beiden“, improvisierte Etta.

„Wie ich höre, haben Sie auch schon für Ruby gearbeitet.“

Argwöhnisch fragte sie sich, ob er sich über sie erkundigt hatte. Zu ihrem Ärger fand sie die Vorstellung schmeichelhaft. Ihr Blick wanderte zu Gabriels Mund. Prompt spürte sie im ganzen Körper ein längst vergessenes Prickeln. Sie musste verrückt sein – völlig abwegig, dass sich dieser Mann für sie interessierte.

Konzentrier dich auf das Gespräch, Etta.

„Ja. Manchmal hat Ruby mit Kindern zu tun, die von ihren leiblichen Eltern nur einen Namen kennen und mehr erfahren möchten.“

„Dann sind Sie also fast so etwas wie eine Detektivin?“

„Genau. Das fasziniert mich.“ Und war zugleich bittersüß, denn keine Recherche hatte Hinweise auf ihre eigenen Eltern ergeben.

Sie fühlte ein vertrautes Ziehen in der Brust und grub die Fingernägel in die Handballen. Genug. Akzeptier es. Sie würde nie wissen, wer ihre Erzeuger waren oder warum die beiden sie vor zweiunddreißig Jahren ausgesetzt hatten. Geh deinen Weg.

„Was, wenn Sie etwas herausfinden, das die Betroffenen nicht hören wollen?“ Jetzt klang Gabriels Stimme dunkler. Der Blick aus seinen graublauen Augen verschattete sich.

„Ich sage es ihnen trotzdem. Es ist besser, die Wahrheit zu kennen.“ Ihre eigenen Adoptiveltern hatten sie ihr verheimlicht. Das Trugbild war in sich zusammengestürzt, als sie selbst ein Baby bekommen und Etta abgeschoben hatten.

Gabriel betrachtete sie so eindringlich, wie sie es einem Mann mit seinem Ruf nicht zugetraut hatte. Sie setzte ein Lächeln auf, das ihren entschiedenen Unterton hoffentlich überlagerte. Diese Unterhaltung ging viel zu sehr in die Tiefe. Schlimmer noch: Etta hatte keine Ahnung, wie oder weshalb es so war.

„Wie heißt es doch gleich? Wissen ist Macht“, meinte sie leichthin.

„In der Tat“, stimmte er ebenso leichthin zu und lächelte wieder dieses unglaublich charmante Lächeln. Hatte sie sich den anderen Tenor des Gesprächs nur eingebildet?

„Außerdem kann Wissen nützlich sein. Einmal bin ich für Ruby tätig geworden, weil ein schwangerer Teenager seine Krankengeschichte erfahren wollte.“

Ein Fall, mit dem sich Etta nur zu gut identifizieren konnte. Wie oft hatte sie Cathy angeschaut und sich gesorgt, irgendwelche Gene könnten der Gesundheit ihrer Tochter schaden?

„Die andere Seite der Medaille ist, dass früher niemand über Gene informiert war und die Leute einfach unwissend blieben“, fuhr Etta fort. „Manchmal müssen wir ein Risiko eingehen, glaube ich.“

„Und auf das Schicksal vertrauen?“

Nun waren sie also bei Philosophie gelandet. „Ja. Finden Sie nicht?“

Gabriel blickte sie ernst an. „Nein. Wir bestimmen unser Schicksal, weil wir die Wahl haben.“

Er sagte es derart nachdrücklich, dass Ettas Haut zu kribbeln anfing. Der Earl of Wycliffe besaß mehr Tiefgründigkeit als gedacht, doch das änderte nichts. Im besten Fall war dieser Mann ein Playboy, im schlechtesten ein Herzen brechender Blender. Etta wusste nach wie vor nicht, warum er so lange mit ihr sprach. Egal.

„Ich muss gleich meine Rede halten“, sagte sie. „Vorher möchte ich noch mit einigen Gästen sprechen. Deshalb verabschiede ich mich jetzt.“

„Ich freue mich auf Ihre Rede – und darauf, anschließend wieder mit Ihnen zu plaudern.“

Im Ernst? Es ergab keinen Sinn. Wieder meldete sich ihr schlimmstes Laster, die Neugierde. Resolut erstickte Etta sie. Es gab erheblich Wichtigeres.

Sie lächelte betont kühl. „Ich bleibe nicht lange. Für den Fall, dass wir uns nicht mehr sehen, sage ich jetzt schon einmal auf Wiedersehen.“

„Und ich sage, bis bald“, murmelte Gabriel so leise, dass Etta nicht wusste, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

2. KAPITEL

Aus einer Ecke des stimmungsvoll dekorierten Ballsaals schaute Gabe zu, wie Etta Mason anmutig zum Podium ging. Verflucht. Da spürte er sie wieder – dieselbe Anziehungskraft wie in jenem Moment, als Etta hinter der Kübelpflanze hervorgekommen war. Eine unerwartete Komplikation.

Während der letzten Monate hatte seine Libido Winterschlaf gehalten. Das Foto auf der Internetseite der Historikerin bereitete einen nicht auf die Etta Mason aus Fleisch und Blut vor. Jene Frau mit bernsteinfarbenen Sprenkeln in ihren dunklen Augen und vollen Lippen, die Gabe unwillkürlich länger betrachtet hatte, als es sich gehörte. Am liebsten hätte er eine Hand ausgestreckt und Ettas schimmerndes kastanienbraunes Haar durch seine Finger gleiten lassen. Angesichts der hohen Wangenknochen mochte so manches Topmodel vor Neid erblassen. Doch nicht nur ihre Schönheit warf ihn aus der Bahn. Sie strahlte eine Sinnlichkeit aus, eine Selbstsicherheit, die ihn fesselte.

Solche Gedanken konnte er sich nicht leisten. Er musste seine Libido in die Schranken weisen, schließlich brauchte er Ettas Fachwissen. Dringend.

Jetzt tippte sie an das Mikrofon. Keine Spur von Lampenfieber, während sie darauf wartete, dass das Geplauder im Saal verebbte. Gelassen stand sie da in ihrem ärmellosen rosa-weiß gestreiften Kleid, das ihre schmale Taille betonte und weich über die Hüfte bis zu den Knöcheln fiel.

Sie sah die Gäste an und lächelte entspannt. Das einzige winzige Indiz von Nervosität war, dass sie eine kurze dunkle Locke hinter das rechte Ohr steckte.

„Meine Damen und Herren, rufen Sie sich bitte eine bemerkenswerte Tatsache in Erinnerung: Jeder von uns hier hat Vorfahren, die im Mittelalter lebten, in der Ära der Tudors und im viktorianischen Zeitalter.“

Gabe merkte, wie Etta die Zuhörer in ihren Bann zog.

„Die Ahnen von manchen unter uns mögen in diesem Raum gestanden und mit Königen getafelt haben.“

Irrte Gabe sich, oder schaute sie ihn tatsächlich kurz an?

„Andere Vorfahren waren vielleicht Soldaten, Steinmetze, Taschendiebe oder Wegelagerer. Wir alle haben Stammbäume, und Bäume brauchen Wurzeln. Wie Sie wissen, sollen auf diesem Ball Spenden gesammelt werden für Teenager, die einen schwierigen Start ins Leben hatten. Viele von ihnen sagen, dass sie sich entwurzelt fühlen …“

Das Thema und diese Teenager bedeuteten Etta offenkundig viel. Gabe respektierte ihr Mitgefühl ebenso wie das der Cavershams. Mitgefühl trieb ja auch ihn an, wenn er sich um junge Menschen kümmerte, die gemobbt worden waren oder selbst gemobbt hatten. Er engagierte sich ehrenamtlich, wenngleich nicht öffentlich.

Ettas aufrichtige Sorge um junge Menschen war ein weiterer Punkt, der in seinen Augen für sie sprach. Ihre Rede kam von Herzen, und sie trug sie professionell vor.

Jetzt deutete sie mit einer Hand auf ihren Rock. „Ich trage heute dieses Kleid, weil es mich an die für Weihnachten typischen Zuckerstangen erinnert. Die Weihnachtszeit steckt voller Traditionen. Familien kommen zusammen. Deshalb ist es eine problematische Zeit für viele Heimkinder und Kinder, die in Heimen sein sollten. Das Geld, das heute gesammelt wird, ermöglicht ihnen ein schöneres Weihnachtsfest und verhilft ihnen zu einer Zukunft, in der sie hoffentlich eigene Wurzeln entwickeln können. Wenn also gleich die Versteigerung beginnt, spenden Sie bitte großzügig, im Geiste der Weihnachtszeit. Ich wünsche Ihnen noch viel Spaß und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“

Die Gäste applaudierten anerkennend. Für Gabe lag der Fall klar. Er war hergekommen, um herauszufinden, ob Etta Mason liefern konnte, was er brauchte. Nun wusste er, dass dem so war. Also würde er ihre Reize übersehen und seine Mission starten.

Mit ein paar langen Schritten bahnte er sich einen Weg durch die Menschen, die sich um Etta drängten. Als er vor ihr stand, merkte er ihr die Überraschung an.

„Beeindruckender Vortrag.“

„Danke.“

„Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen reden. Wir könnten vor dem Essen auf die Terrasse gehen.“

Erst befürchtete Gabe, sie würde ablehnen. In dem Fall wäre Plan B zum Einsatz gekommen. Doch nach kurzem Zögern nickte sie.

Gemeinsam traten sie in die kalte, saubere Luft hinaus. „Das ist ja wunderschön“, staunte Etta.

Lichterketten glitzerten in grünen Topfpflanzen. Über den Tischen auf dem Mosaikboden hingen Laternen und tauchten die Terrasse in ein warmes Licht. Unauffällige Heizkörper sorgten dafür, dass die niedrigen Temperaturen den Gästen nichts anhaben konnten.

„Die Cavershams wissen wirklich, wie man eine Party organisiert“, meinte Gabe. „Später soll hier getanzt werden. Schade, dass Sie früh gehen müssen.“

Plötzlich stieg ein Bild vor ihm auf: Er hielt Etta in seinen Armen und tanzte mit ihr im Mondlicht auf der Terrasse. Die Vision war so deutlich, dass sein Puls schneller schlug. Unwillkürlich machte er einen Schritt auf Etta zu. Ein dezenter Vanilleduft stieg ihm in die Nase, wie Folter für seine Sinne.

„Ja.“

Gabe fragte sich, ob ihre Gedanken in dieselbe Richtung gingen wie seine. Er blickte ihr in die Augen und las darin eine Verheißung, die ihn die Luft anhalten ließ. Gleich darauf verschwand der eigentümliche Ausdruck.

Sie presste die Lippen aufeinander, flüsterte ein kaum hörbares „Tja“ und wich zum Holzgeländer aus, das die Terrasse umgab.

Dann drehte sie sich mit verschränkten Armen zu ihm um. „Warum haben Sie mich hergeführt?“

Misstrauisch klang sie. Wer konnte es ihr verdenken? Gabriel war sauer auf sich selbst. Er brauchte diese Frau als Profi, und die Unterhaltung war viel zu wichtig, um wegen eines durch und durch unprofessionellen Knisterns etwas zu riskieren. Höchste Zeit, sich auf die Prioritäten zu besinnen.

„Ich brauche eine Historikerin, und Sie sind perfekt für den Job.“

Verblüfft zog sie die Stirn kraus. „Erzählen Sie mir mehr.“

Gabe zeigte auf einen Holztisch in der Laube. Zarte weiße Leuchtsterne hingen von der Decke, an der Lichterketten funkelten. „Setzen wir uns?“

„Gut.“ Elegant nahm Etta auf einem Stuhl Platz. Sie war auf der Hut.

Gabe setzte sich nach ihr und nutzte die Galgenfrist, um seine Worte im Geiste noch einmal durchzugehen.

„Ich möchte, dass Sie einen detaillierten Stammbaum der Familie Derwent erstellen. Vor achtzehn Monaten hat ein Hochwasser viele wertvolle Gegenstände in Derwent Manor zerstört – unter anderem ein Pergament mit dem ursprünglichen Stammbaum. Auch andere Dokumente wurden beschädigt. Jahrhundertealte Verzeichnisse. Leider wurden diese Unterlagen nie digitalisiert. Einige Fakten stehen bestimmt in öffentlichen Archiven, aber ich habe keine Ahnung, wie ich mir Zugang zu ihnen verschaffe. Geschweige denn, wie ich all die Informationen zusammenführe.“

Etta beugte sich vor. Ihre dunklen Augen blitzten interessiert. Gabe wünschte, er wäre der Grund dafür.

„Sie wollen, dass ich Ihren Familienstammbaum erstelle?“

„Ja. Allerdings viel detaillierter als im Original.“

Seit Jahrhunderten war das Herzogtum vom Vater auf den Sohn übergegangen. Damit hatte es nun ein Ende. Gabe musste sich mit bisher unbedeutenden Linien des Stammbaums beschäftigen und prüfen, wer nach ihm Duke werden konnte, da er selbst nie einen Sohn zeugen würde.

Er wollte unbedingt erfahren, welche Optionen es gab – und zwar schnell. Nachdem der Duke einen Infarkt erlitten hatte, drängten er und die Duchess Gabe, zügig zu heiraten und einen Sohn in die Welt zu setzen. Gabe konnte nicht ausschließen, dass die Wahrheit bei seinem Vater einen zweiten Infarkt auslöste. Also musste er eine Lösung finden.

„Es gibt eine weitere Bedingung“, fuhr er fort.

„Und die wäre?“

„Ich brauche das Ergebnis bis Weihnachten. Mir ist klar, dass in den wenigen Wochen eine Menge Arbeit auf Sie zukommt, aber ich werde Ihnen nach Kräften helfen. Sie wissen vielleicht, dass mein Vater kürzlich einen Herzinfarkt hatte. Der Stammbaum soll ein Überraschungsgeschenk für ihn sein.“

Das Interesse wich aus Ettas Miene. „Tut mir leid, ich habe familiäre Verpflichtungen und werde in wenigen Tagen verreisen.“

„Wie lange werden Sie fortbleiben?“

„Fünf Wochen.“

Gabe unterdrückte einen Fluch. Er hielt Etta für die ideale Kandidatin. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie den Auftrag sowohl gut als auch schnell erledigen würde. „Können Sie Ihren Urlaub vielleicht verschieben? Ich würde Sie großzügig entschädigen. Ihr Honorar bestimmten Sie selbst.“

„Es geht nicht um Geld. Ich mache mit meiner Tochter eine Kreuzfahrt.“

Autor

Nina Milne

Nina Milne hat schon immer davon geträumt, für Harlequin zu schreiben – seit sie als Kind Bibliothekarin spielte mit den Stapeln von Harlequin-Liebesromanen, die ihrer Mutter gehörten.

Auf dem Weg zu diesem Traumziel erlangte Nina einen Abschluss im Studium der englischen Sprache und Literatur, einen Helden ganz für sich allein,...

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