Ein Ring brachte uns Glück

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Sie ist jung, sie ist süß und sie will unbedingt diesen Ring. Jason weiß nicht, warum Lucy das Schmuckstück so viel bedeutet. Allerdings würde sie alles tun, um es wieder zu bekommen. Wirklich alles? Jason wäre kein Playboy, wenn er das nicht herausfinden würde ...


  • Erscheinungstag 14.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773267
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Lucy Carey sah mit unbeteiligtem Gesicht zur Seite. Sie kannte diese Art von Blick, die ihr der Mann zugeworfen hatte, zur Genüge. Sie hatte gelernt, mit solchen Aufforderungen fertig zu werden, wenn sie einem Flirt aus dem Weg gehen wollte. Solche Augenspiele hatte sie schon gemieden, als sie noch ein Teenager gewesen war und eine Schönheit zu werden versprach. Dennoch hatte dieser Mann ihr Interesse geweckt. Er hatte etwas an sich, das Lucy immer wieder zu ihm hinübersehen ließ.

Zu ihrer Überraschung blickte er sie nicht noch einmal an. Sie hatte erwartet, dass er den Augenflirt nach allen Regeln der Kunst fortsetzen würde, um sich schließlich mit ihr bekannt zu machen. Stattdessen hatte er sich in ein Gespräch mit einer elegant gekleideten älteren Dame, einem jungen Mädchen in Lucys Alter und der Gastgeberin Joyce Appleby vertieft. Schließlich wandte Lucy ihre Aufmerksamkeit wieder Philippa Browne zu, die neben ihr saß und lebhaft auf sie einredete.

„Ist dein Bruder nicht hier?“, wollte Pippa wissen. „Als ich dich in dem Gedränge entdeckte, dachte ich, er wäre auch da.“

Lucy und Pippa waren Gäste eines Wohltätigkeitsfrühstücks, zu dem Sekt und Erdbeeren gereicht wurden und das Joyce Appleby im Gemeindesaal des Dorfes arrangiert hatte. Sie wollte auf diese ausgefallene Weise Geld für karitative Zwecke lockermachen. Lucy hatte angenommen, dass der hohe Eintrittspreis die Leute abschrecken würde, aber der Saal war voll. Offensichtlich spielte Geld für keinen der Anwesenden eine Rolle.

„Nein, Rupert hatte keine Zeit“, antwortete Lucy.

„Vermutlich ist er mit Sandra Weaver unterwegs“, meinte Pippa. Aber Lucy blieb die Antwort schuldig. Sie wünschte, Rupert wäre mit der eben geschiedenen, lebenslustigen Sandra ausgegangen, statt sich mit seinem zweifelhaften Freund herumzutreiben. „Oh, da ist Justin Arbuthnot mit seinen Eltern“, sagte Pippa plötzlich strahlend. „Entschuldigst du mich, Lucy? Ich will nur ein paar Worte mit Justin wechseln.“ Pippas Gedanken schienen ausschließlich um die Männerwelt zu kreisen. Manchmal kam sie Lucy etwas unreif vor, obwohl sie beide im gleichen Alter waren.

Lucy nippte an ihrem Sektglas und sah sich im Saal um. Sie kannte fast alle Gäste, war aber an ihrem Geplauder nicht interessiert. Sie war nur gekommen, weil Rupert darauf bestanden hatte, dass sich einer von ihnen beiden bei diesem gesellschaftlichen Ereignis sehen ließ.

Unwillkürlich sah Lucy erneut zu dem fremden Mann hinüber, der ihr vorhin den vielsagenden Blick zugeworfen hatte. Er schien mit höflicher Geduld Joyce Applebys Wortschwall zuzuhören, die mit ihrer Menschenliebe manchmal des Guten zu viel tat. Lucy war überzeugt, dass sie seinen ersten und einzigen Blick richtig gedeutet hatte, auch wenn er nicht wieder in ihre Richtung gesehen hatte.

Da er sich auf Joyces Worte konzentrierte, konnte Lucy ihn genauer mustern. Er überragte die Umstehenden um einige Zentimeter, aber es war nicht seine Körpergröße, die ihm das besondere Flair gab. Sie überlegte, ob er zu Besuch in Priors Channing war und vielleicht der neue Liebhaber von Joyce Appleby sein könnte. Aber er schien nicht in diese Rolle zu passen. Dieser Mann erwartete von einer Beziehung mehr als das oberflächliche Geplapper, das Joyce Appleby vom Morgen bis zum Abend von sich gab.

Unvermittelt hob er den Kopf und schaute sie an. Rasch sah Lucy zur Seite. Sein Blick war gleichgültig über sie hinweggeglitten. Jetzt fragte sich Lucy, ob ihr erster Eindruck richtig gewesen war. Dabei war sie sich so sicher gewesen.

„Hallo, Lucy, dich habe ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.“ Lucy drehte sich um. Vor ihr stand Donald Bridges. Obwohl sie allen Grund hatte, ihn kühl abfahren zu lassen, freute sie sich, einen Gesprächspartner zu haben. Sollte jener Mann noch einmal zu ihr hinsehen, wusste er wenigstens, dass sie nicht jedem Mann gleichgültig war.

„Wie schön, dich wiederzusehen, Donald“, erwiderte sie herzlich.

Donalds breites Lächeln zeigte seine Erleichterung. „Als wir das letzte Mal zusammen waren, habe ich einfach den Kopf verloren“, meinte er entschuldigend. „Du bist zu schön, Lucy. Nur deshalb konnte es passieren.“

„Vergiss es“, sagte Lucy hastig. Sie ließ ihn glimpflich davonkommen. Als er sie vor Wochen nach einem Abendessen nach Hause gebracht hatte, hatte er sich wie ein achtarmiger Tintenfisch benommen. Seine Hände waren überall auf ihrem Körper gewesen. Und Lucy hasste es, von einem liebestollen jungen Mann bedrängt zu werden.

Donald schien erleichtert, dass sie dieses Thema so schnell fallen ließ. „Es tut mir so leid mit deinen Eltern, Lucy. Ich wollte dir nach dem Unfall schreiben, dachte aber, dass du in deiner Trauer nicht an jenen missglückten Abend erinnert werden wolltest.“

Lucys Gesicht verschloss sich, als sie an den Tod der geliebten Eltern dachte, die vor Kurzem auf einer Segeltour ertrunken waren. Seither hatten sie und Rupert viele böse Enttäuschungen erlitten. Aber kein Unglück war so groß wie die Tatsache, dass ihre Eltern für immer von ihnen gegangen waren.

„Ich hatte nicht gehofft, dich hier wiederzusehen“, fuhr Donald fort. Aber Lucy hörte nur mit halbem Ohr zu. Nur Ruperts wegen hatte sie ihr elegantes Seidenkostüm angezogen und war auf dem Sektfrühstück erschienen. Denn wenn einmal bekannt wurde, dass die Geschwister Carey praktisch ohne einen Pfennig dasaßen, würde nach Ruperts Ansicht bald niemand mehr etwas mit ihnen zu tun haben wollen.

Rupert stand aus dem Erbe ihres Großvaters alle Vierteljahre ein Wechsel zu. Aber mit diesem Geld konnte er kaum über die Runden kommen. Erst wenn er dreißig war, durfte Rupert das gesamte Erbe ihres Großvaters antreten. Bis dahin würden noch fünf Jahre ins Land gehen. Dazu hatten ihnen die Eltern einen Berg unbezahlter Rechnungen hinterlassen, sodass sie und Rupert sich bereits von einigen wertvollen Möbelstücken getrennt hatten, um diese Schulden zu bezahlen. Ihr Elternhaus, „Brook House“, war zu groß für sie beide, aber Rupert weigerte sich, es zu verkaufen.

Das Haus bedeutet Rupert genauso viel wie mir der antike Ring von Mutter, dachte Lucy. Sie kämpfte mit den Tränen, denn eben diesen Ring hatte Rupert vor wenigen Wochen auf dem Weg zum Juwelier verloren, wo er gereinigt und aufpoliert werden sollte.

Mit Gewalt riss sich Lucy von ihren wehmütigen Überlegungen los. Donald hatte seit einigen Minuten auf sie eingeredet, und sie hatte nicht ein Wort mitbekommen. Anscheinend hatte er nichts gemerkt, aber jetzt erwartete er eine Antwort. „Entschuldigung“, sagte Lucy mit freundlichem Lächeln, „aber bei dem Lärm hier habe ich deine letzten Worte nicht verstanden.“

„Ich weiß, dass du mich für ganz schön unverschämt hältst. Trotzdem wollte ich fragen, ob du nicht noch einmal mit mir ausgehen willst“, wiederholte Donald seine Frage.

Lucy wusste sofort, dass sie eine Einladung von Donald niemals annehmen würde, ganz gleich, wie es um ihre finanzielle Lage stand. Er würde sich bestimmt nicht anders als das erste Mal benehmen. Sie hätte Ausflüchte gebrauchen und sagen können, dass er sie gelegentlich anrufen sollte. Stattdessen sagte sie offen: „Ich fürchte, Donald, das wird nicht gehen.“

Sofort verschwand Donalds Lächeln. Auch Lucy fühlte sich plötzlich traurig. Dieser Vormittag im Gemeindesaal war für sie eine Art Lebewohl an ihre langjährigen Bekannten und ihr altes Leben. Aber sie wusste, dass sie richtig reagiert hatte. Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: „Würdest du mich wohl entschuldigen? Ich habe Rupert versprochen, bald wieder zu Hause zu sein.“ Damit stand sie auf und ging zur Garderobe.

Das halbe Dutzend Garderobenhaken quoll von Mänteln und Wollschals über. Als Lucy einen Zipfel ihrer weißen Jacke entdeckt hatte, betrat das junge Mädchen die Garderobe, das mit dem Fremden in der Gruppe gestanden hatte.

„Sie wollen schon gehen?“, fragte sie, während Lucy sich bemühte, ihre Jacke vom Haken zu nehmen, ohne die darüber hängende Kleidung zu Boden zu werfen. „Das war ein hübscher Morgen, nicht wahr?“

„Oh ja“, antwortete Lucy. Ihr gefiel die Offenheit der unbekannten jungen Dame.

„Übrigens“, fuhr diese fort, „heiße ich Carol Stanfield. Ich bin mit Jason und seiner Mutter hergekommen.“

Anscheinend nahm sie selbstverständlich an, dass Lucy wusste, wer Jason und seine Mutter waren. Lucy war so mit den Mänteln auf ihrem Arm beschäftigt, dass sie vergaß, ihrerseits ihren Namen zu nennen. Also Jason hieß dieser Mann. Er konnte nur zu Besuch in Priors Channing sein. Und schon entschlüpfte ihr die Frage: „Sie sind nicht von hier?“

„Nein, ich lebe in London. Aber man kann nie wissen“, erwiderte Carol lachend. „Ich bin bei Jason in Rockford Hall zu Besuch“, fuhr sie fort und hielt eine Hand mit gekreuzten Fingern in die Höhe. „Bekanntlich soll man die Hoffnung nie aufgeben.“ Lucy starrte wie gebannt auf diese Hand. Dann nahm Carol Stanfield eine Wollstola über den Arm und wandte sich zur Tür.

„Ich sehe Sie bestimmt noch einmal hier in der Gegend“, sagte sie und war zur Haustür hinaus, bevor Lucy antworten konnte.

Lucy hatte weder die letzten Worte von Carol in sich aufgenommen, noch merkte sie, dass sie jetzt allein in der Garderobe stand. Das war Mutters Ring, dachte sie benommen, als ihr Gehirn wieder anfing zu arbeiten. Diese Carol Stanfield trägt Mutters Ring am Finger, den Rupert verloren hat.

Wie elektrisiert stürzte Lucy zur Haustür, ihre Jacke hatte sie vergessen. Sie musste diese Carol Stanfield erwischen. Sie kam gerade rechtzeitig, um einen schnittigen Wagen mit der blonden Carol auf dem Rücksitz wegfahren zu sehen. Lucy wollte zu ihrem Mini stürzen und hinterherrasen, als Joyce Applebys durchdringende Stimme sie zurückhielt.

„Lucy, Sie wollen schon gehen? Es hat mich so gefreut, dass Sie gekommen sind. Und Rupert haben Sie nicht mitgebracht, warum? Sagen Sie ihm, diesmal sei ihm noch verziehen.“

Lucy hatte einige Mühe, Joyce abzuschütteln, doch mit einer liebenswürdigen Entschuldigung gelang ihr dies endlich.

Carol Stanfield hatte gesagt, dass sie bei diesem Jason in Rockford Hall zu Besuch sei. Lucy wusste, dass dieses Anwesen jahrelang zum Verkauf gestanden hatte. Der genaue Kaufpreis war keinem bekannt, aber es dürfte sich um eine siebenstellige Zahl gehandelt haben. Dieser Jason musste also in Geld schwimmen. Weder er noch jemand aus seiner Bekanntschaft würde sich durch unlautere Methoden in den Besitz ihres Rings gebracht haben.

Vielleicht war es besser, wenn sie erst einmal nach „Brook House“ fuhr, möglicherweise war Rupert zu Hause, obwohl er in letzter Zeit ein recht unstetes Leben führte.

Lucy fühlte sich höchst ungemütlich bei dem Gedanken, vor den Eigentümer von Rockford Hall hinzutreten und frank und frei zu erklären, dass sein Gast Carol Stanfield ihr Eigentum am Finger trug. Nicht, dass sie sich vor diesem Mann gefürchtet hätte. Vielleicht war er voller Verständnis für ihr Anliegen, aber da war sie sich keineswegs sicher.

Während Lucy ihren Wagen jetzt in Richtung „Brook House“ steuerte, versuchte sie sich zu erinnern, an welcher Hand Carol den Ring getragen hatte. Vielleicht war sie Jasons Verlobte? Damit standen Lucys Aussichten noch schlechter, denn es war unwahrscheinlich, dass sich Carol Stanfield von ihrem Verlobungsring trennen würde. Lucy wusste nicht, an welcher Hand, geschweige denn an welchem Finger Carol den Ring getragen hatte. Sie wusste nur felsenfest, dass es der Ring ihrer Mutter gewesen war und dass sie ihn zurückhaben musste.

Als Lucy ihren Mini vor „Brook House“ parkte, stand der Wagen ihres Bruders vor der schweren Haustür aus Eichenholz. Sie stürzte ins Haus, um ihrem Bruder die unerhörte Nachricht mitzuteilen. Im Eingang traf sie auf Rupert, der gerade das Haus verlassen wollte. „Wie ist Joyces Sektgelage verlaufen?“, fragte er.

„Ich habe meinen Ring gesehen“, sprudelte Lucy hervor. „Da war ein Mädchen, das Mutters Ring trug. Sie …“

„Deinen Ring?“, unterbrach Rupert. „Du kannst dich nur geirrt haben.“

„Das habe ich nicht.“ Lucy konnte nicht verstehen, dass ihr Bruder ihr keinen Glauben schenkte. In aller Eile berichtete sie, was sie gesehen hatte.

„Vielleicht war es ein ganz ähnliches Stück? Ich bezweifle, dass es der Ring war, den ich verloren habe“, erwiderte er. Lucy wäre gern mit ihm ins Wohnzimmer gegangen, wo sie mit mehr Ruhe hätten sprechen können. Aber Rupert hatte keine Zeit. Er drängte zur Haustür.

„Es war mein Ring“, erklärte Lucy. „Ich würde ihn überall wiedererkennen.“

Rupert sah auf die Uhr. „Lucy, ich sehe, dass du ganz aus dem Häuschen bist. Aber in zehn Minuten soll ich bei Archie Proctor sein. Wir sprechen darüber, wenn ich wieder zu Hause bin.“

Der Name ließ Lucy einen Moment lang ihren Ring vergessen. Archie gehörte zu den wenigen Freunden ihres Bruders, die sie nicht leiden konnte. Ihrer Meinung nach liebte er das süße Leben zu sehr. In Bishops Waking lebte eine junge Frau, die in aller Öffentlichkeit erklärte, Archie Proctor sei der Vater ihres Kindes, obwohl er es leugnete.

„Und warum musst du dich mit ihm treffen?“ Lucy wusste, dass sie ihrem Bruder nicht solche Fragen stellen sollte. Aber wenn er mit Archie unterwegs war, fühlte sie sich immer unruhig. Rupert hatte Archies Freundschaft erst nach dem Tod ihrer Eltern gesucht.

„Ich bin drei Jahre älter als du, vergiss das nicht“, erwiderte Rupert gereizt. „Ich brauche dich wohl nicht zu fragen, was für Freunde ich haben darf.“

Krachend ließ Rupert die Haustür hinter sich ins Schloss fallen. Lucy ging unglücklich ins Wohnzimmer und sah mit leeren Augen aus dem Fenster. Der Garten war in diesem Jahr schöner denn je, aber an diesem kühlen Maitag hatte sie keinen Blick für die blühende Pracht.

Lucy wusste nicht, wann Rupert zurückkam. Vermutlich fuhr er mit Archie in das nahe gelegene Städtchen Dinton und würde bis in die frühen Morgenstunden dort bleiben. Ein- oder zweimal war Rupert betrunken nach Hause gekommen. Dabei wusste Lucy nicht, woher er das Geld für diese Ausschweifungen nahm. Sein Wechsel war erst in wenigen Wochen fällig. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass ihr Bruder heil und gesund nach Hause kam, ohne sich oder einem anderen Schaden zuzufügen.

Lucy ging in ihr Zimmer hinauf und vertauschte das Seidenkostüm mit Jeans und einem Pullover. Sie wollte noch heute ihren Ring zurückhaben. Rupert hatte zwar versprochen, mit ihr darüber zu reden. Aber da war wohl nicht viel zu besprechen, selbst wenn er rechtzeitig und nüchtern nach Hause kommen sollte.

Rupert hatte sich zu Lebzeiten ihrer Eltern und kurz nach deren Tod immer liebevoll und besorgt gezeigt. Obwohl auch er schwer am Verlust der Eltern trug, war er ihr in den ersten schrecklichen Wochen eine große Hilfe gewesen. Lucy strich sich über die feuchten Augen, als sie an den Tag dachte, an dem sie zum letzten Mal den Ring in der Hand gehabt hatte. Sie wusste nicht, was er wert war. Er war ihr teuer, weil er ihrer Mutter gehört hatte. Seit Generationen war dieser Ring im Familienbesitz.

An jenem Tag hatte Rupert den Ring genommen und gesagt: „Ich bringe ihn nach Dinton und lasse ihn für dich reinigen. Ich glaube, Mutter hat ihn seit Jahren nicht nachsehen lassen.“ Erst Tage danach hatte er gestanden, dass er den Ring verloren hatte. Zu diesem Zeitpunkt wussten sie schon, dass sie nicht, wie erhofft, ein Vermögen erben würden. Der zu „Brook House“ gehörende Grund und Boden war vor Monaten verkauft worden, weil ihr Vater Spielschulden hatte bezahlen müssen, von denen sie nichts geahnt hatten. Es war ein Wunder, dass das Haus noch ihr Eigentum war. Lucy hatte miterlebt, wie bitter Rupert auf die Tatsache reagierte, dass ihr Vater sein Erbe verspielt hatte. Also hatte sie den Kummer über den verlorenen Ring hinuntergeschluckt und lediglich gefragt, ob er die Polizei unterrichtet hätte.

„Natürlich war ich bei der Polizei“, hatte Rupert gefaucht. Alle Freundlichkeit war wie weggeblasen. „Wofür hältst du mich eigentlich, für einen Idioten?“

„Entschuldigung“, hatte Lucy nur geantwortet und ihren Kummer für sich behalten. Bald darauf hatte Rupert Trauer und Bitterkeit abgeschüttelt und so ein wildes Leben begonnen, dass Lucy sich fragte, ob sie ihren Bruder überhaupt jemals richtig gekannt hatte.

Lucy war zu unruhig, um die Rückkehr ihres Bruders abzuwarten. Sie überlegte, ob sie die Polizei benachrichtigen sollte, damit eine Untersuchung eingeleitet würde, warum Carol Stanfield fremdes Gut besaß. Aber bald verwarf sie diese Idee. Es erschien ihr nicht fair gegenüber Jason, ihn dem unweigerlichen Klatsch der kleinen Gemeinde von Priors Channing auszusetzen. Nein, es gab nur einen Weg: Sie würde selbst nach Rockford Hall fahren.

Wieder ging Lucy in ihr Zimmer und wählte einen leichten Hosenanzug mit einer cremefarbenen Seidenbluse, die beide sehr gut zu ihrem dunkelbraunen Haar und ihren Augen passten. Natürlich hätte sie auch in den alten Jeans fahren können. Aber da ihr ein unangenehmes Gespräch bevorstand, wollte sie wenigstens in ihrem Äußeren beherrscht und selbstsicher auftreten. Und dazu waren Jeans und Pullover nicht geeignet.

Als Rockford Hall noch Colonel Broughton, einem Freund ihres Vaters, gehört hatte, war Lucy dort öfter zu Besuch gewesen. Seit dem Tod des Colonels vor zwei Jahren hatte der Besitz mit allen verpachteten Bauernhöfen, die sich bis Bishops Waking hinzogen, zum Verkauf gestanden. Das vernachlässigte Anwesen schien von dem neuen Besitzer wieder gepflegt zu werden, was einer Mammutaufgabe gleichkam. Dieser Jason muss eine ganze Armee von Gärtnern angestellt haben, überlegte Lucy, als sie ihren Mini vor der schweren Haustür parkte.

Sie betätigte den mächtigen Türklopfer. Während sie wartete, holte sie tief Luft, um ihrer Nervosität Herr zu werden. Sekunden später öffnete der Fremde, den sie sprechen wollte, die Haustür. Lucy fiel sein unbewegtes Gesicht auf, das keinerlei Überraschung zeigte. Sie konnte nur hoffen, dass er nichts von ihrer Nervosität bemerkte.

„Darf ich Sie einen Augenblick sprechen?“ In Lucys Ohren klangen ihre eigenen Worte bemerkenswert kühl. Da der Mann keine Anstalten machte, sie ins Haus zu bitten, fuhr sie fort: „Ich werde Sie nicht lange aufhalten.“

Wortlos trat er einen Schritt zurück und ließ Lucy eintreten. Die Halle war anders möbliert als zu Zeiten des Colonels und sehr geschmackvoll mit antiken Möbeln ausgestattet. Am Fuß der breiten Treppe stand Carol Stanfield. Vermutlich waren sie und dieser Jason, dessen Nachnamen sie immer noch nicht wusste, durch die Halle gegangen, als sie geklopft hatte. Jason hatte selbst geöffnet und nicht auf einen seiner Hausangestellten gewartet. Das zeigte Lucy, dass er kein Snob war.

„Hallo“, sagte Carol Stanfield. Es klang genauso herzlich wie am Vormittag. „Wie reizend, dass Sie uns besuchen kommen.“ Lucy fühlte Gewissensbisse, denn nach ihrem Besuch würde Carol bestimmt nicht mehr so freundlich sein.

„Dies ist kein eigentlicher Besuch“, mischte sich Jason ein. Lucy warf ihm einen kurzen Blick zu. Sein Gesichtsausdruck war völlig undurchschaubar. Lucy war jetzt endgültig davon überzeugt, dass sie sich seinen vielsagenden Blick von heute Morgen nur eingebildet hatte.

„Kein eigentlicher Besuch?“ Fragend blickte Carol zu Lucy.

„Ich …“ Lucy sah in Carols verdutztes Gesicht. Es war ihr höchst unangenehm, den Grund ihres Kommens zu nennen.

„Ich sehe dich dann später wieder, Carol“, meinte Jason gelassen und deutete Lucy mit einer Handbewegung an, dass sie ihm ins Wohnzimmer folgen sollte.

„Heißt das, dass ich nicht dabei sein soll?“, fragte Carol.

Das war das Letzte, was Lucy wünschte. Es würde schon schwer genug sein, diesem verschlossenen Mann klarzumachen, dass der Ring an Carols Finger ihr Eigentum war. Wenn dieses Mädchen, das nur seine Verlobte sein konnte, anwesend war, würde ihre Aufgabe noch schwieriger werden.

„Ich würde lieber allein mit Mr …“ Lucy wünschte, sie wüsste wenigstens seinen Nachnamen und dass die ganze unangenehme Unterredung schon hinter ihr läge. „Ich möchte Sie lieber allein sprechen“, sagte sie schließlich entschlossen.

„Aber mach’s kurz, Jason, du hast versprochen, mir Billard beizubringen“, fügte sich Carol in das Unvermeidliche.

„Es dauert bestimmt nicht lange.“ Dann schloss Jason die Wohnzimmertür hinter sich und Lucy und bot ihr einen übergroßen Sessel an. Aber Lucy wollte sich nicht setzen. Sie fühlte sich in der Gegenwart dieses Mannes nicht wohl, der ihr noch dazu durch sein beharrliches Schweigen den Anfang erschwerte.

Schließlich fühlte sie sich gezwungen, Platz zu nehmen. Wenigstens hatte sie dadurch für zwei Sekunden etwas zu tun. Er blieb vor Lucy stehen und erschien ihr noch größer als heute Morgen. Er mochte zehn bis fünfzehn Jahre älter als sie sein und hatte ähnlich dunkles Haar wie sie. Seine hart blickenden Augen waren allerdings graugrün und nicht von einem samtenen Braun. Seine ganze Erscheinung, der schmale Mund, der harte, muskulöse Körper, machten einen herrischen Eindruck.

„Mein Name ist Jason Hemming.“ Die Stimme klingt genauso hart, wie der Mann wirkt, fand Lucy. Auf diese Weise erinnerte er sie daran, dass sie ihm ins Haus eingefallen war, ohne seinen Namen zu kennen.

„Es tut mir leid, dass ich Ihren Nachnamen nicht wusste.“ Lucy wünschte sofort, sie hätte sich nicht entschuldigt. So stand es gleich zu Beginn eins zu null für ihn. „Wir sind heute Morgen nicht miteinander bekannt gemacht worden“, fuhr sie mit kühler Stimme fort. „Ich bin Lucy Carey und wohne in ‚Brook House‘.“

Wieder kam keine Antwort. Lucy fragte sich, ob er ihren Namen bereits kannte. Jeder im Gemeindesaal hätte ihm sagen können, wer sie war. Sie war es nicht gewohnt, so gleichgültig von einem Mann behandelt zu werden. Sein Benehmen verletzte sie.

„Sie wollten mich in einer eher geschäftlichen Angelegenheit sprechen“, erinnerte er. Es klang, als würde er sie sofort zur Tür bringen, wenn sie nicht endlich zur Sache käme. „Ich warne Sie, Miss Carey, Ratespiele liegen mir nicht.“

Das saß. Lucy hob den Kopf und straffte die Schultern. Sie war wütend, ihre Augen blitzten. Jason Hemming war der unmöglichste Mann, den sie je kennengelernt hatte. Er hatte sofort gemerkt, dass sie unsicher war, und nichts getan, um ihr über die ersten Minuten hinwegzuhelfen. Warum sollte sie jetzt auf ihn Rücksicht nehmen? Schließlich stand das Recht auf ihrer Seite. Lucy erhob sich und fühlte sich gleich besser, obwohl er sie immer noch um Haupteslänge überragte.

„Ich bin auch kein Freund von Ratespielen, Mr Hemming“, entgegnete sie. „Aber da Sie jetzt in unserer Gemeinde wohnen, hielt ich es für besser, zunächst mit Ihnen zu reden, anstatt gleich zur Polizei zu gehen.“

Konnte Jason Hemming denn nichts aus der Fassung bringen? Er zuckte nicht einmal mit der Wimper und wartete schweigend, dass Lucy weitersprach. Wenn sein Gesicht überhaupt eine Gefühlsregung verriet, dann die der Langeweile.

Für Lucy aber war es eine neue Erfahrung, dass sich jemand in ihrer Gegenwart langweilte. Seit ihrer Schulzeit war sie immer beliebt gewesen, und sie konnte sich nicht derart geändert haben. Ohne Rücksicht auf seine Gefühle, falls er überhaupt welche hatte, sagte sie: „Der Ring Ihrer Verlobten gehört mir.“ Sie erwartete eine Bemerkung auf ihre sachliche Aussage, musste aber feststellen, dass Jason Hemming auch jetzt völlig ungerührt blieb.

„Sind Sie verlobt, Miss Carey?“, fragte er stattdessen. „Doch nicht mit dem jungen Mann, mit dem ich Sie heute Morgen habe sprechen sehen? Soweit ich bemerkte, waren Sie nicht sehr fröhlich dabei.“

Lucy war ganz aus dem Konzept gebracht und blickte in seine kalten graugrünen Augen. „Nein, ich bin nicht verlobt“, fauchte sie. „Donald hat mich an etwas erinnert“, sie brach ab. Was ging es diesen Mann an, dass Donald traurige Erinnerungen in ihr wachgerufen hatte?

„An etwas erinnert? Offenbar muss er Sie an etwas sehr Trauriges erinnert haben, Miss Carey.“

„Es überrascht mich, dass Sie das bemerkt haben“, antwortete Lucy eisig. Dann wünschte sie, sie könnte diese Worte ungesagt machen, denn jetzt wusste er, dass ihr seine Gleichgültigkeit aufgefallen war.

„Ich hätte es vielleicht nicht gemerkt“, erwiderte Jason ungerührt, „wenn Ihr ernstes Gesicht nicht zwischen lauter fröhlichen Menschen wie ein erhobener Zeigefinger aufgefallen wäre. Ich frage mich nur, woran Sie dachten, als Sie so bedrückt aussahen.“

Hätte nur ein wenig Mitleid in dieser Stimme mitgeschwungen, dann hätte sich Lucy jetzt rückhaltlos diesem Mann anvertraut. Als sie und Rupert ihre Eltern verloren hatten, hatte sich jeder freundlich und mitfühlend gezeigt, sodass sie oft ihre Tränen nicht hatte zurückhalten können. Aber bei der starren Haltung dieses Mannes lief sie nicht Gefahr, die Nerven zu verlieren.

„Meine Eltern sind vor einigen Monaten bei einer Segeltour ertrunken. Ich habe heute früh Donald zum ersten Mal wiedergesehen, als er mir sein Beileid ausgesprochen hat.“ Lucy hatte ihre Worte mit abgewandtem Gesicht vorgebracht. Diese Nachricht konnte Jason Hemming in keiner Weise treffen. Er hatte ihre Eltern nicht gekannt, weder ihre warmherzige Mutter noch den Vater, der ein liebenswerter Draufgänger gewesen war.

Aber Lucy war nicht so hartgesotten, wie sie gedacht hatte. Sie fühlte Tränen aufsteigen, bis Jason Hemmings harte Stimme ihr Ohr traf.

„Dann ist dieser Donald also kein fester Freund?“

Lucy zögerte nur, weil sie ein paar Sekunden brauchte, um sich zu fassen. „Aber nein, er wird es auch nie werden.“

„Soll ich nun denken, armer Donald?“

„Was soll das heißen?“, fuhr Lucy auf.

„Nun, zweifellos hat dieser Bursche ein Auge auf Sie geworfen. Sie machen sich aber nicht viel aus ihm. Warum?“

Lucy musste feststellen, dass ihr der Faden der Unterhaltung nicht nur aus der Hand genommen war, sondern dass sie weit von ihrem eigentlichen Anliegen abgekommen waren. Ärgerlich sagte sie: „Weil ich ihm das letzte Mal, als er mich eingeladen hatte, ein paar Ohrfeigen verpassen musste.“ Da hatte dieser fremde Mann ihr eine Information entlockt, die sie normalerweise keinem gegeben hätte. „Hören Sie“, fuhr sie, wütend auf sich selbst und ihren Gesprächspartner, fort, „könnten wir nicht auf den Grund meines Besuches zurückkommen?“

„Aber ja. Sie beanspruchen, wenn ich Sie recht verstanden habe, den Ring meiner … Verlobten.“

„Es ist mein Ring“, wiederholte Lucy. „Meine Mutter hat ihn mir hinterlassen. Er ist von unschätzbarem Wert für mich, und ich möchte ihn zurückhaben.“

„Aha“, erwiderte Jason Hemming nachdenklich. „Sie behaupten, der Ring gehöre Ihnen. Und was ist von größerem Wert für Sie: die Tatsache, dass er ein Erbstück Ihrer Mutter ist, oder sein materieller Geldwert?“

Lucy fühlte sich elend, weil ihr überhaupt jemand eine solche Frage stellte. Verletzt blickte sie in seine harten Augen. Sie sah seine Kinnmuskeln zucken, bevor er weitersprach. „Sie halten meine Frage für unberechtigt? Glauben Sie mir, das ist sie nicht. Es gibt so viele Frauen, die keinen Penny für ein Gefühl geben, deren Leben nur auf materielle Werte ausgerichtet ist.“

„Und Sie halten mich für eine solche Frau?“

„Ich bin wohl kaum in der Lage, das zu beurteilen. Bis heute habe ich Sie noch nie gesehen.“

Lucy wollte ihm nicht glauben. Ein Mann wie dieser Jason Hemming war ihr noch nicht über den Weg gelaufen. Seltsamerweise hatte sie die Überzeugung, dass er innerhalb von fünf Sekunden einen Sachverhalt durchschauen und richtig beurteilen konnte.

Autor

Jessica Steele
Jessica Steele stammt aus der eleganten Stadt Royal Leamington Spa in England. Sie war ein zerbrechliches Kind und verließ die Schule bereits mit 14 Jahren als man Tuberkulose bei ihr diagnostizierte. 1967 zog sie mit ihrem Mann Peter auf jenen bezaubernden Flecken Erde, wo sie bis heute mit ihrer Hündin...
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