Geheimnis einer Ballnacht

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Er küsst sie zärtlich, er liebt sie feurig - und doch ahnt Anna schon bald: Ryder Wyndham, Besitzer eines prächtigen Landguts, ist nicht der Richtige für sie, die Enkelin des Jagdaufsehers. So sehr die Leidenschaft seit einer heißen Ballnacht zwischen ihnen lodert, so unterschiedlich scheinen auch ihre Wünsche an das Leben: Anna will Karriere machen, Ryder sucht eine Frau, die ihm Erben schenkt und großzieht. Einzige Lösung: eine Affäre auf Zeit? Aber ohne Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft kann Anna die Momente der Liebe nicht mehr länger genießen. Das Aus für eine große Liebe?


  • Erscheinungstag 27.01.2008
  • Bandnummer 1803
  • ISBN / Artikelnummer 9783863495008
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Anna kam gerade erschöpft und durchgefroren nach Hause und freute sich darauf, früh ins Bett zu gehen, als es an der Tür klingelte. Seufzend nahm sie den Hörer der Sprechanlage ab.

„Hier ist Ryder Wyndham.“

Annas Augen begannen zu glänzen. „Ryder? Das ist ja eine Überraschung! Komm rein!“ Sie ließ ihn ins Haus und wartete an der offenen Wohnungstür. Als der neue Erbe von Wyndham Manor aus dem Fahrstuhl trat, spürte sie tiefes Mitgefühl, denn sein Gesicht war aschfahl, was durch die kurz geschnittenen schwarzen Locken noch betont wurde. Außerdem wirkte er mit seinem eleganten Anzug, dem schwarzen Schlips und dem langen dunklen Mantel noch schmaler als sonst.

„Bitte komm rein“, begrüßte sie ihn lächelnd.

Ryder ging an ihr vorbei und sah sich um. „Bist du allein?“, fragte er.

Anna wunderte sich über sein kühles Auftreten. „Ja. Wie geht es dir, Ryder?“

„Es ging mir schon besser.“

„Edwards Tod muss ein furchtbarer Schock für dich gewesen sein.“ Sie nickte ernst. „Kann ich dir vielleicht etwas zu trinken anbieten?“

Doch ihr Besucher lehnte ihr Angebot ab und musterte sie dann von Kopf bis Fuß mit einem Blick, der Alarmglocken in ihrem Kopf schrillen ließ.

„Ich muss zugeben, ich kann ihn verstehen“, sagte er zu ihrer Verwunderung.

„Wen?“, wollte sie wissen.

Ryder schaute sie feindselig an. „Du siehst zwar nicht so aus, aber nach meiner Berechnung musst du mindestens dreiunddreißig sein.“

Anna runzelte verwirrt die Stirn. „Bist du etwa hergekommen, um mit mir über mein Alter zu sprechen?“

„Nein, sondern um dich aufzufordern, meinen Bruder in Ruhe zu lassen“, fuhr er sie an.

„Meinst du Dominic?“, fragte sie fassungslos.

„Natürlich, wen denn sonst? Eddy ist schließlich tot.“

Anna atmete tief ein. „Du bist offenbar sehr angespannt, Ryder. Am besten ziehst du erst mal deinen Mantel aus, während ich dir einen Drink hole.“

„Ich will keinen Drink – ich will wissen, was du im Schilde führst!“

Anna hob das Kinn. „Ich fürchte, das musst du mir erklären.“

„Keine Angst, das werde ich.“ Kalt sah Ryder sie an. „Nachdem Dominic bei dir gewesen war, um dir die Nachricht von Eddys Tod zu überbringen, hat er nur noch von dir geredet: wie hübsch und sexy du bist und wie nett du dich ihm gegenüber verhalten hast. Er ist mehrmals nach London gefahren, bevor er nach New York zurückkehrte …“

„Und du denkst, dass er meinetwegen in London war?“, fragte Anna ungläubig.

„Dominic hat behauptet, er würde hier Freunde besuchen. Aber es ist doch offensichtlich, dass er in Wirklichkeit dich besucht hat. Ich war zu sehr mit meinen Problemen beschäftigt, um gleich zu merken, worauf das alles hinausläuft.“ Angewidert verzog er den Mund. „Es liegt doch auf der Hand, warum eine Frau deines Alters einen zehn Jahre jüngeren Mann heiraten möchte.“

„Wegen des tollen Sex?“ Vor Wut hätte Anna ihn am liebsten geohrfeigt.

„In diesem Fall wegen des Geldes.“ Voller Verachtung blickte er sie an. „Und als Dominic dir erzählte, was für eine nette kleine Erbschaft ihm unsere Tante hinterlassen hat, hast du deinen aktuellen Lebensabschnittsgefährten zum Teufel gejagt und die Gelegenheit beim Schopfe gepackt.“

Anna war so verletzt, dass ihre Kehle wie zugeschnürt war. „Ich kann nicht glauben, dass du mir wirklich so etwas unterstellst“, brachte sie schließlich heraus. „Von Dominics Erbschaft wusste ich nichts, und sie interessiert mich auch nicht. Ich habe nämlich nicht die geringste Absicht, deinen kleinen Bruder zu heiraten.“

„Und das soll ich dir glauben?“

„Ob du mir nun glaubst oder nicht, Squire, es ist die Wahrheit.“ Anna wusste genau, wie sehr es Ryder missfiel, mit seinem offiziellen Gutsherrentitel angesprochen zu werden. „Als Dominic herkam, um mir von Edwards Tod zu erzählen, hatte ich ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Nur als Information für deine Statistik“, fuhr sie kühl fort, „bei Eddys Beerdigung bin ich ihm auch kurz begegnet.“

Ryder runzelte die Stirn. „Dein Großvater hat mir zwar dein Beileid übermittelt, aber dass du bei der Beerdigung warst, habe ich gar nicht mitbekommen.“ Seine Augen nahmen wieder einen harten Ausdruck an. „Es ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Dominic heute früh aus New York anrief, um mir zu erzählen, du hättest seinen Heiratsantrag angenommen.“

„Dann hat er entweder gelogen oder sich einen Scherz erlaubt. Da drüben steht mein Telefon – du kannst ihn gern anrufen und fragen!“

Ryder schüttelte den Kopf. „Das habe ich schon versucht. Er ist nicht zu Hause, und sein Handy ist auch ausgeschaltet. Bevor unser Gespräch unterbrochen wurde, sagte er noch, er würde mich heute Abend anrufen, um mir Genaueres zu erzählen. Ich musste wegen der gerichtlichen Testamentsbestätigung nach London …“

„Und da hast du die Gelegenheit genutzt, mir deine Meinung zu sagen. Oder vielleicht wolltest du mich ja auch bestechen?“ Sie lächelte spöttisch. „Was muss man einer unangemessenen Heiratskandidatin wie mir denn so bieten, Ryder?“

Befriedigt stellte sie fest, dass sich in seinen dunklen Augen einen Moment lang Wut spiegelte. „Falls ich mich irre, werde ich mich natürlich entschuldigen“, sagte er ein wenig steif.

„Falls?“, wiederholte Anna kühl. „Tut mir leid, aber das reicht mir nicht, Squire. Ich verlange eine bedingungslose Entschuldigung, und zwar sofort.“

Doch Ryder schüttelte den Kopf. „Nicht, bevor ich mit Dominic gesprochen habe.“

Anna ging zur Tür und riss sie auf. „Ich möchte, dass du jetzt verschwindest.“

Ryders blaue Augen drückten leichten Zweifel aus, als er an ihr vorbeiging. „Wenn ich mich täusche, Anna …“

„Natürlich täuschst du dich“, fiel sie ihm nun verächtlich ins Wort. „Eigentlich hätte ich gedacht, dass du mich besser kennst.“

„Ja, das dachte ich auch.“ Draußen wandte Ryder sich noch einmal um. „Anna …“

Doch Anna hatte genug und schlug die Tür zu. Der Gutsherr von Wyndham Manor sollte die Tränen nicht sehen, die sie aus Stolz bis eben zurückgehalten hatte.

Am Abend erfuhr Ryder Wyndham, dass der Heiratsantrag seines jüngeren Bruders angenommen worden war – von Hannah Breckenridge, der Enkelin vom Gründer des New Yorker Auktionshauses, für das Dominic arbeitete. Nicht von Anna Morton, der Enkelin des Wildhüters vom Wyndham-Anwesen, der Ryder und seinen Geschwistern Angeln und Schießen beigebracht hatte.

Entsetzt über seinen Irrtum rief Ryder sofort bei Anna an, um sich zu entschuldigen. Doch sie legte einfach auf. Die Blumen, die er ihr am nächsten Tag schickte, gab sie dem Hausmeister für seine Frau mit. Schließlich erschien Ryder noch einmal persönlich, aber Anna ließ ihn nicht in die Wohnung. Und sie machte deutlich, dass sie ihm auch künftig nicht verzeihen würde.

Erst ein knappes Jahr später sahen sie sich wieder, und zwar zu einem Anlass, den sich keiner von beiden gewünscht hätte.

Mit jedem Kilometer nahm der Nebel in den walisischen Marschen zu. Als Anna schließlich das Schild entdeckte, nach dem sie Ausschau gehalten hatte, bog sie ab und fuhr im Schritttempo durch das vertraute Labyrinth von Straßen. Erleichtert seufzend sah sie, dass im Keeper’s Cottage Licht brannte. Sie hielt hinter dem Auto, das am Tor parkte, stieg aus und lächelte schuldbewusst, als ihr Vater herbeieilte.

„Hallo, Dr. Morton. Wie ich sehe, hast du die Nachricht bekommen, die ich dir hinterlassen habe.“

„Ja, aber da warst du schon lange losgefahren, deswegen wollte ich dich nicht anrufen.“ John Morton umarmte sie. „Wie, um alles in der Welt, konntest du nur allein von London herfahren, Anna?“

„Eigentlich wollte Clare mitkommen, aber dann hat sie gestern eine Erkältung bekommen und bei ihrem Exmann übernachtet, um mich vor ihren Bazillen zu schützen.“

„Deine Mitbewohnerin ist eine sehr vernünftige Frau“, fand ihr Vater und nahm ihr den Koffer ab. „Ich habe die Heizung angemacht, also komm schnell rein und wärm dich auf. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass du so wild entschlossen bist herzukommen, hätte ich dich abgeholt.“

„Genau deswegen habe ich es dir nicht erzählt, Dad. Dein Leben ist schon hektisch genug, ohne dass du ständig von Shrewsbury nach London und zurück fährst“, erwiderte Anna auf dem Weg ins Haus. „Ich wollte einem hart arbeitenden Arzt diese Mühe ersparen.“

Ich muss mich aber nicht von einer Lungenentzündung erholen. Du siehst wirklich aus wie ein Gespenst“, sagte John Morton besorgt, fühlte ihren Puls und setzte Wasser auf. „Ich bin kurz beim Dorfladen vorbeigefahren, um dir Eier, Milch und Brot fürs Frühstück zu kaufen. Außerdem sind noch jede Menge Konserven aus Vaters Vorräten da. Und sobald du ausgepackt hast, fahre ich dich zum Abendessen in den Red Lion. Tom kann dich dann später zurückbringen. Er ist bestimmt bald da.“

Anna lächelte ihn einschmeichelnd an, als er Teeblätter in die vorgewärmte Kanne gab. „Bitte nimm es mir nicht übel, Dad, aber dafür bin ich heute einfach zu müde. Ich möchte lieber bald ins Bett gehen. Bitte entschuldige mich auch bei meinem großen Bruder.“

Erst wollte John Morton ihr widersprechen, doch dann nickte er zustimmend und strich seiner Tochter über die Wange. „Also gut, Kleines. Wahrscheinlich ist es wirklich das Beste, wenn du früh schlafen gehst. Aber versprich mir, dass du zu Abend essen wirst.“

Anna hob die Hand. „Ich schwöre, mir etwas zu machen. Dann werde ich baden und mich mit einem Buch ins Bett kuscheln. Wann fängt der Gottesdienst morgen an?“

„Um zwölf, danach geht es in den Red Lion. Das war Vaters Idee – er hat mir vor einiger Zeit genau gesagt, wie seine Beerdigung ablaufen soll, inklusive der Kirchenlieder.“ John räusperte sich. „Um mir alles etwas zu erleichtern, wenn die Zeit gekommen wäre, sagte er.“

„Ach, Dad.“ Mit Tränen in den Augen umarmte Anna ihren Vater. Dieser hielt sie einen Moment lang fest, dann brachte er ihren Koffer in ihr Zimmer. „Es gefällt mir nicht, dich hier allein zu lassen, Anna“, sagte er, als er wieder unten war. „Sollen Tom und ich nicht lieber bei dir bleiben?“

Sie lächelte wehmütig. „Ich möchte dich nicht kränken, Dad, aber diesmal möchte ich wirklich allein hier sein.“

„Das kann ich gut verstehen. Jetzt muss ich los, aber ruf mich bitte an, falls du dich schlechter fühlst!“ Wieder strich John Morton ihr kurz über die Wange. „Ich komme morgen früh vorbei, um dir Frühstück zu machen.“

Anna brachte ihren Vater zur Tür und winkte ihm nach. Auf der Treppe fühlte sie sich plötzlich so erschöpft, dass sie sich, oben angekommen, einen Moment an den Rahmen der offenen Tür zum Zimmer ihres Großvaters lehnte, um wieder zu Atem zu kommen. Auf der Kommode standen Fotos von ihr und Tom bei ihren Abschlussfeiern, daneben ein kleiner Schnappschuss von ihnen und Ryder Wyndham, auf dem die drei Jugendlichen stolz die selbst gefangene Forelle präsentierten. Mit Tränen in den Augen betrachtete Anna das Bild, dann putzte sie sich die Nase und ging nach nebenan, wo sie das schwarze Kostüm auspackte, das sie normalerweise zur Arbeit anzog. Heutzutage musste man bei Beerdigungen zwar nicht mehr unbedingt Schwarz tragen, doch sie wusste, dass ihr Großvater diese Respekterweisung von seiner Familie erwartet hätte. Und niemand verdiente mehr Respekt als Hector Morton.

Im Badezimmer betrachtete Anna erstaunt die glänzenden Armaturen und die strahlend weiße Wandfarbe, die bei ihrem letzten Besuch noch nicht da gewesen waren. Der Squire gibt sich offenbar Mühe damit, den Wert seiner Immobilien zu erhalten, dachte sie und presste die Lippen zusammen. Die kleine Küche im Erdgeschoss war erst vor wenigen Monaten mit neuen Schränken und Geräten ausgestattet worden. Außerdem hatte man im ganzen Haus die schwarzen Deckenbalken abgeschliffen, sodass das Originalholz wieder zu sehen war und alles heller wirkte. Es verwunderte Anna, dass wegen eines Cottages, das an Angestellte vermietet wurde, so ein Aufwand betrieben wurde.

Hector Morton hatte von seinem Arbeitgeber ein großes Haus zur Verfügung gestellt bekommen. Doch nach dem Tod seiner Frau hatte er darum gebeten, ins Keeper’s Cottage umziehen zu dürfen. Anna hatte sich sofort in das kleine Haus verliebt. Dank der sich an den Mauern rankenden Glyzinien und der Butzenfenster sah es von außen noch immer märchenhaft aus, doch im Inneren erinnerte es seit den Renovierungen eher an Fotos aus edlen Einrichtungsmagazinen.

Als Anna sich aus der Vorratskammer Eier fürs Abendessen holen wollte, stellte sie fest, dass ein Teil des Raumes abgetrennt worden war. Dort befand sich nun ein brandneues Gästebad. Sie musste schmunzeln und lief dann ins Wohnzimmer, wo noch alles mehr oder weniger beim Alten zu sein schien: Die beiden Sofas hatten zwar neue rehbraune Bezüge, doch sie standen sich nach wie vor gegenüber, dazwischen der vertraute kleine jakobinische Tisch. Auch die vier Windsorstühle und der kleine ausklappbare Esstisch waren noch da. Doch dann fiel Annas Blick auf den nagelneuen Fernseher. Sie rief ihren Vater an, um ihn zu fragen, was es mit all den Veränderungen auf sich hatte.

John Morton lachte leise. „Nette Überraschung, stimmt’s? Das Bad wurde renoviert, nachdem das unten eingebaut worden war. Aber den Fernseher habe ich gekauft, als Vater damals diese Grippe hatte und das Haus nicht verlassen konnte. Allerdings bezweifle ich, dass er jemals etwas anderes als die Nachrichten gesehen hat.“

„Bestimmt nicht“, erwiderte Anna. „Viele Grüße an Tom und bis morgen früh!“

Nach dem Essen und einem kurzen Bad zog sie ihren Schlafanzug und einen Morgenmantel aus Fleece an. Als sie im Bett lag, fühlte sie sich schon viel besser – wie immer, wenn sie im Keeper’s Cottage war.

Als John Morton am nächsten Morgen wie versprochen um neun Uhr im Cottage eintraf, saß Anna bereits am Tisch und las die Zeitung vom Vortag.

„Siehst du? Ich habe gefrühstückt.“ Sie lächelte selbstzufrieden und wies auf die Reste ihres Marmeladentoasts. „Du auch?“

„Ja, und zwar viel zu viel.“ Schuldbewusst strich er sich über den Bauch.

„Ich möchte mit dir über etwas reden, Dad.“

„Das lässt nichts Gutes ahnen.“

„Nein, keine Angst, es ist nichts Schlimmes.“ Anna atmete tief ein. „Ich bin ja noch eine Weile krankgeschrieben und würde die Zeit gern hier im Cottage verbringen, sofern Ryder Wyndham es mir gestattet.“

Ihr Vater runzelte die Stirn. „Aber hier ist es doch so einsam, Anna. Meinst du wirklich, das wäre eine gute Idee?“

„Ja“, sagte sie voller Überzeugung. „Ich bin erst seit gestern Abend hier, und es geht mir schon viel besser. Letzte Nacht habe ich zum ersten Mal seit einer kleinen Ewigkeit wie ein Stein geschlafen.“ Bittend sah sie ihn an. „Dad, ich brauche ein wenig Zeit hier, um mich von Gramp zu verabschieden.“

John Morton nickte langsam. „Bestimmt wird ein alter Freund wie Ryder nichts dagegen haben.“ Er lächelte seine Tochter an. „Gut, jetzt muss ich los. Gestern Abend sind schon einige Leute angekommen, und heute werden noch mehr eintreffen. Da sollte ich Tom lieber zur Hand gehen. Dich hole ich dann …“

„Nein, Dad, es ist wirklich nicht nötig, extra noch einmal vom Dorf hierher zu kommen“, widersprach Anna. „Ich werde allein hinfahren.“

Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Stur wie immer!“, stellte er liebevoll fest. „Also gut, dann warten wir eben vor der Kirche auf dich. Vergiss nicht, etwas Warmes anzuziehen!“

„Ja, Herr Doktor.“

Nachdem Anna ihn verabschiedet und ihm einen Kuss gegeben hatte, räumte sie das Frühstücksgeschirr weg und ging nach oben, um sich das helle Haar zu frisieren. Sie hatte es von ihrer Mutter, bei deren Tod sie erst acht Jahre alt gewesen war. Da ihre Mutter an einer Lungenentzündung gestorben war, wunderte Anna sich nicht, dass ihr Vater sich solche Sorgen um sie machte. Doch im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sie eine recht robuste Gesundheit und war überzeugt, nach einigen Tagen im Cottage bald wieder fit zu sein. Vorausgesetzt, der Squire gibt seine Einwilligung, dachte sie ironisch.

Um halb elf hatte sie das figurbetonte schwarze Kostüm angezogen, dazu ein Oberteil aus Seide über einem der Spitzenhemden, die Clare ihr geschenkt hatte. Danach schlüpfte Anna in einen langen schwarzen Mantel, steckte eine widerspenstige Strähne wieder in den Haarknoten und setzte eine Sonnenbrille auf. Draußen pflückte sie einer spontanen Eingebung folgend ein winziges Sträußchen Schneeglöckchen und steckte es sich ins Knopfloch.

Anna war nicht überrascht, dass bei ihrer Ankunft schon eine ganze Reihe Autos vor der Kirche parkte, denn Hector Morton war sehr beliebt gewesen. Sie lächelte, als ihr Bruder auf sie zueilte und sie so fest umarmte, dass sie fast Angst hatte, zerdrückt zu werden. Tom trug einen schlichten Anzug, und sein dunkler Haarschopf war ausnahmsweise einmal ordentlich gekämmt.

Er umfasste ihre Schulter und stellte fest: „Du bist blass, aber trotzdem bildhübsch.“

„Du siehst aber auch nicht schlecht aus“, erwiderte sie anerkennend. „Weil du dich ständig über deine Überstunden beschwerst, hätte ich eigentlich erwartet, dass du blass und ausgezehrt bist.“

„Das war ich auch, als ich hier ankam. Aber nach einer erholsamen Nacht und dem üppigsten Frühstück, das ich seit Langem gegessen habe, geht es mir viel besser.“ Tom lächelte jungenhaft. „Wie fühlst du dich?“

„Danke, wirklich gut“, antwortete Anna, als ihr Vater hinzukam.

John Morton gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Du siehst wirklich toll aus, Darling.“

Als Anna den mit Blumen bedeckten Sarg sah, musste sie tief einatmen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Dankbar darüber, sich bei Tom einhaken zu können, betrat sie die Kirche und folgte mit ihm und John den Sargträgern. Es kostete sie viel Kraft, während des Gottesdienstes die Fassung zu bewahren. Doch Anna schaffte es, sang die von ihrem Großvater ausgewählten Lieder und brach nicht einmal zusammen, als ihr Vater liebevoll und mit leisem Humor über Hector Morton sprach, den geliebten Vater und Großvater sowie geschätzten Freund vieler Anwesender.

Später auf dem Friedhof stand Ryder Wyndham ein wenig abseits von den anderen Trauernden und beobachtete, wie Anna Schneeglöckchen aus ihrem Knopfloch zog und sie wie einen leisen Abschiedsgruß auf den Sarg fallen ließ. Sie hob den Kopf und schaute ihn einen Moment lang durch ihre dunkle Brille an. Dann nickte sie ihm zu, ohne zu lächeln, und wandte sich ab.

Der kurze Blickwechsel hatte Anna so durcheinandergebracht, dass sie am liebsten sofort zurück ins Cottage gefahren wäre. Doch sie gab sich einen Ruck und ging über den Dorfanger zum Red Lion, wo sie gemeinsam mit Tom und ihrem Vater Verwandte und Freunde begrüßte. Sie nahm Beileidsbekundungen entgegen, versicherte den Besuchern, dass es ihr wieder besserging, und hörte zu, wenn sich jemand liebevoll an ihren Großvater erinnerte. Als sie sich gerade vergewissert hatte, dass keiner ihrer älteren Verwandten allein dasaß, näherte sich Ryder Wyndham. Sofort wuchs Annas Anspannung.

„Wie nett, dass du gekommen bist.“ Sie streckte ihm bewusst die Hand hin, damit er ihr nicht wie die meisten anderen Gäste einen Kuss auf die Wange geben würde.

Mit ernstem Gesicht ergriff er sie. „Hector war mein ältester Freund, Anna. Er wird mir sehr fehlen.“

„Mir auch.“

„Hallo, Squire“, sagte Tom, der hinzugekommen war. „Lange nicht gesehen!“

„Schon viel zu lange, Herr Doktor.“ Ryder lächelte herzlich. „Du solltest dir freinehmen und mal wieder mit mir angeln gehen!“

„Nichts lieber als das“, erwiderte Tom. „Übrigens bleiben wir über Nacht hier. Wie wäre es, wenn du nachher vorbeikommst? Dann könnten wir zusammen etwas trinken und uns ein bisschen unterhalten.“

„Vielen Dank für die Einladung, vielleicht komme ich darauf zurück.“ Ryder wandte sich wieder Anna zu und stellte besorgt fest: „Du siehst sehr blass aus. Soll ich dir zur Stärkung einen Brandy holen?“

„Sie ist gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen, und der heutige Tag war sicher sehr anstrengend für sie“, erzählte Tom. „Ist alles in Ordnung, Darling?“

„Ja, danke“, versicherte Anna und lächelte Ryder höflich an. „Einen Brandy brauche ich nicht, danke, aber ich würde gern etwas mit dir besprechen. Könntest du die Zeit erübrigen, morgen kurz im Cottage vorbeizukommen?“

Angesichts ihrer Förmlichkeit presste Ryder den Mund zusammen. „Natürlich“, erwiderte er.

„Wie wäre es um elf?“

„Einverstanden. Und wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich möchte mit eurem Vater sprechen.“ Ryder lächelte Tom an. „Meine Einladung zum Angeln war ernst gemeint. Ruf mich an, wenn die Saison anfängt.“

„Das mache ich auf jeden Fall. Vielen Dank!“

Anna beobachtete, wie Ryder sich seinen Weg durch den Raum bahnte und dabei mit verschiedenen Leuten ein Wort wechselte.

„Warum warst du denn so kühl ihm gegenüber?“, wollte Tom wissen.

Als sie nur die Schultern zuckte, fügte er hinzu: „Ryder hatte recht, finde ich: Du siehst wirklich völlig erschöpft aus.“ Er betrachtete sie mit dem geübten Blick des Arztes und sagte dann: „Ich habe noch nicht viel getrunken und könnte dich zurück zum Keeper’s Cottage fahren. Dein Auto kann ich dir dann morgen bringen.“

Energisch schüttelte Anna den Kopf. „Nein, vielen Dank, Tom. Ich fände es besser, wenn du hierbleibst und Dad zur Seite stehst.“

Anna verabschiedete sich von ihrem Vater und den Gästen und ließ sich von Tom zu ihrem Wagen begleiten.

„Schick mir eine SMS, wenn du dort bist“, bat er. „Und fahr bitte vorsichtig!“

Das Cottage lag nur drei Meilen von der Kirche entfernt, aber als Anna ihr Auto dort parkte, hatte sie das Gefühl, eher dreißig Meilen gefahren zu sein. Der Weg durch den Garten zur Eingangstür erschien ihr viel länger als sonst und das Cottage so still und dunkel, dass sie sämtliche Lampen anmachte, bevor sie Tom wie versprochen eine SMS schickte.

Vor Kälte und Erschöpfung zitternd, drehte sie die Heizung auf und ging nach oben, um sich umzuziehen. Dort streifte sie mit einem Seufzer der Erleichterung die hochhackigen schwarzen Pumps und das schwarze Kostüm ab und löste ihren Haarknoten. Dann schlüpfte sie in eine graue Flanellhose, ihren wärmsten Rollkragenpulli und die Hausschuhe aus Schaffell, die ihr Großvater ihr bei ihrem letzten Besuch auf dem Markt im Dorf gekauft hatte. Damals hatte Anna darüber gelacht, doch jetzt war sie dankbar für die wohlige Wärme, die sie spendeten.

Sie rief bei Clare an, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Nach dem Telefonat ging sie nach unten und kochte Tee in der braunen Kanne ihres Großvaters. Jetzt, da sie endlich ihren Tränen freien Lauf lassen durfte, konnte sie nicht mehr weinen.

Als sie die Schränke nach Zutaten fürs Abendessen durchforstete, rief Tom an. Er wollte wissen, ob sie nicht vielleicht doch mit ihm und ihrem Vater essen wollte.

„Nein, vielen Dank“, lehnte Anna ab. „So gern ich bei euch wäre – ich werde lieber im Cottage bleiben und mir eine Konserve aufmachen.“

Ihr Bruder seufzte. „Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass du ganz allein bist.“

„Sobald ihr euch einmal ein Wochenende freinehmen könnt, werde ich euch zu mir zum Abendessen einladen. Das würde Clare bestimmt auch gefallen.“

„Mir auch“, stimmte Tom zu. „Also gut, ich lasse dich in Ruhe. Morgen kommen wir vor der Heimfahrt aber noch einmal kurz bei dir vorbei. Schlaf gut, Anna, und ruf bitte an, wenn du irgendetwas brauchst!“

„Wahrscheinlich schlafe ich wieder wie ein Stein. Die Atmosphäre des Cottages tut mir einfach gut, Tom. Das war schon immer so.“

„Ich weiß. Sonst würde Dad dir auch nicht erlauben, allein dort zu sein.“

Beim Auflegen musste Anna lächeln. Denn heutzutage hatte sie es nicht mehr nötig, dass irgendjemand ihr etwas „erlaubte“, nicht einmal ihr Vater.

Als sie die 22-Uhr-Nachrichten sah, klingelte es an der Tür. Wieder musste Anna lächeln. Offenbar musste ihr Vater all ihren Beteuerungen zum Trotz doch noch einmal nach ihr sehen. Doch ihr Lächeln verschwand schlagartig, als Ryder sie mit seinen unverwechselbaren blauen Augen ansah.

„Darf ich reinkommen, Anna?“

Zuerst wollte sie seine Bitte rigoros ablehnen, nicht zuletzt, weil sie die berüchtigten Hausschuhe trug und ihr Gesicht ohne Make-up vermutlich ebenso grau war wie ihr Pullover. Andererseits wollte sie Ryder ja um einen Gefallen bitten. Also ließ sie ihn eintreten.

Ryder folgte ihr ins Wohnzimmer. Er war so groß, dass sein Haar, das er wieder länger trug, fast die Balken an der Decke streifte. Anna wies auf ein Sofa und nahm ihm gegenüber Platz. Dabei fragte sie sich nicht zum ersten Mal, ob unter den vornehmen Vorfahren der Wyndhams irgendwann einmal Zigeuner gewesen waren. Als Teenager hatte Ryder mit wilden schwarzen Locken und einem goldenen Ohrring seine markanten Züge betont. Plötzlich bemerkte sie, dass Ryder sie durchdringend ansah.

„Auf dem Friedhof hat dein Haar zwischen all dem Schwarz geleuchtet wie ein Sonnenstrahl“, sagte er zu ihrer Überraschung. „Aber wenn du es offen trägst wie jetzt, siehst du aus, als wärst du fünfzehn.“

„So etwas hört wohl jede Frau gern, die doppelt so alt ist.“ Annas Stimme war freundlich und zugleich kühl.

„Ich weiß ganz genau, wie alt du bist.“

Annas Augen funkelten kalt. „Das hast du schon einmal gesagt.“

Nach einem kurzen angespannten Schweigen sagte Ryder: „Ich war noch einmal im Red Lion, und Tom sagte mir, du wärst zu müde gewesen, um zum Abendessen dortzubleiben.“

„Der Tag war ziemlich anstrengend für mich.“

„Und außerdem warst du krank.“

Sie zuckte die Schultern. „Künftig werde ich versuchen, so etwas zu vermeiden. Meine Familie hat sich furchtbare Sorgen gemacht, und außerdem behindert es meine Karriere.“

Nach wie vor sah Ryder sie mit seinen faszinierenden Augen an. „Arbeitest du noch immer in der Steuerberatungskanzlei?“

Anna nickte. „Ja. Ich hoffe, dass ich bald Sozia werde.“

„Das habe ich gehört. Dein Großvater war sehr stolz darauf, dass du so erfolgreich bist. Er hatte eine sehr hohe Meinung von dir, Anna.“

„Das beruhte auf Gegenseitigkeit.“ Ruhig blickte Anna ihn an. „Warum bist du jetzt vorbeigekommen anstatt morgen Vormittag?“

„Weil dein Vater mich gebeten hat, nach dir zu sehen.“

Ryder stand auf und schien mit seiner beeindruckenden Erscheinung den Raum fast ganz auszufüllen. Statt des schwarzen Anzugs mit der schwarzen Krawatte trug er einen dicken dunkelblauen Pullover und eine legere Kordhose. Und wie immer sieht er einfach perfekt aus, dachte Anna missbilligend.

„Da du nun schon einmal hier bist, können wir uns, um dir Zeit zu sparen, auch jetzt unterhalten“, schlug sie kühl vor, doch er schüttelte den Kopf.

„Du siehst erschöpft aus, Anna. Ich komme lieber morgen früh wieder. Gute Nacht, schlaf gut.“ Er verließ das Cottage.

Bevor Ryder aufgetaucht war, hatte Anna sich sehr müde gefühlt. Doch jetzt war sie so aufgewühlt, dass sie ein beruhigendes warmes Bad brauchte, um schlafen zu können.

Als Anna am nächsten Morgen in den Badezimmerspiegel blickte, stöhnte sie leise: Sie war noch immer sehr blass und ihr Haar strähnig und zerzaust.

Nachdem sie einen roten Pullover angezogen hatte, der ihrer Erscheinung etwas Farbe verleihen sollte, schminkte sie sich sehr sorgfältig. Doch die beiden Ärzte, die kurz darauf eintrafen, konnte sie damit nicht hinters Licht führen.

„Du hast wohl nicht besonders gut geschlafen“, stellte ihr Vater besorgt fest.

Autor

Catherine George
Die öffentliche Bibliothek in ihrem Heimatort nahe der walisischen Grenze war der Ort, an dem Catherine George als Kind in ihrer Freizeit meistens zu finden war. Unterstützt wurde sie dabei von ihrer Mutter, die Catherines Lesehunger förderte. Zu einem Teil ist es sicher ihrer Motivation zu verdanken, dass Catherine George...
Mehr erfahren