Glühendes Verlangen nach dem falschen Marquess?

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Seit ihrer Kindheit wünscht sich Miss Elodie Parrish nichts anderes, als den Marquess zu heiraten, der auf dem Nachbaranwesen lebt. Bei dem Versuch, ihren Auserwählten zu bezirzen, kommt ihr jedoch ein anderer in die Quere: Brandon Stredwick, Marquess of Hullworth. Dieser arrogante Adelige ist überzeugt, dass Ellie es auf ihn abgesehen hat. Wie absurd! Als würde es sie auch nur im Mindesten beeindrucken, dass er als Londons am schwersten zu fassender Junggeselle gilt. Doch während der Recherche für ihr Buch über Wüstlinge muss sie Zeit mit Brandon Stredwick verbringen und entdeckt bald, dass ihr Verlangen womöglich jahrelang dem falschen Marquess galt …


  • Erscheinungstag 16.05.2023
  • Bandnummer 150
  • ISBN / Artikelnummer 0840230150
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

PROLOG

England 1810

Elodie Parrish hockte unter dem kahlen Geäst der hohlen Ulme und betrachtete die feuchten Erdkrumen an ihrer Hand. Immer war ihr gesagt worden, sie dürfe sich nicht schmutzig machen. Aber diesmal, so hatten die Tanten ihr versichert, sei es eine Ausnahme.

„Nun mach schon, Liebes“, hatte Tante Maeve sie gedrängt, wobei eine einzelne, hell schimmernde Träne ihr die gramzerfurchte Wange hinab in den schwarz wollenen Schal gekullert war. „Nimm einfach eine Handvoll Erde und wirf sie hinein. Du wirst deswegen keinen Ärger bekommen, das verspreche ich dir.“

Tante Myrtle hatte beipflichtend genickt und der schwarze Seidenkrepp ihrer Röcke hatte geraschelt, als sie sich neben sie kniete und mit tränenumflortem Blick ansah, die Augen blau wie Kornblumen, die in einer Pfütze schwammen. „Du wirst dich besser fühlen, wenn du ihm auf seine letzte Reise hilfst.“

Obwohl sie mit ihren sieben Jahren schon fast erwachsen war, verstand Elodie nicht, warum es so wichtig war, Papa der Erde anheimzugeben, oder warum sie auch noch daran teilhaben musste. Sie wollte nicht, dass er begraben wurde. Dort unten würde er überhaupt keine Luft mehr bekommen! Er sollte wieder in seinem Bett liegen, gestützt von einem Berg weicher Daunenkissen. Wenn er dann sacht auf die Bettdecke klopfte, würde sie sich zu ihm setzen und den Geschichten lauschen, die er ihr mit seiner ruhigen, immer ein wenig heiseren Stimme erzählte.

Die Nachbarn und die Leute aus dem Dorf – alle, die dem Zug der von prächtigen Rappen mit fiedernem Kopfschmuck gezogenen Kutsche mit dem in Samt und Seide ausgeschlagenen Sarg gefolgt waren – hatten erwartungsvoll die Blicke auf Elodie gerichtet. Ihr war bewusst gewesen, dass bloß noch ihre Handvoll Erde die Trauergäste davon abhielt, endlich hoch zum Haus zu gehen und sich am Leichenschmaus gütlich zu tun, den die Köchin seit Tagen vorbereitet hatte. Es war Elodie unbegreiflich, wie man unter diesen Umständen an Essen auch nur denken konnte.

Aber sie hatte natürlich getan, was von ihr verlangt wurde. Schließlich hatte sie Papa versprochen, sich um die Tanten zu kümmern, wenn er einmal nicht mehr da wäre.

Jetzt wischte sie sich die Hand immer wieder an dem kratzigen schwarzen Kleid ab, in das das Mädchen sie heute Morgen eingeknöpft hatte, aber der Dreck wollte einfach nicht abgehen. In die feinen Linien auf ihrer Handfläche waren dunkle Spuren eingegraben, die aussahen wie die Flüsse auf Papas Landkarten. Und der Dreck unter den Fingernägeln schmeckte wie rohe Kartoffeln.

Einen Ring hatten sie ihr auch an den Finger gesteckt. Geliebter Vater, unvergessen stand auf der Innenseite eingraviert. Und statt einem Juwel trug er ein in Gold gefasstes Bild von Wolken und dem Himmelstor unter Glas, das sie an die Geldstücke erinnerte, die sie Papa auf die geschlossenen Augen gelegt hatten. Die Tanten hatten ihr erklärt, es sei der Lohn für den Fährmann, damit Papa eine sichere Reise habe.

Aber wenn sein Abschied so viel Aufwand bedurfte, warum war er dann nicht einfach geblieben? Und wie stellte er sich das überhaupt vor, wie wollte er in dieser schmalen Kiste atmen? Er konnte richtig lange die Luft anhalten, und immer wenn man dachte, er hätte aufgehört zu atmen, fing er, nachdem er ein paar Mal in sein blutgeflecktes Taschentuch gehustet hatte, doch wieder damit an. Woher wollten sie also wissen, dass es diesmal nicht genauso wäre?

Der Gedanke wollte sie nicht loslassen, während sie den Hügel feuchter Erde betrachtete, der neben dem Grab ihres Vaters aufgehäuft war.

Es war April und aus dem offenen Grab drang eine feuchte Kälte, ein bitterer, muffiger Geruch, der sie an die Würmer denken ließ, die nach schweren Regenfällen auf dem Gartenweg lagen, an die schwarzen Vögel, die herabschossen, um die fette Beute aufzupicken.

Sie hasste diesen Geruch.

Vergeblich versuchte sie den Atem anzuhalten. Es half nicht. Der Geruch war schon in ihr, saß ganz tief in ihrer Lunge. Und etwas sagte ihr, dass er dort immer bleiben würde.

„Was ist denn mit dir los? Man könnte meinen, es wäre jemand gestorben“, hörte sie einen Jungen sagen, der sich durch das Tor der Familiengrabstätte hereingeschlichen hatte.

Als sie sah, dass es der grässliche Nachbarsjunge war, wischte sie schnell die Tränen weg.

George war eine richtige Plage. Andauernd machte er sich darüber lustig, dass sie ein Mädchen war und nicht mal auf Bäume klettern konnte, ohne ihre Unterwäsche zu zeigen.

„Warum bist du nicht im Haus mit den anderen?“, fragte sie gereizt und deutete zu dem Anwesen oben am Hang.

„Weil es langweilig ist. Alle reden bloß wieder von Napoleon und nicht mal von den Schlachten, die er als Nächstes schlagen wird, oh nein“, hier rollte er verächtlich die Augen, wie er es auch immer tat, wenn er sie daran erinnerte, dass sie nur ein Mädchen war, „sie reden von seiner Hochzeit mit dieser Österreicherin, einer Bündnisheirat, sagen sie, und deren möglichen Konn-se-gänsen für England. Bevor ich sterbe vor Langeweile, gehe ich lieber nach Hause.“

Er bückte sich, wobei ihm eine Strähne seines glatten braunen Haars in die Stirn fiel, und hob einen Stein vom Boden auf, den er ein paar Mal in die Luft warf und geschickt wieder auffing. Jedes Mal gab es einen dumpfen Schlag in seiner Hand. Aber auch das wurde ihm bald langweilig und er holte weit aus, um den Stein in hohem Bogen über den schmiedeeisernen Zaun zu werfen.

„Was sind Konn-se-gänsen?“, wollte Elodie wissen und fragte sich, ob er deswegen auf den Friedhof gekommen war, statt gleich nach Hause zu gehen.

„Das weißt du nicht?“, fragte er mit einem hämischen Grinsen. „Wenn du was ausgefressen hast und einen Satz zur Strafe hundert Mal schreiben musst, sind das die Konn-se-gänsen. Immer wenn du Mist baust, gibt es Konn-se-gänsen. Wenn man heiratet zum Beispiel. Oder wenn man so dumm ist, mit seinen Puppen im Garten Hochzeit zu spielen.“

Sie hätte ihn boxen können, wie er da stand und sich scheckig lachte. Stattdessen reckte sie das Kinn, stemmte die Hände in die Hüften und sagte: „Heiraten ist kein Mist, heiraten ist romantisch. Aber woher solltest du das schon wissen, du bist ja nur ein Junge, noch dazu ein Waisenjunge.“

Sowie der Blick seiner braunen Augen sie traf, wünschte sie, sie könne es zurücknehmen. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihm seine Sticheleien immer heimzahlen musste, es führte nur dazu, dass er noch gemeinere Dinge zu ihr sagte. Dass ihre Augen so gelb wären wie Hundepisse zum Beispiel oder wie totes Laub in Dreckpfützen und dass ihre Haare die Farbe frischer Pferdeäpfel hätten.

Sie wartete ab, was ihm gleich wieder Fieses einfallen würde.

„Du bist jetzt auch Waise“, sagte er nur, und er sagte es so leise und auf eine Art, dass ihr Tränen in die Augen schossen und ihr Hals ganz eng wurde. „Das da drüben ist deine Mutter, oder?“

Ihr Blick folgte seinem zu dem Gedenkstein neben dem offenen Grab ihres Vaters, auf dem der Name Elodie Parrish in einen Bogen weißen Marmors gehauen war – ein wenig so, als habe man ihr selbst ein Grabmal gesetzt, bevor sie überhaupt richtig zu leben begonnen hatte.

Sie war es jetzt schon leid, Waise zu sein. Am liebsten hätte sie deswegen weinen wollen, aber solange der fiese Nachbarsjunge da war, ging das nicht.

Ihre Tränen schnürten ihr den Hals zu, sie brannten beim Schlucken wie Nesseln, aber stur, wie sie sein konnte, hielt sie sie zurück. Weil sie groß war für ihr Alter, kam sie sich schon recht erwachsen vor, sie würde nicht flennen wie ein … Doch dann entfuhr ihr ein ersticktes Schluchzen, ein leises Schniefen.

Sie warf einen wütenden Blick hinüber zu George, der es bloß nicht wagen sollte, sie auszulachen. Wenn er das täte, würde sie ihn in das dunkle Erdloch stoßen.

Doch statt sie zu verspotten, kam er zu ihr und reichte ihr sein Taschentuch. „Hier, putz dir erst mal die Nase.“

„Danke“, sagte sie artig und wandte sich zur Seite, blies zweimal kräftig in das gestärkte Linnen. Danach gab sie ihm das vollgerotzte, mit Erde verschmierte Tuch zurück.

Er steckte es wieder in seine Hosentasche und stand dann einen Moment schweigend neben ihr. Es war seltsam, aber ein wenig tröstete es sie, dass er bei ihr war. Aber das würde sie ihm natürlich niemals sagen.

„Warum bist du noch hier?“, fragte er schließlich. „Wartest du darauf, dass … irgendetwas passiert?“

Sie schaute verstohlen zu ihm hinüber und überlegte, wie er wohl darauf kam. „Warum fragst du mich das?“

„Keine Ahnung“, sagte er und schien auf einmal ganz in die Betrachtung eines Moosfleckens zu seinen Füßen versunken. Er stocherte mit der Schuhspitze daran herum, bis er ihn umgedreht und das Gewirr heller Wurzeln darunter zum Vorschein gebracht hatte. „Als mein Vater gestorben ist, wollte ich nicht glauben, dass wirklich er das war, der da im Sarg lag. Ich meine, er war nur einen Tag auf der Jagd und kommt nicht zurück? Sie haben mich ihn nicht mehr sehen lassen, und weil er sich oft einen Spaß daraus gemacht hatte, sich zu verstecken und hinter der nächsten Ecke hervorzuspringen, um einem lachend einen Schrecken einzujagen, dachte ich, warte ich einfach. Vielleicht war es wieder bloß ein Spiel.“

Er schloss seine Worte mit einem Achselzucken, doch seine Schultern wirkten auf einmal breiter, fast erwachsen, sie füllten seinen dunklen Rock perfekt aus. Elodie blinzelte und sah die Nervensäge von nebenan auf einmal mit ganz anderen Augen.

„Ich warte darauf, dass Papa hustet“, gestand sie so leise, als vertraue sie ihm ein Geheimnis an. „Das Atmen fällt ihm oft schwer und manchmal ist es, als hätte er ganz damit aufgehört, als würde er ewig die Luft anhalten, aber wenn er hustet, geht es wieder.“

Zu ihrer Überraschung lachte George sie nicht aus, sondern schaute nachdenklich zum Grab. „Was ist sein Rekord?“

„Vor ein paar Tagen hat er eine ganze Stunde geschafft. Das weiß ich, weil ich solange selbst die Luft angehalten habe.“

„Nicht schlecht“, fand George und ging zur Ulme, setzte den Fuß über das Loch im Stamm und redete weiter, als er sich wie ein braunes Äffchen im Sonntagsstaat die Äste hinaufschwang. „Ich habe mal zwei Stunden die Luft angehalten. Aber Jungs sind auch besser in so etwas. Außerdem bin ich jetzt ein Marquess und dein Vater war bloß ein Baron.“

Er sagte es mit solcher Gewissheit, dass sie es ihm glauben wollte und die kleine Spitze überhörte. Die Tanten sprachen auch oft in einem solchen Ton der Überzeugung, wenn sie ihr versicherten, dass sie ganz wunderbar würde schlafen können, wenn sie vor dem Zubettgehen noch eine warme Milch trank. Meist half es tatsächlich.

Außer heute, wo sie in den frühen Morgenstunden einen schrecklichen Alptraum gehabt hatte.

Sie hatte geträumt, wie ihr Vater aufgewacht wäre, ganz allein, und schwer nach Atem rang. Im Inneren des dunklen, mit Samt und Seide ausgeschlagenen Sargs bekam er keine Luft. Und niemand hörte seine Schreie oder wie er mit den Fäusten von innen gegen den Deckel schlug.

Schreiend war sie aus dem Schlaf geschreckt, die Hände in die Bettvorhänge gekrallt. Und als die Tanten mit hastig übergeworfenen Morgenmänteln und schief sitzenden Nachthauben in ihr Zimmer geeilt kamen, hatte sie sie angefleht, ihren Vater ein letztes Mal sehen und zum Abschied küssen zu dürfen, nur um ganz sicher zu sein.

Aber dazu war es schon zu spät gewesen. Der Bestatter hatte den Sarg bereits zugenagelt.

Selbst jetzt, am helllichten Tag, ging der Traum ihr noch nach wie ein böser Geist und ließ sie frösteln, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Dunkle Wolken hatten sich am Himmel zusammengebraut, aus denen es leicht zu nieseln begann. Sie schaute hinauf in die kahle Krone der Ulme und sah George auf einem dicken grauen Ast nach vorn rutschen.

„Was machst du da?“, rief sie hinauf, denn es war ihr ein Rätsel, wie man in Anbetracht der Umstände auf Bäumen herumklettern konnte. Jungs waren wirklich seltsam.

„Von hier kann man direkt in das Loch schauen und ich wollte nur mal sehen, ob der Sarg sich bewegt. Wenn ja, wäre das nämlich ein Indiz, dass dein Vater herauszukommen versucht. Horch mal, ob du ihn husten hörst, ich halte weiter von hier oben Ausschau.“

Elodie merkte, wie ihr fast ein wenig leicht ums Herz wurde und ihre tränenfeuchten Wangen sich in einem Lächeln hoben. Wie schlau, dachte sie, das hätte sie ihrem Nachbarn gar nicht zugetraut. „Pass aber auf, George, dass du nicht herunterfällst.“

Er ließ dieses spöttische Grinsen sehen, das ihr so verhasst war – oder es bis jetzt gewesen war. „Machst dir wohl Sorgen um mich, was?“

„Nö.“

Aber sie lächelten beide, als sie es sagte, fast so, als wären sie jetzt Verbündete. Und Elodie, die sich auf einmal sehr erwachsen fühlte, fragte sich, was für Konn-se-gänsen es wohl hätte, wenn es wirklich so wäre.

Sie hielten sehr lange Wache, ein paar Stunden bestimmt. Oder zumindest so lang, bis die Totengräber, die unten am Hang warteten, fertiggeraucht hatten.

In der Zwischenzeit war es still, grabesstill, und nichts war zu hören außer dem Ächzen des Astes über ihr und dem dumpfen Geräusch des Regens, der auf kalte Erde und Holz tropfte. Nicht ein einziges Husten, nicht einmal ein leises Hüsteln war zu vernehmen.

Zweifel begannen sich in ihr zu regen. Sie schlang die Arme um sich, versuchte dagegen anzukommen, doch es half nichts.

Ihr Vater würde nicht mehr zurückkommen, oder?

„Es ist nicht so schlimm, Waise zu sein“, bemerkte George über ihr, als wären ihre düsteren Gedanken zu ihm hinaufgedrungen. „Du hast ja immer noch Dienstboten, die sich um dich kümmern.“

„Und meine Tanten.“

„Aber die sind selbst alt. Da weißt du nicht, wie lange sie noch für dich da sein werden.“

Sie nickte finster. Das stimmte allerdings. Tante Maeve war sechsundvierzig und Tante Myrtle zweiundvierzig. Die beiden waren praktisch Mumien.

„Und du bist eben auch bloß ein Mädchen“, setzte er noch nach, als wäre es das Schlimmste, was einem passieren konnte. „Deshalb kannst du das Haus nicht erben, so wie ich meines. Dich schicken sie dann bestimmt weg.“

Sie schaute mit verlorenem Blick hinauf zu dem Haus am Hang und überlegte, wie es wohl wäre, wenn sie von hier wegmüsste, fort von allen, die sie kannte, von allem, das ihr vertraut war. Ganz allein auf der Welt zu sein, unter Fremden, und niemanden zu haben, der sie liebte. Es würde sich genauso anfühlen wie in diesem Sarg gefangen und unter der Erde begraben zu sein, da war sie sicher.

Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen und ließen die Welt grau verschwimmen. Ihr Atem stockte. Und dann brach sich das Schluchzen, das sie die ganze Zeit zurückgehalten hatte, doch noch Bahn.

„He, nicht weinen. Das wollte ich nicht“, sagte George und rutschte den Ast entlang zurück. „Du hast doch immer noch … aaah!

Ein lautes Knarzen war zu hören, ein unheilvoll malmendes Krachen. Dann brach der Ast entzwei.

Es ging alles so schnell. Eben noch hatte George über ihr im Baum gesessen, jetzt flog er in einem wirbelnden Knäuel aus Armen und Beinen und splitterndem Holz herab. Im Fall schlug er gegen einige der unteren Äste und landete dann so hart auf dem Boden, dass sie den Aufprall durch die Sohlen ihrer Schuhe spüren konnte.

Elodie eilte zu ihm und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Ganz starr lag er da, die Augen weit aufgerissen. Unter ihrer Hand hob und senkte sich seine Brust, doch sie hörte seinen Atem nicht mehr. Sein Mund stand offen wie in einem stummen Schrei, doch kein Laut kam heraus.

Es war genau wie in ihrem Traum.

Sie beugte sich über ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn. Seine Haut war bleich und kalt. Warum sie ihm auf einmal die Lippen auf Stirn und Wangen drückte, auf Nase und Kinn, hätte sie selbst nicht sagen können. Aber sie konnte auch nicht damit aufhören.

„Bitte, bitte“, flüsterte sie in heller Panik, „bitte, George, nicht sterben. Ich will dich nicht auch noch verlieren. Das wäre nicht fair – ausgerechnet jetzt, wo ich dich nicht mehr hasse. Sag doch etwas, sprich mit mir. Irgendetwas, von mir aus auch etwas Gemeines, nur bitte …“

Plötzlich sog er keuchend einen so gewaltigen Schwall Luft in die Lungen, dass es klang wie Stuhlbeine, die über den Boden schrappten. Dann schlang er die Arme um sie und grub die Hände in den schrecklich kratzigen Stoff ihres Kleides, als er sie an sich zog.

So fest an ihn gedrückt, spürte sie das Beben seiner Brust und hörte den Atem in einem kräftigen Zug durch seine Kehle jagen.

Elodie klammerte sich an ihn. Frische Tränen bahnten sich den Weg ihre dreckverschmierten Wangen hinab. Und aus Gründen, die sie selbst nicht verstand, begannen sie beide zu lachen.

Bald war der ehrwürdige Gottesacker erfüllt von Gelächter, einem Kichern und Glucksen, das von den Grabmälern ihrer Ahnen widerhallte. Aber sie war sich sicher, dass sie in Anbetracht der Umstände keinen Anstoß daran nähmen. Es kam schließlich nicht alle Tage vor, dass jemand an diesem Ort dem Tod von der Schippe sprang.

Schließlich setzte sie sich auf und blickte lächelnd auf George hinab. „Ich habe dir das Leben gerettet.“

„Danke“, sagte er mit einem schiefen Grinsen und streckte die Hand nach ihr aus, um mit der Manschette seines Hemdes die Tränen von ihren Wangen zu wischen. „Jetzt kann ich dir weiter auf die Nerven gehen. Und wenn sie dich wegschicken wollen, heirate ich dich einfach und wir bleiben für immer zusammen. Wir könnten eine Bündnisehe zwischen unseren beiden Häusern eingehen.“

„Und wenn ich dich gar nicht heiraten will? Du bist immerhin ziemlich leichtsinnig, wie du einfach so auf Bäumen herumkletterst und dein Leben in Gefahr bringst.“

„Du wirst mich schon heiraten, Ellie. Wart’s einfach ab.“ Als wolle er den Bund besiegeln, setzte auch George sich auf und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.

Ein kurzer Schmatzer nur, feucht und sehr jungenhaft. Ellie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte.

Bevor sie begriff, was geschehen war, sprang George auch schon auf und stürmte zum Tor hinaus heimwärts.

Verwundert hob sie die Finger an die Lippen, die noch immer ein wenig feucht waren. Auf einmal wurde ihr ganz warm ums Herz und eine Gewissheit erfüllte sie, dass sie sich mit George nie mehr würde sorgen müssen, eine Waise und ganz allein auf der Welt zu sein. Er war ja ihr Nachbar, würde also immer für sie da sein. Und wie sie ihn so über den Hang verschwinden sah, begann sie sich schon zu fragen, wie lang sie sich wohl gedulden müsste, bis sie seine Frau werden konnte.

1. KAPITEL

Frühjahr 1828

„Geduld ist der Debütantin größte Zier … auch wenn es sie schier umbringt.“

aus den Notizen für

Das Heiratsverhalten des geborenen Aristokraten

Elodie Parrish wartete noch immer darauf, dass George ihr einen Antrag machte.

Derweil hagelte es auf der Gartenparty der Baxtons die Verlöbnisschwüre wie Kanonenfeuer.

Der erste traf eine Debütantin, die kaum noch aufhören konnte zu kichern, als ihr Verehrer bei den Rosenbüschen vor ihr auf die Knie ging. Die zweite frisch Verlobte vergoss Tränen des Glücks und ließ ihren Spitzenschirm zu Füßen der bronzenen Sonnenuhr fallen, als sie dem Begehren ihres knieenden Kavaliers unter heftigem Nicken nachgab. Die dritte erlag am Brunnen und sank entseelt in die Arme ihres Geliebten.

Und jedes Mal kam Ellie ihnen in die Quere.

Natürlich nicht mit Vorsatz. Sie war eigentlich auf der Suche nach George gewesen, der ihr versprochen hatte, sich mit ihr und den Tanten zum Tee einzufinden, aber wie immer war er mal wieder zu spät.

Ihre romantische Ader hatte sie indes jedes Mal innehalten lassen, um sich die leidenschaftlichen Bekenntnisse der Bräutigame in spe anzuhören.

Das erste Pärchen hatte sie auch prompt dabei ertappt, wie sie verzückt seufzend hinter den Rosen hervorspähte.

Vom zweiten war sie mit giftigen Blicken bedacht worden, als sie in leiser Missbilligung mit der Zunge geschnalzt hatte. Aber der junge Beau hätte sich wirklich ein bisschen mehr ins Zeug legen können.

Beim dritten hatte sie sich den verdienten Applaus nicht versagen können. „Bravo“, hatte sie gerufen, „Tagessieger! Fast wünschte ich, ich wäre die Glückliche.“

Da seiner Verlobten unter dem Ansturm der Gefühle die Sinne geschwunden schienen, war ihre launige Bemerkung vielleicht etwas unangebracht; prompt schnellte der Kopf der jungen Braut auch wieder hoch und Ellie fand sich abermals von einem tödlichen Blick getroffen.

Sie spürte die Schamesröte in ihren Wangen. „Nichts für ungut, ich bin bereits … einem Gentleman versprochen. Oder werde es bald sein. Und sein Antrag wird sicher genauso schön und ergreifend, wenn nicht gar noch …“

Die junge Frau ließ einen entnervten Seufzer hören und rollte mit den Augen.

Ellie verstand den Wink und verschwand lautlos zwischen zwei Buchsbaumspiralen. Eigentlich hatte sie auch gar keine Zeit, hier herumzutrödeln, sie sollte rasch zurück und die Eindrücke in ihrem kleinen Notizbuch festhalten, solange sie noch frisch waren. Es gab vorzügliches Material ab für Die Einführung in das Heiratsverhalten des geborenen Aristokraten, an der sie gemeinsam mit ihren Freundinnen schrieb. Winnie und Jane hatten sehr viel zum Verständnis von Wüstlingen aller Couleur beigetragen, und es war nun an Ellie, sich den Herren mit ernsten Heiratsabsichten zu widmen.

Nur leider war sie keine Expertin auf diesem Gebiet. Wenn dem so wäre, dürfte sie wohl schon längst verheiratet sein.

Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – war sie fest entschlossen, ihren Beitrag für das Buch noch in dieser Saison zu leisten, und je eher sie damit fertig wurde, desto besser. Schließlich waren Winnie und Jane nach Abschluss ihrer Recherchen beide glücklich an den Mann gebracht, und wer sagte denn, dass es Ellie nicht ganz genauso ergehen sollte.

Sehr beschwingt von diesem Gedanken, eilte sie leichtfüßig den Weg hinab, zu einer Seite die Hohe Hecke, die den Garten begrenzte. Als sie zu dem von zwei Cherubim mit Pfeil und Bogen geschmückten Rondell gelangte, hob sie den Blick und schickte den beiden Liebesboten ein hoffnungsfrohes Lächeln und einen lang gehegten Herzenswunsch hinauf, dann wandte sie sich linkerhand zum Haus und … oh!

Ihr leichtfüßiger Flug fand recht unsanften Halt.

Bei all den Möglichkeiten, die Ellie sich ausgemalt hatte, wie der Tod sie einst ereilen würde – durch ein Fieber, eine lange Krankheit, überrollt von einer Kutsche, erschlagen von Büchern im Tempel der Musen, um nur einige zu nennen –, wäre ihr ein Frontalzusammenstoß mit einem Gentleman im Garten der Baxtons nie und nimmer in den Sinn gekommen. Es traf sie völlig unvorbereitet.

Der Atem stockte ihr und ihr Herz hörte auf zu schlagen. Die Wucht des Aufpralls katapultierte ihr die Seele aus dem Leib, die nun irgendwo über ihr schwebte, leicht und schwerelos, losgelöst von dieser irdischen Welt.

Das war es also, dachte sie, das vorzeitige Ende eines unrühmlichen Lebens.

Ein bisschen unfair war es schon, so früh an der Schwelle des Todes zu stehen, und das zu allem Übel auch noch unverheiratet. Und doch geschah es, und sie konnte nichts, aber wirklich gar nichts, dagegen tun. Also schickte sie sich ins Unvermeidliche und nahm in Gedanken Abschied von den lieben Tanten, ihren treuen, über alles geschätzten Freundinnen und insbesondere natürlich von …

„Verdammte Inzucht“, drang es leise fluchend an ihr Ohr, nicht unbedingt die süßen Klänge himmlischer Heerscharen, die man, so traurig der Anlass auch sein mochte, erwarten würde.

Dann spürte sie ein Paar fremder Hände auf ihren Hüften, den Druck eines fremden Körpers an dem ihren. Muskulöse Schenkel, ein kräftiger Oberkörper, starke Arme, die sie umfingen wie ein Käfig, dann einen Hauch heißen Atems an ihrer Wange.

Im Nu sauste ihre Seele zurück in ihren Körper. Ihre Füße fanden Halt, sie tat einen tiefen Atemzug und füllte ihre Lungen mit frischer Frühlingsluft, in die sich warmer Zedernduft und der Geruch gestärkten Linnens mischten. Und noch etwas anderes, ein schwer zu beschreibendes, doch überaus betörendes Aroma, das sie sich ein wenig vorneigen und erneut tief einatmen ließ.

Aber dann ließ der Unbekannte sie auch schon los. Viel zu rasch, wie sich zeigte, denn sie hatte sich noch längst nicht gefangen und streckte ganz automatisch die Hand nach einem festen Halt aus, und das war in diesem Fall er oder vielmehr sein Unterarm, der wirklich überaus fest war, wovon sie sich mit einem verstohlenen Druck der Hand überzeugte.

Noch recht erschüttert, dem Tod so knapp nur entronnen zu sein, schaute sie leicht schwindelnd auf ihre behandschuhte Hand, die sich in den grauen Zwirn grub, löste den Griff ihrer Finger ein wenig und hob den Blick dann langsam zu der feinen Kaschmirweste, an der ihr sogleich ein loser Faden ins Auge sprang. Mit einem kurzen Kopfschütteln suchte sie den Nebel zu lichten, der ihr die Sinne verwirrte, dabei geriet ihr Strohhut ins Rutschen und neigte sich in immer bedenklichere Schieflage.

„Verzeihen Sie vielmals, Sir. Ich sah Sie nicht kommen“, entschuldigte sie sich und tastete mit der freien Hand nach ihrem Hut. Die Etikette gebot es, dass er die Schuld für den beinah tödlichen Zusammenprall auf sich nahm, weshalb ihre Worte nur der Form dienten, ihm den Weg bereiten sollten, die volle Verantwortung zu übernehmen, wie es sich für einen Gentleman gehörte. „Für gewöhnlich bin ich nicht so kurzsichtig oder so ungeschickt oder … zerstreut …“

Sie geriet ins Stocken. Warum sagte er denn nichts?

Ellie hob den Blick noch etwas weiter, zur gestärkten Krawatte und den steifen Kragenspitzen, dem markanten Kinn mit der kleinen Kerbe, dem festen Mund und der geraden Nase und schließlich den graugrünen Augen unter der breiten Krempe seines Huts.

Ein Schauer des Erkennens durchfuhr sie bis hinab in die Zehenspitzen.

Obgleich man sie einander nie vorgestellt hatte, gab es wohl keine Dame der Gesellschaft, die Londons am schwersten zu fassenden Junggesellen, den Marquess of Hullworth, nicht kannte. Und aus nächster Nähe betrachtet sah er sogar noch besser aus, als man sich gemeinhin erzählte.

Natürlich nicht so gut wie George, rief sie sich zur Räson. Kein Mann könnte George das Wasser reichen.

Doch strahlte Lord Hullworth unbestritten ein gewisses Selbstbewusstsein aus, das ihn in den Augen der meisten Frauen ausgesprochen attraktiv erscheinen lassen musste. Nur eben nicht in ihren.

„Mein Arm, wenn ich bitten dürfte, Ma’am“, sagte er in einem Ton, der nicht unhöflich, aber auch nicht gerade charmant zu nennen war. Er schob das Kinn in mühsamer Beherrschtheit vor und senkte den Blick unduldsam auf ihre Hand. „Vorausgesetzt natürlich, Sie können sich wieder selbst auf den Beinen halten.“

Sie hatte ihre Hand kaum von ihm genommen, als er auch schon einen Schritt zurück machte, sich energisch die Manschetten, dann den Rock zurechtzog, als wolle er die Begegnung rasch von sich abstreifen.

Ellie versuchte es nicht persönlich zu nehmen, auch wenn sein Betragen ein einziger Affront war. Er tat gerade so, als habe sie sich eines Verbrechens an ihm schuldig gemacht. Vorsätzliche Zerknitterung, zu bestrafen mit größtmöglicher Brüskierung. Mindestens.

Andererseits hatte sie wirklich nicht auf den Weg geachtet und sie beide in Gefahr für Leib und Leben gebracht. Dem Tod nur so knapp entronnen zu sein, konnte einem schon mal die Laune verderben, wer wüsste das besser als sie? Und vielleicht hatte der schwer zu fassende Junggeselle nur noch keine Gelegenheit gefunden, sich von seiner galanten Seite zu zeigen. Also beschloss sie, Nachsicht walten zu lassen und ihm noch eine Chance zu geben.

Ihr Blick fiel auf ein besticktes Spitzentaschentuch, das bei dem Zusammenstoß zu Boden gefallen war und, wie es dort so unschuldig im Gras lag, ihr wie gerufen kam, den Marquess ihren ersten, nicht allzu positiven Eindruck von ihm, zum Besseren zu wenden.

„Oje, ich muss mein Taschentuch fallen gelassen haben“, sagte sie mit einem höflichen Lächeln und hob nun auch die zweite Hand, die Hand des Anstoßes, eben jene, die gerade noch auf seinem Arm gelegen hatte, um sich den Hut zu richten.

Er warf nur einen flüchtigen Blick auf das fragliche Objekt und meinte dann: „Sieht ganz so aus.“

Damit drehte er sich um und stolzierte davon!

Hatte man eine solche Unverschämtheit denn je schon erlebt?

Ellie bückte sich und griff so verärgert nach ihrem Taschentuch, dass sie sich erst mal die Fingerspitzen am Gras beschmutzte. Na prima, dachte sie gereizt. Jetzt konnte sie vor dem Tee noch zusehen, wie sie ihre Handschuhe wieder halbwegs in Ordnung bekam.

Nachdem sie der sich entfernenden Gestalt noch einen verdient finsteren Blick hinterhergeschickt hatte, trabte sie in der entgegengesetzten Richtung davon. Wenn es nach ihr ginge, wollte sie diesen ungehobelten und anmaßenden Kerl nie wiedersehen.

Bis sie wieder auf der Terrasse von Lord und Lady Baxtons weitläufigem Anwesen angelangt war, konnte sie ihre Tanten natürlich nirgends mehr entdecken. Aber so wie sie die beiden kannte, hatte es sie vermutlich in Richtung Küche verschlagen, um die kulinarischen Geheimnisse des Hauses auszuspähen.

Niemand im ton wusste davon, aber Tante Maeve und Tante Myrtle klauten wie die Elstern. Bei jedem Besuch in fremden Häusern versuchten sie dem Küchenpersonal die bestgehüteten Rezepte ihrer Herrschaft abzuluchsen. Seit Jahren ging das nun schon so. Und zu Hause in der Upper Wimpole Street quollen die Schubladen derweil über von seitenweise fetter Beute.

Ellie hatte verschiedentlich nachgefragt, was sie denn damit vorhatten, aber jedes Mal hatten die Tanten nur mit Unschuldsmiene die Schultern gezuckt, und irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, dass die zwei auf ihre alten Tage vielleicht doch ein wenig wunderlich wurden.

Ohnehin musste sie sich erst mal um ihre Handschuhe kümmern, weshalb sie rasch nach oben eilte zum Ruhe- und Erfrischungsraum der Damen. Schon vom Weiten sah sie die Tür auffliegen und eine sichtlich verstimmte Lady Doyle mit vor Wut bebendem Busen herausrauschen.

„Eugenia“, kommandierte sie in herrischem Ton, „wir werden keine weitere Sekunde auf unsere Hüte verschwenden, wenn Lord Hullworth draußen in freier Wildbahn unterwegs ist. Womöglich wird er, während wir noch hier herumtrödeln, von unserer Gastgeberin und ihrer farblosen Tochter gestellt!“

„Ja, Mutter“, antwortete eine junge Frau von ganz ähnlicher Statur, die Lady Doyle auf den Fersen folgte, entnervt die Augen verdrehte und die blonden, aufwändig frisierten Locken schnaubend zurückwarf.

„Es wäre doch gelacht, wenn du am Ende der Saison keine Marchioness bist“, verkündete ihre Mutter und beide reckten sie das Kinn. Ellie würdigte die Dame im Vorbeigehen eines flüchtigen Blickes und schaute dann ungehalten über die Schulter. „Verflixt und zugenäht, wo bleibt denn diese unnütze Person?“

„Bin schon unterwegs, Ma’am“, kam es von der leidgeprüften Dienerin, die, beladen mit einem Schal, zwei Strohhüten und büschelweise bunten Straußenfedern, den Damen hinterherhechtete und in ihrer Eile die halbe Pracht fallen ließ.

Ellie erbarmte sich ihrer, hob den Hut auf und reichte ihn ihr. „Hier, bitte, den hatten Sie verloren. Diese Schmuckborte gefällt mir ausgesprochen gut, dazu braucht es viel Geschick.“

Die Miene des Mädchens hellte sich auf und seine Lippen, zwischen denen bestimmt ein Dutzend Hutnadeln steckten, ließen ein Lächeln erkennen. Bevor sie weitereilte, machte sie einen Knicks und nuschelte ein erfreutes „Danke, Ma’am.“

In Ellies Augen war das Leben einfach zu kurz, um sich mit unausstehlichen Menschen abzugeben. Leider konnte man es sich nicht immer aussuchen. Und es gab einfach zu viele von ihnen, als dass man ihnen immer entkommen könnte, bestes Beispiel Lord Hullworth eben im Garten. Wenn es nach ihr ginge, geschähe ihm eine Schwiegermutter wie Lady Doyle gerade recht.

Als sie die Tür aufstieß, fand sie sich und ihre schon reichlich strapazierte Laune glücklicherweise allein in dem lichtdurchfluteten Raum. Die in einem hellen Meerblau gehaltenen Wände und die leicht im Wind spielenden Vorhänge, durch die das zarte Grün der Bäume schien, verschafften ihr einen Moment des Friedens, in dem sie die unerfreuliche Begegnung im Garten vergessen konnte. Dennoch ertappte sie sich dabei, auf dem Weg zum Waschtisch „grässlicher Mann“ zu murmeln.

Glücklicherweise scheuten die Baxtons auch hier keine Kosten. In einem geriffelten Porzellanschälchen lag ein ovales Stück Pears-Seife, das seinen Zweck weitaus besser erfüllte als flüssige Gallseife aus dem Glas.

Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, streifte sie die Handschuhe ab und legte sie zum Trocknen auf die Fensterbank. Doch als ihr Blick auf ihre nackten Hände fiel, entrang sich ihr ein tiefer Seufzer.

Oh, es lag nicht an ihren Händen, an denen war nichts auszusetzen, sie waren schmal und blass, die Nägel gepflegt, und doch wies die linke Hand einen ganz offenkundigen Mangel auf.

Es steckte kein Ring am Finger.

Dieser Umstand wäre wohl nicht weiter der Rede wert gewesen, wäre sie die dreiundzwanzigjährige Debütantin, für die der ton sie hielt. Nur die Tanten kannten ihr Geheimnis und wussten, dass sie sich so rasant wie ein Schlitten auf Talfahrt auf den Stand der alten Jungfer zubewegte.

Mit dem heutigen Tag hatte sie ein Vierteljahrhundert und damit ihren Zenit ohne Ring am Finger überschritten. Neuntausendeinhundertsechs unverheiratete Tage, um genau zu sein.

Fünfundzwanzig klägliche Jahre.

Mit einem ungehaltenen Schnauben zog sie die Nadeln aus ihrem Hut und legte ihn beiseite. Wenn es nach ihr ginge, konnten ihre Recherchen gar nicht schnell genug beendet sein. Sie brauchte wirklich alle gesammelten Erkenntnisse, um George endlich zu seinem Antrag zu bewegen.

Ein Blick auf die zerrupfte Gestalt im Spiegel und ihr Zorn auf Lord Hullworth kochte wieder hoch. Eitler Geck! Sie schnaubte erneut. Seinetwegen stand sie nun hier und musste ihre Garderobe richten, während George vielleicht gerade im Garten auf sie wartete. Sie wandte den Kopf und steckte den Schildpattkamm wieder in ihre dunklen Locken, als ihr ein silbriger Schimmer ins Auge fiel, der sie mitten in der Bewegung innehalten ließ.

War das etwa … ein graues Haar?

Sie keuchte vor Entsetzen. Jetzt war es offiziell: Sie gehörte zum alten Eisen. Stand mit einem Bein im Grab. Spürte schon den kalten Hauch des Todes im Nacken.

Wenn George sie so sähe, würde er sie niemals heiraten. Der Marquess brauchte einen Erben. Ein Blick auf das ergraute Weib, das über Nacht aus ihr geworden war, und er würde glauben, sie ginge quasi schon am Stock.

Ellie musste etwas tun, und das rasch.

Sie wollte das anstößige Haar herausreißen, aber ihre Tanten pflegten zu sagen, dass jedes herausgezupfte graue Haar vierfach nachwuchs. Eins war schon schlimm genug, aber gleich vier? Ebenso gut könnte sie sich gleich in einen wollenen Schal hüllen und Tattergreisen schöne Augen machen.

Suchend sah sie sich nach etwas um, womit sich ihre Schmach verbergen ließe. Etwas Tinte käme jetzt sehr zupass, ein Tropfen Schwarz am rechten Platz könnte den Anschein erwecken, alles sei in bester Ordnung und sie nicht schon alt wie Methusalem, eine graue Eminenz, pfeifend aus dem letzten Loch. Frisch wie ein Küken würde sie sich wieder unter die Gäste mischen und Ausschau nach George halten.

Nur leider gab es hier kein Schreibpult und damit auch keine Tinte. Verflixt!

Zerstreut griff sie wieder nach ihrem Hut und musste feststellen, dass er von der Lehne der Chaiselongue gerutscht und dahinter gefallen war. Während sie sich vor zur Wand beugte und den Hut hervorzuangeln versuchte, hörte sie, wie am anderen Ende des Raums die Tür aufging und sich wieder schloss.

„Noch eine weitere frohe Kunde eines Verlöbnisses und ich schreie“, murmelte eine junge Frauenstimme, gefolgt von einem genervten Stöhnen und dem Aufstampfen eines feinbesohlten Fußes.

Ihrem eigenen Missmut zum Trotz musste Ellie lächeln. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die es nicht mehr mitansehen konnte, wie heute alle außer ihr einen Mann abbekamen.

Sie räusperte sich dezent, um sich bemerkbar zu machen, stand dann wieder auf und arrangierte die breite Krempe ihres Hutes so, dass die grausig ergraute Strähne verborgen blieb. Lieber auf Nummer sicher gehen, nicht dass es wie das Haar der Medusa wäre und ein Blick darauf einen zu Stein erstarren ließe – und damit auch alle Hoffnung, jemals unter die Haube zu kommen.

„Oh! Verzeihen Sie“, sagte die junge Frau und riss die strahlend blauen, von einem dunklen Wimperkranz gerahmten Augen weit auf. „Ich wusste nicht, dass noch jemand hier ist. Das Mädchen meinte, es werde zurückkommen, um mein Kleid auszubessern, sobald Lady Doyle fertig sei.“

Ellie winkte ab und schob die Hutnadeln wieder an ihren Platz. „Nicht der Rede wert.“

Die junge Frau nickte, löste in einer fließenden Bewegung das Band ihres Hutes und setzte ihn ab. Ihr Haar war noch dunkler als das von Ellie, glatt und schimmernd wie Rabenschwingen. Überhaupt war sie sehr hübsch, die Haut makellos, als hätten weder Sonne noch Alter sie je berührt. Sie war jung, das war es. Ellie hätte sie auf zwanzig geschätzt, höchstens.

Ein stummer Seufzer entrang sich ihr bei dem Gedanken an jene sorglosen Tage der Jugend. Wie lang war das her … damals, vor dem grauen Haar.

Die junge Frau legte Hut und Handschuhe auf einem halbrunden Seidenholztisch ab. Als sie sich dabei leicht zur Seite wandte, fiel Ellies Blick auf einen im himmelblauen Musselin des Rockes klaffenden Riss. „Oje“, seufzte sie mitfühlend.

Ihre Leidensgefährtin warf einen Blick über die Schulter. „Ja, ich fürchte, ich habe es ruiniert und wenn ich meinem Bruder erst erzähle, wie es passiert ist, wird er mich tagelang mit enttäuschter Miene strafen.“

„Was Brüder angeht, kann ich Ihnen leider keinen Rat geben, aber ich weiß gut genug mit Nadel und Faden umzugehen, um Ihnen jetzt schon zu verraten, dass das Mädchen da nicht viel wird ausrichten können. Bei einem so feinen Gewebe wird man die ausgebesserte Stelle immer sehen.“ Ellie sprach aus der Erfahrung, war sie doch von gleich zwei Tanten in der Kunst der Handarbeit unterwiesen worden. „Selbst wenn sie diesen Blauton hätte … Lassen Sie mich mal einen Blick ins Nähkästchen werfen.“

Sie ging zu dem Lehnstuhl in der Ecke und zog den Korb darunter hervor. Als sie den Deckel aufgeklappt und ein wenig darin herumgestöbert hatte, fand sie ihre Vermutung bestätigt und schüttelte bedauernd den Kopf.

Die junge Frau war ihr gefolgt und seufzte. „Vermutlich ist das meine gerechte Strafe dafür, das Rudel auf Brandon gehetzt zu haben. Ich wollte nur einen Moment seinem überfürsorglichen Blick entgehen. Wie hätte ich ahnen können, dass ich auf meiner Flucht nicht nur einem, sondern gleich zwei Heiratsanträgen in die Quere käme? Und so ergab es sich, dass ich mit der Rosenhecke aneinandergeriet, als ich mich, um die Turteltäubchen nicht zu stören, still und heimlich davonschleichen wollte.“

Dann müssen wir beide kurz nacheinander am selben Ort gewesen sein, dachte Ellie belustigt. „Vermutlich können wir froh sein, dass Sie nicht auch noch über den dritten Antrag beim Brunnen gestolpert sind, sonst wären Sie tropfnass noch dazu.“

Drei Verlöbnisse an einem Nachmittag?“

„Es scheint eine Seuche zu grassieren“, bestätigte Ellie mit grimmigem Nicken. „Der einzige Lichtblick ist, dass ich Ihnen immerhin mit dem Kleid helfen kann. Mir wurde schon oft versichert, dass ich recht geschickt sei mit Nadel und Faden, gerade auch bei den angeblich hoffnungslosen Fällen.“

„Dann hat Sie der Himmel geschickt!“

„Bevor Sie sich zu sehr freuen, sollte ich vielleicht vorausschicken …“, Ellie ließ ihren Blick über das Nähsortiment wandern und blieb an einem leuchtend roten Band hängen, „… dass wir, um einen Riss solchen Ausmaßes zu flicken, zu etwas unkonventionelleren Methoden greifen müssen.“

„Konventionen werden ohnehin überschätzt“, verkündete die junge Dame und grinste. Dann streckte sie die Hand aus. „Ich weiß, es schickt sich nicht, aber ich würde vorschlagen, wir stellen uns jetzt einfach einander vor. Ich bin Margaret Stredwick, aber bitte nennen Sie mich Meg.“

„Sehr angenehm, Meg. Ich bin Elodie Parrish, für Sie einfach Ellie.“

Sie schüttelten einander die Hand, als besiegelten sie ein Geschäft. Und tatsächlich brauchte es wohl ein wenig Courage, sich auf diese Unternehmung einzulassen. Doch Ellie zweifelte nicht eine Sekunde, dass es die richtige Entscheidung war.

„Wäre es denkbar …“, Meg zögerte verlegen, „… einfach zu vergessen, was ich Schreckliches sagte, als ich gerade hereinkam? Am Ende sind Sie gar eine der Glücklichen – wenn dem so ist, verzeihen Sie meine Worte. Ich wollte Sie nicht beleidigen.“

Ein leichter Wind wehte zum geöffneten Fenster herein und unter die feinen Härchen an Ellies Nacken. Mit einem Schlag fand sie sich wieder an ihre rasante Talfahrt gen ewigen Jungfernstand erinnert.

„Seien Sie unbesorgt, ich bin keine der Glücklichen.“ Und wie lange wohl noch?, setzte sie im Stillen nach und ließ sich auf den Polsterstuhl sinken, um sich ans Werk zu machen. Sie zog einen Faden durch die Nadel und begann den langen Riss mit einem einfachen Kettstich zusammenzuheften. „Der Mann, auf den ich ein Auge geworfen habe, hat sich heute nicht mal blicken lassen.“

„Verstehe“, sagte Meg nachdenklich. „Dann gehören Sie nicht zu den jungen Aspirantinnen, die es auf Lord Hullworth abgesehen haben.“

Sie lachte trocken. „Nein, ganz sicher nicht. Ich finde ihn einen eher unangenehmen Zeitgenossen. Wenngleich wir einander nie offiziell vorgestellt wurden, wirkt er auf mich doch recht rüpelhaft und eingebildet. In Gesellschaft ist er ständig von einer ganzen Schar Bewunderinnen umgeben. Es scheint ihm zu gefallen, den Gänsekönig zu spielen.“

Meg lachte. „Da kennen Sie meinen Bruder aber schlecht.“

„Ihren Bru…“ Ellie stach sich in die Fingerkuppe. Sie hob sie an ihre Lippen, spürte die Hitze in ihren Wangen. „Jetzt bin ich aber so richtig ins Fettnäpfchen getreten, was? Bitte verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht beleidigen.“

„Oh, mich haben Sie damit nicht beleidigt. Es braucht Ihnen nicht unangenehm zu sein – im Gegenteil, ich finde es erfrischend, einer zu begegnen, die es nicht auf ihn abgesehen hat.“ Ihr Lachen endete in einem Seufzen. „Fast jede Debütantin, die sich mit mir anfreundet, hat dabei eigentlich bloß Brandon im Hinterkopf, einschließlich der beiden frisch Verlobten von vorhin. Ich war naiv zu glauben, es könne anders sein.“

Das zu hören betrübte Ellie und sie mochte sich kaum vorstellen, wie es sein mochte, die Tücken der ersten Saison ohne Freundinnen und Vertraute durchzustehen. Sie hatte in dieser Hinsicht wirklich Glück gehabt, denn sie, Jane, Winnie und Prue kannten sich schon seit der Schule und waren seither unzertrennlich.

„Verzagen Sie nicht“, riet sie Meg. „Irgendwann findet man immer Freunde, die diesen Namen wert sind. Ich würde Ihnen gern meine Freundschaft anbieten, sollten Sie nach meinem peinlichen Fauxpas noch interessiert sein.“

„Kompromisslose Ehrlichkeit – zumal wenn sie auf Kosten meines Bruders geht – steht auf meiner Liste der Freundschaftsanforderungen ganz oben.“

„Gut … Aber vielleicht warten Sie mit Ihrer Entscheidung doch lieber, bis Sie gesehen haben, was ich gerade mit Ihrem Kleid anstelle.“

Meg schielte über ihre Schulter. „Wie unkonventionell wird es denn?“

„Sehr“, sagte Ellie mit Grabesstimme. „Könnten Sie sich mit einem Drachen anfreunden?“

Meg kicherte. „Wenn ich ehrlich sein soll, so viel Spaß hatte ich während der ganzen Saison noch nicht.“

„Jetzt übertreiben Sie aber. Die jungen Männer liegen Ihnen sicher zu Füßen.“

Sie zuckte nur mit den schmalen Schultern. „Wahrscheinlich, ja. Es ist recht aufregend, mit ihnen übers Tanzparkett zu wirbeln, aber wenn sie den Mund aufmachen, wird es sofort fad. Mein Bruder scheint fest entschlossen, mich den größten Langweilern Londons vorzustellen. Die meisten reden so herablassend mit mir, als sei ich diejenige, der es an Esprit mangelt.“ Sie seufzte. „Ich möchte nur einmal von einem Mann mit unstillbarem Verlangen angesehen werden. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?“

„Nein, ist es nicht. Jede Frau hat einen Mann verdient, der sie mit so begehrlichem Blick betrachtet, dass sie es durch die ganze Länge des Raums spürt, wenn seine Augen auf ihr ruhen.“ Ellie brachte es mit solcher Überzeugung vor, dass man hätte meinen können, sie sei Expertin auf diesem Feld. Tatsächlich hatte sie seit ihrem zwanzigsten Geburtstag keinen einzigen Kuss mehr bekommen. Das war jetzt auf den Tag genau fünf Jahre – und ein graues Haar – her.

„So sehe ich das auch“, pflichtete Meg ihr bei. „Das Problem ist nur, dass Brandon glaubt, kein Mann, der mich so ansähe, könne ehrenhafte Absichten haben.“

„Nicht ein einziger? Dann hat er aber reichlich wenig Vertrauen in sein eigenes Geschlecht.“

„Allerdings. Er ist ein richtiger Wachhund. Ein Gentleman braucht ein Lächeln in meine Richtung bloß anzudeuten, schon springt Brandon dazwischen. Nimmt es da Wunder, dass ich in Gesellschaft alles daransetze, ihm zu entkommen?“

Ellie brachte die letzten Stiche recht nachdenklich zu Ende. Sollte der Lord Hullworth, dem sie eben im Garten begegnet war, gar nicht der Galan gewesen sein, für den der ton ihn hielt, sondern der in Sorge um seine Schwester versunkene, überfürsorgliche Bruder?

Dann mochte sie ihm seine Unaufmerksamkeit nachsehen, was aber nichts daran änderte, ihn für einen ungeschliffenen Kerl zu halten. Und ein Spielverderber war er, wie sie nun wusste, noch dazu, wenn er ihrer neuen Freundin allen Spaß an ihrer Saison rauben wollte.

„Ich wünschte, Sie würden nicht solch strengem Regiment unterliegen“, sagte Ellie daher voller Mitgefühl. „Schade, dass meine Freundinnen und ich das Buch noch nicht beendet haben, an dem wir seit einiger Zeit schreiben. Es heißt Das Heiratsverhalten des geborenen Aristokraten und soll Debütantinnen eine Hilfe an die Hand geben, um Gentlemen von Wüstlingen zu unterscheiden zu lernen.“

Die Idee dazu war ihnen gekommen, als man Prudence, eine ihrer Freundinnen aus Zeiten des Mädchenpensionats, von London aufs Land verbannt hatte, nachdem die arme Pru im Garten von Sutherfield Terrace kompromittiert worden war. Ein Jahr war das schon her, und Ellie vermisste sie furchtbar.

„Das ist das Vernünftigste, was ich seit Langem gehört habe. Ein solcher Ratgeber wäre sicher ein Segen – nicht nur für die jungen Frauen, sondern auch für ihre Anstandswauwaus, die teils wirklich antiquierte Vorstellungen haben.“ Megan strahlte sie an. „Bitte beenden Sie das Buch so schnell wie möglich, damit ich es Brandon unter die Nase halten kann.“

Ellie lachte und fischte einen kleinen weißen Knopf aus dem Nähkorb. „Nichts lieber als das. Allerdings muss ich gestehen, dass meine Erkenntnisse zur Spezies des heiratswilligen Gentleman bislang noch nicht sehr weit gediehen sind. Würde ich ihre Einstellungen und Verhaltensweisen besser verstehen, wäre ich wohl selbst längst eine verheiratete Frau.“

„Auch wenn es egoistisch klingt, ich bin froh, dass Sie noch unverheiratet sind und mir hier Gesellschaft leisten. Es ist schön, dass wir uns begegnet sind.“

„Ja, das finde ich auch“, erwiderte Ellie, denn es kam selten genug vor, bei einer neuen Bekanntschaft das Gefühl zu haben, einer lang verlorenen Freundin gegenüberzustehen. Zum letzten Mal war ihr das mit Jane, Winnie und Prue passiert, und wie lang war das schon her! Ellie wusste, wie wertvoll Freundschaften waren und wie sehr sie einem fehlen konnten, weshalb sie eine solche Begegnung nie für selbstverständlich genommen hätte. „Gut, noch eben schnell verknoten … und das war es auch schon.“

Ellie räumte die Nähutensilien wieder ein, stand auf und schlug die Hände zusammen.

Meg eilte zu dem großen Standspiegel und versuchte einen Blick auf ihre Kehrseite zu erhaschen. Ellie hörte sie nach Luft schnappen, sah, wie sie sich die behandschuhte Hand vor den Mund hielt und Tränen in den blauen Augen schimmerten.

Oje. Da hatte sie den Bogen wohl doch überspannt. „Meg, entschuldigen Sie, wenn ich … Es stand mir nicht an …“

„Es ist perfekt!“, unterbrach sie Meg und klatschte begeistert in die Hände, während sie sich vor dem Spiegel im Kreis drehte. „Ein signalroter Drachen auf einem himmelblauen Kleid, und er hat sogar ein flatterndes Band und dieser süße kleine Knopf!“

Ellie ließ die Schultern sinken und atmete erleichtert auf. „Dann bin ich froh, dass es Ihnen gefällt.“

„Ich liebe es! Und ausnahmsweise, glaube ich, werde ich meinem Bruder damit die Show stehlen.“ Mit einem übermütigen Satz kam sie angesprungen und schloss Ellie kurz, doch recht überschwänglich, in die Arme. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Oh, und ich muss Sie unbedingt Brandon vorstellen. Ich habe zwar gerade ein paar nicht so nette Dinge über ihn gesagt, aber ich könnte mir keinen besseren Bruder wünschen. Er will einfach nur mein Bestes – aber bitte sagen Sie ihm nicht, dass ich das gesagt habe, ja?“

„Wenn Sie meinen …“, sagte Ellie, die nicht gerade erpicht war auf eine neuerliche Begegnung mit Lord Hullworth. „Sie brauchen sich aber nicht verpflichtet zu fühlen, uns einander vorzustellen. Mir wäre es ehrlich gesagt lieber, ihm so bald nicht wieder über den Weg zu laufen.“

Aber davon wollte Meg nichts hören. Ihre Begeisterung kannte nun keine Grenzen mehr, und als sie den Ruheraum verließen, zog sie Ellie einfach hinter sich her.

Seltsam, dass das verflixte graue Haar über alledem ganz in Vergessenheit geraten war – zumindest, bis sie ganz offiziell Lord Hullworths Bekanntschaft machen sollte.

Londons begehrtester und unerreichbarster Junggeselle, vor allem aber ein aufgeblasener Schnösel, der sie ganz sicher jeden Tag ihrer fünfundzwanzig Jahre spüren lassen würde.

2. KAPITEL

„Ein wahrer Gentleman wird die Unzulänglichkeiten einer Dame niemals kommentieren. Sollte er sich eines solchen Fauxpas’ schuldig machen, vergisst man den ungehobelten Kerl am besten gleich wieder.“

aus den Notizen für

Das Heiratsverhalten des geborenen Aristokraten

Brandon wusste nicht, wer ihm den albernen Stempel Londons unerreichbarster Gentleman aufgedrückt hatte, aber es verging kaum ein Tag, an dem er der fraglichen Person nicht am liebsten den Hals umdrehen wollte.

Seit zwei Jahren war ihm nicht ein Moment des Friedens mehr vergönnt. Stattdessen verfügte er nun über eine lange Liste sämtlicher Tricks und Tücken, mit denen Frauen es darauf anlegten, einen Mann vor den Traualtar zu bekommen.

Manche bedienten sich recht einfacher Methoden: ein einladendes Lächeln, ein koketter Augenaufschlag oder ein glockenhelles Lachen, mit dem jede seiner Äußerungen bedacht wurde, und sei sie noch so banal. Andere waren etwas direkter und ließen diverse Kleidungsstücke zu seinen Füßen fallen. Taschentücher, Handschuhe, Schals, bisweilen gar ein Strumpfband. Ein paar gingen sogar so weit, ihn in aller Unschuld anzufassen. Oh, verzeihen Sie, ist das Ihre Schulter/Ihr Arm/Ihre Hand/Ihr Bein?

Dann gab es noch jene, die Unpässlichkeiten und Verletzungen vortäuschten. Er hatte längst aufgehört mitzuzählen, wie oft ihm schon, wenn er Meg im Park ausfuhr, eine Dame herangewinkt und unter Vortäuschung eines verdrehten Knöchels gebeten hatte, sie nach Hause zu fahren.

Und zuletzt die ganz Unerschrockenen, die wie aus dem Nichts auftauchten, um eine Kollision herbeizuführen. Meist fand sich dann auch noch eine Zeugin ein, die andeutete, eine unschickliche Umarmung gesehen zu haben, um ihn so in die Falle zu locken.

Glücklicherweise hatte seine untadelige Reputation ihn bislang noch jedes Mal davor bewahrt, die lebenslangen Konsequenzen solch unlauterer Methoden tragen zu müssen. Fünf solcher vorsätzlich herbeigeführter Zusammenstöße hatte es bis zum heutigen Tag gegeben, fünfeinhalb, wenn er den mit Miss Oh, ich sah Sie nicht kommen, Sir dazurechnete.

Sie hätte ihn fast über den Haufen gerannt.

Ganz automatisch hatte er sie aufgefangen, natürlich mit der festen Absicht, sie sogleich wieder loszulassen. Aber der heftige Aufprall hatte ihm die Luft aus den Lungen gepresst, weshalb er erst mal tief hatte durchatmen müssen, und wie hätte er ahnen können, dass die Duftwolke, in die er da geriet – frisch und blumig, wie von nächtlichem Tau benetzter Klee –, ihm dermaßen zu Kopf steigen würde.

Anders konnte er sich nicht erklären, warum er sie so lang gehalten hatte. Warum sein Blick auf ihren Wangen verweilt hatte, wie gebannt vom rosigen Schimmer, der sich über makellose Alabasterhaut zog wie über weiße Leinwand fließendes Aquarell. Oder woher diese Unruhe rührte, mit der er darauf wartete, dass sie ihn endlich ansah.

Es war ihm wie eine Ewigkeit erschienen. Er hätte lieber Ausschau halten sollen nach ihren hinter der hohen Hecke oder zwischen dem Formschnitt lauernden Begleiterinnen, stattdessen war sein Augenmerk einzig auf die beiden dunklen Wimpernkränze gerichtet, Wimpern so schwarz wie getuscht, sodass er fast versucht war, mit dem Daumen zu prüfen, ob sie eine Spur auf seiner Haut hinterließen. Als sie den Blick schließlich hob, schaute ihm ein mandelförmiges Augenpaar entgegen von einem goldenen Bernsteinbraun wie im Schein des Kaminfeuers schimmernder Cognac. Und eine Wärme breitete sich in ihm aus, als hätte er ein ganzes Glas des guten Tropfens in einem Zug geleert.

Die Kollision schien sich wirklich verheerend auf seinen Geisteszustand auszuwirken.

Fast hätte er darüber vergessen, dass es nur einmal mehr eine Falle war. Die List einer Frau, die glaubte, Heiraten sei bloß ein Spiel. Schon sah er die Erkenntnis in ihren Augen aufscheinen, sah das routinierte Lächeln, mit dem sie sich für ihr Versehen entschuldigte.

Verzeihen Sie vielmals, Sir. Ich sah Sie nicht kommen …

Die übliche Gereiztheit hatte ihn erfasst und wieder zur Besinnung gebracht. Sie war genau wie die anderen, intrigant und gerissen. Keiner von ihnen war zu trauen.

Mit seinen vierunddreißig Jahren war er längst nicht mehr der unerfahrene junge Mann von einst, der so leicht auf diese Tricks und Spielchen hereingefallen war. Mittlerweile tat er derlei Vorkommnisse fast mit einem Achselzucken ab. Bevor die Falle zuschnappen konnte, hatte er sich schon auf dem Absatz umgedreht und seine Suche nach Meg fortgesetzt.

Seine Schwester war der einzige Grund, warum er sich die Saison überhaupt antat. So wie er das sah, würde sie eine ganze Reihe von Männern kennenlernen müssen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wer für sie der Richtige sein könnte. Und wenn der Besuch so vieler Bälle und Gesellschaften wie möglich sie am Ende vor einem Fehlgriff und lebenslanger Reue bewahrte, dann war es ihm das wert, auch wenn er hoffte, es möge nur diese eine Saison dazu brauchen.

Allerdings schien diese geschwisterliche Fürsorge einseitig. Meg hatte ihn vorhin schmählich im Stich gelassen, war freudig davongerauscht, als ein ganzes Rudel räuberischer Mamas samt koketten Töchtern sich draußen auf der Terrasse auf ihn gestürzt hatte. Einladungen waren auf ihn niedergegangen, eine lange Litanei weiblicher Errungenschaften und Zierden, wobei jede die andere auszustechen versuchte.

Hätte nicht eine erschöpfte Hummel sich auf Lady Doyles Hut niedergelassen und für die zu erwartende Hysterie gesorgt, wäre er wohl nie entkommen. Wenngleich seine Flucht ihm wenig gebracht hatte, war er doch kurz darauf Miss Oh, ich sah Sie gar nicht kommen in die Arme gelaufen.

Die Begegnung ging ihm immer noch nach. Warum konnte er sie nicht einfach abtun wie all die anderen auch?

Die einfachste Erklärung mochte lauten, dass er es einfach leid war. Erschöpft davon, diesen Frauen, die nur Londons unerreichbarsten Junggesellen in ihm sahen, mit dem eines Gentleman gebührenden Anstand zu begegnen. Ja, sagte er sich, das musste es sein.

Zum Glück wäre auch dieser Nachmittag bald überstanden.

Zuletzt hatte er seine Schwester gesehen, als sie durch die Terrassentüren zurück ins Haus huschte. Vielleicht war sie kurz nach oben gegangen. Den Herren war der Zutritt zu den für Damen vorbehaltenen Gefilden verwehrt, weshalb er in einem mit Goldchintz ausstaffiertem Vorzimmer wartete, wo er zwar den Blicken der Gäste verborgen war, aber dennoch den Aufgang im Auge hatte.

Draußen wurde derweil der Tee serviert. Dutzende weiß eindeckte Tische standen unter gestreiften Baldachinen auf dem Rasen bereit, die leichten Klänge eines Streichquartetts wurden mit der frühsommerlichen Luft ins Haus getragen.

Er fand sich kurz abgelenkt von zwei Frauen, die die Treppe hinauf und an seinem Ausguck vorbeikamen, allerdings so sehr in irgendwelche Notizen vertieft waren, dass sie ihn nicht bemerkten. Bei den Flügeltüren zum Garten angelangt, schauten sie sich verstohlen um und ließen die Zettel in ihrem Mieder verschwinden. Was immer die beiden da trieben, es schien ihnen eine diebische Freude zu bereiten.

Merkwürdig, dachte er noch, als er die zwei nach draußen verschwinden sah.

Dann hörte er auch schon Megs Lachen, vergaß die alten Damen und richtete sein Augenmerk wieder auf die Treppe. Seine Schwester unterhielt sich mit jemandem außerhalb seines Blickfelds, unterstrich ihre Worte mit den Händen, wie es ihre Art war. Sowie sie ihn entdeckte, blitzten ihre Augen hell auf. Sie deutete einen übermütigen Salut an, als wolle sie sich selbst zur Siegerin beim beliebten Wer-entkommt-dem-Anstandswauwau? erklären.

„Da bist du ja, Brandon. Ich hatte mich schon gefragt, wo du abgeblieben bist“, zog sie ihn mit einem vergnügten Grinsen im Gesicht auf.

Sosehr er es auch versuchte, er konnte ihr einfach nicht böse sein und schickte ein etwas trockenes, doch nicht minder liebevolles Lächeln zurück – das ihm allerdings vergehen sollte, als er sah, wer ihre Begleiterin war.

Es war keine Geringere als sie, die bernsteinäugige Schlange aus dem Garten. Das gerissene Ding schien sich auf eine andere Taktik verlegt zu haben.

In seinen Augen war es die schlimmste aller Listen, wenn Frauen sich, um seine Zuneigung zu erlangen, bei seiner Schwester einschmeichelten. Zu oft schon war Meg das Herz von solchen vermeintlichen Freundinnen gebrochen worden. Es machte ihn rasend, dass man sich ihrer einmal mehr als Mittel zum Zweck bediente.

Auch wenn es schwerfiel, verbarg er seinen aufsteigenden Zorn hinter einer Maske kühler Höflichkeit. „Ich dachte, ich drehe eine kleine Runde durch den Garten. Du weißt ja, wie sehr ich diese Geselligkeiten liebe.“

„Sarkasmus ist wenig dazu angetan, dich meiner neuen Freundin vorzustellen.“ Meg schnalzte leise tadelnd mit der Zunge.

Er bedachte die vermeintliche Freundin mit einem flüchtigen Blick und einem knappen „Wir sind uns schon begegnet.“

„Aber ihr seid einander nicht vorgestellt worden, wie Ellie mir erzählt hat.“

„Ach ja?“ Er richtete den Blick auf diese cognacbraunen Augen und spürte, wie es in ihm rumorte. „Und was hat Ellie sonst noch erzählt?“

Meg kam zu ihm und grinste. „Das werde ich dir ganz sicher nicht verraten. Aber mir kam es so vor, als hättest du nicht den besten Eindruck hinterlassen.“

Die Augen ihrer Begleiterin wurden groß und rund wie Untertassen, ihre Wangen erbleichten. „Meg, ich …“

„Sei unbesorgt, Brandon dürfte froh sein, das zu hören. Nicht wahr, Bruderherz? Der Arme kann sich kaum in Gesellschaft bewegen, ohne von der Meute gejagt zu werden. Bei dir bekommt er mal eine Verschnaufpause. Und deshalb dachte ich mir, wir könnten doch alle Freunde sein.“ Sie griff nach der Hand ihrer neuen Bekanntschaft und zog sie zu sich heran. „Brandon, ich möchte dir Miss Elodie Parrish vorstellen. Und das, Ellie, ist mein gluckenhafter, doch sonst ganz verträglicher großer, fast schon greiser Bruder Brandon Stredwick, Marquess of Hullworth.“

Die Intrigantin deutete einen Knicks an, die Wangen auf einmal hochrot vor Scham und Verlegenheit. „Mylord.“

„Miss Parrish.“ Er verbeugte sich knapp und bot dann Meg seinen Arm an. „Wir möchten Sie nicht länger aufhalten....

Autor

Vivienne Lorret

Bestsellerautorin Vivienne Lorret liebt Liebesromane, ihren pinkfarbenen Laptop, ihren Ehemann und ihre beiden Teenagersöhne (nicht zwingend in genau dieser Reihenfolge …). Sie beherrscht die Kunst, unzählige Tassen Tee in Wörter zu verwandeln, und hat sich mittlerweile mit zahlreichen wunderbaren Regency-Romances in die Herzen ihrer Leserinnen und Leser geschrieben.

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