Historical Saison Band 67

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Zwei Romane von VIRGINIA HEATH

MEIN FEURIGER GENTLEMAN
Aufopferungsvoll pflegt die schüchterne Lady Bella Beaumont die Kranken im Dorf. Dafür muss sie eng mit Dr. Joe Warriner zusammenarbeiten, dem brillanten Landarzt mit den strahlendblauen Augen. Schon lange verzehrt Bella sich nach ihm - heimlich! Doch nur wenn sie sich Joe öffnet, kann er sie aus ihrer Einsamkeit erretten …

MEIN CHARMANTER CASANOVA
Um den notorischen Herzensbrecher Jacob Warriner sollte Felicity einen großen Bogen machen! Vor Männern wie ihm wurde in dem Kloster, in dem sie aufwuchs, immer streng gewarnt. Aber ausgerechnet dieser attraktive Abenteurer scheint entschlossen, der keuschen jungen Lehrerin viel mehr zu rauben als nur einen verruchten Kuss …


  • Erscheinungstag 24.09.2019
  • Bandnummer 67
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737412
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Virginia Heath

HISTORICAL SAISON BAND 67

1. KAPITEL

Juli 1818

Dr. Joseph Warriner setzte sich resigniert an seinen Schreibtisch. Obwohl er sich bemühte, sich heute anders zu verhalten als sonst, war es bisher vergebens. Seine Situation war jämmerlich. Was noch schlimmer war – er war jämmerlich. Er zog die verbeulte goldene Taschenuhr hervor, die stets in seiner zweckmäßigen dunklen Weste steckte, doch ohne hinzuschauen wusste er, dass es kurz vor acht Uhr war. Es ärgerte ihn selbst, dass er seit einer halben Stunde alle zwei Minuten nach der Zeit sah. Seit fast einem Monat vollzog er dieses lächerliche Ritual. Er wurde von dieser Frau magisch angezogen.

Und warum? Ein kurzer Tanz vor exakt achtundzwanzig Tagen. Ein paar bedeutungslose Worte, während er mitten unter all ihren zahlreichen eifrigen Verehrern stand. Sie verteilte ihre Worte so freigiebig wie Brotkrumen an eine Schar Hühner.

Um sie heute zu sehen, musste er einen verstohlenen Blick durch die schweren Spitzengardinen an den Fenstern werfen.

Die ganze Situation war beschämend.

Ärgerlich klappte er die Taschenuhr zu, stellte seinen Stuhl ans Fenster und wartete. So wie jeden Dienstag und Freitag in den vergangenen Wochen, denn regelmäßig um acht Uhr fuhr sie in ihrer glänzenden schwarzen Kutsche auf den Marktplatz von Retford, um hier Einkäufe zu tätigen. Es störte ihn beinahe, dass sie immer pünktlich war. Wenn sie einmal später käme, wäre er gezwungen, um acht Uhr seinen ersten Patienten zu behandeln, den er an Markttagen immer um fünf nach acht Uhr empfing statt zur vollen Stunde. Ein weiteres Zeichen seiner Torheit. Wäre es nicht viel besser, seine Zeit mit etwas Nützlicherem zu verbringen? Er hatte heute noch Berge von Arbeit zu erledigen. Doch nein, diese Kutsche anzuschauen, gehörte zu seinen Angewohnheiten, genau wie die irritierende Insassin. Und wie immer hielt sie unter seinem Fenster. Wie um ihn zu quälen.

Vorsichtig zog er die Gardine ein wenig zur Seite und beobachtete den Diener beim Öffnen der Kutschentür. Ein Fuß tauchte auf. Er steckte in einem erstaunlich zweckmäßigen Schuh, aber er konnte ihren faszinierend wohlgeformten Knöchel sehen. Ihm stockte der Atem.

Noch nie zuvor hatte er ihre Fesseln zu Gesicht bekommen und war überrascht, wie sehr ihn das beeindruckte. Wie viele hatte er in seinem Beruf wohl schon gesehen? Hunderte? Wohl eher Tausende. Dennoch schlug sein Herz schneller, als er ihr schlankes Fußgelenk sah.

Nun erschien ihr Kopf in der offenen Tür. Sie trug eine Haube, unter der ihr goldblondes Haar auf kleidsame und modische Weise frisiert war, wie er wusste. Ein paar der seidigen Strähnen in der Farbe reifen, sonnengeküssten Weizens umrahmten ihr entzückendes Gesicht in kleinen spiralförmigen Locken. Wie gern hätte er sie sich um die Finger gewickelt …

Das würde er wohl nie tun können. Doch sollte es jemals dazu kommen, wollte er jede einzelne Nadel aus ihren Haaren entfernen, damit ihr die üppige Lockenpracht über Schultern und den Rücken wallte. Und jetzt hatte er ihre schlanken Fesseln gesehen. Mit geschlossenen Augen erfreute er sich innerlich an dem Anblick.

Lady Clarissa Beaumont.

Langsam ließ Joe den Atem ausströmen, öffnete wieder die Augen und beobachtete, wie sie ihre Röcke zusammenraffte. Ganz kurz drehte sie sich um, sodass er ihre Wangen mit der hellen Pfirsichhaut sehen konnte. Doch zu seiner Enttäuschung blieben ihre großen mandelförmigen Augen im Schatten. Er wusste, sie hatten eine so herrliche blaue Farbe, dass die Südsee daneben verblassen würde. Als sie den Diener kurz anlächelte, konnte er einen Blick auf ihre vollen rosigen Lippen erhaschen, und er wurde ein wenig eifersüchtig auf den Mann.

Das war äußerst lächerlich, denn die bezaubernde Clarissa – die gefeierte Schönheit der Hautevolee – wusste wahrscheinlich gar nicht, dass er überhaupt existierte. Zum Glück wusste sie auch nicht, dass der Mann hinter der Gardine seines Praxisfensters unheilbar an unerwiderter Liebe erkrankt war. Heute Morgen war es aus irgendeinem Grund sogar noch schlimmer als sonst. Wahrscheinlich lag es an ihren Knöcheln. Ein paar Zentimeter ihres Beines, und er brannte vor Verlangen. Das war ein neues Gefühl. Bis heute war seine Liebe noch rein gewesen wie die eines Minnesängers, und unbefleckt von Fleischeslust. Doch bis heute hatte er ja auch noch nie ihre herrlichen Fußknöchel sehen können, darum war seine plötzliche körperliche Reaktion verständlich. Überhaupt – was war Liebe ohne Leidenschaft?

Sie drehte sich nun ganz um, und sein Herz begann zu fliegen. Um dann wieder jäh abzustürzen. Es war die falsche Schwester. Nicht die bezaubernd schöne, charmante, blonde Lady Clarissa Beaumont, sondern Lady Isabella Beaumont. Auch hübsch, ja, und sie hatte verdammt schöne Beine, aber ansonsten war sie eher ernsthaft und ungesellig. Außerdem war sie brünett, und ihre Schnittlauchlocken unterstrichen noch ihre verdrießliche Art. Sie nahm den Korb von dem Diener entgegen und blickte mit sichtlicher Abneigung über den Marktplatz. Dann ging sie zielstrebig los, was nicht erstaunlich war, weil Lady Isabella nichts ohne Grund tat. Bei gesellschaftlichen Veranstaltungen las sie lieber ein Buch, während alle anderen Mädchen tanzten und sich amüsierten.

Sie begleitete die schöne Clarissa stets bei den Einkäufen, aber bisher hatte Joe mit der Furcht einflößenden Lady Isabella noch nicht viel zu tun gehabt. Nur einmal, beim monatlichen Tanzabend in der Stadthalle, hatte sie neben ihrer schönen Schwester gestanden. Den ganzen Abend über schaute sie äußerst ablehnend drein, so als wäre die provinzielle Gesellschaft im nasskalten Nottinghamshire unter ihrer Würde. Doch sie war neben ihrer strahlenden Schwester verblasst, und Joe beachtete sie kaum.

Das war nicht ganz richtig. Er hatte sie kurz gemustert, sich aber dann gefragt, warum er seine Zeit damit vergeuden sollte, ins Dunkel zu schauen, wenn er ins helle Licht sehen konnte? Obwohl er ihre dunklen und ernsthaft dreinblickenden Augen irgendwie anziehend fand. Er runzelte die Stirn, denn das verwirrte und störte ihn. Doch es hatte ihn auch neugierig gemacht, Gott allein wusste, warum. Es war beinahe so verstörend gewesen wie die Sehnsucht nach ihrer unerreichbaren Schwester.

In der letzten Woche hatte er Lady Isabella jedoch schon zweimal in dem Heim für Findelkinder gesehen, das von seiner Schwägerin Letty gegründet worden war. Es blieb ihm keine andere Wahl, denn sie arbeitete ehrenamtlich auf der Krankenstation. Mit Argusaugen beobachtete sie ihn, wenn er kam, um die jungen Patienten zu behandeln. Sie sah ihn so misstrauisch und sauertöpfisch an, dass sie ihm das Gefühl vermittelte, kein besonders guter Arzt zu sein. Es verunsicherte ihn. Doch sie sagte nie etwas. Nicht ein einziges Wort. Sie stand nur stumm an der Tür, wenn er arbeitete, und verschwand, sobald er sich umdrehte. Es war sehr seltsam. Merkwürdig. Wie die ganze Lady Isabella.

Isabella erschien essigsauer neben ihrer honigsüßen Schwester. Immer war sie auf Abstand bedacht. Ohne jeden Funken Humor, soweit er das feststellen konnte. Sauertöpfisch. Unhöflich. Vielleicht sogar auch ein wenig einschüchternd. Joe verzog die Lippen.

Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, dass die andere Lady Beaumont ausstieg. Diejenige, nach der sein Herz sich verzehrte. Doch, ach, der Diener schloss den Wagenschlag und nahm seinen Platz am hinteren Ende der Kutsche ein. Joe musste sich der Enttäuschung stellen, dass er heute das Objekt seiner unerwiderten Liebe nicht mehr sehen würde. Es war ein harter Schlag, nachdem er sich so darauf gefreut hatte. Doch Lady Clarissa würde ihn sowieso nie in Betracht ziehen.

Abgesehen von seinen unerfreulichen Vorfahren und dem schlechten Ruf aller Warriners, der wie ein schlechter Geruch in Retford haften geblieben war, war er lediglich der zweite Bruder eines Earls, ohne Aussicht auf den Titel. Er hatte noch einen älteren Bruder und zwei gesunde Neffen, die vor ihm kamen. Eigentlich legte er auch gar keinen Wert auf irgendwelche Titel außer dem Doktor, aber Frauen wie Lady Clarissa wurden dazu erzogen, solche Dinge wichtig zu nehmen. Sie war die Tochter des Earl of Braxton und würde zweifellos eines Tages jemanden heiraten, der auch einen noblen Titel hatte. Dann würde sie in einem herrschaftlichen Anwesen residieren, inmitten der ausgedehnten Ländereien ihres reichen Gatten. Solch eine Lady heiratete keinen Drittgeborenen, geschweige denn einen Arzt. Sein Beruf befriedigte ihn, aber für viele war er vermutlich abstoßend. Manchmal kam er nach Hause, und seine Kleider waren befleckt mit unaussprechlichen Dingen, die man vor den zarten Ohren einer schönen, vornehm erzogenen Dame nicht einmal erwähnen durfte.

Nur wenn er Glück hatte, konnte er eine ganze Nacht ungestört durchschlafen. Meistens jedoch wurde er von wildem Klopfen geweckt und zum Bett eines Patienten geholt. Auch von gesellschaftlichen Veranstaltungen und Essenseinladungen rief man ihn fort. Nicht einmal zu Weihnachten konnte er sicher sein, dass man ihn in Frieden feiern ließ. Doch diese Dinge störten ihn nicht weiter. Sein Beruf war seine Berufung, und er hätte es nicht anders haben wollen. Allerdings wäre es von einer anderen Person zu viel verlangt gewesen, das zu akzeptieren. Besonders wenn diese Person so schön und vornehm war, dass sie unter einer Schar von Verehrern wählen konnte, die alle einen besseren familiären Hintergrund hatten als er.

Mrs. Patterson, seine Respekt einflößend Haushälterin und Helferin, klopfte an die Tür zum Behandlungsraum und holte Joe ruckartig zurück in die Gegenwart.

„Dr. Warriner, Mr. Simmons ist zu seinem Termin erschienen.“

„Schicken Sie ihn herein, Mrs. Patterson.“ Joe setzte sich ordentlich hinter den Schreibtisch und rückte die Drahtgestellbrille zurecht, die er zum Lesen brauchte. Die Zeit für nutzlose Träumereien war vorüber.

Bella starrte auf den bereits ziemlich belebten Marktplatz und ihr wurde leicht übel. Normalerweise ging sie immer mit Clarissa über den Platz, dann war es nicht so unheimlich für sie. Doch heute hatte ihre Schwester behauptet, krank zu sein, um nicht ihre Hand halten zu müssen. Bella hätte zu Hause bleiben können, aber dort langweilte sie sich bei ihrer Stickerei. Wenn sie den Tag mit sinnvollen Tätigkeiten verbrachte, lenkte es sie von ihrer Angst ab und sie konnte das Haus verlassen. Wenn sie eine Aufgabe hatte, ging es ihr besser, darum musste sie tapfer sein.

Bis zum Waisenhaus war es nur eine kurze Strecke.

Es war heller Tag.

Niemand wollte ihr etwas Böses antun.

Sie konnte und sie würde es tun! In nicht einmal fünf Minuten konnte sie in der Sicherheit der Krankenstube sein. Seit Kurzem wusste sie, dass dies der Platz war, wo es ihr am besten auf der ganzen Welt gefiel.

Es kam nicht oft vor, dass sie sich so geborgen fühlte, dass sie wieder fast sie selbst sein konnte. Seit dem Vorfall, wie ihre Familie es hinter vorgehaltener Hand nannte, hatte ihr wahres Ich sich tief in ihr Inneres verkrochen, und es hatte große Angst, sich zu zeigen. Der Grund für all das war ihre eigene Vertrauensseligkeit. Es war nicht verwunderlich, dass Bella keinem Mann vertraute und sich nicht wohlfühlte in einer Menschenmenge. Und nie allein nach draußen ging, wo Gefahren lauerten. Vielleicht war es vermessen gewesen und übereilt, ohne Begleitung hierherzukommen. Sie sollte besser umkehren und wieder in die Kutsche steigen …

Du bist erbärmlich! schrie ihr wahres Ich. Zwanzig Jahre lang ist dir nie etwas zugestoßen. Du kannst nicht von einem einzigen Ereignis dein ganzes Leben bestimmen lassen.

Die Stimme ihres wahren Ichs war in den vergangenen Monaten immer lauter geworden. Das machte ihr Mut, die Hoffnung auf ein sinnerfülltes Leben nicht aufzugeben. Aus dem Versteck in ihrem Inneren kamen markige Sprüche, dort ging sie Probleme vernünftig und logisch an, manchmal argumentierte sie auch ironisch gegen ihre eigene Dummheit. In ihren Gedanken gab sie kluge und bisweilen witzige Kommentare über ihre Umgebung ab, aber noch war sie nicht stark genug, um sie laut auszusprechen. Doch alles war in ihr. Irgendwo. Und es drängte sie nach vorn.

Die Waisenkinder brauchen dich. Und denke an die wunderbaren Dinge, die du dort lernst.

Bella machte ein entschlossenes Gesicht und schaute über den Platz voller Menschen. Die kranken Kinder brauchten sie. In der Krankenstube lernte sie so viel über Medizin, dass die Stunden immer sehr schnell verflogen. Zum ersten Mal im Leben tat sie das, was sie schon immer hatte tun wollen. In London sah man so etwas nicht gern, doch das verschlafene Retford war nicht London, und es war unwahrscheinlich, dass je ein Bekannter ihrer Eltern aus der feinen Gesellschaft davon erfahren würde. Mama und Papa waren begeistert gewesen, dass Bella überhaupt wieder Interesse an etwas zeigte, und hatten es ihr erlaubt.

Jungen Ladys aus gutem Hause war es nicht gestattet, sich für das Studium der Anatomie und Heilkunst zu interessieren. Doch die Zeit mit den Kindern zu verbringen und etwas über ihre Krankheiten und deren Behandlung zu erfahren war erfüllender als alles, was Bella je getan hatte. Allmählich beschlich sie der Verdacht, dass es ihre eigentliche Berufung war und dass sie schon immer Ärztin oder Krankenschwester hätte sein sollen. Endlich konnte sie umsetzen, was sie in den wissenschaftlichen Journalen gelesen hatte. Es gab ihrem Tag so viel Sinn, dass sie über Stunden fast vergaß, sich ihren Ängsten zu überlassen. Das war doch ein großer Fortschritt, oder nicht? Sie zählte die Minuten, bis sie wieder dort sein, die Ärmel hochkrempeln und den armen kleinen Engeln helfen konnte, gesund zu werden.

Jetzt musste sie es nur noch schaffen, allein diesen Marktplatz zu überqueren. Bella wollte nicht mehr ständig Angst haben, da hatte ihr wahres Ich recht. Leben in Furcht schmeckte nach Unterwerfung, und sie war entschlossen, niemals den bösen Mann gewinnen zu lassen.

Sie zwang sich dazu, höflich einen der Markthändler anzulächeln, der sie grüßte. Es gelang ihr, die irrationale Angst zu überwinden, die sie immer erfasste, wenn sie einem Mann nahekam. Wenn sie ein klein wenig besser achtgegeben und weniger Angst gehabt hätte, wäre ihr der wacklig aufgestellte Korb mit den Kartoffeln sicher aufgefallen. Aber da sie sich schutzlos fühlte, verlor sie ihre Umgebung völlig aus den Augen und bemerkte nicht rechtzeitig, dass der volle Korb umkippte und seinen Inhalt vor ihr ergoss. Zu spät drehte sich Bella um, sodass einige der Kartoffeln unter ihre langen Röcke rollten und sich dort verfingen.

Als sie auf eine davon trat, rutschte sie aus und fiel nach vorn. Ihr schwerer Korb kippte ebenfalls und fiel mit ihr. Bella landete vornüber mit so viel Schwung auf dem Boden, dass sie für einen Moment keine Luft mehr bekam. Ein scharfer Schmerz im Knöchel trieb ihr Tränen in die Augen. Ihre abgeschürften Handflächen brannten. Ihr Kleid war durchnässt von der Pfütze auf dem Boden. Sie fühlte sich beschämt bis auf den Grund ihrer Seele. Wenn Bella etwas hasste, dann war es, im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen.

Mehrere Händler und Kunden eilten ihr zu Hilfe, doch sie versicherte ihnen, es sei alles in Ordnung, und versuchte aufzustehen. Ein glühender Schmerz schoss ihr durchs Bein und zwang sie liegen zu bleiben. Zu allem Überfluss verließ ihre Kutsche gerade den Marktplatz. Nun gab es für sie keine Möglichkeit mehr, dieser schrecklichen Situation zu entkommen. Bella lächelte schwach die wachsende Schar von Zuschauern an. Sie musste die letzten Reste ihrer Würde zusammennehmen und auch noch gegen ihre Angst ankämpfen, dass sie diesen Menschen ausgeliefert war. Die meisten davon waren Männer.

„Mylady, es tut mir ja so leid.“ Der Standinhaber knetete unwohl seine Kappe in den Händen. „Sind Sie ernsthaft verletzt? Soll ich Dr. Warriner holen? Seine Praxis ist gleich dort drüben.“

Bella hatte Angst vor noch größerer Demütigung, wenn der hervorragende Dr. Warriner käme. Sie schüttelte den Kopf. Der hübsche Doktor war der Letzte, der das Ergebnis ihrer dummen Ungeschicklichkeit sehen sollte. Der Mann, wegen dem ihr törichtes Herz jedes Mal zu flattern begann, wenn er das Wort an sie richtete, obwohl er ein Mann war. Doch sie hatte es bisher noch nie geschafft, ihm zu antworten. Das lag wahrscheinlich an seiner hervorragenden Arbeit und nicht an seinem guten Aussehen, aber sie war nicht ganz sicher. „Das wird nicht nötig sein – ich kann bestimmt gleich wieder aufstehen.“ Sie würde nach Hause kriechen, wenn es sein musste.

Doch bald waren zwei Dinge klar. Erstens – es war unmöglich aufzustehen. Bella versuchte es dreimal, aber der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Zweitens – trotz ihrer Proteste hatte doch jemand den Doktor geholt. Die neugierigen Zuschauer machten Platz, als er plötzlich energisch auf sie zu schritt.

„Es ist nur mein Knöchel … Ich möchte Ihre Zeit nicht wegen einer solchen Lappalie in Anspruch nehmen.“ Der arme Mann musste echte Kranke heilen und hatte bestimmt Wichtigeres zu tun, als einem ungeschickten Mädchen mit einer geringfügigen Verletzung zu helfen. Bella versuchte noch einmal, sich mit den Händen hochzustemmen, aber es misslang kläglich. „Ich packe Eis darauf und lege es hoch, wenn ich heimkomme“, sagte sie und wandte den Kopf zur Seite. Hoffentlich verschwand er bald wieder.

„Bitte versuchen Sie nicht aufzustehen, Mylady.“ Er kniete sich neben sie. „Ich muss erst einmal einen Blick darauf werfen, um festzustellen, wie schwer die Verletzung ist.“ Er schob ihr einen Arm unter die Beine, und sie zuckte zusammen.

Er berührte sie!

Sie erstarrte und versuchte sich ihm zu entziehen, doch er ließ sich nicht abschrecken. „Legen Sie die Arme um meine Schultern. Ich verspreche, dass ich Sie nicht fallen lasse.“

Große Güte! Er beabsichtigte sie zu tragen. Das würde noch mehr Aufsehen erregen. „Ich schaffe es bestimmt, selbst zu Ihrer Praxis zu gehen, Dr. Warriner.“ Allerdings hatte sie nicht vor, tatsächlich zu der Praxis zu humpeln, sondern wollte sich zur Straße und dann zurück nach Hause schleppen. Zum Teufel mit der Logik. Sie hätte nicht auf ihre innere Stimme hören und allein ausgehen sollen. Doch als ihre Schwester einen kleinen Schnupfen vorschützte und im Bett blieb, hätte es sich wie eine Niederlage angefühlt, wenn sie zu Hause geblieben wäre. Clarissa machte kein Geheimnis daraus, dass sie es satthatte, auf ihre Schwester aufzupassen. Sie fand, es sei jetzt schon über ein Jahr her, und auch nicht ihre – Clarissas – Schuld, dass Bella den Vorfall hatte. Bella solle endlich darüber hinwegkommen.

Der Doktor schaute sie von oben herab an. „Sie wollen also humpeln? Damit alles noch schwieriger für mich wird? Nein, Mylady, ich werde Sie tragen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

Aber sie hatte etwas dagegen. Er war ein Mann, und sie war jetzt ein interessantes Objekt für die Zuschauer. Sie würde gleich in Tränen ausbrechen und dann würde jedem klar sein, dass sie nicht richtig im Kopf war.

2. KAPITEL

Du benimmst dich lächerlich! Bella kniff die Augen zusammen, fasste ihn um die Schultern und wünschte sich, sie wäre leichter. Vielleicht ging es dann schneller vorbei. Er hob sie hoch und marschierte mit ihr über den Platz. Nach einer halben Minute hielt er sie ein wenig fester und atmete angestrengt. Es hatte also nicht geholfen, sich zu wünschen, leichter zu sein, darum wünschte sie sich nun Unsichtbarkeit. Glücklicherweise schaffte er die Strecke bis zu seiner Praxis recht schnell. Als er mit ihr in der Praxis war, setzte er sie vorsichtig auf dem Untersuchungstisch ab.

„Ich brauche ein paar Dinge. Es dauert nur einen Moment.“

Er kehrte mit seiner Arzthelferin zurück, wahrscheinlich aus Gründen des Anstands. Bella war sehr dankbar dafür und begann sich ein wenig zu entspannen.

„Wo tut es weh?“

Sie berührte ihr linkes Bein. „Mein Knöchel. Ich wurde von einer Kartoffel sabotiert.“ Sie lächelte ein wenig und hoffte, dass man ihr die Angst nicht ansehen konnte. Denke logisch! Er macht doch nur seine Arbeit. Er hat nicht die Absicht, dir etwas anzutun. Wenn sie sich das immer wieder sagte, würde ihr Herz langsamer schlagen, und die engen Bande der Angst um ihre Rippen würden sich lockern.

Bella presste die Lippen zusammen, als er ganz sachlich ihr beschmutztes Kleid bis zu den Knien hochschob.

Er will dir nichts tun. Er macht nur seine Arbeit.

Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Atmung mühsam. Dr. Warriner schien zu spüren, dass sie sich immer mehr verkrampfte. Er führte es wahrscheinlich auf die Schmerzen zurück, weil er nicht wusste, dass es die Erinnerung an einen anderen Mann war, der ihre Röcke nach oben schob … mit einer schmutzigen Hand ihr den Mund zuhielt und mit der anderen an den Knöpfen seiner Hose hantierte.

Sie wimmerte bei dieser unwillkommenen Erinnerung.

„Atmen Sie langsam und tief. Das wird Ihnen helfen.“

Sie folgte seiner Anweisung, aber ihr Blick blieb auf seine Hände gerichtet.

Er will dir nicht wehtun.

Seine vorsichtige Berührung fühlte sich nicht an wie eine Vergewaltigung.

Er macht nur seine Arbeit.

Er war Arzt. Ein Mann der Wissenschaft. Seine Augen waren blauer, als Bella es je gesehen hatte. Sogar blauer als Clarissas. Es waren freundliche Augen.

Geduldige.

Ihre innere Stimme beruhigte sie und sagte ihr, dass sie ihm vertrauen könne. Sie wollte es glauben.

Langsam und erstaunlich zart entfernte er ihren linken Knöpfstiefel und untersuchte den geschwollenen Fuß. Er zog ein wenig die dunklen Brauen zusammen. Seine Nase war gut geformt und weder zu klein noch zu groß. Sein Kinn sah energisch aus und zeigte bereits den Schatten eines dunklen Bartes, obwohl er sich bestimmt heute Morgen rasiert hatte. Sein schwarzes Haar fiel ihm auf jungenhafte Weise in die Stirn und lockte sich über dem schneeweißen Kragen. Die Frisur sah sehr natürlich aus und zeigte, dass der Doktor nichts für Pomade oder unnötigen Firlefanz übrighatte wie die Dandys in London. Das gefiel ihr.

Aber so etwas brauchte er auch nicht, denn er sah auch so unglaublich gut aus. Bella hatte das schon gedacht, als sie ihn auf der Tanzveranstaltung zum ersten Mal sah. Zu ihrem eigenen Erstaunen, denn seit mehr als einem Jahr hatte sie solche Gedanken nicht mehr gehabt. Seitdem hatte sie ihn nie anders als in Schwarz oder Dunkelblau gesehen. Er war immer gut gekleidet und machte den Eindruck eines Mannes, der sich in seiner eigenen Haut wohlfühlt und viel zu viel zu tun hat, um seiner Kleidung große Beachtung zu schenken.

Er hatte schöne und geschickte Hände, wenn man so etwas über Hände sagen konnte, mit gut gepflegten Fingernägeln. Ganz anders als die jenes Schurken. Es waren die Hände eines Heilers. So wie ihre.

Allmählich verflog ihre Angst, und sie begann seine Technik zu beobachten. Er war gut ausgebildet in der medizinischen Kunst, während all ihr Wissen nur aus Büchern stammte. Bücher waren kein Ersatz für praktische Erfahrung.

„Mrs. Patterson, wären Sie wohl so gut …“ Er machte ein seltsames Gesicht, als er seiner Arzthelferin ein Zeichen gab, den Strumpf von Bellas linkem Bein zu entfernen. Ihr fiel auf, dass sie ihn angestarrt hatte. Sie legte sich auf der Liege zurück, und nun fühlte sie sich entsetzlich entblößt. Starr schaute sie an die Decke, während er mit seinen großen Händen sorgfältig ihren Fuß, den Unterschenkel und den Knöchel abtastete.

Er macht nur seine Arbeit. Sei nicht so ein jämmerlicher Feigling. Es irritiert ihn. Du bist lästig. Sei logisch.

Als sie einsah, dass es unausweichlich war, erschien es ihr gar nicht mehr so unangenehm. Er hatte schöne warme Hände, und bei seiner Berührung begann ihre Haut zu prickeln, und ihr Puls spielte verrückt. Seltsam – es hatte nichts mit Angst zu tun. Diese Gefühle kannte Bella nur allzu gut, aber dies war anders. Wie merkwürdig.

Plötzlich nahm er die Hände von ihr, aber für ihr wahres Ich hätten sie gern länger dort verweilen können. „Die gute Nachricht ist, dass nichts gebrochen ist.“ Bella sah zu, wie er mit seinen geschickten Händen ihre Röcke ordnete. Er hatte offensichtlich regelmäßig und häufig die Beine einer großen Anzahl von Ladys berührt, denn er schien absolut nicht beeindruckt zu sein von ihren. „Jedoch ist der Knöchel geprellt und stark verstaucht, und Sie dürfen den Fuß ein paar Tage lang nicht belasten.“ Er setzte ein unverbindliches Arztlächeln auf und wandte sich an seine Helferin.

„Mrs. Patterson, könnten Sie wohl bitte etwas Eis und ein paar Tücher holen?“

Dann wären sie allein! Sie hörte nicht mehr, was er außerdem noch sagte, weil es in ihrem Kopf zu hämmern begann. Die ältere Frau verließ den Raum, und Bella richtete sich auf. Nur für den Fall, dass sie gezwungen wäre, schnell wegzulaufen. Doch sie zuckte zusammen, als sie sich auf die Handflächen stützte.

„Lassen Sie mich mal sehen.“ Er sagte es in beruhigendem Ton, ganz sachlich und fachgemäß, und nahm ihre beiden Hände in seine. Sie erstarrte zwar, aber gleichzeitig schnellte ihr Pulsschlag abermals in die Höhe. Er drehte ihre Handinnenflächen nach oben, um die schmutzigen Abschürfungen anzusehen, die sie sich bei ihrem Sturz zugezogen hatte. Merkwürdig – plötzlich hatte sie nicht mehr den Wunsch fortzulaufen, obwohl sie ihm ganz nah war. War das ein Zeichen von Fortschritt?

„Das muss gereinigt werden.“ Ohne sichtbare Gefühlsregung ließ er ihre Hände los und ging zu dem Waschtisch hinten im Raum. Er goss Wasser in eine Schüssel, fügte eine klare Flüssigkeit aus einer Flasche hinzu, warf sich ein Handtuch über die Schulter und trug das Becken zu ihr. „Tauchen Sie die Hände ein.“ Sie tauchte die Hände ein, zog sie aber sofort wieder heraus, weil es stark brannte.

„Was ist denn das? Säure?“ Misstrauisch beäugte sie das Wasser.

„Gin. Ich habe festgestellt, dass sich Wunden nicht so oft entzünden, wenn man sie regelmäßig mit Alkohol reinigt. Gin ist billig. Ich möchte keinen guten Brandy vergeuden.“

Er versuchte sie zu beruhigen, so wie sie die Kinder in der Krankenstube. Er hatte so eine schöne Stimme. Tief und freundlich. Doch sie sah ihn nur blinzelnd an, ohne zu lächeln. Nach kurzer Zeit hörte er auf zu lächeln. Er mochte sie wahrscheinlich nicht. Sie konnte es ihm nicht verdenken, sie mochte sich ja selbst nicht.

Und sie begann sich ein wenig zu schämen. Er war die ganze Zeit so nett zu ihr gewesen, aber sie blinzelte ihn nur an. Früher hätte sie angemessen reagiert – freundlich oder auch witzig. Dieses Mädchen von früher vermisste sie und wünschte es sich jeden Tag wieder zurück. Doch die alte Bella war verschollen, vielleicht sogar tot, und die neue war nicht richtig im Kopf.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, sie wäre ihre Schwester. Clarissa hätte schlagfertig und charmant geantwortet, denn sie redete gern. Doch Bella blieb stumm. Selbst ihrem wahren Ich fiel nichts ein, und das Schweigen wurde drückend. Wieder einmal. Sie überlegte, ob sie sich nicht in dem flachen Wassergefäß ertränken sollte, um sie beide von ihrem Elend zu erlösen.

Als er zufrieden damit war, dass sie gründlich gesäubert waren, tupfte er ihre Hände trocken und trat zu einem Regal an der hinteren Wand des Zimmers. Dort holte er einen Tiegel mit Salbe und strich sie auf die schlimmsten Kratzer.

„Das riecht nach Honig.“ Sie zwang sich dazu, die Worte auszusprechen. Ein verzweifelter Versuch, sich normal zu unterhalten, und im Moment fiel ihr nichts anderes ein. Immerhin redete sie mit ihm. Einem Mann.

Er verschloss den Behälter und räumte ihn weg. „Die Salbe besteht ja auch größtenteils daraus. Wir verschwenden Honig auf Brot, obwohl schon die alten Ägypter wussten, dass er außergewöhnliche Heilkräfte besitzt. Wie Gin dient Honig zur Abwehr einer Entzündung. Aber auf Brot schmeckt er natürlich auch sehr gut.“

Er lächelte sie kurz an, und plötzlich hatte Bella wieder ein seltsames Ziehen im Bauch. Sie versuchte es nicht zu beachten, um ihm zu antworten. „Die Ägypter hatten auch schon Skalpelle aus Metall. Und Knochensägen.“ Diese Bemerkung brachte ihr einen Blick ein, bei dem sie sich wie die merkwürdigste aller Frauen fühlte. „Das habe ich gelesen.“

„Sie verbringen Ihre Zeit damit, über chirurgische Instrumente zu lesen?“

„Ich bin nicht nur ein hohlköpfiges Schmuckstück.“ Nun klang sie schnippisch und abweisend. Clarissa käme niemals auf die Idee, mit einem Gentleman über Knochensägen zu sprechen. Sie würde lächeln und ihm zu seinem überlegenen Wissen gratulieren. Aber Clarissa war mit großem Charme gesegnet, und diesen Teil von sich hatte Bella verloren. Ihre Lebensumstände waren nun einmal außergewöhnlich schwierig.

Mrs. Patterson kam mit dem Eis zurück und ersparte ihm eine Antwort. Er packte das zerkleinerte Eis in ein dünnes Leinentuch und legte es Bella auf den geschwollenen Knöchel. „Ihr Zweispänner kommt in fünf Minuten, Dr. Warriner.“

Er wollte sie nach Hause fahren!

Nur sie und er im Wagen. Die Straße zum Haus war lang und verlassen. Es gab Bäume und Büsche auf beiden Seiten. Wenn er sie dahinter zerrte, würde niemand es bemerken. Neue Angst krallte sich in ihrem Bauch fest.

„Nein! Senden Sie eine Nachricht, dass ich mit dem Wagen meines Vaters abgeholt werden möchte.“

Er straffte die Schultern, runzelte die Stirn und spießte sie mit dem Blick seiner tiefblauen Augen förmlich auf. „Wie Sie wünschen. Mrs. Patterson bringt sie ins Wartezimmer, Mylady. Ich muss mich um meine anderen Patienten kümmern.“

Große Güte, wie unhöflich sie gewesen war! Noch Stunden später ärgerte er sich über ihr seltsames Verhalten, während er auf ihre Haustür zuging. Nicht einmal bedankt hatte sie sich. Sie hatte ihn nur so mürrisch angesehen, als wäre er abstoßend. Jedes Mal, wenn er sie berührte, verzog sie angewidert das Gesicht und redete mit ihm, als wäre er ein unwilliger Dienstbote. Er wusste, dass manche Menschen schlechter mit Schmerzen umgehen konnten als andere, aber er hatte noch nie jemanden erlebt, der sich wegen einer Verstauchung so aufgeführt hätte wie sie. Vielleicht lag es ja gar nicht an der Verletzung. Vielleicht war sie ja immer so? Das wäre sehr schade, denn sie war wirklich schön. Wenn sie bessere Manieren gehabt hätte und gelegentlich lächeln würde, wäre sie ebenso bezaubernd gewesen wie ihre Schwester. Vielleicht sogar noch schöner. Ihre dunklen Mandelaugen mit den schwarzen Wimpern waren wirklich entzückend. Wenn sie sie nicht gerade misstrauisch zusammenkniff.

War sie so feindselig wegen seiner Familie? Trotz aller Bemühungen waren die vier Warriner-Brüder wegen der Taten ihres Vaters und Großvaters immer noch äußerst schlecht angesehen bei den Einheimischen. Niemand hatte Vertrauen zu einem Warriner. Es machte für sie keinen Unterschied, dass sein ältester Bruder Jack und dessen Frau Letty sehr wohltätig waren. Und es war auch offenbar nicht von Bedeutung, dass sein Bruder Jamie und dessen Frau Cassie viele Touristen nach Retford zogen, die mit eigenen Augen die Orte sehen wollten, an denen die erfolgreichen Orange Blossom-Bücher spielten. Nur wenige Anwohner waren bereit anzuerkennen, dass sie jetzt eine anständige Familie waren. Die meisten warteten nur darauf, dass sie wieder in die Gewohnheiten ihrer Vorfahren zurückfielen.

Wahrscheinlich war Lady Isabella von dem böswilligen Geschwätz beeinflusst worden, und das nahm er ihr übel. Seit weniger als einem Monat lebte sie in Retford und urteilte bereits über ihn! Wenn er so ruchlos gewesen wäre wie seine Vorfahren, warum hätte er sich dann die Zeit genommen – obwohl Arbeit zuhauf auf ihn wartete –, jetzt die undankbarste Patientin zu besuchen, die er je behandelt hatte?

Andererseits verschaffte Lady Isabellas Verletzung ihm den perfekten Anlass, Lady Clarissa in ihrem Haus aufzusuchen. Das hatte er schon lange tun wollen – seit er vor einem Monat mit ihr getanzt hatte. Aber es war wirklich sein ärztliches Pflichtgefühl, das ihn veranlasste, an die Tür des Earl of Braxton zu klopfen. Er bezweifelte zwar stark, dass die mürrische Isabella es ihm danken würde, aber dennoch fühlte er sich dazu verpflichtet, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Manchmal irritierte ihn seine eigene Fürsorglichkeit. Er wünschte oft, er wäre weniger weichherzig und hilfsbereit gegenüber denen, die ihn mit Verachtung behandelten, doch Joe konnte nicht aus seiner Haut. Er würde heute keinen Schlaf finden, wenn er sich nicht vergewisserte, dass es ihr besser ging. Es war eine schwere Verstauchung, und daraus konnten sich manchmal Blutgerinnsel entwickeln. Das kam zwar nur sehr selten vor, aber er wollte sichergehen. Eine erneute Untersuchung der wunderschönen Beine war notwendig, egal, wie unangenehm die Patientin war.

Wenn er ehrlich war, fühlte Joe sich sogar ein wenig schuldbewusst, weil ihm ihre Knöchel so gut gefielen. Nachdem der Strumpf von ihrem Bein entfernt worden war, hatte er für einen kurzen Augenblick ihre seidige Haut mit den Augen eines Mannes betrachtet, statt so abgeklärt wie ein Arzt. Das tat er sonst eigentlich nie. Er nahm den hippokratischen Eid und seine Verantwortung viel zu ernst, um unpassende Gedanken zu hegen. Doch Lady Isabellas Art, ihn anzusehen wie einen marodierenden Wikinger, der gerade ein Dorf ausplündern wollte, hatte zeitweise sein Urteilsvermögen getrübt. Ihre Einstellung ärgerte ihn. Darüber hatte er fast ihre herrlichen Beine vergessen.

Rasch betätigte Joe wieder den Türklopfer. Sein Besuch war rein beruflicher Natur. Sollte er dabei zufällig auf die anbetungswürdige Lady Clarissa treffen, wäre es natürlich sehr angenehm. Ebenso der Anblick jener Beine, die leider zu der anderen, der ärgerlichen Beaumont gehörten.

Die Tür ging auf.

„Würden Sie bitte den Earl of Braxton darüber informieren, Dr. Warriner sei hier, um nach seiner Tochter zu sehen? Ich habe heute Morgen ihre Verletzungen behandelt.“

Der streng wirkende Butler sah verwirrt aus. „Der Arzt ist aber bereits bei ihr, Sir.“

Ja, natürlich. Zweifellos hatte die Familie sofort den alten Trottel Dr. Bentley gerufen, als sie hörten, dass ihre kostbare Tochter von einem Warriner behandelt worden war. Normalerweise versuchte Joe, die alten Vorurteile zu ignorieren, aber manchmal störte es ihn ja doch. Er wusste, dass er ein viel besserer Arzt war als der alte Quacksalber, den sie bevorzugten.

„Trotzdem würde ich sie gern sehen. Nur, um mich zu beruhigen. Ich werde die Familie nicht lange aufhalten und schneller wieder draußen sein als ein Frettchen aus dem Kaninchenbau.“

3. KAPITEL

Der indignierte Butler bat Joe, in der Eingangshalle zu warten. Kurz darauf wurde er in den Salon geführt, wo ihn die Countess of Braxton begrüßte. „Dr. Warriner! Ich kann Ihnen nicht genug dafür danken, dass Sie Bella geholfen haben.“ Sie schüttelte überschwänglich seine Hand. Er fand ihre Dankbarkeit etwas übertrieben. Sie war sogar den Tränen nahe.

„Nicht nötig“, sagte er und sah sich unauffällig nach Clarissa um. Das Ziel seiner Träume saß in der hintersten Ecke mit einer Stickarbeit in den Händen, aber sie blickte nicht einmal auf. Ihr gewöhnlich stets lächelndes Gesicht war mürrisch verzogen. Eine kritische Stimme in seinem Kopf stellte fest, sie sei unhöflich, aber das ignorierte er. Ein Engel wie Lady Clarissa konnte gar nicht unhöflich sein. Nicht so wie die andere. Er schaute zur anderen Seite, wo die jüngere Schwester auf dem Sofa saß. Ihr verletztes Bein war auf Kissen gelagert, und sie blickte ihn feindselig an. Neben ihr stand Dr. Bentley und packte gerade seine Ausrüstung ein, darunter die Schröpfbecher, die der alte Trottel als Heilmittel gegen alles einsetzte. Er schaute Joe flüchtig an und nickte kurz.

„Warriner.“

Immer nur Warriner. Niemals der Titel, den Joe sich redlich erarbeitet hatte. Für Bentley war er nur ein Emporkömmling und Scharlatan, der die Frechheit besessen hatte, eine neue Praxis in seinem Revier aufzumachen und Geld einzunehmen, das eigentlich ihm zustand. Was wusste denn dieser Warriner schon?

Joe beschäftigte sich seit seinem achten Lebensjahr mit Medizin. Er hatte an der Ärzteschule in Edinburgh studiert und als Jahrgangsbester seinen Abschluss gemacht. Dann hatte er sich trotz des schlechten Rufs der Familie Warriner eine mittlerweile recht angesehene Praxis aufgebaut, weil er verdammt gut war in dem, was er tat. Und seitdem hatte er Tag für Tag hart gearbeitet und seine Fertigkeiten ständig verbessert. Irgendwann würde Joe es sich erlauben, das zu sagen, was er dachte. Aber nicht heute. „Guten Tag, Dr. Bentley. Wie geht es unserer Patientin?“

„Sie ist jetzt meine Patientin, und darum werde ich über ihre Behandlung nicht mit Ihnen diskutieren.“ Dr. Bentley wandte sich an die Countess. „Auf Wiedersehen, Eure Ladyschaft. Wegen der anderen Sache erwarte ich Ihre weiteren Instruktionen und hoffe sehr, dass Lady Isabella bald Vernunft annimmt.“ Schon marschierte er hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen. Bentley war offensichtlich verstimmt. Vermutlich war Lady Isabella für ihn auch keine reine Freude gewesen.

Da er nun einmal deswegen gekommen war, trat Joe zum Sofa und lächelte. „Wie geht es dem Knöchel?“

„Schon besser.“ Sie schien kurz davor zu stehen, in Tränen auszubrechen, was ihn berührte. Aber er war wie immer zu weich, wollte stets anderen helfen. Mit diesem Fehler war er schon geboren worden. Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, setzte er sich auf die Sofakante und ergriff ihre Hand. Fast hätte er sie wieder fallen gelassen, weil ihm ein seltsames Kribbeln durch den Arm schoss. Er runzelte die Stirn. So etwas war ihm noch nie passiert.

„Verstauchungen sind oft sehr schmerzhaft, aber im Allgemeinen heilen sie schnell.“ Er blickte auf ihren hochgelegten Fuß mit der deutlichen Schwellung. „Sie brauchen Eis.“

„Dr. Bentley sagte, heißes Wasser sei besser gegen Verstauchungen.“ Lady Braxton schien sich entschuldigen zu wollen. „Er bestand darauf, die Eispackung zu entfernen.“

„Aha.“ Takt und Diplomatie waren ihm zur zweiten Natur geworden, vor allem wenn es um Dr. Bentleys Diagnosen ging. Sie waren eigentlich immer verschiedener Meinung. Dr. Bentley hing den alten Traditionen an, und Joe versuchte sie zu durchbrechen. „Sagen Sie mir, Lady Isabella, fühlte sich Ihr Knöchel mit oder ohne Eis besser an?“

„Mit“, antwortete sie, ohne zu zögern. „Das habe ich ihm auch gesagt.“ Es war klar, dass sie wenig für Dr. Bentley übrighatte, also steckte wohl doch ein heller Verstand hinter ihrem seltsamen Benehmen. Joe lächelte sie ermutigend an und sah, dass sie sich die Augen wischte.

„Sie lehnte es auch ab, sich schröpfen zu lassen.“ Lady Braxton schien angesichts des Starrsinns ihrer Tochter mit ihrer Weisheit am Ende zu sein. „Glauben Sie auch, dass sie geschröpft werden sollte, Dr. Warriner?“

„Ich sehe keine Veranlassung dafür.“ Die sah Joe eigentlich nie, denn er hatte nach dieser schmerzhaften Prozedur noch nie eine Besserung bei einem Patienten feststellen können. Wenn er seine Meinung jedoch offen aussprechen würde, hätte das viele Leute verunsichert, weil sie damit aufgewachsen waren, der ärztlichen Weisheit blindlings zu vertrauen. Leider hatten die meisten Ärzte immer noch mittelalterliche Ansichten. „Eis und Ruhigstellung sind die beste Behandlung bei Verstauchungen. Wenn die Schmerzen zu stark werden, hilft ein Tee aus Weidenrinde.“ Lady Isabella sah ihn durch ihre unglaublich langen schwarzen Wimpern an und lächelte ein wenig. Wieder durchströmte ihn das Kribbeln, und sein Kragen wurde plötzlich sehr eng. Vielleicht wurde er von Clarissa beobachtet? Joe hatte den Wunsch sich umzudrehen. „Darf ich es mir kurz einmal anschauen? Nur, um mich zu vergewissern, dass es nicht mehr ist als eine gewöhnliche Verstauchung.“

Sichtlich misstrauisch nickte Lady Isabella. Ihr Lächeln war verschwunden, und sie kaute an ihrer Unterlippe. Er untersuchte kurz ihren Knöchel und setzte sich gleich wieder zurück. „Die Schwellung ist deutlich zurückgegangen. Bis Freitag sollten Sie eigentlich wieder gesund sein, falls Sie mit Ihrer Schwester am Samstag zu dem Tanzabend gehen möchten. Werden Sie alle kommen?“

Wie unsensibel sich das selbst in seinen eigenen Ohren anhörte! Joe warf einen Blick auf die Schwester der Patientin, die immer noch mit einer Nadel auf ihre Stickerei einstach und ihn bisher nicht zur Kenntnis genommen hatte. Vergeblich versuchte er sie nur durch reine Willenskraft zu bewegen ihn anzusehen. Er ignorierte die empörte Stimme in seinem Kopf. Engel waren nicht unhöflich. Vielleicht hatte sie ihn nur noch nicht bemerkt. Eine schwache Ausrede, aber es war immerhin Clarissa.

„Ja, natürlich gehen wir hin!“ Lady Braxton lächelte ihre Tochter aufmunternd an. „Und es ist eine wunderbare Nachricht, dass Bella bis dahin vielleicht wieder imstande ist zu tanzen! Hätten Sie gern einen Tee, Dr. Warriner?“

„Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten …“

„Es macht keine Mühe, absolut keine.“

Sie eilte davon, um die Glocke zu betätigen, und Joe blieb allein bei Lady Isabella sitzen. Bella – was für ein schöner Name, obwohl er nicht fand, dass er zu ihr passte. Ein zu temperamentvoller Name für die stille, introvertierte Frau neben ihm. Der Name rief Bilder einer ganz anderen Art von Mädchen in seinem Kopf hervor. Eine Bella sollte witzig und lebhaft sein – ganz anders als diejenige, die ihn gerade abschätzig betrachtete. Da er nicht wusste, was er tun oder sagen sollte, setzte Joe sein beruhigendes Arztlächeln auf. „Haben Sie starke Schmerzen?“

„Nein.“ Sie schaute auf ihre Hände. Die Atmosphäre war wieder peinlich und unangenehm. Für ihn stellte sich nun die Frage, ob er überhaupt weiter versuchen sollte, mit den Schwestern zu reden, da die eine ihn nicht zur Kenntnis nahm und die andere ihn ablehnend ansah. Sollte er einfach nur schweigend auf den Tee warten? Oder – noch besser – sich rasch entschuldigen und verschwinden? Er dachte ernsthaft über eine Flucht nach, als sie plötzlich doch etwas sagte. Ihre Stimme war so leise, dass er sie kaum verstehen konnte. „Ich habe mich noch nicht für Ihre Hilfe heute Morgen bedankt. Das ist unverzeihlich von mir … aber ich bin nicht gut darin … seit diesem … Ich wollte sagen … Ich war nicht ganz bei mir.“

Ihre dunklen Augen sahen betrübt aus, als sie ihn kurz anschaute. Dann starrte sie wieder ihre Hände an. Ihre Wangen waren sehr hübsch gerötet. Die rosige Farbe passte irgendwie nicht zu dem unfreundlichen und verdrießlichen Charakter, den er ihr unterstellte. War es möglich, dass sie eher schüchtern war als unhöflich? Oder suchte er mit seiner angeborenen Freundlichkeit wieder nur nach einer Entschuldigung für ihr schlechtes Benehmen? Besonders bei Frauen vermutete er immer einen besseren Charakter, als sie wirklich hatten. Er beschloss, der Sache nachzugehen und nicht nur seinen Gefühlen zu vertrauen.

„Sie waren gerade von einer Kartoffel sabotiert worden. Ich wäre auch nicht besonders umgänglich, wenn mir das passiert wäre.“ Sie hob kurz den Blick und schaute ihn aus der Tiefe ihrer dunklen Augen an.

„Ich glaube, Sie wollen nur freundlich sein.“

Sie brauchte nicht zu erfahren, dass sie recht hatte. Er blickte zu dem Buch, das aufgeschlagen neben ihr lag. „Ist das ein wissenschaftliches Buch?“

Die Röte ihrer Wangen vertiefte sich. Es war wohl ein Roman. „Manchmal muss ich daran erinnert werden, dass es noch Gutes auf der Welt gibt.“

Da ihre Mutter gerade zurückkam, konnte er auf diese merkwürdige Antwort nicht eingehen. Ein Diener brachte Tee und Gebäck auf einem Tablett, das in der Nähe der Verletzten aufgestellt wurde. „Hoffentlich mögen Sie gern Süßes, Dr. Warriner, weil es Kuchen gibt. Und auch Kekse! Die mögen meine Töchter besonders gern. Komm her, Clarissa! Der Tee wurde gebracht.“

Das Objekt seiner Sehnsucht warf schnüffelnd ihre Stickerei zur Seite, stand auf und schlenderte zum Tisch wie ein beleidigtes Kind. Sofort erhob sich Joe und neigte den Kopf. „Lady Clarissa. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.“

„Es geht mir nicht gut, Dr. Warriner. Ich bin erkältet. Aber meine Krankheit ist ja unwichtig wegen der lieben Bella. Alle machen sich immer nur Gedanken um sie. Ständig.“

„Du hast nur ein ganz leichtes Schnüpfchen, liebste Clarissa.“ Das Verhalten ihrer Tochter schien Lady Braxton peinlich zu sein. „Aber deine Schwester hätte sich ein Bein brechen können!“

„Da ich schon einmal hier bin, kann ich mich auch um Sie kümmern, Lady Clarissa.“ Oh je, er klang viel zu eifrig. Darum setzte er rasch sein professionelles Arztgesicht auf. „Was für Symptome haben Sie?“

Clarissa warf ihrer Schwester einen kühlen Blick zu und ließ sich auf den Stuhl sinken, den ein Diener für sie gerade aufgestellt hatte. Es störte Joe, dass sie dem armen Mann nicht einmal dafür dankte. „Mir tut der Kopf weh, und meine Nase ist dicht.“

„Verstopfte Nebenhöhlen können Kopfschmerzen verursachen. Haben Sie Fieber?“ Er widerstand der Versuchung, ihre Stirn zu befühlen.

„Mir ist ein bisschen warm.“

„Das könnte vielleicht daran liegen, dass du unbedingt jetzt im Juli dieses Wollkleid anziehen wolltest.“ Lady Braxton sah ihre Tochter durchdringend an. Joe hörte bei allem einen seltsamen Unterton heraus, den er nicht ganz verstand. Eifersucht? Feindseligkeit? Auf jeden Fall gab es eine Spannung zwischen den Schwestern, die hauptsächlich von Clarissa ausging. Lady Isabella schien beschämt zu sein und starrte wieder auf ihre Hände. Die Mutter hätte ihre ältere Tochter wohl am liebsten gerade erwürgt. „Warum ziehst du dich nicht einfach um und hörst auf, die Zeit des Doktors zu verschwenden, Liebes?“

„Oh ja, warum auch nicht. Dann kannst du dich wieder ganz der armen Isabella widmen. Ihretwegen sitzen wir hier herum, und ich langweile mich zu Tode!“

„Haben Sie es schon mit Inhalation versucht?“ Joe versuchte die gespannte Situation diplomatisch zu entschärfen. Wenn es sich nur um einen Streit zwischen Geschwistern handelte, würde Lady Clarissa vielleicht wieder so süß und nett wie sonst immer sein, wenn man sich mit ihrer kleinen Unpässlichkeit beschäftigte. „Ich empfehle einige Tropfen Pfefferminzöl in kochendem Wasser. Das hilft ausgezeichnet gegen entzündete Nebenhöhlen. Ich könnte Ihnen etwas bringen lassen.“

Lady Clarissa strahlte ihn an, und Joe sonnte sich in ihrem Lächeln. „Oh, vielen Dank, Dr. Warriner. Es ist schön zu wissen, dass sich auch mal jemand mit meinem Wohlergehen beschäftigt.“

Die nächste halbe Stunde verlief ohne Zwischenfall. Lady Braxton und er trugen die Hauptlast der Unterhaltung. Gelegentlich warf Lady Clarissa etwas ein, aber ihre Schwester blieb stumm. Ihr Schweigen beunruhigte Joe, aber es war nur ein merkwürdiges Gefühl. Bei seinem Abschied versuchte er noch einmal, sie anzusprechen, obwohl er selbst nicht wusste, warum. „Bis zu dem Tanzabend am Samstag werden Sie gewiss wieder gesund sein.“

„Egal, wie es ihr geht, ich werde jedenfalls da sein. Retford ist so ein stumpfsinniger Ort, da muss man jede Unterhaltung wahrnehmen, die man finden kann.“ Lady Clarissa verdrehte die Augen. „Ich kann es kaum erwarten, bis der Sommer endlich vorbei ist.“ Also war ihr Aufenthalt hier nur vorübergehend. So war es wahrscheinlich am besten. Ein Monat der nutzlosen Träumerei über die engelsgleiche und unerreichbare Clarissa war schon einer zu viel, denn sein armes Herz würde sowieso für immer enttäuscht zurückbleiben.

„Dann freue ich mich darauf, Sie dort zu sehen.“

„Ich erwarte, dass Sie mit mir tanzen, Dr. Warriner.“ Sein Herz jauchzte. „Hier gibt es viel zu wenig passende Herren, und in Ermangelung von adligen Gentlemen werde ich stattdessen mit den gut aussehenden vorliebnehmen.“ Sein Herz stürzte tief ab. Wo es hingehörte.

„Ich freue mich, Ihnen zu Diensten zu sein, Mylady.“ Obwohl es nicht so war, denn er war verstimmt. Der Butler reichte ihm seinen Hut und Joe ging zur Tür. Er fühlte sich abgewiesen. Und trotzdem hatte er ein leichtes Schuldgefühl, weil er über Lady Clarissas Worte verärgert war.

„Dr. Warriner …“ Lady Isabella hatte ihre Stimme wiedergefunden. „Wann darf ich wieder zurück in die Krankenstation und meine Pflichten dort wahrnehmen?“

Er sah, dass ihre Schwester wieder die Augen verdrehte, und ärgerte sich erneut über diese Selbstsucht. Wenigstens wollte die mürrische Bella anderen Menschen helfen. Ihre dunklen Augen glänzten voller Eifer, sie funkelten geradezu. „Das hängt davon ab, was Sie dort tun wollen. Sie dürfen jedenfalls mindestens eine Woche lang nicht in der Station umherlaufen oder längere Zeit stehen. Doch wenn Sie einem kranken Kind vorlesen oder Gesellschaft leisten wollen, dann sehe ich keinen Grund, dass Sie das nicht in ein bis zwei Tagen wieder tun können. Aber Sie müssen sich dabei setzen.“

Sie schien sich über diese Antwort sehr zu freuen, und zum ersten Mal sah er sie wirklich lächeln. Und das war sehenswert. Wirklich sehr sehenswert. Es überwältigte ihn beinahe, und er spürte erneut ein Kribbeln im ganzen Körper. „Ich danke Ihnen, Dr. Warriner. Und auch noch einmal für heute Morgen.“

„Es war mir ein Vergnügen, Lady Isabella.“ Und aus irgendeinem unerklärlichen Grund war es wirklich so.

4. KAPITEL

Die nächsten beiden Tage schienen Bella langsamer zu vergehen als je zuvor. Dr. Bentleys Beurteilung ihres Gemütszustands und die Behandlung, die er für sie vorschlug, jagten ihr großen Schrecken ein. Ihre Ängste wurden immer schlimmer, während sie nutzlos mit ihrer Stickerei auf dem Sofa saß. Wenn ihre Familie es zuließ, würde sie alles tun, um die lähmende Melancholie aufzuhalten, die sie zu ersticken drohte. Sie wollte allein, auf ihre eigene Weise, über ihren Zustand hinwegkommen. Auf ihr Betreiben hin waren sie nach Retford gezogen, um ihr einen Sommer fern von der Londoner Gesellschaft zu ermöglichen. Hier wollte sie wieder zu sich selbst finden. Doch wenn ihr das nicht gelang, drohte ihr Dr. Bentleys schreckliche Therapie.

Sie musste sich selbst heilen, einen anderen Weg gab es nicht. Wenn sie den ganzen Tag nur Handtücher bestickte und auf dem Sofa herumsaß, war das ihrer Heilung gewiss nicht förderlich und bewahrte sie nicht davor, dass ihr ständig die Gedanken im Kopf kreisten. Ihr Verstand brauchte sinnvolle Anregungen, sie musste sich auf etwas anderes konzentrieren als auf sich selbst.

Am dritten Tag verkündete ihr Vater, er wolle in die Stadt fahren, und Bella bat darum, ihn begleiten zu dürfen. Sie brauchte nicht lange zu bitten. Beide Eltern sahen ihren Wunsch, das Haus zu verlassen, als positiven Schritt nach vorn an und freuten sich über diesen Beweis eines Fortschritts, obwohl sie nicht darüber sprachen.

Niemand sprach mit ihr über den Vorfall, und das machte alles noch schwieriger für sie. Ihre Eltern, ganz besonders ihr Vater, hatten von Anfang an beschlossen, dass es für alle Beteiligten besser sei, alles totzuschweigen. Als wäre jene schreckliche Nacht in Vauxhall Gardens ausgelöscht, wenn man sie lange genug verdrängte. Aber wie sollte das gehen? Bella sah ständig die Augen des Angreifers vor sich, mit denen er sie durchbohrend angeschaut hatte. Immer noch hatte sie den Gestank der schmutzigen Kleider und des ungewaschenen Körpers dieses Mannes in der Nase. Sie spürte immer noch seine Hände auf ihrer nackten Haut, auf ihren Brüsten, zwischen ihren Beinen. Fühlte jenen Teil von ihm an ihrem Körper. Und die ganze Zeit lag sie unter ihm auf dem Erdboden im dunklen Gebüsch. Sie konnte nicht schreien, nicht weglaufen. Ringsumher hörte sie das Lachen vieler Menschen und das Zischen des Feuerwerks, aber sie war in der Gewalt dieses Monstrums.

In diesem fürchterlichen Moment hatte sie gelernt, dass die Welt kein so sicherer Ort war, wie sie immer geglaubt hatte. Unheil lauerte überall und wartete im Dunkeln auf die Arglosen, die Vertrauensvollen und die Gutherzigen. Sie war stehen geblieben, um dem Bettler einige Münzen zu geben, aber er hatte etwas ganz anderes gewollt. Um ein Haar wäre es ihm gelungen …

„Liest du uns noch einmal vor, Bella?“

Eins der drei Kinder, die zurzeit in der gemütlichen Krankenstube waren, gab ihr ein Buch. Sie lächelte. „Das habe ich euch doch schon vor einer Stunde vorgelesen.“

„Aber wir lieben dieses Buch!“ Drei Paar Engelsaugen sahen sie bittend an. „Besonders die Art, wie du es liest. Du machst so schöne Stimmen.“

„Na gut.“ Immerhin war es etwas Sinnvolles, obwohl sie lieber etwas Medizinisches getan hätte. Sie mochte dieses spezielle Buch der Orange Blossom-Reihe besonders gern, weil darin ein gewisser hübscher Arzt auftrat. Er half dem Storch, ein Fohlen für die Pferde zu bringen und später dann ein Baby für Captain Galahad und Miss Sommersprosse. Da das Buch von Dr. Warriners älterem Bruder Jamie illustriert worden war, beruhte die Figur des Dr. Sensible mit Sicherheit auf dem attraktiven Arzt. Jedenfalls sah er so aus – wuscheliges schwarzes Haar und tiefblaue Augen hinter einer Drahtgestellbrille. Freundliche blaue Augen, deren Blicke oftmals liebevoll auf ihre Schwester gerichtet waren. Warum tat ihr dieses offensichtliche Interesse an Clarissa weh? Alle Männer mochten Clarissa lieber als Bella, die ja keinen Mann mehr ansah. Sie bewunderte Dr. Warriner, denn er war ein brillanter Wissenschaftler und außerdem freundlich, vertrauenswürdig und großherzig. Aber er war auch ein Mann. Dennoch – jedes Mal, wenn sie daran dachte, dass er ihre Schwester bevorzugte, versetzte es ihr wieder einen Stich ins Herz. Wenn es nicht so abwegig gewesen wäre, hätte sie vermutet, sie sei eifersüchtig. Das war aber unmöglich, da Bella nicht ertrug, mit einem Mann allein zu sein. Egal mit welchem. Selbst mit einem gut aussehenden und brillanten Arzt, der Augen in der Farbe des blauen Meeres hatte. Alles in allem war es besser, nicht darüber nachzudenken.

Bella las das Buch von vorn bis hinten vor. Als sie es leise zuklappte, waren zwei der Kinder bereits eingeschlafen. Das dritte, ein sonst sehr lebhafter Knabe namens Tom, starrte teilnahmslos an die Decke. Seine Wangen waren stark gerötet. Vorhin hatte er bereits über Halsschmerzen geklagt und gehustet. Nun waren seine Augen glasig und ausdruckslos. Bella hatte ihrem Vater und der Hausmutter zwar versprochen, auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben, aber der Zustand des Jungen erschien ihr bedenklich. Sie humpelte zu seinem Bettchen und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Er war brennend heiß.

Sie goss kaltes Wasser in eine Schüssel und tauchte ein sauberes Tuch hinein, das sie Tom auf die Stirn legte. Dann suchte sie nach einer Helferin und beauftragte sie, den Arzt zu rufen. Sie hatte gelesen, dass plötzlich einsetzendes, hohes Fieber ein schlechtes Zeichen war.

Bella setzte sich wieder an das Bett und kühlte die Stirn des kleinen Jungen. „Der Doktor ist unterwegs zu dir, Tom. Tut dir etwas weh?“

„Mein Hals“, krächzte der Kleine und weinte.

„Lass mich mal schauen.“ Sie konnte nichts sehen. Bella erinnerte sich an die Instrumente, die Dr. Warriner in einem Schränkchen aufbewahrte, und holte den Zungenspatel aus Elfenbein. „Sag mal Ah, Tom.“

Mit großer Mühe tat der Kleine wie geheißen, und Bella sah, dass in seinem Hals alles stark geschwollen und gerötet war. Ihrer unerfahrenen Meinung nach wiesen die Symptome auf eine Mandelentzündung hin. Auch das hohe Fieber und die allgemeine Abgeschlagenheit passten zu der Diagnose. Der arme Junge musste Höllenqualen leiden.

Mrs. Giles huschte ins Zimmer. „Dr. Warriner ist bei einer Entbindung, Mylady.“ Die Hausmutter wirkte aufgeregt. „Mrs. Patterson sagt, es kann viele Stunden dauern, aber sie wird ihn sofort hierherschicken, wenn er zurück ist.“

„Dann schicken Sie nach Dr. Bentley!“ Bella wollte nicht lange warten. Hohes Fieber über mehrere Stunden konnte dem Kind schaden. Die Hausmutter schüttelte den Kopf. „Dr. Bentley kommt nicht zu uns.“

„Wenn es wegen der Bezahlung ist, sagen Sie ihm, ich werde persönlich die Rechnung übernehmen.“

„Es ist nicht das Geld, Mylady … es liegt an der Familie. Dr. Bentley wird nicht kommen, weil dieses Heim einem Warriner gehört.“

So etwas Lächerliches hatte Bella noch nie gehört. „Der Mann ist doch Arzt, oder? Dann ist es seine Pflicht, Kranken zu helfen. Schicken Sie sofort nach ihm.“

Wenige Minuten später kam die Antwort von Dr. Bentley. Er werde weder jetzt noch in Zukunft jemals seinen Fuß in dieses Heim setzen, und kein Geld der Welt könne ihn dazu bewegen. „Es tut mir leid, Mylady, aber in Retford sind die Vorurteile noch sehr tief verwurzelt. Sicher wird Dr. Warriner bald hier sein.“

Bella war so empört, dass sie am liebsten zu dem dummen Menschen hingegangen wäre, um ihm ihre Meinung zu sagen. Aber in der Zwischenzeit brannte das Fieber in dem kleinen Jungen. „Könnten Sie bitte einen Tee aus Weidenrinde kochen, Mrs. Giles?“ Das half gegen Fieber, wie sie wusste. „Und Eis holen.“ Es könnte helfen, das Kind abzukühlen, so wie es bei ihrem heißen, geschwollenen Knöchel gewesen war. Dann fiel ihr das Gespräch mit dem Doktor wieder ein. Honig hilft bei Entzündungen … „Und bringen Sie mir bitte ein Glas Honig, Mrs. Giles!“

Kurze Zeit später half sie dem Knaben sich aufzusetzen und träufelte ihm warmen, mit Honig gemischten Tee in den Mund.

Mrs. Giles brachte die beiden anderen Kinder in ein anderes Zimmer, öffnete alle Fenster und zog die freien Betten ab. Bella packte Eis auf die Glieder des Knaben, auf seinen Körper und den Kopf. Doch trotz aller Bemühungen blieb das Fieber gefährlich hoch. Der Weidenrindentee allein half nicht. Was gab es noch? Fieberkraut? Das sollte eine lindernde Wirkung auf Entzündungen haben. Und hatte sie nicht kürzlich gelesen, wie hilfreich Purpursonnenhut sein konnte?

„Mrs. Giles, bitte lassen Sie sofort jemanden zur Praxis von Dr. Warriner laufen und bitten Sie seine Helferin, uns folgende Dinge zu schicken …“ Bella machte eine Liste aller Pflanzen, die helfen könnten: Schafgarbenwurzel, schwarze Holunderbeeren, Kamillenblüten, Ingwerwurzel, mehr Weidenrinde und mehr Honig. Da kein Arzt aufzutreiben war, war Bella alles, was der kleine Tom hatte.

Erst nach Mitternacht schaffte Joe es endlich zu der Krankenstube des Waisenhauses. Die neugeborenen Zwillinge hatten es ihm nicht leicht gemacht. Es war eine schwere und gefährliche Entbindung gewesen, und er war froh, dass man ihn rechtzeitig gerufen hatte. So hatte er die Mutter und beide Babys retten können. Nun war er todmüde und hatte bereits um einen starken Kaffee gebeten, um für den nächsten Notfall bereit zu sein. Hoffentlich bekam er das Fieber des Kindes schnell in den Griff, damit die Stunden des Wartens keine schlimmen Folgen hatten.

Joe hatte die meiste Zeit mit den Armen der Gemeinde zu tun, und oft überforderte er sich selbst. Er wollte jedem helfen und fühlte sich persönlich verantwortlich für jeden Misserfolg. Heute hatten drei Kinder seine Hilfe gebraucht. Zwei davon hatte er gerettet, und er hoffte, dass es noch nicht zu spät für das dritte war.

Das Krankenzimmer war kaum beleuchtet, als er eintrat. Eine einzelne Kerze brannte in einer Zimmerecke, und er konnte nur die Umrisse einer schlafenden Frau auf dem Stuhl neben dem Bett erkennen. Ihr Kopf lag auf einem Kissen, das hinter ihrem Nacken steckte, und sie hatte die Füße hoch unter ihre Röcke gezogen. Er ging leise zur anderen Seite des Betts und legte seine Hand auf die Stirn des Jungen. Er war warm, aber nicht brennend heiß. Ein gutes Zeichen. Die Frau war klug genug gewesen, das Fenster offen zu lassen und hatte auch kein großes Feuer gemacht. Er hatte Mrs. Giles schon so oft gesagt, wie nachteilig sich große Hitze bei Fieber auswirkte, aber die Hausmutter hatte ihre festgefahrenen Meinungen und hörte nicht auf ihn.

Diese Frau war offenbar intelligenter. Tom war nur mit einer dünnen Baumwolldecke zugedeckt worden, die Feuerstelle war kalt, und die Gardinen blähten sich in der leichten Sommerbrise, die durch die weit geöffneten Fenster hereinwehte. Joe stellte seine Tasche auf den Bettrand. Die schlafende Frau erwachte mit einem Ruck und riss erschrocken die Augen weit auf.

„Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Dr. Warriner.“

Er erkannte die Stimme. „Lady Isabella? Was machen Sie denn hier?“

„Ich wollte Tom nicht allein lassen, falls sein Fieber wieder steigt.“ Sie stand hastig auf und entzündete eine Lampe neben dem Bett. „Er hatte so hohes Fieber, dass ich mir Sorgen um ihn machte.“ Wie gewöhnlich zog sie sich in steifer Haltung zur offenen Tür zurück. Er konnte sehen, dass sie heftig atmete, als hätte sie Angst, aber ihre Miene war ruhig, nicht so angespannt wie sonst.

„Hat er Schwierigkeiten beim Atmen?“

Sie trat wieder näher, schaute das schlafende Kind an und schüttelte den Kopf „Bisher nicht. Gott sei Dank.“ Im Licht der Lampe sah er, dass ihre Frisur sich ein wenig aufgelöst hatte. Sie war anscheinend noch nicht ganz wach, dadurch wirkte sie jünger und weicher als gewöhnlich. Ihr Blick sah nicht so misstrauisch aus wie sonst, sondern nur voller Sorge um den kleinen Jungen. „Das Fieber kam ganz plötzlich“, berichtete sie.

„Im Moment ist seine Temperatur nicht ungewöhnlich hoch.“

Als müsste sie sich selbst überzeugen, legte sie dem Kleinen die Hand auf die Stirn, und atmete dann erleichtert aus. „Ich habe ihm einen Tee aus Weidenrinde, Fieberkraut, Kamille und Sonnenhut gemacht und regelmäßig alle zwei Stunden eingeflößt. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.“

Joe sah die offenen Fenster, das Eis, die kalten Umschläge. „Sie haben alles getan, was ich auch getan hätte, und die Symptome perfekt in den Griff bekommen.“

„Nicht alle. Er atmet pfeifend, seine Mandeln sind schwer entzündet, und er hat starke Halsschmerzen. Ich habe in den Tee auch einen großen Löffel Honig gegeben, weil Sie sagten, das wirke gegen Entzündungen. Vielleicht hat es ein wenig geholfen.“

An alles hatte sie gedacht. „Der warme Tee hat die Mandeln beruhigt, und der Honig bekämpft die Entzündung. Und was die Schmerzen angeht – ich finde, Sie haben durch Ihr rasches Handeln schon eine Besserung erzielt. Der Knabe schläft ganz fest. Wenn er noch Schmerzen hätte, würde er nicht so tief in Morpheus’ Armen ruhen. Ich habe erwartet, eine Notfallsituation vorzufinden, aber dank Ihnen kam es nicht dazu. Sehr gute Arbeit!“

Sie lächelte ihn schüchtern an. „Ich kann Ihnen versichern, dass ich das alles nur getan habe, weil nichts anderes möglich war. Als wir erfuhren, dass Sie noch für mehrere Stunden nicht abkömmlich sein würden, habe ich nach Dr. Bentley geschickt, aber er lehnte es ab zu kommen.“ Sie machte ein wütendes Gesicht. „Und so jemand nennt sich Arzt!“

„Dr. Bentley ist sehr wählerisch, was seine Patienten angeht.“ Jeder, der ihn nicht im Voraus für seine Dienste bezahlen konnte, wurde mitleidlos ignoriert. Wäre Bentley ein guter Arzt gewesen, der zuerst behandelte und sich erst anschließend bezahlen ließ, hätte Joe in Retford wohl kaum eine Chance gehabt. Doch da er bereit war, jeden zu behandeln, und auch Naturalien als Bezahlung akzeptierte, hatte man ihn schnell anerkannt. Es reichte aber alles nicht aus, um einen Assistenten zu bezahlen, der ihn bei seiner Arbeit hätte entlasten können.

„Ärzte dürften sich ihre Patienten nicht aussuchen. Ein krankes Kind abzulehnen ist grausam, ja kriminell!“

„Ich versuche immer wieder, an seine Einsicht zu appellieren.“ Joe sagte nicht, was er eigentlich dachte. Dr. Bentley war mehr an Geld interessiert als an Menschen. Die Armen unter den Patienten hatten besonders unter seiner Gleichgültigkeit zu leiden. Doch da Joe auch wusste, was für veraltete Methoden Dr. Bentley anwendete, war es vielleicht sogar besser so. Oft halfen seine drastischen Methoden nicht oder erzielten sogar den gegenteiligen statt des erwünschten Effekts.

„Ich glaube nicht, dass der Mann einsichtig ist“, meinte Bella. „Ich mochte ihn von Anfang an nicht, und jetzt respektiere ich ihn noch weniger. Es ist merkwürdig, dass die Leute hier über seine Haltung zu den ärmeren Kranken stillschweigend hinwegsehen.“

„Solange ich denken kann, ist Dr. Bentley hier der praktizierende Arzt. Nach so vielen Dienstjahren halten die meisten ihm die Treue.“ Und natürlich war es für Joe auch nicht vorteilhaft, dass er ein Warriner war.

„Dienst?“ Sie war so aufgebracht, dass sie vergaß zu flüstern. „Ein krankes Kind, das sterben könnte, im Stich zu lassen ist wohl kaum ein Dienst!“ Ihr Zorn war amüsant anzusehen. Lady Isabella war erstaunlich temperamentvoll unter ihrer ruhigen Oberfläche. Sie hatte ganz vergessen, dass sie eigentlich nicht redete. Es war laut genug, dass der kleine Patient aufwachte und leise wimmerte. Sofort war sie wieder still. „Oh, das tut mir leid, Tom.“ Sie streichelte ihm sanft den Kopf. „Dr. Warriner ist hier. Er freut sich, dass es dir besser geht. Möchtest du etwas trinken?“

Der Junge nickte, und sie half ihm liebevoll. Heute verhielt sie sich ganz anders als die steife und mürrische Frau, für die Joe sie immer gehalten hatte. Sie war hiergeblieben, weil ein kleines Findelkind krank war, und behandelte es, als hätte sie es wirklich gern. Als er den Kleinen jetzt untersuchte, trat sie beiseite und beobachtete alles mit unverhülltem Interesse von ihrem Platz an der Tür aus. Er nahm sein Stethoskop aus der Tasche und horchte Toms Brust ab. „Seine Lunge ist frei. Das Pfeifen kommt aus der Kehle, nicht aus der Brust.“

„Das können Sie beim bloßen Abhorchen feststellen?“

„Oh ja. Mit diesem wundervollen Instrument kann ich vieles hören, das mir sonst entgehen würde.“

„Ist das Laënnecs Stethoskop?“ Sie trat zwei Schritte vor. Da sie ganz offensichtlich fasziniert davon war, reichte er es ihr, damit sie es betrachten konnte. Sie trat noch einen Schritt vor, nahm es eifrig in die Hand und schaute sich beide Enden des hölzernen Rohres an, als wäre es so kostbar wie der heilige Gral. „Ich habe letztes Jahr seine Abhandlung darüber gelesen, aber ich habe noch nie gesehen, wie es benutzt wird.“ Sie überraschte ihn schon wieder. „Ich habe nicht alles verstanden.“ Sie hielt das Gerät wie ein Teleskop und blickte durch die Öffnung. „Er behauptet, dass verschiedene Krankheiten unterschiedliche Geräusche im Brustkorb verursachen. Faszinierend.“ Lady Isabella war die erste Person außer ihm selbst, die tatsächlich das Werk des berühmten Dr. Laënnec gelesen hatte. Eine erstaunliche Lektüre für eine junge Lady. Es bewies, dass sie mehr als nur ein wenig Interesse an wissenschaftlichen Themen hatte.

„Ich habe es mir nach Laënnecs Entwurf anfertigen lassen. Es ist noch eine ziemlich neue Erfindung, aber jeder, der es verwendet, schwört darauf. Das Stethoskop in Ihrer Hand hat in den zwei Jahren, seit ich es benutze, mehreren Menschen hier in Retford das Leben gerettet.“ Es war Joes wichtigstes Untersuchungsinstrument, abgesehen von seiner Brille, ohne die er nicht lesen konnte. „Ich habe es auch bei werdenden Müttern eingesetzt. Man kann im ersten Stadium der Schwangerschaft sogar den Herzschlag des Ungeborenen hören.“ War es eigentlich unpassend, so ein Thema mit einer vornehmen jungen Lady zu besprechen? Schon möglich, aber ihre Augen leuchteten.

„Wie können Sie sicher sein, dass es nicht der Herzschlag der Mutter ist?“

„Weil man beides nebeneinander hören kann. Das Herz der Mutter ist lauter, das des Kindes ist leiser und schneller. Am Anfang war ich überrascht davon, wie schnell, aber es ist wundervoll zu hören.“

„Schnellere Herzschläge? Wie faszinierend, Leben in so einem frühen Stadium der Entwicklung hören zu können. Ist das Instrument einfach zu benutzen?“

„Sicher stört es unseren kleinen Tom nicht, wenn Sie ihm die Brust abhören. Möchten Sie es einmal selbst ausprobieren?“

Sie zögerte nicht. Lady Isabella setzte ein Ende auf das Brustbein des Kindes und legte ihr Ohr an das andere Ende. Dann begann sie zu lächeln. „Tatsächlich! Ich höre es, glockenrein!“ Dann lachte sie leise – ein schöner warmer Klang, der seltsame Dinge mit seinem Herzen anstellte. Er wurde plötzlich erstaunlich eitel, nahm die Brille ab und musste den Drang unterdrücken, sich die Haare glattzustreichen. „Ich höre es auch in deinem Bauch gurgeln, junger Mann. In deinem Körper gibt es so viele Geräusche, als würde ein Orchester eine Symphonie auf deinen Organen spielen.“

Eine Symphonie der Organe. Was für eine passende Beschreibung. „Lauschen Sie noch einmal, wenn Tom tief einatmet. Hören Sie es in seiner Lunge pfeifen?“

Sie neigte wieder den Kopf und lauschte. „Sie haben recht. Seine Lungenatmung ist nicht beeinträchtigt. Die einzigen Töne angestrengten Atmens kommen von der Schwellung in seiner Kehle.“ Sie wusste, was er als Nächstes tun würde und reichte ihm den Zungenspatel vom Nachttisch, damit er besser im Hals des Kindes nach der Ursache für den Schmerz suchen konnte. Sie hielt die Kerze so, dass sie die richtige Stelle beleuchtete. Genau wie sie gesagt hatte, waren die Mandeln stark geschwollen, aber er hatte schon Schlimmeres gesehen. „Werden Sie ihm die Mandeln entfernen müssen, Doktor?“

Klein Tom sah erschrocken aus, aber Joe zwinkerte ihm zu und schüttelte den Kopf. „Im Moment sieht es nicht danach aus. Tom kann seine Mandeln behalten.“

Der Kleine gähnte. „Es ist Zeit für deine Medizin, und dann solltest du wieder schlafen“, meinte Bella zu ihm.

„So ist es. Ein guter Schlaf kann Wunder bewirken, junger Master Tom. Zusammen mit Lady Isabellas Tee gegen Halsschmerzen.“

Sie stand sofort auf, aber Joe fiel wieder ein, dass sie noch verletzt war. „Darum kann ich mich kümmern. Sie sollten jetzt heimfahren und Ihren Knöchel hochlegen. Wartet Ihre Kutsche, oder soll ich danach schicken?“ Nach den Erfahrungen vom letzten Mal wollte er ihr nicht anbieten, sie selbst nach Hause zu bringen.

„Nein, vielen Dank, Dr. Warriner. Ich bleibe noch bis morgen früh. Meine Familie weiß Bescheid, dass ich heute nicht mehr heimkomme. Die Kutsche holt mich um sechs Uhr ab, wenn Mrs. Giles mich ablöst.“ Genau in diesem Moment betrat eine Helferin das Zimmer mit einer Kanne Kaffee. Bella machte ein missbilligendes Gesicht. „Kaffee mitten in der Nacht? Ist das vernünftig? Wenn jemand Schlaf braucht, dann sind Sie es, nicht ich. Sie haben morgen wieder eine Menge Patienten, einschließlich Tom, während ich den ganzen Tag schlafen kann. Etwas Schlaf wird Ihnen besser tun als Kaffee. Ich halte hier die Stellung, und da die Gefahr vorüber ist, können Sie sich auch endlich Ihre wohlverdiente Ruhe gönnen.“

Dagegen konnte er nichts vorbringen und tat, wie ihm geheißen.

5. KAPITEL

Der Versammlungsraum in Retford war im Vergleich mit Londoner Verhältnissen ziemlich klein, aber genauso voll. Sie waren vor einer Stunde angekommen, und Bella hatte sich einer Gruppe verheirateter Ladys angeschlossen, mit denen sie sich unterhalten konnte. Etwaige Aufforderungen zum Tanz vermied sie, indem sie jeden Mann wie Luft behandelte, der dumm genug war, sich ihr zu nähern. Ihre Eltern waren in Sichtweite, das war beruhigend für sie. Clarissa jedoch stand wie üblich in einigem Abstand von ihrer Familie und genoss es sichtlich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit vieler junger Männer zu stehen, die ihr jedes Wort von den Lippen ablasen. Bisher war der gut aussehende Doktor noch nicht dabei, aber er hatte versprochen zu kommen. Das machte es für Bella nicht besser.

Sie hatte ihn seit der Nacht nicht mehr gesehen, in der sie den kranken Tom versorgt hatten. Er war nicht mehr zur gleichen Zeit wie sie in der Krankenstube gewesen, obwohl sie täglich dort war, seit Tom erkrankt war.

Sie fühlte sich für den kleinen Jungen verantwortlich. Der Doktor hatte ihre Behandlung beibehalten. Sie fühlte sich dadurch bestätigt, und das gab ihr ein sehr gutes Gefühl. Tom war inzwischen auf dem Wege der Besserung. Bella klopfte sich dafür innerlich auf die Schulter. Dass der großartige Dr. Warriner ihren Beitrag dazu ohne jede Herablassung gewürdigt hatte, war das Sahnehäubchen auf allem. Und außerdem hatten sie sich über medizinische Themen unterhalten! Es hatte ihr sehr gut gefallen, Dinge mit ihm erörtern zu können, über die sie vorher nur gelesen hatte. Seit sie das Stethoskop ausprobieren durfte, hätte sie dem Arzt gern hundert Fragen zu den Funktionen von Lunge und Herz gestellt. Ob sie heute Abend wohl den Mut aufbringen würde, ihn zu fragen? Falls er überhaupt kam. Und falls sie es schaffte, dass er sich von der Seite ihrer Schwester losriss.

Seine Brüder waren alle da. Sie ähnelten ihm sehr, aber keiner sah so gut aus wie er. Ob es wohl sein gebildetes Auftreten war, das ihr den Doktor als den attraktivsten aller Warriners erscheinen ließ?

Und seine Brille … Er trug sie nicht ständig, aber wenn, dann wurde ihr der Mund jedes Mal seltsam trocken. Seine kobaltblauen Augen sahen ein wenig vergrößert aus, wenn er durch die Brillengläser schaute, und er sah sogar noch intelligenter aus als sonst. Wahrscheinlich fühlte Bella sich deshalb so zu ihm hingezogen. Es konnte keinen anderen Grund dafür geben. Nur sein wissenschaftlich geschulter Verstand übte eine gewisse Faszination auf sie aus, und seine logische Sichtweise. Andererseits konnte sie nicht aufhören, seine herrlich blauen Augen zu bewundern. Und auch seine breiten Schultern in dem dunklen, praktischen Gehrock …

Sie sann immer noch über ihre seltsamen Empfindungen für den Doktor nach, als er endlich eintrat. Er sah so gut aus. Für diese Gelegenheit hatte er statt des einfachen schwarzen Gehrocks einen aus blauer Seide angezogen, der die Farbe seiner Augen betonte. Sie konnte den Blick aber auch von seiner breiten Brust kaum abwenden.

Er blieb am Eingang stehen und schaute sich in der Menge um. Bella sah, dass er zu ihrer Schwester blickte, aber die Lippen zusammenpresste, als er Clarissa inmitten ihres Harems wetteifernder Männer erblickte. War er niedergeschlagen? Oder enttäuscht? Vielleicht auch leicht verärgert? Bella konnte es nicht sagen, aber es traf sie doch wie ein Stich ins Herz. Dann sah sie ihn zu seiner Familie gehen.

Mehr als eine Stunde lang beobachtete Bella ihn heimlich. Offensichtlich fühlte er sich wohl in der Gesellschaft seiner berüchtigten Familie. Sie sah ihn mit einer seiner Schwägerinnen tanzen. Bella hatte Mrs. Cassie Warriner kennengelernt und auf Anhieb in ihr Herz geschlossen. Ihrem Gatten war sie noch nicht vorgestellt worden, aber es fiel ihr auf, dass er stark hinkte und nicht tanzen konnte. Sein Bruder tanzte an seiner Stelle mit seiner hübschen Schwägerin, die offensichtlich guter Hoffnung war. Nach dem Tanz verlor Bella Joe aus den Augen und schaute sich gerade in der Menge um, als er plötzlich neben ihr stand und sie ansprach. „Wie ich sehe, geht es Ihrem Knöchel besser.“

Erschrocken zuckte sie zusammen und trat einen Schritt zurück. „Ja, so ist es. Obwohl es wohl noch zu früh zum Tanzen ist.“ Warum hatte sie das gesagt? Er hatte sie doch gar nicht aufgefordert …

Dummkopf! Er tanzt wirklich gut. Ich möchte wieder einmal tanzen.

Die innerliche Stimme schien zu seufzen. Es war irritierend.

„Tom geht es schon wieder gut.“ Ein sicheres Thema, über das Bella ohne viel Herzklopfen sprechen konnte. „Die Entzündung ist fast abgeklungen, und er hat schon seit gestern kein Fieber mehr“, fügte sie hinzu.

„Ich finde, er sollte noch mindestens einen Tag in der Krankenstube bleiben. Sonst steckt er noch andere Kinder im Schlafsaal an, und das wollen wir doch nicht.“

Wir.

Dr. Warriner sprach über den Patienten, als trügen sie gemeinsam die Verantwortung für seine Behandlung. Es war herzerwärmend. Er erkannte damit ihren Anteil an Toms Heilung an, und ebenso ihre gute Arbeit in der Krankenstube. „Ich werde am Montag nach ihm sehen, und wenn er weiterhin so gute Fortschritte macht, können wir ihn wieder zu seinen Freunden lassen.“

„Er langweilt sich.“ Seit die Krise vorbei war, wollte Tom ständig unterhalten werden. Sie hatte ihm bereits jedes Buch aus dem kleinen Regal vorgelesen, einige sogar zweimal.

„Das ist ausgezeichnet. Langeweile ist gut. Wirklich Kranke langweilen sich selten. Nur Gesunde langweilen sich.“

Du langweilst dich, mahnte ihre innere Stimme. Langeweile ist gut, das hat er gerade gesagt. Erinnerst du dich noch, wie es war, als du so entsetzliche Angst hattest, dass du dich nicht einmal langweilen konntest? Also ist das nicht ein Fortschritt?

„Dr. Warriner!“, unterbrach ihre Mutter sie. Ihr Vater stand daneben. „Sie haben meinen Gatten noch nicht kennengelernt, oder?“

„Mylord.“ Joe neigte höflich den dunklen Kopf. „Es ist mir ein Vergnügen, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Autor

Virginia Heath
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