Ist unser Glück nur geliehen?

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"Sag Ja, sonst verlierst du deinen Sohn!" Anderson Dalton hat keine Wahl: Er muss eine Zweckehe mit Marina eingehen. Deswegen nimmt er ihre Hilfe an - von Liebe war nie die Rede. Bis Anderson merkt, dass er plötzlich viel mehr von ihr möchte als nur einen Freundschaftsdienst …


  • Erscheinungstag 25.04.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733739836
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Eigentlich war er nur ins Haus gekommen, um einen Schluck Wasser zu trinken.

Die Bewirtschaftung seiner Ranch war harte Arbeit und trieb ihm sogar im September noch den Schweiß auf die Stirn. Er hätte problemlos seine Tage mit Nichtstun auf der Veranda verbringen können, um sämtliche Aufgaben an seine zahlreichen Rancharbeiter zu delegieren, doch Müßiggang war einfach nicht sein Ding.

Solange Anderson Dalton zurückdenken konnte, bestellte er den Familienbesitz voller Leidenschaft. Er fühlte sich dabei eins mit dem Land wie mit dem Vieh – die Arbeit empfand er nicht als Bürde. Allerdings musste selbst er gelegentlich eine kleine Verschnaufpause einlegen.

Anderson betrat die Küche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auf dem Weg zur Spüle schaute er automatisch zu dem altmodischen Telefonapparat an der Wand und sah ein rotes Lämpchen blinken. Er hielt das Festnetz mit dem Anrufbeantworter in Betrieb, weil das Funknetz auf den Weiden so viele Löcher aufwies wie ein Schweizer Käse. Außerdem neigte er dazu, sein Handy beim Reiten oder bei anderweitigen körperlichen Arbeiten zu verlieren.

Für einen Moment spielte Anderson mit dem Gedanken, den blinkenden Apparat zu ignorieren und wieder hinauszugehen. Doch eine kleine Stimme der Vernunft drängte ihn, den Anrufbeantworter abzuhören. Man kann schließlich nie wissen. Es könnte wichtig sein.

Seit er sich um seinen elfjährigen Sohn kümmern durfte – wenn auch nur vorübergehend –, war alles anders. Er musste sich verantwortungsvoller, umsichtiger und bedachtsamer verhalten.

Die Rolle eines Vaters erschien ihm selbst unter normalen Umständen gewöhnungsbedürftig. Ganz unverhofft Erziehungsberechtigter eines Elfjährigen zu werden – das war ein Kapitel für sich. Das spürte er am eigenen Leib, seit Lexie James aus heiterem Himmel bei ihm aufgetaucht war, mit der es zwölf Jahre zuvor zu einem spontanen One-Night-Stand gekommen war. Sie hatte ihm vorübergehend das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn übertragen, während sie gewisse Dinge klären wollte.

Anderson war erpicht darauf, diesen Nachwuchs kennenzulernen, von dessen Existenz er erst seit einem Jahr wusste. Deshalb hatte er ohne Zögern eingewilligt. Erst nach und nach realisierte er, dass die Vaterrolle ein gewisses Maß an Übung bedurfte und dass er nicht einfach über Nacht hineinschlüpfen konnte.

Er leerte ein Glas Wasser in einem Zug, bevor er mit großen Schritten zum Telefonapparat an der Wand stürmte und die Abspieltaste des Anrufbeantworters drückte.

Eine melodische Stimme verkündete: „Mr. Dalton, hier ist Ms. Laramie, Jakes Klassenlehrerin. Wir müssen miteinander reden. Bitte rufen Sie mich zurück, damit wir einen Termin vereinbaren können.“ Sie nannte die Nummer der Grundschule von Rust Creek Falls und hatte dann aufgelegt.

Verdutzt starrte Anderson das Telefon an. Wir müssen miteinander reden? Was sollte das denn heißen? Mit geschlossenen Augen versetzte er sich zurück in seine eigene Schulzeit. Er war ein aufgewecktes Kind gewesen, dessen Gedanken stets in die unterschiedlichsten Richtungen abgeschweift waren – meist außerschulischer Natur. Ein Grinsen spielte um seine Lippen. Der Apfel fällt offensichtlich nicht weit vom Stamm.

Erst vor zwei Wochen, nach den Sommerferien, hatte der Unterricht angefangen. Was kann der Junge in diesem Zeitraum schon groß angestellt haben? Bei einem schwerwiegenden Vergehen hätte Andersons jüngere Schwester Paige ihn sicherlich alarmiert. Sie unterrichtete die Vierte, deren Klassenzimmer direkt gegenüber von der Fünften seines Sohnes lag.

Kurz entschlossen tippte er die Handynummer von Paige ein. Beim dritten Klingeln schaltete sich die Mailbox ein. Er verzog das Gesicht, denn er verabscheute es, mit Maschinen zu reden. Also ließ er es bleiben und legte auf.

Zorn stieg in ihm auf. Wieso nahm diese Ms. Laramie sich das Recht heraus, seinen Sohn zu verurteilen, obwohl sie ihn erst seit zwei Wochen kannte?

Außerdem war Jake ein braves Kind. Er gab keine Widerworte und spielte sich nicht auf. Er gab kaum einen Laut von sich – abgesehen von seinen Daumen, welche die Tasten des Steuergeräts für diese verdammten Videospiele betätigten, nach denen der Junge süchtig war.

In Anbetracht der Tatsache, dass er erst vor zweieinhalb Monaten aus Chicago ans Ende der Welt in ein kleines Nest namens Rust Creek Falls verfrachtet worden war, fügte sich Jake erstaunlich gut ein. Was will seine Lehrerin also von mir?

Anderson fiel ein, dass seine Nichte Lily in Jakes Klasse ging. Vielleicht weiß sie ja, was Sache ist. Er tippte die Nummer seines Bruders Caleb ein. Die Mühe hätte er sich allerdings sparen können, denn wiederum meldete sich nur die Sprachbox.

Er spielte mit dem Gedanken, diese Ms. Laramie zurückzurufen. Doch er befürchtete, zum dritten Mal nur eine Maschine zu erwischen. Außerdem wollte er nicht nur einen Gesprächstermin vereinbaren, wie sie erbeten hatte. Vielmehr brannte er darauf, die Angelegenheit unverzüglich aus der Welt zu schaffen. Vorher konnte er sowieso nicht zur Ruhe kommen.

So gesehen blieb ihm nur eine Option: sofort in die Stadt zu fahren. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass die letzte Unterrichtsstunde im Gange war. Das Timing war also perfekt, und er konnte gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: sich die Frau vorknöpfen und Jake vom Basketballtraining abholen, das direkt nach Schulschluss stattfand.

Mit diesem Ziel im Sinn stürmte Anderson aus dem Haus, angespornt von jahrzehntealten negativen Erinnerungen an all die Lehrer, die jemals an ihm herumgekrittelt hatten.

Noch vor zwei Jahren hätte Marina Laramie es nicht für möglich gehalten, die Rollen als Klassenlehrerin und als alleinerziehende Mutter eines Kleinkinds unter einen Hut zu bringen. Der bloße Gedanke wäre ihr unzumutbar erschienen. Und doch schaffte sie es nun.

Vor fünf Minuten waren ihre Fünftklässler lärmend aus dem Klassenzimmer gestürmt, um den Heimweg anzutreten. Anstatt Pläne für eine unterhaltsame Abendgestaltung zu schmieden, musste sie ihren fünf Monate alten Nachwuchs versorgen, den ihr die Tagesmutter gerade vorbeigebracht hatte.

Marina seufzte und schüttelte den Kopf. Das war nicht das sorglose Dasein, das sie sich einst erträumt hatte. Trotzdem würde ich dieses Leben für nichts auf der Welt eintauschen wollen.

„Dein Glück, Mäuschen, dass ich Kinder liebe – sogar stinkige.“ Sie beugte sich über das Lehrerpult und bemühte sich, ihrer äußerst lebhaften Tochter, die den Vorteil des Stillliegens beim Gewickeltwerden noch nicht begriffen hatte, schnellstmöglich die Windel zu wechseln.

Als ob das Kind ein Perpetuum mobile verkörperte, bewegten sich Sydneys Ärmchen und Beinchen unaufhaltsam. Daher war ständige Aufsicht nötig, um zu verhindern, dass sie vom Pult rollte, das vorübergehend als Wickeltisch herhalten musste.

Mit geschickten Bewegungen legte Marina eine frische Windel an. „Ich werde immer besser“, verkündete sie überzeugt, „und ich wäre noch schneller, wenn du dich dazu durchringen könntest, nicht so viel zu zappeln.“

Sydney neigte den Kopf und blickte sie mit großen, strahlend blauen Augen an.

Marina verstaute die alte Windel und die benutzten Feuchttücher in einem Plastikbeutel und verknotete ihn fest. „So, jetzt wollen wir dich mal wieder gesellschaftsfähig machen. Eine Lady lungert nicht halb nackt herum, wenn sie nicht in Schwierigkeiten geraten will. Vergiss das nicht. Sonst endest du eines Tages wie ich und musst an ungewöhnlichen Orten Windeln wechseln.“

Sie bettete Sydney in die Babyschale, die auf dem Pult stand, und schloss sorgfältig jeden einzelnen Gurt. Für alle Fälle. Das war vermutlich übertrieben vorsichtig, aber sie wollte kein Risiko eingehen.

„Wann habe ich mich eigentlich in diese superängstliche neurotische Frau verwandelt?“, murmelte sie vor sich hin. „Ich war früher immer so sorglos.“

Vor einer Ewigkeit, scheint mir.

Durch die offene Tür zum Klassenzimmer seines Sohnes hörte Anderson schon auf dem Korridor die melodische Stimme der Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. Dass diese Ms. Laramie ganz offensichtlich mit irgendwem redete, kümmerte ihn nicht weiter. Geladen stürmte er in den Raum, um ihr unmissverständlich klarzumachen, dass er überaus präsent war und nicht zu gehen beabsichtigte, bevor ein für alle Mal geklärt war, was sie an seinem Sohn auszusetzen hatte.

Völlig unerwartet stellte er fest, dass sie mit einem Baby sprach und ihm die Windel wechselte. Wie jung sind denn die Kinder in dieser Schule? Er wunderte sich sehr.

Im nächsten Moment begriff er, dass es sich um ihr eigenes Baby handeln musste. Das wiederum gab ihm zu denken. Wie lax werden die Dinge heutzutage in den Schulen bloß gehandhabt? Wieso erlaubt der Rektor einer Lehrerin, ihr Baby in den Unterricht mitzubringen, als wäre es eine Art Anschauungsmaterial?

Hatte sie kein Geld für eine Tagesmutter? Oder wollte sie ihre Fünftklässler auf Tauglichkeit als Babysitter prüfen?

Wie auch immer, die Situation erschien ihm sehr unorthodox. Und diese Ms. Laramie besitzt die Frechheit, mir mitzuteilen, dass sie mit mir über meinen Sohn reden muss? Anderson konnte es kaum erwarten, ihr die Meinung zu geigen.

„So, das war’s.“ Marina testete die Festigkeit der Gurte. „Das dürfte reichen, meine Gnädigste.“

Sie zuckte vor Schreck zusammen, als hinter ihr ein Räuspern ertönte. Mit wild pochendem Herzen wirbelte sie herum – und blinzelte verwundert.

In der Tür stand ein fast zwei Meter großer Fremder mit dunklen Haaren und blauen Augen. Ein Fremder, der alles andere als glücklich und zufrieden aussah.

Verdutzt warf Marina die Plastiktüte in den Mülleimer. Es gefiel ihr nicht, derart überrumpelt zu werden. Sie hatte noch nicht wirklich in die Rolle der berufstätigen Mutter gefunden und hasste es, inkompetent zu wirken.

„Einen Moment bitte“, bat sie und eilte zum Waschbecken. Vor Aufregung drehte sie den Hahn zu schnell auf und bekam einen Schwall Wasser ab, der sie zwar nicht bis auf die Haut durchnässte, aber immerhin wie einen begossenen Pudel dastehen ließ. Auch der Fußboden zu ihren Füßen war nass geworden.

Mit einem betroffenen kleinen Ausruf schloss sie den Hahn. Sie war sich ziemlich sicher, dass der gut aussehende Cowboy, der sich in finsteres, mysteriöses Schweigen hüllte, sie für die wahrhaftige Königin aller Tollpatsche hielt. „Entschuldigung.“ Sie schnappte sich mehrere Papiertücher und trocknete sich so gut wie möglich ab. „Sie haben mich auf dem falschen Fuß erwischt.“

„Offensichtlich“, murmelte er trocken.

Sie kehrte zum Pult zurück und zog die Babyschale zu sich heran, bevor sie sich zu dem Fremden umdrehte. Mit ihrer nachsichtigen und doch festen Lehrerstimme eröffnete sie: „Nun also, Sie haben mir Ihren Namen noch nicht genannt.“

„Ich bin Anderson Dalton“, teilte er ihr in nüchternem Ton mit. „Sie haben eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen, dass Sie mich wegen Jake sprechen müssen.“

Bei dem Namen klingelte es sofort. Ihre Klasse war relativ klein, ebenso wie die Stadt, sodass Marina auf Anhieb wusste, um welchen Schüler es sich handelte. Was sie allerdings wunderte, war, wieso dieser Mann es für nötig hielt, umgehend zu erscheinen. „Na ja, ich habe nicht sofort gemeint. Ich wollte nur, dass Sie mich zurückrufen, damit wir einen Termin vereinbaren können, der uns beiden passt.“

Er zuckte die breiten Schultern. „Tja, ich bin jetzt hier“, stellte er überflüssigerweise fest. „Also können wir es gleich angehen. Es sei denn, Sie brauchen etwas Zeit, um sich zu trocknen – oder vielleicht umzuziehen.“

Natürlich hatte sie keine Ersatzkleidung dabei, weil es ihr nicht in den Sinn gekommen war, dass sie unbeabsichtigt eine eiskalte Dusche nehmen könnte. „Nein danke, nicht nötig.“

Das war Andersons Stichwort. Er trat näher, baute sich vor ihr auf und setzte zu einem rasanten Monolog zur Verteidigung seines Sohnes an. „Hören Sie, Jake ist ein guter Junge. Sie dürfen nicht vergessen, dass er momentan einiges zu verarbeiten hat. Es ist nicht leicht für ein elfjähriges Kind, von einer Großstadt wie Chicago in ein Nest wie Rust Creek Falls umzuziehen. Aber ich finde, er macht das spitzenmäßig, wenn man bedenkt, dass er erst zweieinhalb Monate hier ist. Die meisten anderen Kinder wären in seiner Situation völlig ausgeflippt. Sie müssten nur ein kleines bisschen nachsichtig mit ihm sein.“

Sie öffnete den Mund zu einer Entgegnung, doch Jakes Vater ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Falls etwas schiefgelaufen ist, dann bin ich allein schuld daran. Ich habe vor einem Jahr überhaupt erst von seiner Existenz erfahren! Jetzt bin ich plötzlich ganz unvorbereitet für ihn verantwortlich und muss all diese wichtigen Entscheidungen treffen. Meistens stehe ich total auf dem Schlauch. Diese Sache mit der Kindererziehung ist am Anfang echt hart.“

Tja, das ist noch gelinde ausgedrückt. Da Marina von Natur aus eine zurückhaltende Person war, behielt sie diese Ansicht allerdings für sich. Obwohl sie sich im Allgemeinen für freundlich und aufgeschlossen hielt, betrachtete sie gewisse Aspekte ihres Lebens als nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Dazu zählte auch ihr unplanmäßiger Eintritt in die Mutterschaft.

Anderson schien ihr Stillschweigen nicht zu bemerken. Er führte seinen Monolog fort. „Bestrafen Sie den Jungen nicht für meine Fehler!“, forderte er nachdrücklich. „Womit er Sie auch immer verärgert hat, er wusste es nicht besser. Lassen Sie mich mit ihm reden und …“

Das kann ja noch stundenlang weitergehen, dachte Marina ungeduldig. „Halt, Mr. Dalton!“, rief sie mit erhobener Stimme. „Ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass Jake etwas falsch gemacht haben könnte, denn das ist ja gar nicht der Fall. Er ist wirklich ein großartiger Junge.“

Völlig verwirrt starrte er sie an. „Das verstehe ich nicht. Sie haben doch gesagt, dass wir miteinander reden müssen.“

„Ja, das müssen wir auch.“ Sie warf einen Blick zu ihrer Tochter, die trotz des dröhnenden Monologs eingeschlummert war. Dem Himmel sei Dank! „Aber nicht, weil Jake etwas angestellt hat.“

Seine Erleichterung währte nicht lang. Schon stieg Verärgerung in ihm auf. „Warum bin ich dann hier?“, verlangte er zu wissen. „Ich habe eine Ranch zu führen.“

Marina erkannte, dass sie sich klar und deutlich äußern musste, wenn sie bei Anderson Dalton etwas erreichen wollte. Sonst wird er mich glatt niederwalzen. „Ich habe Sie um ein Gespräch gebeten, weil ich mir Sorgen um Jake mache.“ Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Sydney unruhig wurde. Bitte schlaf weiter, Mäuschen!

Sorgen? Wieso?“

Der Mann irritierte sie allmählich. Die sogenannte Besprechung erschien ihr immer mehr wie eine Übungseinheit zum Thema Gelassenheit. Weil er aber schon einmal da war, beschloss sie, die Unterredung fortzuführen – in der Hoffnung, ihn trotz seines offensichtlichen Dickschädels zur Einsicht zu bringen. „Ist Ihnen nicht aufgefallen, wie still er ist?“

Verständnislos zog er die Augenbrauen zusammen. „Nun, ja, sicher. Das ist mir aufgefallen. Warum?“

Anscheinend braucht er eine klare Ansage, dachte sie ungehalten. „Ich fürchte, dass irgendetwas Ihren Sohn schwer belastet.“

Anderson zuckte die Achseln. Typisch Frau! Probleme zu erfinden, wo es keine gibt! Kann sie nicht einfach akzeptieren, dass Jake eben kein großmäuliger Klassenclown ist? „So lange, wie ich ihn kenne, ist er schon still.“ Das entsprach genau genommen der Wahrheit. Gleichzeitig war es eine geschickte Formulierung, um die Tatsache zu verschleiern, dass man die Zeitspanne der Vater-Sohn-Bekanntschaft nur aus der Sicht einer Fruchtfliege als lang bezeichnen konnte. „Wie gesagt, es ist eine große Umstellung für ihn, von der Großstadt aufs Land zu ziehen – wie es das für jedes Kind wäre. Haben Sie schon einmal bedacht, dass er so still ist, weil er noch keine Gelegenheit hatte, in dieser Gegend Bekanntschaften zu schließen?“

Sydney wurde zunehmend unruhig. Automatisch schaukelte Marina die Babyschale. Viel lieber hätte sie ihrer Tochter ihre gesamte Aufmerksamkeit gewidmet, statt sich mit einem dickköpfigen Rancher zu unterhalten, der keine Ahnung von dem Sohn zu haben schien, der unter seinem Dach lebte. Doch als Lehrerin war sie es ihrem Schüler schuldig, ihn zu unterstützen, sofern er denn Hilfe brauchte.

Erneut versuchte sie, diplomatisch auf den Kern der Sache zu kommen. „Mr. Dalton, ich entschuldige mich, falls ich zu persönlich werde.“ Sie beobachtete, wie er eine Augenbraue hochzog. „Aber reden Sie und Jake überhaupt richtig miteinander?“

„Natürlich reden wir“, konterte Anderson schnell, obwohl es diese Lehrerin seiner Meinung nach nichts anging. „Wir reden ständig.“

Sie zweifelte ernsthaft an dem Wahrheitsgehalt seiner Antwort, obwohl er allem Anschein nach tatsächlich glaubte, mit seinem Sohn in Kontakt zu sein. Einen Moment lang überlegte sie, wie sie fortfahren sollte, weil sie wusste, dass sie behutsam vorgehen musste. Sie kannte diesen Mann nicht so gut wie die Eltern der meisten anderen Schüler, aber sie hegte den Verdacht, dass ihm diese Unterredung ganz und gar nicht behagte.

Doch für sie gab es kein Zurück, denn das Wohlergehen des Kindes stand auf dem Spiel. „Mr. Dalton, ich meinte, ob Sie miteinander über Dinge reden, die wirklich wichtig sind.“

„Vielleicht nicht so viel“, gab er widerstrebend zu. Es gefiel ihm nicht, seine Unzulänglichkeiten unter die Nase gerieben zu bekommen, „aber ich will Jake nicht das Gefühl geben, dass ich ihn unter Druck setze“, erklärte er schnell und wahrheitsgemäß.

Er konnte sich nur zu gut erinnern, wie er von seinen Eltern zur sprichwörtlichen Schnecke gemacht worden war wegen Dingen, die er entweder getan haben sollte oder aber unterlassen hatte. Diesen Fehler wollte er nicht begehen. Er wollte seinem Sohn das Gefühl geben, ein eigenverantwortlicher Mensch zu sein.

Sie presste die Lippen zusammen und murmelte: „Ich verstehe.“

Was für eine herablassende Person! Anderson versteifte sich unwillkürlich. Wie zum Teufel konnte sie verstehen, obwohl sie nichts von ihm selbst, von Jake und der Dynamik in ihrer frischgebackenen Vater-Sohn-Beziehung wusste? Mit mühsam unterdrücktem Zorn entgegnete er: „Nein, Sie verstehen eben nicht!“

Marina fragte sich, warum der Mann nun so übermäßig aufgebracht wirkte. Als er das Klassenzimmer betreten hatte, war er ihr zwar verschnupft, aber deutlich abgeklärter erschienen. War sie irgendwie für seinen gesteigerten Zorn verantwortlich? „Also gut“, räumte sie ein. „Dann erklären Sie es mir.“

Diese Reaktion hatte er nicht erwartet. Überrascht und unvorbereitet begann er zu reden, ohne seine Worte vorher abzuwägen. „Ich wusste zehn Jahre lang nichts von Jakes Existenz. Also konnte ich nicht an seinem Leben teilhaben“, erklärte er, denn das war für ihn der Kern des Übels. Ich hätte für den Jungen da sein müssen. Um ihn kennenzulernen, anzuleiten und zu unterstützen. „Jetzt, wo ich vorübergehend sozusagen das Sorgerecht für ihn habe, ist er vermutlich verwirrt und im Zwiespalt, was ich ihm nicht verdenken kann. Seine ganze Welt hat sich verändert, und er hat entdeckt, dass alles, was er zu wissen glaubte, plötzlich nicht mehr stimmt.“

Er atmete tief durch, und in diesem Moment bekam Marina das Gefühl, dass Anderson kaum noch zu ihr sprach, sondern eher zu sich selbst – und vielleicht zu seinem Sohn, auch wenn der gar nicht anwesend war.

„Ich bedaure zutiefst, dass ich all diese Jahre verpasst habe, weil ein Kind wirklich seinen Vater braucht.“

Sie fühlte sich, als hätte sie einen Boxhieb in den Magen erhalten. Für einen Moment erinnerte sie sich deutlich an Garys Gesicht, als er ihr mitgeteilt hatte, dass sie auf sich allein gestellt war, wenn sie das Baby bekommen wollte. Als hätte er rein gar nichts damit zu tun …

Die Auffassung, die Mr. Dalton gerade äußerte, kam der Wahrheit zu nahe, um sie geflissentlich zu ignorieren oder stillschweigend hinzunehmen. Marina bemühte sich, keine übertriebene Abwehrhaltung einzunehmen, während sie verkündete: „Leider, Mr. Dalton, ist das manchmal nicht möglich.“

2. KAPITEL

Schon bald erkannte Anderson seinen Ausrutscher. Er musste sich dringend angewöhnen, seine Worte abzuwägen, bevor er den Mund aufmachte. Offensichtlich war er der zierlichen Rothaarigen unbeabsichtigt auf den Schlips getreten, obwohl ihm nichts ferner gelegen hatte. Ms. Laramie hatte sich seine Bemerkung zu Herzen genommen wie eine Art persönliche Zurechtweisung. Er blickte zu dem Baby – dessen Vater war anscheinend von der Bildfläche verschwunden.

Obwohl Anderson eigentlich ein dickes Fell besaß, plagte ihn daraufhin ein schlechtes Gewissen. Jakes Lehrerin sollte nicht glauben, dass er sie hatte kritisieren wollen. Er war nicht in dieser Absicht in das Klassenzimmer gestürmt, sondern hatte nur seinen Sohn verteidigen wollen.

„Es tut mir leid, Ms. Laramie“, sagte er zerknirscht. „Das war nicht böse gemeint.“

Natürlich nicht, dachte Marina. Warum war sie so überempfindlich? Es war ihre Aufgabe, wie ein Profi zu denken, anstatt jedes Wort auf die Goldwaage zu legen und persönlich zu nehmen. Das tun triebgesteuerte Teenager, nicht aber staatlich geprüfte Lehrer. „Schon gut, Mr. Dalton“, erwiderte sie stoisch.

„Anderson“, entgegnete er.

Verwirrt blickte sie ihn an. „Wie bitte?“

„Nennen Sie mich nicht Mr. Dalton“, erklärte er. Unter Mr. Dalton verstand er nämlich seinen Vater Ben, einen angesehenen Anwalt. Er selbst hielt sich nur für einen einfachen Rancher. „Sagen Sie bitte Anderson zu mir.“

Sie war es nicht gewohnt, so ungezwungen mit den Eltern ihrer Schüler umzugehen, solange sie einander nicht außerhalb des Klassenzimmers kannten. „Ich denke nicht, dass das angemessen …“

„Wenn wir Jake helfen wollen“, unterbrach er, „sollten wir als Team agieren und nicht wie zwei höfliche Unbekannte, die nicht schnell genug voneinander Abstand bekommen können.“

Marina runzelte die Stirn. War das die Botschaft, die sie aussandte, indem sie ihn formell anredete? Das lag definitiv nicht in ihrer Absicht. „Also gut, Anderson. Kommen wir darauf zurück, was Sie vorhin gesagt haben. In einer perfekten Welt würde natürlich jedes Kind von zwei liebenden Elternteilen aufgezogen werden.“

Unwillkürlich guckte sie zu ihrer Tochter und spürte einen Stich. Es tut mir so leid, dass es nicht geklappt hat, Kleines. Trotzdem, es ist keine Katastrophe. Ich bin auch überwiegend ohne Dad aufgewachsen, und es ist super gelaufen. Sie wandte sich wieder an Anderson. „Wie wir beide wissen, ist die Welt allerdings nicht perfekt, bei Weitem nicht.“

„Stimmt. Mir ist durchaus bewusst, dass nicht jede Beziehung funktioniert.“ Mir ist das aus eigener Erfahrung schmerzlich bewusst. „Aber das ist keine Entschuldigung dafür, nicht für sein Kind da zu sein. Es hat ja nicht darum gebeten, auf diese Welt zu kommen. Meiner Meinung nach sind die Menschen, die für die Geburt verantwortlich sind, dem Kind etwas schuldig.“

Autor

Marie Ferrarella

Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...

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