Julia Ärzte zum Verlieben Band 191

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ZUGFAHRT INS GLÜCK MIT DR. MCINTYRE von ANNIE CLAYDON

Er hat die sensiblen Hände eines Chirurgen, seine Augen sind strahlend blau, und sein Lächeln ist die pure Verführung! Physiotherapeutin Grace beginnt zu hoffen, dass ihre Zugfahrt mit Dr. McIntyre für sie nicht in Cornwall endet – sondern in seinen starken Armen …

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  • Erscheinungstag 01.06.2024
  • Bandnummer 191
  • ISBN / Artikelnummer 8031240191
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Annie Claydon, Deanne Anders, Karin Baine

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 191

1. KAPITEL

Nur eins sollte man beachten, wenn man sich am späten Freitagnachmittag den Weg durch einen der Londoner Hauptbahnhöfe bahnte: Pass auf deine Knöchel auf!

Grace Chapman wollte sich an einem der Imbiss-Stände im Bahnhof Paddington noch einen Kaffee holen, bevor sie ihren Zug nahm. Es war der erste Ansturm des Abends – Menschen, die etwas früher von der Arbeit nach Hause wollten, um dem Berufsverkehr zu entgehen. Sie blieb stehen, um die Abfahrtstafel zu studieren, und jemand rammte ihr einen Koffer gegen den linken Knöchel.

„Entschuldigung …“ Das Wort wehte über die Schulter der Frau zu ihr zurück. Keine Zeit zum Anhalten, wenn man sich beeilt, um das Wochenende zu genießen, was auch immer es bringen mochte.

„Schon okay …“ Grace zuckte die Schultern. Offensichtlich war es der Frau egal, ob es okay war oder nicht.

Vielleicht bin ich wirklich dabei, unsichtbar zu werden.

Verloren in den Heerscharen der Kümmerer, die nicht viel Zeit für andere soziale Kontakte hatten und deshalb taktvoll übergangen wurden, wenn Freunde ihre Wochenendpläne schmiedeten. Manchmal fühlte sie sich, als würde sie vor den Augen der anderen verblassen.

Grace seufzte und rieb sich den Knöchel. Zu lange schon hatte sie vor der Anzeigetafel gestanden und sich die Namen der Städte angeschaut, in die sie nicht fahren würde. Und so blieb keine Zeit mehr für einen Kaffee.

Im Zug würde sie genug Gelegenheit haben, etwas zu trinken und die Seele baumeln zu lassen. Grace suchte sich ihren Weg durch die Menge am Bahnsteig zum richtigen Waggon mit dem reservierten Platz.

In dieser Woche war der Zug nicht allzu voll, und in der Vierergruppe saß nur ein Mann am Fenster, ihrem Platz gegenüber. Sie lächelte ihm kurz zu, als sie ihre Tasche in der Gepäckablage verstaute, und setzte sich. Dabei erhaschte sie einen flüchtigen Blick in seine strahlend blauen Augen.

Es war verlockend, einen zweiten Blick zu riskieren. Aber in den nächsten fünf Stunden auf dem Weg nach Cornwall würde niemand mehr ihre Aufmerksamkeit beanspruchen, und Grace konnte mit ihren Gedanken allein sein. Sie zog eine Fachzeitschrift aus ihrer Handtasche und schlug sie auf, das universelle Zeichen der Reisenden, dass sie in Ruhe gelassen werden wollten. Der Zug ruckelte leicht, als er aus dem Bahnhof rollte und mit steigender Geschwindigkeit London verließ.

„Seite siebenundzwanzig.“

In der warmen Stimme schwang Humor mit. Die Hand des Mannes ruhte auf einer aufgeschlagenen Zeitschrift vor ihm, und als Grace genauer hinsah, wurde ihr klar, dass es die gleiche Ausgabe wie ihre war.

„Guter Artikel?“

Er lächelte, und sie spürte das plötzliche Aufflackern von etwas, das sie längst hinter sich gelassen hatte. Etwas, für dessen Wiederbelebung sie weder Zeit noch Lust hatte. „Er ist interessant.“

„Danke. Ich sehe ihn mir an.“

Der Mann nickte, nahm seine Zeitschrift und blätterte darin. Anscheinend war sein Gesprächsbedarf damit erschöpft, was Grace ganz recht war. Nur …

Da war etwas an ihm. Etwas in seinem Lächeln, das sie zum Weiterreden drängte. Was ihr sofort an ihm aufgefallen war, waren seine blauen Augen, in denen Humor funkelte. Markantes Kinn, kurzes blondes Haar – er hätte einer der Surfer sein können, die zu dieser Jahreszeit ihre Wochenenden in Cornwall verbrachten.

Er ertappte sie dabei, wie sie ihn über den Rand ihrer Zeitschrift hinweg ansah. Eigentlich wollte sie wieder wegschauen, aber ein anderer, stärkerer Impuls zwang sie, seinem Blick zu begegnen. Als er lächelte, konnte sie nicht anders, sie lächelte auch.

„Orthopäde?“

„Gut geraten. Warum?“

„Sie haben eine orthopädische Fachzeitschrift abonniert …“ Sie nickte in Richtung der Titelseite seines Exemplars, das in der Ecke einen Aufkleber mit einem Strichcode trug. „Und Sie sind im Anzug.“

Ein sehr guter Anzug. Die Handnähte am Revers und die Art, wie er auf den breiten Schultern saß, machten es deutlich.

„Ich könnte auf dem Weg zu etwas sein, das einen Anzug erfordert.“ Jetzt scherzte er, und Grace lief ein leichter Schauer über den Rücken. Sie legte ihre Zeitschrift auf den kleinen Tisch zwischen ihnen und versuchte, das unerwünschte Kribbeln zu ignorieren.

„In einem Zug, der um neun Uhr abends ankommt? Ziemlich spät dafür. Und Sie haben da eine Knitterfalte.“ Grace deutete auf seinen rechten Ellbogen. Das Spiel gefiel ihr allmählich.

Er lachte auf. „Na gut, ein Anzug und eine orthopädische Zeitschrift. Aber ich war heute im OP, was Sie nicht wissen konnten.“

Vielleicht doch, wenn sie vorher einen Blick auf seine Hände geworfen hätte. Perfekt geschnittene Fingernägel und dazu das weiche Aussehen, das von häufiger Feuchtigkeitscremezufuhr herrührte. Jetzt sah er sie abschätzend an. Grace widerstand dem Impuls, ihre Zeitschrift zu nehmen und sich dahinter zu verstecken, und fragte sich, ob er sich genauso nackt gefühlt hatte wie sie jetzt.

„Orthopädie, natürlich.“ Er schaute lächelnd auf die Zeitschrift vor ihr. „Ich würde sagen, Reha, wegen des Artikels, den Sie gerade gelesen haben. Und Ihre Schuhe verraten mir, dass Sie die meiste Zeit des Tages auf den Beinen sind …“

Ihm waren also ihre bequemen Sneakers aufgefallen. Da ihre Füße unter dem Tisch verborgen waren, musste er sie gesehen haben, als sie zu ihrem Platz gegangen war, und irgendwie fühlte sich Grace bei diesem Gedanken erst recht nackt. Wundervoll, erfrischend nackt, als hätte sie sich ihrer Kleider entledigt, um sich in der Sonne zu bräunen.

„Ich rate mal und sage Physiotherapeutin.“

Sein Lächeln hatte einen Hauch von Verruchtheit. Wäre sie ihm in einem anderen Leben begegnet …

Aber sie hatte nun einmal nur dieses Leben. Diesen Moment, in diesem Zug.

„Stimmt.“

„Und Sie sind auf dem Weg nach Hause. Besuchen Sie jemanden?“ Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, als sie die Augenbrauen hochzog. Für einen Fremden stellte er sehr persönliche Fragen. „Ich höre einen leichten kornischen Zungenschlag heraus.“

Allerdings hatte sie das Spielchen begonnen und konnte es ihm kaum verübeln, dass er ihre Herkunft erraten hatte, deren Spuren auch zehn Jahre London nicht hatten verwischen können. Wahrscheinlich stammte er auch aus Cornwall, selbst wenn man es nicht hörte.

„Ich besuche meine Großmutter. Sie wird langsam gebrechlich und braucht Unterstützung. Also kümmern sich meine Schwester und meine Cousinen unter der Woche um sie und ich am Wochenende.“

Wenn sie es so sagte, klang es weniger beschwerlich. Eher nach Wochenendausflügen als nach der immer mühseliger werdenden Arbeit, damit ihre Großmutter gut versorgt war. Aber er schien nicht darauf reinzufallen, denn sein Blick wurde weicher, was irgendwie darauf hindeutete, dass er verstand, wie schwierig es war.

„Sie sind auch aus Cornwall?“

Mit etwas Glück würde er nun sein Handy zücken und ihr Bilder von seiner Frau und seinen wundervollen Kindern zeigen, die dort auf ihn warteten. Das wäre das Ende der Fantasien, die sich in ihrem Kopf bildeten, und sie könnten den Rest der Fahrt mit einem netten Gespräch verbringen. Oder schweigen. Was auch immer.

„Gut erkannt. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Akzent schon nach Exeter wieder herauszuhören ist.“

In seinem Lächeln lag ein Hauch von Selbstironie. Er nahm sein Handy vom Tisch und begann zu scrollen. Jetzt kommt es …

„Hier ist der Grund, warum ich im Zug sitze …“

Er reichte ihr das Handy, und Grace spürte, wie sie die Stirn runzelte. Keine Sonne, kein fröhliches Lächeln, nur ein steinernes Gebäude, das wie eine umgebaute Scheune aussah, umgeben von Bäumen. Davor parkten Autos und Lieferwagen, vermutlich eine Firma.

„Was ist das?“ Grace kniff die Augen zusammen und versuchte, die Schrift zu lesen, die sich über eine Seite des Gebäudes erstreckte.

„Wischen Sie nach rechts.“

Grace konnte nicht widerstehen.

„Oh! Das ist wunderschön!“

Er lächelte. „Da sind noch mehr …“

Sie hätte das Bild gern noch länger betrachtet. Die mit wirbelnden Blautönen überzogene Glasvase wirkte, als hätte sich das Meer zu einer perfekten Welle erhoben. Grace wischte zurück zum Bild des Gebäudes und vergrößerte es so, dass sie das Schild lesen konnte.

„Sie sind Chirurg und jobben nebenbei in einer Glasmanufaktur?“

Er lachte und nickte. „So unwahrscheinlich das klingen mag, ja. Das ist die Glasmanufaktur meines Vaters. Er ist vor einem Jahr gestorben, und ich tue mein Bestes, um sie über Wasser zu halten.“

„Es tut mir leid, das zu hören. Dass Ihr Vater gestorben ist, meine ich …“

„Danke.“ Er presste die Lippen zusammen, ein Schatten glitt kurz über sein Gesicht. Aber es schien, als wollte er sich genauso wenig wie sie mit den schweren Dingen des Lebens aufhalten.

„Sehen Sie, was wir machen …“

Grace blätterte ein Foto nach dem anderen durch. Ein Glaskunstwerk nach dem anderen war dort abgebildet, durchdrungen von einer fließenden Bewegung, die die Stücke lebendig erscheinen ließ. Licht und Farbe, geformt zu etwas, das man berühren konnte.

„Sie sind unglaublich schön. Hat Ihr Vater sie geschaffen?“

„Er hat den Stil vorgegeben und Menschen zusammengebracht, die ihn umsetzen. Wir führen diese Tradition fort. Alle Stücke, die Sie hier sehen, sind im letzten Jahr entstanden.“

„Wirklich wunderschön. Ich verstehe, warum Sie das weiterführen wollen.“

Er nickte. „Wir haben Künstler, die seit zwanzig Jahren bei uns arbeiten. Als mein Vater unerwartet starb, dachten sie, das Beste, was sie erwarten könnten, wäre, dass ich die Firma an jemanden verkaufe, der vielleicht einige von ihnen weiter beschäftigen würde. Ich wollte mehr für sie tun, auch wegen meines Vaters.“

„Und so übernahmen Sie den Betrieb?“ Das klang nach einer fordernden Aufgabe. Dagegen erschien die Betreuung ihrer Großmutter an den Wochenenden eher einfach.

„Für eine Weile. Wir arbeiten daran, dass er von den Menschen geführt wird, die dort tätig sind, aber das braucht Zeit. Wir müssen Managementfähigkeiten und Entscheidungsprozesse entwickeln, wenn nicht alles zusammenbrechen soll, sobald ich wieder weg bin.“

„Das klingt sehr schwierig.“

„Die meisten Dinge, die sich lohnen, sind schwierig.“ Er zuckte mit den Schultern. „Möchten Sie etwas aus dem Speisewagen?“

Grace wollte einen Kaffee, obwohl es verlockend war, sich die Fotos noch ein wenig länger anzusehen. Sie legte das Handy zurück und griff nach ihrer Tasche, um ihr Portemonnaie he-rauszuholen , aber er schüttelte den Kopf und stand auf.

„Bleiben Sie hier, und passen Sie auf meine Sachen auf. Ich gehe …“

Penn McIntyre war nicht über die Überschriften der Fachartikel hinausgekommen. Vor seinen Augen verschwammen vor Müdigkeit die Buchstaben. Einige Patienten hatten ihre Termine für heute Nachmittag abgesagt, und er hatte einen früheren Zug genommen, um noch vor Mitternacht in Cornwall zu sein. Er sehnte sich nach Schlaf.

Und dann … Dann hatte ein Engel ihre Tasche auf das Ablagefach über seinem Kopf geschoben. Er hatte einen kurzen Blick auf hellblonde Locken und grüne Augen erhascht, bevor seine guten Manieren ihn zwangen, sie nicht weiter anzustarren.

Aber die Frau musste wirklich ein Engel sein, denn sie brachte kleine Wunder mit. Es war nicht zu übersehen, dass sie dieselbe Orthopädie-Zeitschrift las wie er. Als er sie dabei ertappte, wie sie ihn über die Seiten hinweg ansah, hatte er es gewagt …

Plötzlich war er hellwach, als hätte ihre bloße Anwesenheit wie der ersehnte Schlaf gewirkt. Ein weiteres Wunder. Das sie noch übertraf, als sie ihn anlächelte und ihm antwortete.

Auch sie sah müde aus. Penn vermutete, dass die Wochenenden bei ihrer Großmutter anstrengender waren, als sie vorgab. Er hatte weder Zeit noch Lust, den Katastrophen, die er schon erlebt hatte, noch ein Beziehungsfiasko hinzuzufügen. Aber eine Zugfahrt hatte einen Anfang und ein Ende. Und der Wunsch, diese Zeit mit ihr zu verbringen, war überaus verlockend.

Im Speisewagen stellte er sich in die Schlange, nahm sich schließlich zwei Sandwichs und bestellte zwei Kaffee. Er bezahlte und ging zurück zu den Sitzen, wobei er vorsichtig die beiden großen Pappbecher balancierte. Er stellte die Becher auf das Tischchen, und sie bedankte sich mit einem Lächeln, zog den Plastikdeckel von einem der Becher und seufzte glücklich.

„Schokoladenstreusel. Ich hatte vergessen, darum zu bitten, danke …“

Penn nickte. Er war auf Nummer sicher gegangen, und der andere Cappuccino hatte keine Schokostreusel, also konnte er ihr die Wahl lassen. Er öffnete die mitgebrachte Tüte.

„Sandwich?“

Sie zögerte, offenbar genauso hungrig wie er.

„Ich habe noch nichts gegessen … Welches ist Ihrs?“

„Suchen Sie sich eins aus.“

Sie entschied sich für Schinken und Käse, dann griff sie in die Tasche auf dem Sitz neben ihr und holte ihr Portemonnaie heraus.

Penn schüttelte den Kopf, aber sie ignorierte ihn, warf einen Blick auf den Bon an der Tüte und schob ihm einen Zehn-Pfund-Schein über den Tisch. Penn suchte in seiner Tasche nach Kleingeld, und als er ihr die Münzen in die Hand drückte, warf sie ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, denn sie wusste offensichtlich, dass er ihr zu viel gegeben hatte.

„Ich weiß nicht einmal Ihren Namen …“

„Penn.“ Vielleicht reichte ihr der Vorname.

„Abkürzung für …“ Sie hielt inne und warf ihm einen fragenden Blick zu, als er die Hand hob.

„Penrose. Ein Name mit Tradition in unserer Familie.“

„Und Kinder können grausam sein …“ Sie verzog den Mund.

„Ja, ich habe alle kreativen Alternativen gehört, die es gibt.“

„Ich finde, es ist ein toller Name. Und Penn ist noch besser.“ Sie lächelte und streckte die Hand aus. „Hallo, Penn. Ich bin Grace.“

Der Zug schien doppelt so schnell zu fahren wie sonst. Ein Becher Kaffee und ein Sandwich, und London war eine ferne Erinnerung, während sie durch die Landschaft rasten und nur an den großen Bahnhöfen anhielten.

In diesen wenigen Stunden geschah viel. Penn war ein ungewöhnlicher Mann. Jemand, der aufmerksam zuhörte und offen redete. Sie unterhielten sich über seine Kindheit in Cornwall. Er war Einzelkind mit geschiedenen Eltern, die sich weitgehend wieder versöhnt hatten, und aufgeteilt zwischen barfuß am Strand laufen, wenn er bei seinem Vater war, und weniger frei in der Gesellschaft seiner Mutter.

„Sie ist künstlerisch veranlagt und hat einen vollen Terminkalender. Und sie kann nicht lange still sitzen …“

Grace gestattete sich, etwas ausführlicher als sonst über ihre Kindheit zu sprechen.

„Meine Mutter leidet am Chronischen Erschöpfungssyndrom, und es gab Zeiten, in denen sie es nicht einmal schaffte, aus dem Bett zu kommen. Ich war die Älteste und lernte kochen und einkaufen und kümmerte mich um meine kleinen Geschwister.“

Penn nickte. „Sozusagen das pflichtbewusste Kind im Haus?“

Grace hatte es nie so gesehen, aber es stimmte. Sie war stolz darauf gewesen, wie sie ihrer Mutter geholfen hatte, und fühlte sich sehr erwachsen, wenn sie nach der Schule mit ihrem Portemonnaie und der Einkaufstasche zum Dorfladen ging.

„Gran hat auch viel gemacht. Mein Vater übernahm dann, wenn er von der Arbeit kam. Und die Leute aus dem Dorf hatten immer ein Auge auf uns. Sie wussten alle, dass es Mum manchmal nicht gut ging.“

„Aber Sie haben in London studiert?“

„Ja, meine Geschwister waren inzwischen in einem Alter, in dem sie für sich selbst sorgen konnten. Ich wollte eigentlich zu Hause bleiben, doch dann bekam ich ein Angebot von einer guten Universität in London, und Mum und Dad ermutigten mich, die Flügel auszubreiten. Doch am Ende war es Gran, die mich überredet hat.“

„Sie scheint ein wichtiger Mensch in Ihrem Leben zu sein.“

„Gran war diejenige, die immer Zeit für mich hatte. Als ich klein war, hat sie jeden Samstagnachmittag etwas mit mir unternommen, und wir haben die tollsten Abenteuer erlebt.“

„Und sie gab gute Ratschläge?“

„Ausgezeichnete Ratschläge. Sie sagte, ich könnte mich in die Stadt verlieben – oder auch nicht. Das würde keine Rolle spielen. Aber wenn ich hundertprozentig sicher wäre, dass ich nie bereuen würde, es nicht wenigstens versucht zu haben, dann sollte ich zu Hause bleiben.“

Penn lächelte. „Natürlich haben Sie das Angebot angenommen.“

Grace zuckte die Schultern. „Was hätte ich denn machen sollen? Ich dachte, in London gäbe es nur interessante Orte und Leute, aber am Anfang war ich richtig unglücklich, weil ich in einem übervollen, lauten Studentenwohnheim lebte und niemanden kannte. Im zweiten Semester fing es an, mir zu gefallen.“

„Anonymität hat doch auch etwas für sich, oder? Sich unter Fremden zu Hause zu fühlen.“

„Das gefällt Ihnen?“

„Ich glaube, ich verbringe im Moment ein bisschen zu viel Zeit damit, für alle da zu sein. Ich habe die Glasmanufaktur übernommen, spreche mit allen, um einen Weg in die Zukunft zu finden.“

Das klang wahr, schien jedoch nicht die volle Wahrheit zu sein. Grace ließ es auf sich beruhen. Sie waren Fremde, die sich zufällig im Zug gegenübersaßen. Dass sie einiges gemeinsam hatten, bedeutete nicht, dass sie in jeder Hinsicht gleich empfanden.

„Sie sind Chirurg und reden nicht gern mit Menschen?“

Er lachte plötzlich. „Nein, ich spreche so viel wie möglich mit meinen Patienten. Ich fühle mich dabei auch viel wohler. Medizin war immer mein Berufswunsch.“

„Und ich bin glücklich mit dem, was ich tue. Kein Tag ist wie der andere. Jeder Patient ist anders.“

„Ich nehme das als Empfehlung. Sie müssen gut in Ihrem Job sein.“

Es war ein nettes Kompliment, und Penn schien es ernst zu meinen. Er erkundigte sich nach ihrer Arbeit, und Grace beschrieb die Klinik in Camden Town, wo sie mit Menschen arbeitete, die unter Verletzungen und Krankheiten litten, von Muskelkater bis zu Verkehrsunfällen.

Er hörte aufmerksam zu, stellte Fragen und schien sich ihre Antworten zu merken.

Auf Grace’ Frage hin erzählte er ihr, dass er sich seine Zeit einteile: drei Tage pro Woche in einer Privatklinik im Zentrum Londons und zwei in dem Krankenhaus, wo er seine Facharzt-Ausbildung zum Chirurgen absolviert hatte.

„Ein guter Ausgleich.“ Er musste gesehen haben, wie sie erstaunt die Stirn runzelte. „Beides bringt mir viel.“

Sein Wissensdurst schien unersättlich zu sein. Penn schien alles wissen und verstehen zu wollen, und sie spürte, wie ihre eigene Neugier wuchs. Er war gebildet, sah gut aus und besaß eine gewisse Anziehungskraft, die es ihr leicht machte, sich mit ihm zu unterhalten. Warum sollte jemand wie er Wert auf Anonymität legen?

Er lebte allein, in Holland Park, einem Teil von London, wo die Gutbetuchten wohnten. So, wie er davon erzählte, vermutete sie, dass seine Familie Geld hatte. Und dann erkundigte er sich geschickt nach ihrer Lebenssituation, ohne direkt zu fragen.

„Ich hatte eine Beziehung, die vor einem Jahr in die Brüche ging. Mein Partner meinte, es würde ihm nichts ausmachen, dass ich an den Wochenenden nach Cornwall fahre. Leider erwies es sich als schwieriger, als wir dachten.“

Das war die abgemilderte Version. Jeremys unausgesprochene Bedingung war, dass sie, wenn sie am Wochenende weg war, unter der Woche jede freie Minute mit ihm verbrachte. Manchmal setzte er sie sogar unter Druck, nicht zu fahren, obwohl Grace niemanden so schnell finden konnte, der sich an ihrer Stelle um Gran kümmern konnte.

„Es tut mir leid, das zu hören. Das muss für Sie eine schmerzhafte Zeit gewesen sein.“

„Ich wünschte nur, ich hätte von Anfang an gewusst, wo wir stehen. Dann wäre mir eine ständige Gratwanderung erspart geblieben.“

Er nickte. „Ich verstehe, was Sie meinen. Ich denke, es muss mindestens eine Sache im Leben geben, bei der man seinen eigenen Standpunkt durchsetzt. Eine, bei der man keine Kompromisse eingeht.“

Das klang nach etwas, worüber sie nachdenken sollte. Aber vielleicht nicht jetzt, denn sie wollte Penns Gesellschaft genießen.

„Wie wär’s mit noch einem Kaffee? Da gehe ich keine Kompromisse ein.“

Er lachte auf. „Ich auch nicht.“

„Wir haben noch Zeit für einen zweiten Kaffee, bis wir in New-
quay ankommen.“ Sie stand auf und holte ihr Portemonnaie aus der Tasche, ehe er reagieren konnte.

Wenn du nur noch eine Minute Zeit hättest, was würdest du sagen?

Sie schienen mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung New-
quay zu rasen. Bei diesem Tempo würde die Minute schweigend vergehen, während Grace noch überlegte, was passend wäre und was nicht.

Penn nahm ihr die Entscheidung ab. Als der Zug vor der Einfahrt in den Bahnhof langsamer wurde, packte er seine Sachen zusammen und nahm die Reservierung von der Rückenlehne seines Sitzes. Er warf einen kurzen Blick darauf, steckte sie dann in seine Jackentasche.

„Sie fahren jeden Freitagabend mit diesem Zug?“

Grace nickte und fühlte ihr Herz in der Brust klopfen.

„Ich auch. Ich werde diesen Platz nächste Woche wieder reservieren.“

Bevor sie etwas sagen konnte, war er auch schon weg, zwischen den Sitzreihen hindurch in Richtung der Schlange, die sich zum Aussteigen gebildet hatte.

Die Türen öffneten sich zischend, und Grace sah ihn aussteigen und davongehen.

Also kein Abschied auf dem Bahnsteig. Kein Versuch, in Worte zu fassen, was diese Zugreise ihr bedeutet hatte, und sich dabei vielleicht lächerlich zu machen. Nicht sich umdrehen und sich fragen müssen, ob er ihr nachsah.

Grace griff nach ihrer Platzkarte und verstaute sie sorgfältig in ihrer Tasche.

2. KAPITEL

War sein Hinweis deutlich genug gewesen? Oder zu aufdringlich? Hätte Penn lieber alles dem Schicksal überlassen sollen?

Normalerweise nahm er am Freitagabend einen späteren Zug nach Cornwall, hatte jedoch seine Sekretärin gebeten, den Terminplan so zu ändern, dass er den Zug, den Grace nehmen würde, rechtzeitig erreichte. Jetzt konnte er nur noch abwarten, ob sie den Platz gegenüber ebenfalls reserviert hatte.

Er fragte sich auch, ob es klug gewesen war, denn es fühlte sich fast schon wie ein Date an. Niemand bei klarem Verstand würde von jemandem verlangen, wie aufregend es auch gewesen war, fünf Stunden zusammen in einem Zug zu verbringen, um sich dann wieder zu trennen. Schon gar nicht Penn McIntyre, der 22. Lord of Trejowan.

Aber die Zugfahrt war wie ein frischer Wind gewesen. Offen und ohne die Last der letzten einundzwanzig Generationen seiner Familie, die so viele seiner Beziehungen unerträglich belastet hatte. Weshalb er die Burg nicht erwähnt hatte. Der Fluch der Burg hatte ihn sein ganzes Leben lang verfolgt. Als Kind gemobbt, als Jugendlicher misstrauisch beäugt. Egal, wie hart er arbeitete, immer blieb der Eindruck, dass alles Erreichte nur das Ergebnis von Privilegien war. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, reichte es der einzigen Frau, die er so sehr liebte, dass er sie heiraten wollte, nicht, dass Penn McIntyre sein Geld als Chirurg verdiente. Sie wollte den Mann Lord Trejowan.

Alles, was er im Gespräch mit Grace nicht nannte, betraf die unzerreißbaren Fäden, die sich durch sein ganzes Leben zogen. Und auch wenn er sich einredete, dass es kein Betrug war, sondern dass er nur noch nicht darüber gesprochen hatte, wusste er, dass das nicht stimmte. Aber Grace schien gegen Anonymität nichts zu haben, und er wollte nicht darüber nachdenken, was passierte, wenn sich das änderte. Dazu freute er sich zu sehr auf den Freitagabend.

Er eilte durch den Bahnhof Paddington und fragte sich, ob Grace auch da sein würde. Als er in den Zug stieg und am Ende der Sitzreihe einen Blick auf ihre blonden Locken erhaschte, machte sein Herz einen Sprung.

Immer langsam … Zum hundertsten Mal überprüfte er, ob das kleine Päckchen in seiner Laptoptasche noch da war.

Grace lächelte ihn an, als er sich vorbeugte, um seine Reisetasche im Gepäckfach zu verstauen.

„Hi. Sie haben es also geschafft?“

„Sie auch …“ Er lächelte und setzte sich.

Grace schob ihm einen der beiden Pappbecher hin, die auf dem Tischchen standen.

„Da wir letzte Woche beim Kaffee keine Kompromisse gemacht haben … Möchten Sie auch einen?“

Penn lehnte sich zurück, nickte dankend und trank einen Schluck. Ihre Augen schienen grüner zu sein, als er sie in Erinnerung hatte, und noch schöner.

„Ich habe auch etwas für Sie.“ Er holte das Päckchen heraus und schob es über den Tisch.

So wie ihre Hand zurückwich, als hätte sie Angst, etwas von ihm anzunehmen, war Penn froh, dass er auf Schachtel und Geschenkpapier verzichtet hatte. Letzte Woche hatte sie nicht gewollt, dass er ihr ein Sandwich spendierte. So hatte er sich mit Luftpolsterfolie begnügt. Das würde eher den Eindruck einer flüchtigen Geste erwecken als etwas, das er sorgfältig ausgewählt hatte.

„Was ist das?“

„Wenn Sie es öffnen, werden Sie es sehen. Ich habe es aus der Glasmanufaktur mitgebracht.“

Sie löste die Folie und packte es vorsichtig aus. „Oh, ist das schön! Er sieht genauso aus wie ein echter Delfin in Bewegung …“

„Phil, der ihn gefertigt hat, ist ein begeisterter Delfinbeobachter. Er ist stolz auf seine Detailtreue und wird sich freuen, das zu hören.“

Sie hielt den Delfin gegen das Licht, blaue Strahlen spiegelten sich in ihrem Gesicht. Der Drang, ihre Haut zu berühren, war fast unwiderstehlich, aber Penn wusste, dass er widerstehen musste, wenn er nicht alles verderben wollte.

„Ist das Ihre Methode? Die Leute dürfen herstellen, was sie wollen?“

„Nicht ganz. Wir haben unseren eigenen Stil. Aber innerhalb dieses Stils gibt es viel Raum für jeden Glasmacher, kreativ zu sein.“

„Und so war es auch, als Ihr Vater das Sagen hatte?“

Penn schüttelte den Kopf. „Nein, mein Vater war selbst Glasmacher, also entwarf er alles, und die anderen folgten seinen Mustern. Wir haben beschlossen, das zu ändern, sodass jeder nach seiner eigenen Vorstellung Stücke entwirft, zusätzlich zu den Vorgaben meines Vaters.“

„Wir …?“

„Einmal im Monat findet eine Mitarbeiterversammlung statt. Da wird alles besprochen und gemeinsam entschieden.“

„Und es funktioniert. Dieser Delfin ist einfach wunderschön geworden.“

„Danke. Ich werde Phil erzählen, dass er Ihnen gefällt.“

Er lehnte sich zurück und freute sich über Grace’ offensichtliche Freude. Dann aber stellte sie die Frage, vor der er sich gefürchtet hatte.

„Es muss wunderbar gewesen sein, mit all dem aufzuwachsen. Hat Ihre Familie bei der Glasmanufaktur gewohnt, als Sie noch ein Kind waren?“

„Nein, die Ehe meiner Eltern zerbrach, und mein Vater zog aus und in das Cottage dahinter.“

„Und Ihre Mutter wohnte in der Nähe?“

„Ein Stückchen weiter die Küste entlang. Ziemlich abgelegen. Das ist einer der Gründe, warum sie schließlich nach London gezogen ist.“

Seine Antworten hatten den gewünschten Effekt. Es waren keine wirklichen Unwahrheiten dabei, aber sie enthielten nicht die Worte Lord oder Burg. Und Grace ging auf den Londoner Teil ein und bemerkte, dass es schön sein müsse, seine Mutter in derselben Stadt wohnen zu haben.

„Ja, das ist es.“ Penn entspannte sich. Krise abgewendet. „Und was haben Sie diese Woche so gemacht …?“

Grace hatte sich schon die ganze Woche darauf gefreut, Penn im Zug wiederzusehen.

Es war ihr ein wenig peinlich, dass sie ihm nur einen Becher Kaffee für den schönen Glasdelfin ausgeben konnte. Aber sie hatte viel darüber nachgedacht, was er das letzte Mal gesagt hatte, und sich gefragt, wo sie ihren Standpunkt vertrat und sich weigerte, Kompromisse einzugehen. Und sie war zu dem Schluss gekommen, dass es hier war … Diese Stunden im Zug gehörten ihr, und sie wollte sie mit Penn verbringen.

Das war riskant. Schließlich hatte sie Jeremy all ihre Zeit geschenkt, und doch hatte es ihm nicht gereicht.

Aber Penn schien so ganz anders. Seine Schilderung eines kreativen Wettbewerbs in der Glasmanufaktur ließ sie lächeln. Doch dann sah sie, wie eine Zugbegleiterin schnell den Gang entlangging und leise mit den Passagieren sprach. Sie hörte das Wort Arzt und legte spontan ihre Hand auf Penns Arm, zog sie aber schnell wieder zurück, als ihr klar wurde, was sie tat.

Es war das erste Mal, dass sie sich absichtlich berührten, obwohl im engen Raum unter dem Tisch gelegentlich Füße und Beine aneinandergestoßen waren, was zu hektischem Rückzug und entschuldigendem Lächeln geführt hatte.

Er drehte sich um, und Grace hörte die Frage noch einmal.

„Ist hier ein Arzt?“

Penns Arm schnellte in die Höhe, und sofort eilte die Zugbegleiterin auf sie zu.

„Ich bin Orthopäde. Meine Freundin ist Physiotherapeutin. Können wir Ihnen helfen?“

Freundin … Ein neues Wort, das die Reise noch angenehmer machte, aber damit würde sie sich später befassen, denn die Situation schien ernst zu sein.

„Danke. Jemand ist gestürzt und hat sich verletzt. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie helfen könnten.“ Penn war bereits aufgestanden, und die Frau deutete in die Richtung, aus der sie gekommen war. „Drei Wagen weiter. Nicht zu verfehlen. Ich hole Ihre Sachen und bringe sie Ihnen.“

Grace zeigte der Zugbegleiterin rasch, welche der Taschen ihnen gehörten.

„Danke. Lassen Sie das aber nicht kaputtgehen, ja?“ Sie deutete auf den gläsernen Delphin, der noch ausgepackt auf dem Tisch lag, lächelte dankbar und eilte dann Penn hinterher.

Am Ende des dritten Waggons lag jemand im Gang, ein Zugbegleiter kniete neben ihm. Die Fahrgäste um sie herum hatten Platz gemacht, andere reckten die Hälse, um zu sehen, was vor sich ging. Penn zog seinen Ausweis hervor und zeigte ihn dem Mann.

„Danke, dass Sie gekommen sind, Dr. McIntyre. Der Herr ist auf dem Rückweg vom Speisewagen gestolpert und gestürzt. Er ist seit einigen Minuten bewusstlos, und wir haben ihn in die stabile Seitenlage gebracht. Die Bordapotheke ist da drüben …“ Er zeigte auf eine Tasche auf einem der Sitze.

Perfekt. Jemand, der wusste, was zu tun war, und der die notwendigen Details mitteilen konnte. Und dann aus dem Weg ging. Der Zugbegleiter trat zurück, und Penn kniete sich in den engen Raum. Der Mann war jung, etwa so alt wie Grace, und lag mit einem kleinen Kissen unter dem Kopf auf der Seite.

„Wie lange ist er schon bewusstlos?“

„Ich … weiß es nicht.“ Der Zugbegleiter sah sich um. „Jemand anders vielleicht …“

„Fünf Minuten.“ Hinter der Kopfstütze tauchte das Gesicht einer Frau auf. „Ich habe die Zeit gestoppt.“

Gut gemacht. Grace war sich nicht sicher, ob sie das nächste Mal auf die Uhr schauen würde, wenn sie jemanden zu Boden fallen sah.

„Großartig, danke.“ Penns Aufmerksamkeit richtete sich auf den Mann am Boden. „Weiß jemand, wie er heißt?“

Schweigen. Grace beugte sich vor und durchsuchte vorsichtig die Innentasche der Jacke. Sie wurde fündig, öffnete die Brieftasche und zog einen Führerschein heraus.

„Thomas Stanford.“

„Danke.“ Penns lächelnde blaue Augen blitzten kurz auf, dann drehte er den Kopf wieder weg und versuchte vorsichtig, den Mann zu wecken. „Thomas … Thomas …“

Keine Reaktion. Das sah nicht gut aus. Grace reichte dem Zugbegleiter die Brieftasche zur Aufbewahrung, und Penn blickte wieder zu ihr hoch.

„Versuchen Sie es bitte.“ Penns ruhige Gewissheit sagte ihr, dass er seine Gründe hatte.

„Tom … Öffnen Sie die Augen, Tom.“

Langsam schlug er die Augen auf, und Grace beugte sich noch etwas weiter vor. „So ist es gut. Sehen Sie mich an.“

Er schien sich auf ihr Gesicht fokussieren zu können, und Grace lächelte. „Nennt man Sie Tom oder Thomas?“

„Tom …“

„Hallo, Tom. Ich bin Grace. Mein Freund hier ist Arzt, und Sie sind in guten Händen.“

Wieder dieses Wort. Sie glaubte zu sehen, wie Penns Lippen sich zu einem Lächeln verzogen, und auch sie lächelte.

Tom wurde nach und nach wacher. Penn fühlte seinen Puls und untersuchte seinen Kopf. Dann bat er einen der Zugbegleiter, etwas zu besorgen, das sie als Kühlkompresse verwenden konnten, und eine Decke zu holen. Toms Blick wanderte zu ihm, und Penn begann, ihn auf eine Gehirnerschütterung zu untersuchen.

„Mein Bein …“ Tom zuckte vor Schmerzen zusammen.

„Grace?“ Penn schien zu wissen, dass es nicht nötig war, ihr zu sagen, was sie als Nächstes tun sollte.

Sie nickte und untersuchte Toms Beine sorgfältig auf Anzeichen einer Blutung. Als sie das Knie berührte, schrie Tom auf. Penn versuchte, ihn ruhig zu halten.

„Ich denke, er hat sich beim Sturz das rechte Knie ausgerenkt. Es sieht so aus, als ob es sich spontan wieder eingerenkt hat, aber die Kniescheibe ist ein bisschen verrutscht“, erklärte Grace.

„Okay, danke.“ Penn wandte sich wieder an den Zugbegleiter. „Wie lange wird es noch dauern, bis der Zug halten kann?“

„Zwanzig Minuten. Wir stoppen außerplanmäßig an der nächsten Station. Ein Krankenwagen wird dort auf uns warten.“

Penn nickte. Sie fuhren durch eine ländliche Gegend. Nicht überall gelangte ein Rettungswagen problemlos hin. Der schnellste Weg, Tom ins Krankenhaus zu schaffen, war weiterzufahren, bis sie den nächsten Ort erreichten. Aber es gab so viele Unklarheiten. War Tom gestolpert und durch den Aufprall bewusstlos geworden, wie jeder hier annahm? Oder war der Sturz auf etwas anderes zurückzuführen? In diesem begrenzten Raum und ohne die Möglichkeit, ihn vollständig zu untersuchen, war Grace’ eigene Einschätzung von Toms Knie zweifelhaft, und Penns Entscheidungen über das weitere Vorgehen basierten auf unvollständigen Informationen.

Aber Penn zeigte keine Unsicherheit und untersuchte Tom auf Anzeichen einer Grunderkrankung, die den Sturz verursacht haben könnte.

Leise wandte er sich an Grace. „Ich werde ihn weiter beobachten, und Sie sehen, was Sie tun können, um sein Bein zu schonen, bevor wir ihn bewegen müssen. Einverstanden?“

„Ja“. Sie lächelte, und Penn wandte sich wieder seinem Patienten zu.

Grace schickte einen der Zugbegleiter los, um Zeitungen zu holen, die zusammengerollt und flachgedrückt als provisorische Schienen dienen konnten. Tom schrie auf, als sie sein Bein positionierte und festband, aber Penn half ihm, durch den Schmerz zu atmen.

Als sie sich dem Bahnhof näherten, wurde der Zug langsamer. Durchsagen informierten die Fahrgäste, dass es sich um einen außerplanmäßigen Halt handelte, und forderten sie auf, Platz für die Sanitäter zu machen. Als Grace hinausblickte, sah sie auf dem leeren Bahnsteig die blitzenden Lichter des Krankenwagens. Penn drehte sich um und lächelte sie erleichtert an.

Penn McIntyre. Sie hatte es kaum mitbekommen, als der Zugbegleiter seinen Namen nannte. Ihr Freund. Ein Schauer überlief sie unwillkürlich.

Die Sanitäter stiegen ein, und Grace trat zurück, um sie durchzulassen. Dem Patienten wurden rasch Schmerzmittel verabreicht, und dann begann der schwierige Prozess, Tom auf die Trage und aus dem Zug zu manövrieren.

Grace sah ihre Taschen auf einem der nahegelegenen Sitze und ergriff sie, bereit zu folgen, während Penn der Krankenwagenbesatzung half.

Auf einmal fühlte sie Penns blaue Augen auf sich gerichtet, als er für einen Moment zurücktrat, um den Sanitätern mehr Raum zu geben.

„Wartet am Zielbahnhof nicht jemand auf Sie? Sie könnten weiterfahren.“

Ihre Cousine blieb immer bei Gran, bis Grace eintraf, und Grace wollte die Sache zu Ende führen.

„Werfen Sie mich aus dem Team?“, fragte sie lächelnd.

Penn grinste breit. „Niemals …“

Die Besatzung des Krankenwagens war zwar erfahren, aber ein wenig Hilfe konnte nicht schaden. Penn half dabei, Tom aus dem Zug und in den wartenden Krankenwagen zu schaffen, und er spürte, wie sich ein warmes Gefühl in ihm ausbreitete, als er sah, wie Grace mit ihren Taschen hinter ihm aus dem Zug stieg.

Das sollte er nicht fühlen. Er sollte nicht wollen, dass sie ihre Pläne änderte, um bei ihm zu sein.

Penn gab den Sanitätern einen vollständigen Überblick über alles, was er wusste, dann drückte er noch einmal Toms Hand, um ihn zu beruhigen, bevor er aus dem Krankenwagen stieg. Grace saß auf einer der Bänke auf dem Bahnsteig und starrte auf die Anzeigentafel.

„Wie lange müssen wir auf den nächsten Zug warten?“ Er setzte sich neben sie.

„Nur eine halbe Stunde, aber er hat wegen des außerplanmäßigen Halts schon zehn Minuten Verspätung. Und es ist ein langsamerer Zug, also werden wir mit mindestens einer Stunde Verspätung in Newquay ankommen.“

„Sollten Sie jemanden anrufen?“

Grace nickte, zog ihr Handy aus der Tasche und wählte. Sie ging ein paar Schritte fort, als wollte sie nicht, dass er mithörte.

Gleich darauf kehrte sie zurück. „Meine Cousine bleibt bei meiner Großmutter, bis ich komme.“

„Nur Sie, Ihre Schwester und Ihre Cousinen kümmern sich um Ihre Großmutter?“

Sie nickte und setzte sich zu ihm. Der Zug war bereits weitergefahren.

„Ja, Mum geht es nicht gut genug, um sich jede Woche auf eine bestimmte Zeit festzulegen. Dad erledigt viel im Garten und rund ums Haus, und Mum kommt mit, wenn sie kann. Mein Bruder lebt mit seiner Frau in Amerika, und wir sprechen uns einmal pro Woche bei einem Videocall.“

„Es ist großartig, dass sie Sie hat und dass Sie sich alle so sehr um sie kümmern.“

Grace zuckte mit den Schultern. „Es stand nie wirklich zur Debatte, ob wir das machen. Unsere Großmutter war immer für uns alle da, und ich finde, Nehmen und Geben ist selbstverständlich.“

Nicht immer.

Penn streckte die Beine aus und blickte in den sich verdunkelnden Himmel. Er genoss einfach nur ihre Gegenwart.

„Warum wollten Sie, dass ich mit Tom rede?“, fragte sie da.

„Es hat doch funktioniert, oder?“ Er lächelte sie an.

„Ja, aber warum dachten Sie, dass es funktionieren würde?“

„Ich habe schon bewusstlose Patienten erlebt, die auf die eine Stimme reagierten und auf eine andere nicht. Verschiedene Töne und Arten von Stimmen erreichen verschiedene Teile des Gehirns.“ Und Grace’ Stimme … Sie schien alle Lustzentren seines Gehirns erreichen zu können.

„Das leuchtet ein.“ Grace lächelte ihn an. „Dr. Penn McIntyre.“

„Ich fühle mich jetzt benachteiligt, da ich nur Ihren Vornamen kenne.“

Sie zögerte, und Penn fragte sich, ob sie sich diesem kleinen Schritt zur Vertrautheit widersetzen würde. Hier auf dem stillen Bahnsteig zu sitzen, nichts zu tun und nirgendwo hingehen zu können, erschien ihm plötzlich sehr intim.

„Grace Chapman …“

Penn konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Grace Chapman.“

„Ganz meinerseits, Penn McIntyre.“

Es war weit nach zehn Uhr, als sie in Newquay ankamen. Als sie ausstiegen, öffnete der Himmel seine Schleusen, und beide suchten eilig Schutz unter dem Vordach des Bahnsteigs.

„Wo müssen Sie hin?“ Vorsätze waren eine Sache, aber Penn hatte nicht vor, Grace in einer dunklen und regnerischen Nacht allein zu lassen. „Ich habe mein Auto letzte Woche in die Werkstatt gebracht, und man versprach mir, es auf dem Parkplatz abzustellen.“

Alarm war in ihrem Gesicht zu lesen. Und etwas, das so aussah, als wäre sie stolz auf ihre Unabhängigkeit. Wofür Penn meist etwas übrighatte, was aber manchmal aber auch zu weit gehen konnte.

„Nein danke, das ist nicht nötig. Grans Dorf ist nur ein paar Meilen von Newquay entfernt, und ich nehme mir einfach ein Taxi.“

Also gut. Nachnamen auszutauschen, das war okay, aber in sein Auto zu steigen, kam einer Grenzüberschreitung nahe.

„Ich habe eine ziemlich lange Fahrt vor mir, da macht ein kleiner Umweg keinen Unterschied.“

Grace schüttelte den Kopf. „Dann sollten Sie besser fahren. Ich komme allein zurecht, wirklich.“

„Ich warte mit Ihnen, bis das Taxi kommt.“ Das war das Mindeste, was er tun konnte.

„Nein.“

Dieses eine Wort und ihre sichtbare Entschlossenheit ließen keine weitere Diskussion zu. Der quälend langsame Fortschritt ihrer Freundschaft war soeben zum Stillstand gekommen. Sie hatten beide entschieden, das, was zwischen London und Newquay passierte, von ihrem restlichen Leben zu trennen. Auch wenn Grace das für Penns Geschmack etwas übereifrig umsetzte, konnte er sich kaum beschweren.

„Sehen wir uns nächste Woche?“

Sie lächelte unerwartet. Wenigstens das blieb ihm, und dafür sollte er dankbar sein.

„Ja. Gleiche Zeit, selber Platz?“

„Ich werde da sein.“

Sich loszureißen, tat fast körperlich weh. Eine Frau allein in der Dunkelheit zurückzulassen, obwohl sein Wagen genau hier stand, kam ihm wie ein Verstoß gegen seine Prinzipien vor. Aber Grace …

Penn joggte zu seinem Auto, legte seine Tasche auf den Rücksitz und schloss die Tür.

Er sah Grace noch unter dem Vordach stehen. Sie telefonierte. Penn saß still da, ein Schatten in der Dunkelheit.

Er wartete zehn Minuten und rechnete schon damit, dass Grace ihn jeden Moment sehen und kommen würde, um ihm zu sagen, er solle losfahren.

Aber dann hielt draußen ein Taxi, und er sah, wie sie sich vorbeugte und kurz mit dem Fahrer sprach. Dann stieg sie ein, das Taxi wendete und fuhr zurück auf die Hauptstraße.

Penn widerstand der Versuchung, ihr zu folgen. Es wäre nichts weiter als Neugierde, nicht die Sorge um Grace’ Wohlergehen. Er bemühte sich, nicht in den Rückspiegel zu schauen, um zu sehen, in welche Richtung das Taxi abbog, und fuhr los. Er hatte ein arbeitsreiches Wochenende vor sich und danach fünf Tage in London, bevor er sie wiedersehen würde. Penn vermisste sie jetzt schon.

Er hatte ihr nur eine Mitfahrgelegenheit angeboten. Da es dunkel und regnerisch war, hätte sie sie vielleicht annehmen sollen. Penn verschwand so schnell, dass sie sich fragte, ob er verärgert war. Aber ihr erster Gedanke war gewesen, dass sie eine solche Gefälligkeit erwidern musste. Wieder mal Jeremys Sicht auf Beziehungen. Alles, was gegeben wurde, hatte seinen Preis.

Grace hatte die Woche durchgestanden, ohne viel darüber nachzudenken. Doch jetzt, da sie allein im Zug saß, musste sie ständig daran denken. Möglicherweise war Penn von einem Patienten aufgehalten worden oder hatte seine Pläne geändert – sie hatten keine Kontaktmöglichkeit. Vielleicht war er auch von ihrem Unabhängigkeitsbedürfnis frustriert und hatte beschlossen, einen anderen Zug zu nehmen. Aber es war ja noch Zeit …

Die Minuten waren bereits verstrichen, jetzt zählte sie nur noch die Sekunden. Dann konnte sie die Hoffnung aufgeben. Grace presste die Nase an die Scheibe, suchte den Bahnsteig ab, blickte zu den Schranken. Nun würde er es nicht mehr schaffen. Die letzten Fahrgäste stiegen eilig ein. Da entdeckte sie ihn. Er zwängte sich im letzten Moment durch die Schranke und hastete zum nächsten Waggon. Grace schnappte nach Luft. Die Türen schlossen sich, der Zug setzte sich in Bewegung. Aus diesem Winkel konnte sie nicht erkennen, ob Penn auf dem Bahnsteig geblieben war oder nicht.

Sie blieb sitzen und starrte auf den Platz, von dem sie gehofft hatte, dass er jetzt dort sitzen würde. Zumindest hatte er versucht, den Zug zu erwischen. Und vielleicht wusste er, dass sie von nun an jede Woche auf diesem Platz sitzen würde.

Die Verbindungstüren zum nächsten Wagen öffneten sich. Grace sprang auf. Penn war etwas außer Atem, aber er grinste breit, und Grace konnte ihre Freude nicht verbergen.

„Sie haben es geschafft!“

„Gerade noch. Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Mit meinem letzten Patienten wurde es heute Nachmittag etwas eng, und die U-Bahn hatte Verspätung.“

Aber das machte nichts. Nichts war wichtig, denn er war da. Der Zug schwankte leicht, als er Fahrt aufnahm, und er streckte die Hand aus, um Grace zu halten.

Sie gerieten beide aus dem Gleichgewicht, und Penn hielt sich an einem der Haltegriffe fest, während er den anderen Arm um ihre Taille schlang. Sie hätte sich wegdrehen können, aber sie tat es nicht. Ihr wurde klar, dass es nicht so einfach war, Penn auf Distanz zu halten, wie sie sich eingeredet hatte.

„Verzeihung …“ Er entschuldigte sich als Erster, und sie spürte, wie sie rot wurde.

„Meine Schuld.“ Grace nahm die Hand von seiner Schulter und setzte sich wieder. Ihr fielen Penns geschmeidigen Bewegungen auf, als er seine Tasche auf die Gepäckablage schob.

Nett. Wirklich nett. Wenn sie nur wüsste, wie sie ihm gleich in die Augen sehen sollte …

„Ich habe ein kleines Problem, zu dem ich gern Ihre Meinung hören würde.“ Er setzte sich.

Danke. Sein entspanntes Lächeln verriet Grace, dass er sich ihrer Verlegenheit bewusst war, aber nichts daraus machte.

„Legen Sie los …“ Ihre Stimme klang seltsam normal. Als wäre ihr Herz nicht aus dem Takt geraten und würde nicht wie wild in ihrer Brust klopfen. „Hat es etwas mit Glas oder einer Operation zu tun?“

„Weder noch. Es geht um Physiotherapie. Die Patientin, die ich heute Nachmittag behandelt habe, hat mich in eine etwas unangenehme Situation gebracht, und mich interessiert Ihre professionelle Meinung. Vertraulich natürlich …“

„Natürlich.“

Professionell. Vertraulich. Zwei Worte, die man sich gut merken kann, wenn man versucht, seine Fassung wiederzuerlangen, und Penn war so höflich, sie zu benutzen.

„Meine Patientin ist eine junge Frau, die mir zur Behandlung in die Privatklinik überwiesen wurde, in der ich arbeite. Ich habe sie wegen eines Unterarmbruchs operiert, den sie sich als Kind zugezogen hatte und der nie richtig verheilt war. Die Operation verlief sehr gut, und ich habe ihr Physiotherapie verschrieben, damit sie ihre normale Beweglichkeit im Handgelenk und im Ellbogen wiedererlangt. Sie hatte bereits einen Therapeuten, einen netten und sehr engagierten Mann. Ich rief ihn an, wir schrieben ein paar E-Mails, und alles schien nach Plan zu laufen.“

„Aber dann kam es anders?“

„Am Montag bekam meine Sekretärin einen Anruf von ihr. Sie hätte Probleme mit ihrem Physiotherapeuten und wollte einen Termin bei mir.“

Grace nickte. „Das kommt vor. Es gibt unterschiedliche Behandlungsansätze.“

„Ich rief sie zurück, und es war nicht nur das. Sie war böse gestürzt und hatte den Termin am nächsten Tag abgesagt, weil sie starke Prellungen hatte. Als sie per E-Mail versuchte, einen neuen Termin zu verabreden, bekam sie keine Antwort, also versuchte sie es noch einmal, und wieder kam nichts.“

„Also … Das verstehe ich nicht. Wurde sie von ihrem Physiotherapeuten einfach ignoriert?“

„Ich weiß nicht genau, was los ist. Sie ist nicht die Art Mensch, die Dinge erzwingt, also rief ich ihn an, um herauszufinden, was los war. Er entschuldigte sich und sagte, er sei in letzter Zeit krank gewesen und müsse eine Pause machen. Er dachte, er hätte alle kontaktiert, die sich bei ihm gemeldet hatten.“

Grace runzelte die Stirn. „Okay. Das ist bedauerlich, aber es ist wirklich wichtig, einen Notfallplan zu haben, damit die Patienten in solchen Situationen versorgt sind.“

„Dem stimme ich zu. Mein Problem ist also … Ich habe meine Patientin gefragt, ob sie heute zu mir kommen kann, und sie besteht darauf, dass sie keinen anderen Physiotherapeuten möchte. Sie hat mich gefragt, ob ich ihr ein paar Übungen zeige, die sie selbst zu Hause machen kann.“

„Sie wissen so gut wie ich, dass es bei der Physiotherapie nicht nur darum geht, jemandem ein paar Übungen zu zeigen. Sie sagten, sie sei schwer gestürzt. Wie schlimm war ihre Verletzung?“

„Ziemlich schlimm. Sie fiel ziemlich tief auf einen Betonboden und landete auf der rechten Seite. Sie hat eine Schulter- und Rippenprellung und starke Prellungen an der Hüfte. Der linke Arm, den ich operiert hatte, scheint keinen Schaden genommen zu haben.“

Grace war sich nicht ganz sicher, wie sie helfen konnte. „Dem, was Sie aus klinischer Sicht bereits wissen, Penn, kann ich nichts hinzufügen. Sie braucht Physiotherapie. Man kann seine Empfehlungen nicht ändern, nur weil eine Patientin dem nicht zustimmt, wie verständlich das auch sein mag.“

Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und verzog den Mund. „Genau darum geht es. Ich bin bereit, Kompromisse einzugehen, aber ich habe auch das Gefühl, dass es richtig ist, ein bisschen Druck zu machen. Bei Operationen weiß ich, wo die Grenze ist, aber Rehabilitation ist nicht mein Fachgebiet.“

„Also, wenn ich an Ihrer Stelle wäre … Erstens denke ich, dass der Sturz für sie sehr traumatisch gewesen sein muss. Sie sagten, es ginge ihr gut, und plötzlich hat sie wieder Schmerzen, und erzielte Erfolge scheinen fraglich. Sie braucht jetzt Ermutigung, um ihr Selbstvertrauen zu stärken.“

Penn nickte. „Und zweitens?“

„Physiotherapie ist ein ganzheitlicher Ansatz, der auf aktivem Engagement und Vertrauen basiert. Ihre Patientin hat sich auf diesen Prozess mit jemandem eingelassen und wurde enttäuscht. Wenn sie nicht noch einmal mit einem anderen Physiotherapeuten anfangen will, kann ich das verstehen.“

„Wie würden Sie denn vorgehen?“

„Ich würde die Behandlung vorübergehend verlangsamen und mich darauf konzentrieren, wie es ihr geht. Geben Sie ihr Ratschläge, wie sie kurzfristig Fortschritte schaffen kann, und ermutigen Sie sie, darüber zu sprechen, wie sie sich fühlt, was passiert ist und wie es sie emotional beeinflusst hat. Vielleicht findet sie selbst eine längerfristige Lösung.“

„Sie meinen, ich soll sie nur unterstützen, während sie ihren eigenen Weg findet?“

„Meine Arbeit unterscheidet sich sehr von Ihrer. Ich würde nie einem Patienten ein Skalpell in die Hand drücken“, scherzte Grace, und er musste lächeln.

„Da bin ich aber erleichtert. Und Sie haben mir etwas gegeben, worüber ich nachdenken kann. Vielen Dank.“

Sie sollte die Sache jetzt auf sich beruhen lassen. Penn würde das Richtige tun und seine Patientin gut beraten. Aber Grace wusste, wie es sich anfühlte, wenn das eigene Vertrauen erschüttert wurde.

„Wenn Sie möchten … ich meine, wenn es angebracht ist …“

„Wenn was angebracht ist?“ Seine blauen Augen funkelten, als er sie anschaute.

„Ich würde sie gern treffen, nur für ein informelles Gespräch. Wenn Sie glauben, dass ich helfen kann …“ Grace zuckte mit den Schultern, bereit zu hören, dass das keine gute Idee sei.

Er zögerte. „Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten …“

Nein, natürlich nicht. Es war eine schlechte Idee gewesen.

„Was nicht heißt, dass ich Ihren Vorschlag nicht schätze. Ich könnte sie fragen, was sie davon hält, denn ich denke, es wäre sehr wertvoll für sie. Vorausgesetzt, Sie sind sicher, dass Sie die Zeit aufbringen können.“

Grace glaubte, ihr helfen zu können. Da hatte sie keine Zweifel.

„Kein Problem.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche. „Vielleicht sollten wir unsere Nummern tauschen, damit ich erreichbar bin.“

„Ich wollte Sie sowieso nach Ihrer Nummer fragen, damit ich Ihnen Bescheid sagen kann, wenn ich den Zug nicht erwische. Heute Nachmittag war es knapp.“

Er wusste es. Penn wusste, dass sie auf ihn gewartet hatte, und er würde es nicht noch einmal geschehen lassen. Grace spürte einen Schauer der Erregung, als sie ihre Nummern eintippten – eine weitere alltägliche Sache, die aufregend war, wenn sie es mit Penn tat.

„Schluss mit dem Thema Arbeit.“ Er legte sein Handy zurück auf den Tisch. „Ich bestehe darauf, dass ich diesmal den Kaffee bezahlen darf, und Sie können mir erzählen, was diese Woche bei Ihnen los war …“

3. KAPITEL

Der langsame, schrecklich langsame Übergang vom Kennenlernen zu etwas mehr brachte ihn fast um, aber die Wahrheit hing ihm wie Kette und Eisenkugel am Knöchel und ließ ihn nicht schneller vorankommen.

Je öfter er Grace sah, umso klarer wurde ihm, dass er ihr früher oder später von seinem Titel und der Burg erzählen musste, und er hatte Angst davor, wie sie darauf reagieren würde.

Vielleicht sollte er ihr einfach vertrauen und es ihr sagen, bevor es zu einem Problem wurde. Aber das war eine Herausforderung, und es war leicht, sie auf die lange Bank zu schieben, weil es so viele andere Dinge gab, die seine Aufmerksamkeit erforderten.

Er rief seine Patientin an und schlug ihr den Weg vor, den er mit Grace abgesprochen hatte. Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment lang Stille.

„Wenn ich mit jemandem spreche, gehe ich eine Verpflichtung ein, nicht wahr?“ April klang nicht gerade begeistert.

„Nein, Sie werden mit jemandem reden und alle Fragen stellen, die Sie stellen möchten, damit Sie die nächste Phase Ihrer Genesung selbst in die Hand nehmen können.“

„Okay. Klingt gut, Dr. M. Sagen Sie mir, wo und wann.“ Aprils plötzliche Zustimmung kam für ihn überraschend, und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Grace hatte recht gehabt.

„Ich erkundige mich nach einem freien Termin und melde mich dann wieder bei Ihnen. Wann könnten Sie?“

„Jederzeit …“

Penn erinnerte April daran, ihre Übungen fortzusetzen, während sie an einer Lösung arbeiteten. Dann rief er Grace an. Das Telefon klingelte eine Weile, bevor sie etwas atemlos abnahm.

„Rufe ich zu einem ungünstigen Zeitpunkt an?“

„Nein, aber in zwei Minuten kommt mein nächster Patient.“

„Dann mache ich es kurz. Wenn Sie noch Lust haben – April würde sich gern mit Ihnen unterhalten.“

„Wer? Ach, Sie meinen Ihre Patientin.“ Grace hielt inne, und er hörte das Klappern einer Tastatur. „Okay, ich habe meinen Terminkalender parat. Wie wär’s mit Mittwoch um fünf? Ich habe später am Abend noch ein paar Patienten, aber bis halb sieben hätte ich frei.“

Das hieß, Penn konnte nicht fragen, ob sie danach mit ihm essen wollte. Schade.

„Das ist großartig, danke. Ich würde gern mitkommen, wenn das in Ordnung ist.“

Für einen Moment herrschte Stille.

„Gibt es etwas, das Sie mir nicht gesagt haben, Penn? Ist sie eine Freundin von Ihnen?“

„Nein, April ist nur eine Patientin. Ich dachte eher daran, dass Sie eine Freundin sind und ich etwas über Ihre Arbeitsweise erfahren möchte.“

Er hörte sie lachen. „Das ist gut, nur zu. Es wird viel besser sein, wenn jemand mitkommt, dem sie vertraut und der ein paar passende Fragen stellen kann.“

„Ich werde mich auf ein paar schwierige einstellen. Wie lautet die Adresse?“

Grace nannte sie, und er schrieb sie auf. Sie hatten bereits eine Minute gesprochen. Also war noch eine übrig.

„Danke. Ich weiß das wirklich zu schätzen. Auch wenn ich mich ein bisschen fühle, als hätte ich gerade mein Skalpell an April abgegeben.“

„Aber nur dieses eine Mal, ja? Das darf nicht zur Gewohnheit werden.“

„Genau.“ Penn fragte sich, ob sie über die Patienten oder über ein Treffen außerhalb der Zugfahrt sprachen.

Grace lachte wieder. „Nun, ich freue mich darauf, Sie zu sehen. … Oh, einen Moment bitte. Ich bin gleich für Sie da, Terry …“

Ihr nächster Patient war offensichtlich eingetroffen, und Penn zog die Mundwinkel nach unten. Er hatte gedacht, er hätte noch dreißig Sekunden …

„Ich lasse Sie jetzt in Ruhe. Wir sehen uns also am Mittwoch um fünf.“

„Großartig. Danke.“ Grace beendete das Gespräch.

Mia hatte einen guten Geschmack. Aber die Freude über das Kompliment ihrer Kollegin, dass ihr die Bluse gefiel und die Rot- und Gelbtöne perfekt zu ihrem Teint passten, wurde gedämpft, denn Penn sollte möglichst nicht bemerken, dass sie sich extra seinetwegen zurechtgemacht hatte.

Eine Hose und bequeme Sneakers würden den Eindruck abschwächen. Und vielleicht sollte sie auch den Lippenstift in ihrer Handtasche lassen, den sie heute Morgen im letzten Moment vor dem Verlassen des Hauses eingesteckt hatte.

Um zehn vor fünf klingelte ihr Handy. Eine SMS mit nur einem Wort.

Kaffee?

Grace meinte, dass sie das annehmen konnte, da sie Penn einen Gefallen tat, indem sie mit April sprach und außerdem ihre abendliche Pause opferte.

Sie bedankte sich, ging zurück in ihr Büro, sammelte die Papiere auf ihrem Schreibtisch ein und schob sie in die Schublade. Gerade als ihr auffiel, dass ihre Blumen dringend Wasser brauchten, erschien Penn in der Tür. Im dunkelblauen Anzug – tadellos wie immer – und mit einem Lächeln, das verriet, dass sich hinter der Förmlichkeit ein Mensch verbarg, der nichts mehr liebte als blauen Himmel und Sonnenschein.

„Hallo. Hübsch haben Sie es hier … Viel Licht.“ Er schaute sich im Sprechzimmer mit den großen Bogenfenstern, den Pflanzen und den Drucken an der Wand um.

„Wir haben die gesamte obere Etage belegt, also viel Platz, um sich auszubreiten.“

Er nickte und wandte sich der dunkelhaarigen jungen Frau zu, die mit ihm hereingekommen war und zurückhaltend dastand.

„Das ist April Graham. April, das ist Grace Chapman.“

„Hallo. Wir haben Kaffee mitgebracht.“ April reichte Grace einen Becher. Sie war einen ganzen Kopf kleiner als Grace, und ihre schwarzen Jeans und ihr T-Shirt unterstrichen ihre zierliche Figur.

„Danke. Den kann ich jetzt gut gebrauchen.“

Grace setzte sich auf ihren Stuhl. April stand sichtlich nervös da.

„Bitte, setzen Sie sich doch.“ Sie deutete auf einen der freien Stühle, und April setzte sich. Entweder war sie sehr schüchtern, oder sie wollte gar nicht hier sein.

Penn war keine Hilfe, er schlenderte zur anderen Seite des Raums und begutachtete einen ergonomischen Kniestuhl, der an der Wand lehnte.

„Kaffee …!“ Grace lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich und tippte auf einen der Becher in der Pappschachtel, die April auf ihren Schreibtisch gestellt hatte.

„Ah. Ja, danke. Helfen die wirklich?“

„Es geht darum, den richtigen Stuhl für jemanden zu finden. Manche Leute halten sie für sehr bequem.“

„Hm … Was meinen Sie, April?“

April lächelte plötzlich. „Wir sind doch nicht hier, um uns Stühle anzuschauen, Dr. M, oder?“

Grace lehnte sich zurück. „Was machen Sie beruflich, April?“

„Ich bin Programmiererin. Dr. M hat mir gesagt, ich solle mir einen Stuhl besorgen, mit dem ich mich etwas bewegen kann. Ich verbringe viel Zeit vor dem Computer.“

„Ein guter Rat. Der richtige Stuhl wirkt sich nicht nur auf die Schultern, sondern auch auf den Rücken aus, weil man dadurch aufrechter sitzt.“

April richtete sich ein wenig auf und schien es nicht zu merken. Sie wirkte verletzlich. Grace griff nach ihrem Becher und trank einen Schluck.

„Ich habe gehört, dass Sie eine ziemlich harte Zeit hinter sich haben. Eine Operation am Arm und dann ein schlimmer Sturz.“

April errötete. „So schlimm war es nicht …“

„Es ist trotzdem schwer. Vor allem, wenn man daran arbeitet, gesund zu werden.“

April verzog das Gesicht und nickte leicht.

„Können Sie mir ein wenig darüber erzählen, wie Sie gestürzt sind?“

April zögerte. „Ich dachte, Sie würden mir sagen, was Sie tun können, um mir zu helfen.“

Grace blickte zu Penn, der ruhig an der Fensterbank lehnte und an seinem Kaffee nippte. Sein fast unmerkliches Nicken verriet ihr, dass er mit dem Verlauf der Dinge zufrieden war und sie nicht unterbrechen wollte.

„Ja, das ist das Ziel. Aber zuerst muss ich wissen, wofür Sie Hilfe brauchen …“

April hatte Grace alles erzählt. Grace hatte recht gehabt – April musste das Geschehene erst einmal verarbeiten, bevor sie sich wieder auf einen Behandlungsplan einlassen konnte.

Als April Grace fragte, ob sie die Krankengymnastik übernehmen würde, schüttelte sie den Kopf. „Ich würde das sehr gern tun, aber ich habe einen besseren Vorschlag.“

„Okay.“ April sah sie fragend an.

Auch Penn war ganz Ohr. Er hätte erwartet, dass Grace nicht ablehnen würde, wenn April ihre Patientin werd...

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