Julia Best of 237

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Um ihr Studium zu finanzieren, unterschreibt Samantha einen ungewöhnlichen Vertrag. Sie schließt eine Vernunftehe mit dem griechischen Tycoon Perseus und begleitet ihn auf seine Insel. Dort mimen sie vor seiner Ex-Freundin das heiße Liebespaar. Ein erregendes Spiel beginnt …

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VERLOBT MIT EINER ANDEREN?
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  • Erscheinungstag 12.03.2021
  • Bandnummer 237
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502818
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Rebecca Winters

JULIA BEST OF BAND 237

1. KAPITEL

„Ich bin Sam Telford vom Manhattan Büroreinigungs-Service. Mein Boss hat mir ausgerichtet, dass Sie mich sprechen möchten.“

Da Samantha, die sich lieber kurz „Sam“ nennen ließ, unterwegs in einen Wolkenbruch geraten war, war sie nun tropfnass und traute sich nicht, sich auf einen der Polstersessel im Vorzimmer zu setzen.

Die elegante Sekretärin sah sie herablassend an. „Haben Sie dieses Büro gestern Nacht geputzt?“

„Ja.“

„Dann sind Sie die Richtige. Warum kommen Sie erst jetzt? Sie wurden um zwei Uhr erwartet.“

„Ich war den ganzen Vormittag in einem Seminar auf der Kunstakademie. Deshalb hat mein Boss mich erst vor kurzem telefonisch zu Hause erreicht. Anscheinend gibt es hier ein Problem, oder?“

„Das kann man wohl sagen“, erwiderte die Sekretärin rätselhaft. „Bitte warten Sie einen Moment. Wollen Sie nicht so lange … da stehen bleiben.“

Sam biss sich auf die Lippe. Ich kann mir keinen Ärger leisten und schon gar nicht meine einzige Geldquelle verlieren, dachte sie. Sie hatte nur noch hundert Dollar auf dem Konto und rechnete fest mit dem nächsten Lohn. Zum Glück hatte sie den Job als Reinigungskraft, denn sie wäre eher verhungert, als ihren Vater um finanzielle Unterstützung zu bitten. Er war ein international anerkannter Porträtmaler und hatte sie nie als seine Tochter anerkannt, ja nicht einmal ihre Existenz zur Kenntnis genommen.

Auf der Kunstakademie, an der sie Malerei und künstlerisches Gestalten studierte, hatte Sam das Gerücht gehört, ihr Vater würde mit einer Geliebten auf Sizilien leben.

Kurz presste sie die Lippen zusammen. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihren Vater aufzusuchen, sobald sie als Künstlerin erfolgreich sein würde. Und Erfolg würde sie haben, koste es, was es wolle! Diese Begegnung sehnte sie jetzt schon ungeduldig herbei, weil sie ihrem Vater dann einen Schock versetzen und ihm vor Augen halten konnte, wie weit sie es im Leben gebracht hatte – auch ohne ihn.

„Miss Telford, Mr. Kostopoulos möchte Sie jetzt sprechen“, verkündete die Sekretärin.

Der oberste Boss höchstpersönlich? dachte Sam und wurde nervös. Der Kostopoulos-Konzern war ein riesiges Handelsimperium, das eine Reederei und verschiedenste andere Firmen umfasste. Das beeindruckende, achtundsechzigstöckige Bürogebäude in Manhattan, in dem sie sich jetzt befand, gehörte ebenfalls Mr. Kostopoulos.

Ihr wurde unbehaglich zu Mute, als sie in das Chefbüro ging, das sie wenige Stunden zuvor gereinigt hatte. Verlegen bemerkte sie, dass die Sohlen ihrer nassen Tennisschuhe bei jedem Schritt auf dem Marmorboden quietschten.

Rasch blickte sie zur gegenüberliegenden Wand und stellte erleichtert fest, dass das Originalgemälde von Picasso noch dort hing, ebenso die anderen wertvollen Bilder und Grafiken. Einen Moment lang hatte sie befürchtet, es wäre womöglich nachts eingebrochen und der Picasso gestohlen worden. Ihrer Meinung nach hätte das Gemälde ohnehin in einem Museum hängen sollen, wo jeder es hätte bewundern können.

Bei Tageslicht wirkte der weitläufige, zugleich schlicht und elegant eingerichtete Raum beeindruckend, aber Sam blickte nur neugierig zu dem großen muskulösen Mann, der das Zimmer zu beherrschen schien. Er war so perfekt proportioniert wie eine klassische griechische Götterstatue, und sie konnte den Blick nicht mehr abwenden.

Allerdings wirkte Mr. Kostopoulos steif und seine Miene angespannt, was darauf schließen ließ, dass er finsteren Gedanken nachhing. Hoffentlich haben die nichts mit mir zu tun, dachte Sam schaudernd.

Er stand am Fenster, und nur sein rechtes Profil war zu sehen, während er starr nach draußen blickte.

Da sie einen ausgeprägten Sinn für Farben besaß, war sie sofort von seinem pechschwarzen Haar fasziniert.

Das markante Profil und die kühn geschwungenen Augenbrauen wirkten ebenfalls äußerst eindrucksvoll, aber Sams Interesse galt vor allem der etwa fünf Zentimeter langen Narbe am rechten Unterkiefer, die sich deutlich von der glatt rasierten Haut abhob.

Seltsam. Er wirkte nicht so, als würde er sich jemals vor etwas fürchten. Im Gegenteil. Und er besaß ein riesiges Vermögen, deshalb hätte er sich den besten Schönheitschirurgen leisten können. Warum also hatte er die Narbe nicht operativ entfernen lassen? Vielleicht, weil man sich sofort fragte, wie er dazu gekommen war? Und weil sie ihn irgendwie wild und ungezähmt aussehen ließ, selbst wenn er, wie jetzt, einen eleganten Maßanzug trug.

„Kommen Sie doch bitte ganz herein, Miss Telford“, sagte Mr. Kostopoulos, wandte sich Sam zu und musterte sie. Plötzlich runzelte er die Stirn.

Anscheinend gefällt ihm weder meine Aufmachung noch meine Person, dachte Sam und fühlte sich plötzlich klein und jämmerlich. Sie war nass, trug schäbige alte Jeans und ein weites Jeanshemd, das sie selbst bedruckt hatte. Mit einem Tupfenmuster. Bisher hatten ihr das Hemd und das Muster gefallen.

Vielleicht mochte Mr. Kostopoulos auch ihre Frisur nicht? Morgens hatte sie es sehr eilig gehabt, weil sie rechtzeitig ihre Abschlussarbeit zur Kunstakademie hatte bringen wollen, und deshalb hatte sie sich das dichte goldblonde Haar mit dem Erstbesten zusammengesteckt, das ihr in die Hände gefallen war. Und das war eine ihrer selbst geknüpften Makrameeschnüre gewesen, die eigentlich dazu gedacht waren, Blumentöpfe aufzuhängen.

„Ich bin doch drinnen“, erwiderte Sam forsch. Offensichtlich versuchte Mr. Kostopoulos, sie einzuschüchtern, und das wollte sie sich nicht bieten lassen.

Plötzlich schien die Luft vor Spannung zu knistern.

„Meine Sekretärin sagte mir, Sie hätten letzte Nacht mein Büro gereinigt, Miss Telford.“

Seine Stimme war sehr tief, und er sprach tadelloses Englisch mit einer Spur griechischen Akzents, was trotz seiner unfreundlichen Art sehr einnehmend wirkte.

Sam gestand sich ein, dass Mr. Kostopoulos der umwerfend attraktivste Mann war, den sie je gesehen oder sich auch nur vorgestellt hatte.

„Ja, das ist richtig“, bestätigte sie.

„Wird diese Arbeit nicht üblicherweise von jemand anders erledigt?“

„Doch, aber Jack fühlte sich nicht wohl, deshalb hat er mich gebeten, seinen Job zu übernehmen“, erklärte sie.

Er stand weiterhin regungslos da. Sam, die eine lebhafte Vorstellungskraft besaß, dachte, dass so der griechische Gott Zeus ausgesehen haben mochte …

Mr. Kostopoulos war – wie Sam schätzte – ENDE Dreißig, und das fand sie jung für einen Mann, dem ein so weitläufiges Handelsimperium gehörte. Wenn die Gerüchte stimmten, die die Runde unter dem Reinigungspersonal machten, hatten schon zahlreiche berühmte Sängerinnen, Models und Filmstars erfolglos versucht, ihn als Ehemann einzufangen.

Natürlich musste das nicht bedeuten, dass es nicht doch irgendwo auf der Welt eine Frau gab, die einen besänftigenden Einfluss auf den geheimnisvollen griechischen Unternehmer ausübte. Da Sam auch gehört hatte, er würde regelmäßig nach Griechenland fliegen, vermutete sie, dass er eine Frau aus seiner Heimat liebte, die sich aus der Öffentlichkeit und von den Sensationsreportern fern hielt.

Die Frau muss ziemlich mutig sein, um sich mit ihm einzulassen, dachte Sam unwillkürlich.

Und vom Glück begünstigt, fügte eine innere Stimme leise hinzu.

„Ich möchte zum Wesentlichen kommen“, sagte Mr. Kostopoulos. „Während ich gestern im Flugzeug nach New York saß, erhielten wir hier im Büro einen ausgesprochen wichtigen Anruf. Meine Sekretärin notierte die Nummer des Anrufers und legte die Notiz auf meinen Schreibtisch. Vom Flughafen kam ich direkt hierher, aber die Notiz war verschwunden.“

Noch hatte er Sam keines Vergehens beschuldigt, doch es war unmissverständlich klar, worauf er hinauswollte.

Sie strich sich eine lose Haarsträhne zurück und war sich überdeutlich bewusst, dass er auf ihre Hand blickte, die mit den abgebrochenen Nägeln und hartnäckigen Farbflecken ungepflegt wirkte, und zwar ganz anders als die perfekt manikürten Hände der Sekretärin.

Sam hatte eigentlich noch nie eine andere Frau um deren Aussehen beneidet. Jetzt aber wünschte sie sich, so bemerkenswert attraktiv und kultiviert zu sein, dass sie einem Mann wie Mr. Kostopoulos gefallen könnte.

„Seit sechs Monaten reinige ich Büros in diesem Gebäude und weiß genau, dass ich nichts anrühren darf“, verteidigte sie sich. „Gestern Nacht habe ich hier Staub gewischt und gesaugt und den Waschraum geputzt.“

Er zog die schwarzen Brauen zusammen. „Sie haben auf dem Schreibtisch nichts gesehen?“

Rasch blickte sie zu der glänzend polierten Oberfläche, auf der lediglich ein Telefon stand, und fragte sich, wie ein Mann mit so legendärem Geschäftssinn einen riesigen Konzern führte, wenn alle Unterlagen außer Sichtweite waren.

„Nein, er sah genauso aus wie jetzt“, antwortete Sam und fügte unüberlegt hinzu: „So als wäre er gerade erst vom Möbelgeschäft geliefert worden.“

Das hätte ich nicht sagen sollen, tadelte sie sich. Immer gleich zu verkünden, was sie dachte, war einer ihrer vielen Fehler.

„Was ich nicht im Kopf habe, das ist unwichtig“, erklärte Mr. Kostopoulos, der offensichtlich ahnte, was sie dachte. „Das ganze übrige Chaos überlasse ich meiner Sekretärin.“

„Chaos“ hätte Sams zweiter Vorname sein können. Sie hatte bisher immer im Durcheinander gelebt. In einer so perfekt ordentlichen Umgebung wie hier wäre sie verrückt geworden. Und das hätte sie Mr. Kostopoulos am liebsten gesagt, hielt sich aber zurück, weil er sie sonst sicher sofort entlassen hätte.

„Haben Sie den Papierkorb geleert?“, fragte er weiter, und sein Tonfall klang ausgesprochen kühl.

Sie hob das Kinn. „Ich hätte es getan, aber es war nichts drin.“

Missbilligend verzog er die Lippen. Wahrscheinlich fand er, dass sie schon wieder vorlaut war. Da ihre Antworten ihn offensichtlich nicht zufrieden stellten, rief er über die Gegensprechanlage die Sekretärin zu sich. „Und bringen Sie den Notizblock mit, Mrs. Athas“, fügte er hinzu.

Kurz darauf erschien die Sekretärin im „Allerheiligsten“. In der Hand hielt sie einen kleinen Notizblock.

Beim Anblick der gelben Zettel erinnerte Sam sich plötzlich wieder, und sie stöhnte unwillkürlich laut auf.

„Wollten Sie etwas sagen?“, hakte Mr. Kostopoulos nach. Seine dunklen Augen funkelten.

„Ja. Jetzt erinnere ich mich“, erklärte sie stockend. „Ich habe einen gelben Notizzettel gesehen. Er lag aber neben dem Papierkorb. Deshalb dachte ich, jemand hätte den Zettel in den Korb werfen wollen, den verfehlt und …“

Mr. Kostopoulos presste die Lippen zusammen und wirkte so finster, dass Sam schauderte.

„Da ich so einen Zettel gerade gut gebrauchen konnte, habe ich …“ Sie wandte den Blick ab. „Habe ich ihn eingesteckt“, fügte sie schließlich hinzu.

Die Sekretärin hatte sich inzwischen wieder zurückgezogen, was Sam als schlechtes Zeichen deutete.

Zuerst fluchte Mr. Kostopoulos halblaut, dann forderte er Sam auf: „Erklären Sie mir, warum Sie ein Blatt Papier, das Sie für Müll hielten, in meinem Büro sozusagen beschlagnahmt haben.“ Er klang unausstehlich arrogant.

„Ich hatte einen guten Grund dafür“, erwiderte sie heftig und spürte, wie sie vor Zorn errötete.

„Das hoffe ich – in Ihrem Interesse“, sagte Mr. Kostopoulos, und es klang drohend.

Sie ließ sich nicht gern bedrohen. Unverwandt blickte sie ihm in die Augen. „Als ich den Teppich unter ihrem Schreibtisch gesaugt habe“, begann sie, „habe ich genau das Stück Papier gesehen, das mir noch zur Fertigstellung meiner Collage gefehlt hat.“

„Welche Collage?“, fragte er scharf.

„Meine Abschlussarbeit“, erklärte Sam ruhig, denn nun fühlte sie sich auf sicherem Boden. „Zu Beginn des Semesters hat uns der Professor die Aufgabe gestellt, eine Collage anzufertigen. Wir durften nur Papier verwenden, das auf dem Boden lag, zum Beispiel auf dem Bürgersteig oder dem Rasen im Park. Nicht einmal Papierfetzen aus Abfallkörben waren erlaubt, und wir durften die Fundstücke auch nicht mit der Schere zurechtschneiden, sondern mussten sie so, wie sie waren, in die Collage einfügen. Das heißt“, fügte sie hinzu, „falten oder knüllen war erlaubt. Prof. Giddings – so heißt mein Professor – wollte, dass wir möglichst originelle Werke abliefern, die trotzdem so künstlerisch sind, dass sie in einer Galerie hängen könnten.“

Sie begeisterte sich immer mehr für das Thema. „Ich hatte ja zuerst keine Vorstellung davon, wie viel Spaß die Abschlussarbeit machen und welche Herausforderung sie darstellen würde. Wochenlang bin ich mit gesenktem Blick durch die Stadt gegangen, und ich habe die erstaunlichsten Funde gemacht, die jetzt auf einer Leinwand fixiert sind.“

Mr. Kostopoulos betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. „Sie behaupten also, dass die Notiz, die meine Sekretärin auf meinen Schreibtisch gelegt hatte, jetzt Bestandteil Ihrer Collage ist?“

„Ja. Aber ich habe den Zettel nicht von Ihrem Schreibtisch genommen. Wahrscheinlich hat ein Luftzug das Papier auf den Boden segeln lassen.“

Er strich sich über den Kopf, und unwillkürlich wünschte Sam sich, sein dichtes Haar zu durchwühlen. Das lenkte sie so ab, dass sie sich nicht mehr konzentrieren konnte.

Was war denn nur los mit ihr? Bisher hatte sie sich nicht einmal für die Männer interessiert, die sich um sie bemühten. Und nun weckte Mr. Kostopoulos, ein völlig fremder Mann, ungeahnte, erregende Empfindungen in ihr, die mit jeder Minute stärker wurden.

„Ihre Erklärung ist dermaßen absurd und unglaublich, dass ich geneigt bin, sie für die Wahrheit zu halten“, meinte er.

„Die Erklärung ist nicht absurder als die Tatsache, dass Sie einen echten Picasso an der Wand hängen haben.“

Erstaunt sah er sie an. „Was hat der Picasso mit dem eigentlichen Thema zu tun?“

Anscheinend war er es nicht gewöhnt, dass man ihm Widerstand leistete. Sam fand es plötzlich seltsam aufregend, ihn zu schockieren.

„Alles. Sie sind vermutlich einer von diesen Kunstliebhabern, die freihändig nicht mal eine gerade Linie zeichnen können“, erwiderte sie.

Das war jetzt der mindestens neunte oder zehnte Fehler, den ich gemacht habe, tadelte sie sich dann. Aber das war ihr gleichgültig.

„Prof. Giddings ist ein Künstler, der keine Ahnung von Geschäften hat, und er liebt Picasso“, erklärte Sam. „Sie lieben Picasso anscheinend ebenfalls. So sehr, dass Sie Millionen für ein Originalgemälde ausgegeben haben. Mein mittelloser Professor hingegen hat seine Verehrung für Picasso dadurch gezeigt, dass er uns Studenten dessen Werke nahe gebracht und uns aufgefordert hat, sein Motto auszuprobieren.“

„Welches Motto?“, fragte Mr. Kostopoulos und blickte sie ungläubig an.

„Picasso sagte sinngemäß, dass ein echter Künstler Schönheit in allem erkennen könne, selbst in einem Papierfetzen, und dass er mit geringsten Mitteln Schönheit schaffen könne.“

Sicher glaubte Mr. Kostopoulos jetzt, sie hätte völlig den Verstand verloren. Sie dachte es ja selbst.

Trotzdem fügte sie hinzu: „Da Prof. Giddings ein Anhänger von Picassos Kunstauffassung ist, hat er uns aufgefordert, aus Papierfetzen ein Kunstwerk zu bilden und Schönheit zu schaffen.“

Nach einer scheinbaren Ewigkeit fragte Mr. Kostopoulos spöttisch: „Und wo befindet sich Ihr … Kunstwerk jetzt?“

Er glaubt mir nicht, dachte Sam und wurde so wütend, dass sie endgültig alle Vorsicht in den Wind schlug, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass sie sich damit üblicherweise in Schwierigkeiten brachte.

„In der Universität“, antwortete sie kurz angebunden.

„Na schön, dann fahren wir dorthin und holen es.“

„Ich fürchte, der Kleber, mit dem ich den Zettel fixiert habe, ist inzwischen völlig trocken. Wenn ich das Papier zu lösen versuche, ruiniere ich womöglich die ganze Collage.“ Bei den letzten Worten zitterte ihre Stimme.

Für Sam bedeutete diese Abschlussarbeit den Passierschein für eine brillante Zukunft, und die würde sie nicht aufs Spiel setzen – weder für Mr. Kostopoulos noch für sonst einen Menschen –, nachdem sie so lange und hart dafür gearbeitet hatte.

„Außerdem“, fügte sie hinzu, „selbst wenn ich das Papier abgelöst bekomme, ist es sehr unwahrscheinlich, dass man die Notiz darauf noch lesen kann.“

Mr. Kostopoulos atmete tief durch. „Dann sollten Sie schon mal ein Stoßgebet zum Himmel schicken, dass das Schicksal Ihnen heute gnädig gestimmt ist, Miss Telford. Ich brauche die Telefonnummer dringend, und es hat keinen Sinn, mich mit feuchten, großen Augen flehentlich anzublicken.“

„Mit feuchten Augen?“, wiederholte sie empört.

„Ja, Ihre Augen wirken wie Stiefmütterchen im Regen. Aber ich warne Sie: Frauentränen beeindrucken mich überhaupt nicht.“

Kurz biss Sam die Zähne zusammen. „Und mich beeindrucken die Milliarden eines Mannes überhaupt nicht“, konterte sie. „Vielleicht halten Sie sich ja für einen Halbgott, der uns normale Sterbliche mit einem Machtwort und dem Hochziehen der Brauen zum Zittern bringt. Dann darf ich Sie berichtigen, Mr. Kofolopogos – oder wie Sie heißen –, ich …“

Angespannt richtete sie sich kerzengerade auf.

„Ich Normalsterbliche bin von Ihnen nicht eingeschüchtert. Wer auch immer Sie angerufen und nicht erreicht hat, meldet sich sicher nochmals. Außerdem hätte Ihre tüchtige Sekretärin die Nummer zwei Mal notieren sollen. Und überhaupt: Diese Telefonnummer kann unmöglich so wichtig sein wie mein Diplom, für das ich die Collage unbedingt brauche.“

Seine Miene wurde starr. „Da Sie nicht wissen können, was für mich wichtig ist, lasse ich Ihnen diese Bemerkung durchgehen.“

Sam errötete heftig und nahm sich vor, nicht länger so widerspenstig sein.

„Es tut mir leid, dass ich die Beherrschung verloren habe. Und es tut mir leid, dass die ganze Sache mit der Notiz überhaupt passiert ist. Es war wirklich nicht meine Absicht, Schwierigkeiten heraufzubeschwören. Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, ob Professor Giddings jetzt noch in der Akademie ist. Immerhin ist es Samstagnachmittag. Möglicherweise ist bis Montag alles abgeschlossen.“

„Ich finde schon jemand, der aufschließt. Oder ich rufe Ihren Professor an.“

„Aber …“

„Also, wollen wir los?“

Ohne auf ihre Bestürzung zu achten, ging er an Sam vorbei zum Privatlift. Sie folgte Mr. Kostopoulos in die Kabine, die viel kleiner war als die der öffentlich zugänglichen Aufzüge. Da er ungefähr einen Meter neunzig groß war, kam Sam sich mit ihren einszweiundsechzig neben ihm winzig vor. Er drückte auf einen Knopf, und die Lifttür schloss sich.

Sam, die die antiken griechischen Sagen liebte, dachte unwillkürlich an Persephone, die von Hades in die Unterwelt entführt worden war. Ihr war sehr unbehaglich zu Mute, während sie die mehr als sechzig Stockwerke in die Tiefgarage hinunterfuhr. Ihr Arm berührte Mr. Kostopoulos, und sie war sich überdeutlich seines muskulösen Körpers und des Dufts seines Rasierwassers bewusst.

Dieser Mann war so anders als ihre mittellosen, häufig bärtigen und vor allem freundlichen Studienkollegen. Er besaß eine Ausstrahlung von physischer und mentaler Kraft und wirkte, als würde er sich allen Herausforderungen des Lebens stellen und jede Minute davon genießen. Das machte ihn zu einem außergewöhnlichen Mann, und insgeheim bewunderte Sam ihn dafür.

Außerdem hatte er, wie sie sich ehrlich eingestand, eine beunruhigend erotische, ungezügelt leidenschaftliche Ausstrahlung, die wahrscheinlich jede Frau tief beeindruckte.

Noch nie war Sam einem Mann begegnet, der ihm auch nur annähernd ähnlich war. Und nur ungern gab sie zu, dass er sie zugleich einschüchterte und erregte.

Da er alles daransetzte, die Telefonnummer zu ermitteln, schien es sich für ihn tatsächlich um eine äußerst wichtige Angelegenheit zu handeln. Und irgendetwas sagte Sam, dass es dabei nicht um Geschäftliches ging.

Reglos stand sie steif neben ihm und hoffte, dass er ihre Gedanken nicht ahnte. Als erfolgreicher Unternehmer besaß er sicher die entnervende Fähigkeit, die Schwächen anderer Menschen zu erkennen und zu seinem Vorteil zu nutzen.

Als sie den Lift in der Tiefgarage verließen, stand dort schon ein schwarzer Mercedes bereit. Der Chauffeur öffnete Sam die Beifahrertür, während Mr. Kostopoulos sich hinters Steuer setzte.

Die beiden Männer unterhielten sich offensichtlich auf Griechisch, das für Sam fremd und geheimnisvoll klang. Zwar hatte sie Französisch und Spanisch gelernt, aber von anderen Fremdsprachen hatte sie keine Ahnung.

Als der Chauffeur lachte, fühlte sie sich unbehaglich, denn sie befürchtete, Mr. Kostopoulos hätte seinem Angestellten gerade die unglaubliche Geschichte weitererzählt, mit der sie das Verschwinden der Notiz erklärt hatte.

Sicher glaubt er mir erst, wenn er den Zettel in der Hand hält, dachte Sam. Wenigstens konnte sie beweisen, dass sie nicht gelogen hatte. Aber sie mochte es nicht, wenn man über sie sprach – und schon gar nicht in ihrer Gegenwart.

Nachdem Mr. Kostopoulos das Auto aus der Tiefgarage gefahren und sich in den dichten Verkehr eingeordnet hatte, sagte er mit seiner tiefen Stimme: „Entspannen Sie sich doch, Miss Telford. George hat mir lediglich von den neuesten Streichen seines kleinen Sohns erzählt. Ihr dunkles Geheimnis ist bei mir sicher aufgehoben.“

Ach, du liebe Güte, anscheinend wusste er tatsächlich, was sie dachte. Verriet ihre Miene denn so viel?

„Fürs Erste möchte ich nichts weiter, als dass Sie mich zur Kunstakademie lotsen“, fügte Mr. Kostopoulos hinzu, „und dabei berücksichtigen, dass ich um halb fünf einen Termin habe.“

„Natürlich, aber gegen den Stoßverkehr kann ich nichts ausrichten – und wenn die Universität schon geschlossen ist, bin ich auch machtlos“, erwiderte Sam. „Biegen Sie an der nächsten Ecke links ab.“

Er wechselte die Fahrbahn so gekonnt wie ein New Yorker Taxifahrer. „Falls Sie mich übrigens in die Irre führen, Miss Telford, sind Sie noch heute Abend arbeitslos.“

„Da ich nur noch hundert Dollar auf dem Konto habe, würde ich ja wohl kaum meinen Job bei der Reinigungsfirma riskieren“, erwiderte Sam aufgebracht.

„Das würden Sie als Milliardär natürlich niemals verstehen“, fügte sie ganz leise hinzu, aber er hörte es trotzdem. Plötzlich lachte er, und ein seltsames Prickeln überlief sie.

„Sie irren sich. Ich kann mich noch lebhaft an die Zeit erinnern, in der ich als armseliger, barfüßiger Junge auf meiner Heimatinsel Serafinos jeden Gelegenheitsjob annahm, um einige Drachmen zu verdienen.“

Wollte er etwa ihr Mitgefühl erregen? Na gut, das war ihm gelungen. Aber jetzt ist Schluss damit, schwor sich Sam.

„Ich erinnere mich, über Onassis mal dasselbe gelesen zu haben“, erwiderte sie herausfordernd.

„Ja, seine und meine Herkunft unterscheiden sich gar nicht so sehr voneinander“, erklärte Mr. Kostopoulos herablassend.

Sam hatte bisher angenommen, er wäre als Sohn reicher Eltern geboren und hätte das ererbte Vermögen um ein Vielfaches vermehrt. Dass er jedoch bettelarm gewesen war und aus eigener Kraft gesellschaftlich so aufgestiegen war, machte ihn noch bewundernswerter. Und sie bewunderte ihn tatsächlich, obwohl ihr seine herrische Art überhaupt nicht gefiel.

Sie hätte gern mehr über ihn gewusst als das, was in Zeitschriften und durch Klatsch des Personals im Gebäude des Kostopoulos-Konzerns über ihn verbreitet wurde. Er wirkte noch geheimnisumwitterter und rätselhafter, als die Journalisten ihn schilderten.

2. KAPITEL

In der halben Zeit, die Sam mit einem Auto benötigt hätte – falls sie sich eins hätte leisten können –, gelangten sie zur Akademie, und Mr. Kostopoulos stellte den Mercedes auf einem der Parkplätze ab, die für Professoren reserviert waren.

„Widerrechtlich geparkte Autos werden abgeschleppt“, warnte Sam ihn.

„Notfalls kann George uns mit der Limousine abholen“, erwiderte er unbeeindruckt. „Wichtig ist jetzt nur die Notiz.“

Nachdem sie ausgestiegen waren, hatte sie Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Erleichtert stellte sie dann fest, dass Professor Giddings Sekretärin noch in ihrem Büro war.

„Lois?“, sagte Sam.

„Oh, hallo, Sam. Was führt Sie denn noch mal her?“ Hingerissen betrachtete Lois Mr. Kostopoulos. Und wer hätte ihr das verübeln können?

Unter weniger misslichen Umständen hätte Sam sie einander vorgestellt, denn Lois wäre über die Bekanntschaft mit dem berühmten Mr. Kostopoulos begeistert gewesen. Aber Sam, die selbst kein Rampenlicht mochte, spürte intuitiv, dass Mr. Kostopoulos es ebenfalls hasste, deshalb beschloss sie, seine Identität nicht preiszugeben.

„Lois, ich muss unbedingt meine Collage wiederhaben.“

„Soll das ein Scherz sein? Es stehen über hundert davon in der Galerie. Die habe ich übrigens schon abgeschlossen. Und ich wollte gerade nach Hause gehen, weil es ein fürchterlicher Tag war.“

„Das kann ich nur bestätigen“, sagte Sam leise. „Lois, es handelt sich um einen Notfall. Ich habe nicht genug Zeit, um Ihnen die Einzelheiten zu erklären, aber ich kann hier nicht ohne meine Collage weggehen.“

„Professor Giddings akzeptiert keine zu spät eingereichten Arbeiten, Sam.“

„Meine wurde nicht zu spät eingereicht. Sie haben die Collage doch selbst heute Morgen in die Galerie gestellt. Aber ich bin in fürchterlichen Schwierigkeiten und muss etwas an der Collage ändern. Ich bringe sie gleich am Montagmorgen als Erstes zurück. Professor Giddings wird nichts davon wissen. Wenn Sie mir den Gefallen tun, Lois, dann schenke ich Ihnen die Tischdecke, die ich letztes Semester entworfen habe.“

Erstaunt sah Lois sie an. „Sie haben doch gesagt, Sie würden sich niemals davon trennen.“

Flüchtig blickte Sam zu Mr. Kostopoulos. „Ich habe meine Meinung geändert.“

Lois bemerkte den Blick und sagte leise: „Meine Güte! Er ist wirklich unglaublich fantastisch. Wo auf diesem überfüllten Planeten haben Sie diesen Mann gefunden?“

„Dort, wo ich arbeite. Lois, bitte helfen Sie mir!“

„Sie wollen Ihre Collage so dringend wiederhaben?“

„Ja. Es ist eine lebenswichtige Angelegenheit.“ Das war nicht gelogen. Sam hatte das Gefühl, ihr Leben würde nicht mehr lebenswert sein, wenn sie nicht den Zettel mit der Telefonnummer wieder beschaffen konnte.

Die Sekretärin seufzte und nahm den Schlüssel für die Galerie aus einer Schublade. „Na gut. Gehen Sie rein, und holen Sie das Bild.“

„Vielen Dank!“ Sam beugte sich über den Schreibtisch und umarmte Lois. „Er wird mir beim Suchen helfen, also sollte es nicht zu lange dauern.“

Sam eilte den Flur entlang, und Mr. Kostopoulos folgte ihr.

„Wonach halten wir eigentlich genau Ausschau?“, fragte er.

Sie öffnete die Tür der Galerie und tastete nach dem Lichtschalter. Ihr Herz pochte wie rasend, weil Mr. Kostopoulos dicht neben ihr stand.

„Wenn ich meine Arbeit auch nur halbwegs gut ausgeführt habe, werden Sie keine Schwierigkeiten haben, sie zu erkennen“, erklärte Sam.

„Soll das ein Rätsel sein?“

„Nein. Ich hoffe lediglich, dass mein Bild Ihnen sofort auffallen wird.“

Endlich fand sie den Schalter und knipste das Licht an. Collagen in allen nur denkbaren Farben und Mustern, aber vom selben Format von neunzig mal hundertzwanzig Zentimetern, füllten den Raum und ließen kaum Bewegungsspielraum.

„Ich sehe auf den ersten Blick ein Dutzend Arbeiten, die mich förmlich blenden“, sagte Mr. Kostopoulos sarkastisch.

Sie wusste, dass sie ihn nicht länger hinhalten konnte. „Ich gebe Ihnen einen Hinweis: Meine Arbeit ist wahrscheinlich die einzige, die Ihnen persönlich etwas zu sagen hat. Das heißt, wenn ich es geschafft habe, meine künstlerische Absicht zu verwirklichen.“

Seine Miene verfinsterte sich. „Wir haben keine Zeit für Spielchen und Rätsel, Miss Telford.“

„Na gut: Ich habe eine Collage Ihres Bürogebäudes gemacht“, erklärte sie endlich.

„Wie bitte?“

„Ja, denn es ist das schönste in ganz Manhattan: cremefarben mit königsblauen Ornamenten. Und es ist mir mittlerweile sehr vertraut, weil ich seit einem halben Jahr jede Nacht dort arbeite. Deshalb habe ich beschlossen, es als Thema für meine Collage zu verwenden. Allerdings habe ich es mit Menschenfiguren belebt, damit es nicht so einsam wirkt.“

„Einsam?“, wiederholte Mr. Kostopoulos.

„Ja.“ Inzwischen suchte Sam eifrig nach ihrem Bild. „Jedes Haus hat eine bestimmte Ausstrahlung. Ihr Bürogebäude erinnert mich an einen griechischen Tempel: großartig, aber ein bisschen unnahbar. Ich habe Menschen an den Fenstern abgebildet, damit es glücklicher aussieht.“

Jetzt hast du mal wieder zu viel gesagt, tadelte sie sich gleich darauf. Und plötzlich wurde ihr bewusst, dass Mr. Kostopoulos dieselbe Ausstrahlung wie das Gebäude besaß: Auch er war unnahbar und großartig zugleich. Er war einfach wunderbar – auf eine erregende und zugleich fast erschreckende Art.

Und er blickte sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an … Rasch bückte sie sich wieder, um weiter zu suchen. Sie versuchte, sich vorzumachen, sie wäre allein im Raum, aber Mr. Kostopoulos’ Anwesenheit ließ sich nicht vergessen.

Immer wieder blickte Sam zu ihm hinüber. Interessiert betrachtete er jedes Bild, was bei ihm als echtem Kunstliebhaber ja nicht verwunderlich war. Einige der Collagen waren tatsächlich Meisterwerke, und er schien das auch zu finden.

Sam hoffte sehnsüchtig, ihre Arbeit würde ihm sofort auffallen – und gefallen. Unsinn, sagte sie sich dann. Er interessierte sich nur dafür, den gelben Zettel mit der Telefonnummer aufzuspüren.

Und wenn ich das Wunder nicht vollbringen kann, die Notiz vom Bild zu lösen? fragte sie sich beklommen.

Weitere fünf Minuten schauten sie die Bilder durch. Als sie sich schon fragte, ob ihre Arbeit überhaupt dabei sei, hörte sie, wie Mr. Kostopoulos scharf einatmete. Sie wandte sich um und sah, wie er eins der Bilder nahm und genau begutachtete.

„Sie haben das aus Papierfetzen gemacht?“, fragte er ungläubig. Sein Tonfall verriet nicht, ob ihm die Collage gefiel.

„Ja“, antwortete Sam leise.

Kurz herrschte unbehagliches Schweigen.

„Und wo ist mein Notizzettel?“, fragte Mr. Kostopoulos schließlich kurz angebunden.

„Im obersten Fenster ganz rechts.“

Sie ging zu ihm und wies auf die Stelle. Er betrachtete Sam so durchdringend, dass ihr die Knie weich wurden.

„Das ist mein Büro“, bemerkte er.

„Davon hatte ich keine Ahnung“, verteidigte sie sich. „Aber es ist tatsächlicher ein seltsamer Zufall.“

„Ach wirklich?“, fragte er herausfordernd.

Glücklicherweise kam Lois in diesem Moment herein. „Haben Sie Ihre Arbeit gefunden, Sam?“, fragte sie. „Ich möchte jetzt nämlich abschließen.“

„Oh ja, natürlich“, antwortete Sam stockend. „Wir sind fertig. Danke, Lois. Ich schulde Ihnen einen Gefallen.“

„Vergessen Sie bloß nicht, Ihre Arbeit am Montag vor acht Uhr zurückzubringen“, meinte Lois. „Professor Giddings hat schon wegen geringerer Vergehen Diplome zurückgehalten.“

„Sie sind also in der Abschlussphase des Studiums?“, erkundigte sich Mr. Kostopoulos, als er und Sam wieder im Auto saßen. Die Collage hatte er im Kofferraum sicher verstaut.

„Ja. Gestern vor einer Woche habe ich das Examen bestanden. Jetzt geht es nur noch um die Abschlussarbeit. Aber Sie haben Lois ja vorhin gehört: Wenn Professor Giddings herausfindet, dass ich die Collage noch mal mitgenommen habe, muss ich wahrscheinlich das letzte Seminar wiederholen, was fast ein halbes Jahr dauern würde. Und selbst wenn er nicht so streng ist, gibt er mir bestimmt eine schlechtere Abschlussnote.“

„Darüber sollten wir uns jetzt erst mal keine Sorgen machen, Miss Telford. Wenn es wirklich zum Schlimmsten kommt, kann ich Ihrem Professor ja immer noch die Umstände erklären.“

Sam schüttelte den Kopf. „Nicht einmal Sie könnten ihn umstimmen, sobald er einen Entschluss gefasst hat.“

„Das werden wir ja sehen“, erwiderte Mr. Kostopoulos herablassend und schwieg, bis sie wieder das Bürogebäude erreicht hatten.

Panik erfasste Sam. Er erwartete Resultate, die sie nicht mit Gewissheit liefern konnte.

„Mr. Kostopoulos, ich brauche spezielles Werkzeug, um den Zettel von der Collage zu lösen, und muss deshalb in meine Wohnung. Wenn Sie mich dort absetzen, schaffen Sie es noch, Ihren Termin einzuhalten. Ich rufe Sie an, sobald ich fertig bin.“

„Wo genau wohnen Sie, Miss Telford?“

Erfreut, dass er darauf einging, nannte Sam ihm die Adresse und lehnte sich daraufhin erleichtert zurück. Bald würden sich ihre Wege wieder trennen.

Sie könnte niemals die Arbeit ausführen, wenn er ihr dabei auf die Finger schauen würde. Seine Nähe würde sie nervös machen – aus mehreren Gründen.

Als er vor dem Apartmenthaus anhielt, wollte sie sofort die Beifahrertür öffnen, was ihr aber nicht gelang.

„Würden Sie bitte die Tür entriegeln?“, fragte Sam und hörte, wie er übers Handy seine Sekretärin anrief und sie bat, den Termin auf die folgende Woche zu verschieben.

Ihr Herz begann wie rasend zu pochen. Offensichtlich wollte er sie in ihr Apartment begleiten und die heikle Operation überwachen.

Das konnte sie ihm nicht erlauben. Erstens herrschte totales Chaos in der Wohnung, und zweitens war diese ziemlich klein. Sie bestand nur aus Schlafzimmer, Wohnraum mit Kochnische und einem winzigen Bad. Die einzige Sitzgelegenheit war das Sofa, und es würde mindestens fünf Minuten dauern, dort Platz zu schaffen.

Sam wollte Mr. Kostopoulos gerade sagen, dass er nicht auf dem für Lieferwagen vorbehaltenen Parkplatz stehen bleiben könne, dann aber begriff sie, dass er sich über Regeln einfach hinwegsetzte, denn er stieg wortlos aus.

Bevor sie ebenfalls das Auto verlassen hatte, hatte er schon das Bild aus dem Kofferraum geholt und war zum Haus gegangen. Sie folgte ihm und öffnete. In der Halle drückte sie auf den Liftknopf. Schon jetzt fühlte sie sich unerträglich eingeengt.

Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, um sich zu beruhigen, sagte sie: „Sie brauchen mich wirklich nicht in meine Wohnung zu begleiten, Mr. Kostopoulos. Wenn Sie mir eine Telefonnummer geben, unter der ich Sie erreichen kann, rufe ich Sie an, sobald ich fertig bin.“

Die Lifttür öffnete sich, und er führte Sam in die Kabine. „Da ich nun schon mal hier bin, kann ich ja auch bleiben, bis ich bekommen habe, was ich möchte.“

Schweigend fuhren sie nach oben. Er folgte Sam den Flur entlang zu ihrem Apartment.

Bevor sie aufschloss, wandte sie sich ihm zu. „Es wäre vielleicht besser, wenn Sie in Ihrem Auto warten.“

„Falls Sie sich Sorgen machen, Ihr Freund könnte die Situation falsch verstehen, bin ich gern bereit, ihm zu erklären, warum ich in Ihre Privatsphäre eindringe.“

Sam wurde rot. „Die Wohnung bietet kaum genug Platz für mich, geschweige denn für eine zweite Person.“

Mr. Kostopoulos zuckte die breiten Schultern. „Das ist für mich kein Problem. Als Kind habe ich in einem Raum gelebt, der nicht viel größer als eine Besenkammer war. Dafür braucht man sich doch nicht zu schämen.“

„Ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, dass ich nicht darauf vorbereitet bin, Besuch zu empfangen?“, fragte sie nach einer Weile.

„Ich bin kein Besucher“, erwiderte er so selbstgefällig, dass es sie wütend machte. „Den Schlüssel, bitte.“

Den nahm er ihr einfach aus der Hand, und als er sie flüchtig berührte, überlief sie ein seltsamer Schauer. So etwas hatte Sam noch nie gespürt, und das verwirrte sie.

„Wo soll ich das Bild hinstellen?“, fragte Mr. Kostopoulos im Wohnzimmer gleichmütig. Ihn hatte die Berührung offensichtlich völlig kalt gelassen.

Rasch nahm Sam einige Orangenschalen von der Tischplatte. „Legen Sie es bitte hierhin.“

Er durchquerte das kleine Zimmer und musste dabei über das farbbekleckste Zeitungspapier und den Föhn steigen, die noch auf dem Boden lagen. Am Vorabend hatte Sam nämlich das Bild mit einer schützenden Firnisschicht überzogen und morgens dann trocken geföhnt.

„Ich schau mal nach, wo ich Hammer und Meißel habe.“

Im Wandschrank im Flur bewahrte sie sämtliche Utensilien für ihre Arbeit auf, und es dauerte eine Zeit lang, bis sie das Gesuchte fand. Sie stellte alles, was sie nicht brauchte, erst einmal auf den Boden.

Als sie ins Zimmer zurückkam, saß Mr. Kostopoulos auf der Sofalehne und musterte das Tischtuch, das sie, Sam, vor kurzem mit einem selbst entworfenen Batikmuster verziert und zum endgültigen Trocknen über das Sofa gebreitet hatte. In der Hand hielt er, wie sie bestürzt feststellte, das Nudelholz, das sie für alles Mögliche brauchte – nur nicht zum Ausrollen von Teig.

Amüsiert blickte er hoch und deutete mit dem Kopf auf das Küchengerät. Es wies so viele Kerben auf, dass es der Mondoberfläche ähnelte.

„Sie haben das sicher bereitliegen, falls Einbrecher eindringen“, meinte Mr. Kostopoulos.

Erstaunt sah Sam ihn an. Das Nudelholz notfalls als Waffe zu verwenden war ihr bisher nie in den Sinn gekommen. „Das ist eine gute Idee“, meinte sie spontan.

Das schien ihn zu belustigen, denn um seine Mundwinkel zuckte es fast unmerklich.

„Tatsächlich habe ich es gebraucht, um meine Collage zu machen“, erklärte sie.

„Reden Sie doch weiter“, bat er.

„Sie möchten, dass ich Ihnen die Prozedur genau erkläre?“, hakte sie nach.

„Ja, Miss Telford. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gut unterhalten habe.“

Nach einem Kompliment klang das nicht.

„Ich würde wirklich gern wissen, wie das Ding hier zu dem fertigen Bild beigetragen hat“, fügte er hinzu.

„Gut, ich zeige es Ihnen.“ Sam riss ein Stückchen von der Zeitung auf dem Boden ab, zerknüllte es und legte es auf die winzige Anrichte in der Kochnische. Dann fuhr sie mit dem Nudelholz darüber. „Das muss man ungefähr zehn Mal machen, damit das Papier richtig zerknittert wird und aussieht wie runzelige Haut“, erklärte sie. „Anschließend wird es auseinander gefaltet und mit Haarspray besprüht. Das ergibt einen Effekt wie Porzellanglasur. Schließlich formt man das Papier zu Menschenfiguren oder Ornamenten und klebt es fest.“

Zufrieden betrachtete sie ihre Collage.

„Wie Sie sehen, bringt das Spray die Farben zur Geltung, und insgesamt wirkt die Collage wie aus hauchdünnem Porzellan gemacht.“ Sam zögerte kurz. „Zumindest wollte ich diesen Effekt erzielen.“

„Das ist Ihnen gelungen“, versicherte Mr. Kostopoulos. „Und mehr als das“, fügte er rätselhaft hinzu und sah sie so durchdringend an, dass ein erregendes Prickeln ihre Haut überlief.

Rasch ging Sam zum Tisch, um endlich den gelben Notizzettel von der Collage zu lösen.

Ihr ungebetener Gast ging unterdessen zum einzigen Sessel und betrachtete die darauf deponierten selbst gewebten Möbelstoffe, dann musterte er die Makrameenetze, die von der Decke hingen.

Während er damit beschäftigt war, widmete Sam sich dem Bild. Sie klemmte es zwischen der Wand und ihrer Hüfte ein und schob behutsam das flache Ende des Meißels unter den gelben Zettel. Dann klopfte sie leicht auf den Meißelgriff.

Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dadurch den Tisch zum Wackeln zu bringen. Das Bild verrutschte, und sie stieß sich den scharfen Meißel in die Handfläche. Entsetzt stöhnte Sam auf, als Blut auf das Bild floss.

Sofort eilte Mr. Kostopoulos zu ihr, nahm ihre verletzte Hand und drückte ein blütenweißes Taschentuch darauf, um die Blutung zu stoppen.

Sams Herz begann wie rasend zu pochen, weil er so dicht neben ihr stand. Schmerzen spürte sie nicht.

Er fluchte leise. „Die Wunde ist so tief, dass sie genäht werden muss“, meinte er.

„Ich bin gleich wieder in Ordnung“, flüsterte sie, obwohl ihr ganz flau wurde – wie immer, wenn sie Blut sah. Am liebsten hätte sie sich an Mr. Kostopoulos geklammert. „Ich bin nicht krankenversichert, deshalb kann ich mir keinen Besuch beim Arzt leisten“, erklärte sie.

„Die Behandlungskosten übernehme ich. Immerhin bin ich für die Verletzung verantwortlich, weil ich unbedingt den Zettel haben will. Wir fahren jetzt sofort zu meinem Arzt.“

„Aber meine Collage! Ich muss zuerst das Blut davon entfernen.“

„Ich mache das.“ Er ließ Sams Hand los, trug das Bild zum Spülbecken und ließ Wasser über die blutverschmierte Stelle fließen. Innerhalb von Sekunden sah die Collage wie neu aus. Vorsichtig tupfte er sie mit einem Küchentuch trocken und legte sie auf den Tisch zurück.

„Es war sehr vernünftig von Ihnen, das Bild zu firnissen. Andernfalls wäre Ihr Meisterwerk jetzt ruiniert. So, da wir uns deswegen nicht länger zu sorgen brauchen, können wir zum Arzt fahren.“

Bei seinem Kompliment wurde Sam ganz warm ums Herz, und sie folgte Mr. Kostopoulos widerspruchslos.

Auf dem Weg ins Krankenhaus schwiegen sie beide. Er schien ganz in Gedanken versunken zu sein, und sie war es ebenfalls, denn die Ereignisse der letzten Stunden hatten sie verwirrt und erschüttert.

Er brachte sie zu einer Privatklinik, in der man ihn offensichtlich gut kannte, denn ein Wort von ihm genügte, damit man sich um Sam kümmerte.

Sie wurde in einen Untersuchungsraum geführt. Mr. Kostopoulos begleitete sie ungefragt.

„Dr. Strike wird gleich hier sein“, sagte die Krankenschwester und ließ sie allein.

Kurz darauf eilte der Arzt herein. „Perseus!“, rief er erfreut und begann eine lebhafte Unterhaltung auf Griechisch, während er Sams Wunde versorgte.

Er heißt also Perseus, dachte Sam verwundert. Die griechische Sage von Perseus, dem Sohn des Gottes Zeus und der Menschentochter Danae, hatte ihr von allen Sagen immer am besten gefallen.

Perseus war ein strahlender Held, der zum Beweis seiner Fähigkeiten die grausige Medusa mit dem Schlangenhaupt, deren Blick jeden in Stein verwandelte, tötete und nach vielen weiteren Abenteuern die schöne Andromeda aus den Klauen eines Seeungeheuers befreite und zur Frau gewann.

Sam fand, dass Mr. Kostopoulos ein moderner Held war. Er besaß – wie der antike Perseus – überdurchschnittliche Fähigkeiten, die ihn fast wie einen Halbgott erschienen ließen.

Ob es eine Frau gab, die er unbedingt für sich gewinnen wollte? Und müsste es nicht herrlich sein, diese Frau zu sein?

Unsinn, Sam, die Fantasie geht mal wieder mit dir durch, tadelte sie sich und konzentrierte sich von da an auf das, was der Arzt ihr sagte, während er die Wunde nähte und verband. Mit einer Tetanusspritze wurde die Behandlung abgeschlossen.

Nachdem Sam sich bei Dr. Strike dafür bedankt hatte, dass er sich so schnell um Sam gekümmert hatte, führte Perseus sie zum Auto zurück. Ja, für sie war er nicht länger Mr. Kostopoulos – selbst wenn sie ihn weiterhin natürlich so anreden würde –, sondern Perseus, der strahlende Held.

Bald darauf waren sie wieder in Sams Apartment.

„Sie halten jetzt, wie der Arzt befohlen hat, die Hand völlig ruhig“, befahl er ihr. „Ich mache Ihnen etwas zu trinken, dann kümmere ich mich um den Zettel auf der Collage.“

Sie fühlte sich zu schwach und apathisch, um zu widersprechen. Sie setzte sich auf die Couch und stützte den Ellbogen auf die Lehne. In wenigen Stunden musste sie zur Arbeit gehen, und sie wusste nicht, wie sie es bis zur Apartmenttür schaffen sollte, geschweige denn zu Fuß ins Bürogebäude.

„Im Schrank über dem Herd ist Tee“, informierte sie Perseus.

Er zog das Jackett aus, rollte die Hemdsärmel hoch und setzte Wasser auf, ganz so, als ob er das öfter machte. Sie sah ihm zu und bewunderte, wie geschickt er sich in der engen Kochnische bewegte.

Inzwischen gefiel es Sam, dass er da war, obwohl sie zuerst empört gewesen war, dass er sie begleitet hatte.

Bisher hatte sie noch keinem Mann erlaubt, ihre Wohnung zu betreten. Aber Perseus hatte einfach den Schlüssel genommen und sich ungebeten in ihr Apartment und ihr Leben gedrängt. Sie hatte es zugelassen, weil sie sich nicht dagegen wehren konnte – und es auch nicht länger wollte.

Müde lehnte sie sich zurück. Es war schön, auch einmal, wenigstens für kurze Zeit, verwöhnt zu werden. Dass Perseus nicht deshalb da war, vergaß sie vorübergehend. Schließlich reichte er ihr eine Tasse Tee, und schlagartig kehrte Sam in die Wirklichkeit zurück.

Daraufhin widmete er sich der Collage, und er schien genau zu wissen, was er zu tun hatte.

Unter dem Hemd zeichneten sich deutlich seine Muskeln ab, als er sich über das Bild beugte und die Werkzeuge ansetzte. Sam betrachtete ihn hingerissen. Wenn sie Porträts gemalt hätte, hätte sie Perseus gern als Modell verwendet. Er war so umwerfend männlich und attraktiv.

Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken. Rasch trank sie einen Schluck Tee, der stark gesüßt war. Sie lächelte. Es hieß allgemein, Griechen hätten eine Schwäche für Süßes, und Perseus schien keine Ausnahme zu sein.

„Ich habe den Zettel losbekommen“, verkündete er schließlich zufrieden. „Wie geht es weiter?“

„Jetzt muss die Firnisschicht mit einem Lösungsmittel entfernt werden, damit man das Papier auseinander falten kann. Einen Moment, ich hole das Mittel.“

„Nein, sagen Sie mir, wo es ist, und ich hole es.“

Er klang so bestimmt, dass sie befürchtete, er würde sie daran hindern, vom Sofa aufzustehen, falls sie es versuchte. Allerdings stand das Mittel im Schlafzimmerschrank. Und darin waren auch ihre Nachthemden und Dessous … Was war nun schlimmer: ihn wütend zu machen, wenn sie ihm nicht gehorchte, oder ihn ihre Unterwäsche sehen zu lassen?

Wahrscheinlich hätten die meisten Frauen sich nichts dabei gedacht, wenn ein fremder Mann ihre Dessous im Schrank zu sehen bekam, aber Sam war, was das betraf, anders. Sie hatte immer nur mit ihrer Mutter zusammengelebt und war nicht an den unbefangenen Umgang mit Männern gewöhnt.

Außerdem hatte sie bisher erst einen Freund gehabt, wenn man das überhaupt so nennen konnte. Sie hielt nämlich nichts von vorehelichen Beziehungen, und als er gemerkt hatte, dass sie erst nach der Hochzeit mit ihm ins Bett gehen würde, hatte er sie eine „ewig gestrige Prüde“, genannt und sich eine andere Freundin gesucht. Ihr war das recht gewesen, denn sie lebte gern allein. Dass jemand wie Perseus Kostopoulos auftauchen und in ihrem Leben innerhalb kürzester Zeit sozusagen das Oberste nach unten kehren würde, hätte sie niemals erwartet.

„Warum zögern Sie so lange?“, fragte Perseus spöttisch. Er wirkte amüsiert und gereizt zugleich.

„Na schön, das Mittel ist in einer Schachtel ganz unten im Schrank.“

Perseus ging hinaus, und Sam schloss die Augen. Einige Minuten vergingen. Er kam nicht zurück. Schließlich stand sie auf, um nachzusehen. Der Tee hatte sie belebt, und sie fühlte sich schon wieder besser. Rasch ging sie ins Schlafzimmer.

„Die Schachtel ist …“, begann Sam und verstummte. Perseus hatte den Schrank ausgeräumt – zumindest alles, was auf Kleiderbügeln gehangen hatte. Und das waren hauptsächlich Stoffmuster, die Sam seit ihrer Teenagerzeit entworfen und angefertigt hatte. Sie lagen auf dem Bett ausgebreitet, und er begutachtete sie. Er sah nicht einmal auf, als sie ins Zimmer kam, und er entschuldigte sich auch nicht dafür, sich Freiheiten bezüglich ihres Eigentums herausgenommen zu haben.

„Woher haben Sie die Stoffe?“, fragte er vielmehr.

„Ich habe sie entworfen und hergestellt.“

Nun hob er den Kopf und sah Sam unergründlich an. „Dann sind Sie ein Genie.“

Sie freute sich so sehr über das Kompliment, dass sie nicht länger wütend auf ihn war. Perseus Kostopoulos war nicht nur ein Kunstkenner, sondern ihm gehörte – unter anderem – eine Textilfirma, deren Produkte weltweit in hohem Ansehen standen. Wenn er mich lobt, bedeutet das, ich habe mit dem Entwerfen meine Zeit nicht verschwendet, dachte Sam.

Rasch holte sie das Lösungsmittel aus dem Schrank und brachte es, gefolgt von Perseus, in die Küche. Dort goss sie es in eine Schüssel.

„Wenn die Notiz mit Kuli geschrieben wurde, greift das Mittel sie nicht an, aber ich fürchte, dass Bleistiftschrift ausgelöscht wird.“

„Da ich nicht weiß, was meine Sekretärin verwendet hat, müssen wir eben unser Glück versuchen“, meinte Perseus und tauchte den zusammengeknüllten Zettel in die Flüssigkeit. „Wie lange soll ich das Papier einweichen?“

Sams verletzte Hand begann zu schmerzen, weil die örtliche Betäubung nachließ, und sie bekam Kopfschmerzen. Die Prozedur würde nicht funktionieren, Perseus würde weggehen, und sie würde ihn niemals wieder sehen. Der Gedanke genügte, um einen Migräneanfall auszulösen.

„Erst einmal eine Minute“, antwortete sie.

Sie warteten. Danach testete Perseus, ob sich das Papier schon auseinander falten ließ, und schüttelte den Kopf. „Es braucht länger.“

„Dann noch zwei Minuten.“

Er tauchte den Zettel wieder ein.

Sam beobachtete Perseus nachdenklich. Schließlich hielt sie es nicht länger aus und fragte: „Warum ist Ihnen die Telefonnummer so wichtig?“

Er verspannte sich sichtlich, und sie wünschte, sie hätte nicht gefragt.

„Vor zwanzig Jahren hat meine Verlobte mich mit einem Messer verletzt und ist danach verschwunden. Seither suche ich sie.“

Die Erklärung schockierte Sam. Sie hatte gedacht, Perseus wäre bei einer Schlägerei verwundet worden. Aber sie hatte vorhin richtig vermutet, dass er auf der Suche nach einer Frau war, allerdings der Frau, die ihn verletzt hatte – und sicher nicht nur körperlich. Sie hasste diese Frau schon jetzt heftig, obwohl sie sich das nicht erklären konnte.

„Mit der Zeit hat sich der Umkreis, in dem ich suche, verkleinert“, fügte Perseus hinzu. „Anscheinend will sie nicht länger vor mir davonlaufen. Ganz im Gegenteil. Alles weist darauf hin, dass sie es war, die meine Sekretärin angerufen und ihre Nummer hinterlassen hat.“

„Aber wenn sie Sie so geliebt hat, dass sie sich mit Ihnen verlobt hat, und Sie sie ebenfalls geliebt haben …“

„Mehr als das Leben“, unterbrach Perseus sie.

Dieses Eingeständnis fand Sam niederschmetternd. Weil Perseus ihr jetzt schon sehr viel bedeutete.

„Warum hat sie dann …“

„Der Zettel dürfte jetzt genügend eingeweicht sein“, unterbrach er sie.

Er würde ihr also nicht mehr erzählen. Sam hielt unwillkürlich den Atem an, während er das Papier auseinander faltete.

Die Notiz war verschwunden.

3. KAPITEL

Perseus ließ den Zettel so schnell fallen, als hätte er sich daran verbrannt.

„Es tut mir so leid“, flüsterte Sam gequält. „Ich wünschte, ich hätte Ihr Büro niemals geputzt.“

„Für Bedauern ist es zu spät, Miss Telford“, sagte er. „Wo ist der Kleber? Ich repariere jetzt Ihre Collage.“

„Nicht nötig. Ich mache das.“

„Nicht mit der verletzten Hand.“

Er eilte hinaus und kam kurz darauf mit dem Kleber zurück, den er im Flur gefunden hatte.

Innerhalb kürzester Zeit hatte Perseus den Zettel wieder auf die Collage geklebt, und es sah aus, als wäre er nie entfernt worden. Sam brauchte nur noch Firnis darüber zu sprühen, und das Bild würde wie neu sein.

„Danke“, sagte sie leise. Perseus hörte es vermutlich nicht, denn er hatte sein Handy genommen und telefonierte auf Griechisch. Wahrscheinlich besprach er mit einem seiner Informanten, dass er die Telefonnummer nicht habe auftreiben können.

Gleich würde er das Apartment verlassen, und sie würde ihn nie mehr sehen. Der Gedanke war unerträglich, aber was sollte sie tun?

Er beendete das Telefongespräch und sah Sam an.

So, jetzt sagt er mir, dass er geht, dachte sie niedergeschlagen.

„Ich habe Essen bestellt.“

Ihr wurde schwindlig, und sie hielt sich am Sofa fest. „Wie bitte?“

„Ich möchte Wiedergutmachung leisten für alles, was ich Ihnen heute zugemutet habe. Außerdem bin ich hungrig. Sie sind es doch sicher auch.“

„Ja, schon. Aber …“

„Dann ist ja alles klar“, unterbrach Perseus sie gelassen. „Sie ruhen sich jetzt aus, während ich aufräume.“

„Nein, das werde ich nicht zulassen.“

„Sie können mich nicht aufhalten. Übrigens habe ich vorhin von der Klinik aus ihren Chef angerufen und berichtet, dass Sie sich verletzt haben. Er hat mir gesagt, Sie sollten so lange nicht zur Arbeit kommen, bis die Wunde verheilt ist.“

Perseus räumte auf. Sam setzte sich aufs Sofa, zu verwirrt, um zu widersprechen. Die Schicksalsgöttinnen hatten sie offensichtlich erhört und ihr noch einige Stunden mit Perseus gewährt. Aber sie war undankbar, denn sie wollte mehr: Sie wollte für immer mit Perseus zusammen sein.

Eine halbe Stunde später klingelte es. Sam richtete sich auf, aber bevor sie aufstehen konnte, war Perseus schon zur Wohnungstür geeilt und hatte sie geöffnet. Draußen stand eine dunkelhaarige Frau mittleren Alters, mit der er sich kurz auf Griechisch unterhielt.

Sie überreichte ihm eine große braune Papiertüte und verabschiedete sich daraufhin.

Nun war Sam wieder mit Perseus allein.

„Arianna ist die beste Köchin in New York“, bemerkte er. „Zum Abendessen gibt es gebratenes Lamm mit Tomaten und Käse und danach ein sündhaft leckeres griechisches Dessert, das Ihnen sicher schmecken wird.“

Ein wundervoller Duft erfüllte die Wohnung. Sam lief das Wasser im Mund zusammen, als Perseus ihr einen gefüllten Teller reichte.

„Das sieht herrlich aus.“

„So schmeckt es auch. Aber meine Köchin auf Serafinos kocht noch besser, gut genug für die Götter des Olymps. Das werden Sie auch sagen, wenn wir auf meiner Heimatinsel sind und Sie Marias Essen gekostet haben.“

Ihr Herz schlug plötzlich rascher. „Warum sagen Sie ‚wir‘? Wie meinen Sie das?“

„Das Schicksal hat es heute doch nicht gut mit Ihnen gemeint“, meinte Perseus, ohne sie anzusehen. „Weil Sie den Zettel aus meinem Büro entwendet haben, müssen Sie Wiedergutmachung leisten und mich nach Griechenland begleiten.“

Sein Ton klang so beiläufig, dass Sam einen Moment brauchte, bevor sie den Sinn des Gesagten völlig erfasste.

Sie hatte sich sehnlichst gewünscht, mit Perseus länger zusammen zu sein. Jetzt sah es ganz so aus, als würde ihr dieser Wunsch erfüllt. Aber sagte nicht ein Sprichwort, man sollte sich vor Wünschen hüten, weil sie sich erfüllen könnten?

Sam wurde nervös und verlor den Appetit. „Warum soll ich Sie begleiten?“

„Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Anruf gestern von meiner Exverlobten kam, die mittlerweile offensichtlich auf meine Heimatinsel zurückgekehrt ist und mich endlich nach zwanzig Jahren um Verzeihung bitten möchte für das, was sie mir damals angetan hat. Und dann will sie mich wahrscheinlich heiraten“, erklärte Perseus. „Eigentlich bin ich froh, dass ich sie telefonisch nicht erreichen kann. Wenn ich Sie, Miss Telford, als meine Ehefrau nach Serafinos mitnehme, wird das eine deutlichere Sprache sprechen als alles andere. Sobald für mich keine Gefahr mehr besteht, sind Sie frei, Ihr Leben wie bisher weiterzuführen. Und ich versichere Ihnen, dass ich Sie nicht belästigen werde. Sie brauchen nur die Rolle meiner Ehefrau zu spielen.“

Ich soll ihm also sozusagen als Schutzschild dienen, wenn er seine angebetete Exverlobte wiedersieht? dachte Sam. Was für eine unglaubliche, lächerliche Zumutung! Eigentlich hätte sie jetzt schallend lachen müssen. Oder Perseus den Teller an den Kopf werfen sollen. Sie tat keines von beidem, als sie bemerkte, wie er sich geistesabwesend über die Narbe strich. Ob sie ihn noch immer schmerzte?

Offensichtlich war er damals seiner Verlobten dermaßen verfallen gewesen, dass er nie geheiratet und auch nie aufgehört hatte, sie zu suchen, obwohl sie ihm so Schreckliches zugefügt hatte.

Und nun befürchtet er so sehr, wieder in den Bann dieser Frau zu geraten, dass er mich, eine Fremde, als seine Frau auszugeben gedenkt, um sozusagen eine Waffe gegen die fatale Anziehungskraft seiner Geliebten zu haben? dachte Sam.

Sie konnte eine so bedingungslose, leidenschaftliche Liebe überhaupt nicht verstehen.

Du lügst, sagte ihr eine innere Stimme.

Nun gestand Sam sich ein, dass sie durchaus gern gewusst hätte, was für ein Gefühl es wäre, der einzig wahre Lebensinhalt eines Manns zu sein.

Nein, dir geht es nicht um irgendeinen Mann, sondern nur um Perseus Kostopoulos, berichtigte die innere Stimme sie.

Sam konnte, wenn sie wollte, bei ihm bleiben – als seine Ehefrau.

Hast du dir das nicht gewünscht? fragte die innere Stimme.

„Da Sie bisher niemals um Worte verlegen waren, finde ich Ihre jetzige Sprachlosigkeit sehr vielversprechend. Offensichtlich bedeutet sie, dass Sie mein Angebot nicht kurzerhand ablehnen“, bemerkte Perseus. „Gut so. Die Alternative dazu wäre nämlich, dass Sie mit mir als meine Geliebte leben, nicht als meine Ehefrau.“

Sam errötete.

„Ich würde Ihnen auch dann auf keinen Fall zu nahe treten, aber die Menschen würden Sie weniger nachsichtig beurteilen – wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Sam verstand Perseus nur zu gut. Wenn sie in seinem Haus lebte, würde das ihren guten Ruf zerstören. Mit Perseus verheiratet zu sein würde ihr allerdings ganz andere Möglichkeiten eröffnen.

„Um Ihnen mein Angebot schmackhafter zu machen, bin ich bereit, Ihnen drei Herzenswünsche zu erfüllen. Sogar, wenn es um ihre ausgefallensten Träume geht.“

Herausfordernd blickte sie ihn an. Sie fühlte sich plötzlich extravagant und wagemutig. Um ihre Mundwinkel zuckte es. „Meine ausgefallensten Träume?“

Dass Perseus hier in ihrem winzigen Apartment dicht neben ihr saß und ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, übertraf schon ihre kühnsten Vorstellungen und Träume.

„Ich habe also drei Wünsche frei?“, hakte sie nach.

„Ja. Meine Freunde können Ihnen bestätigen, dass ich ein Angebot niemals zurücknehme.“

Das glaubte Sam ihm aufs Wort.

„Na gut. Mein erster Wunsch ist einfach zu erfüllen: Ich habe mir schon oft gewünscht, so viel Geld zu haben, dass ich einem mittellosen, talentierten Künstler oder einer Künstlerin ein Stipendium geben könnte, damit er oder sie nicht nebenbei mehrere Jobs annehmen müssten, um das Studium zu finanzieren.“

„Okay“, verkündete Perseus. „Demnächst schon setze ich mich mit Ihrem Professor in Verbindung und errichte eine Stiftung in Ihrem Namen. Ich möchte ohnehin Ihre Collage erwerben und sie in der Eingangshalle meines Bürogebäudes aufhängen.“

Sam wäre beinah der Teller von den Knien und aufs Sofa gerutscht. „Das würden Sie wirklich tun?“, rief sie erstaunt.

Dass Perseus ihr Bild kaufen wollte, war unglaublich genug. Aber dass er auch bereit war, mittellose Kunststudenten zu unterstützen …

„Was ist Ihr zweiter Wunsch?“, fragte er gelassen.

„Als meine Mutter starb, hatte ich nicht genug Geld, um ihren Leichnam nach Cheyenne in Wyoming überführen zu lassen. Sie stammte von dort und hätte eigentlich im Familiengrab beigesetzt werden sollen. Ich habe damals einen Grabstein entworfen, aber er wäre für mich zu teuer geworden.“

„Das wird umgehend erledigt“, versprach Perseus ernst. „Jetzt haben Sie nur noch einen Wunsch frei. Sie müssen doch auch etwas für sich haben wollen.“

Unauffällig betrachtete sie ihn. Das Ganze war ja nur ein Spiel! Und Sie beabsichtigte nicht, auf der Erfüllung ihrer Wünsche zu bestehen.

„Ja, ich möchte in Ruhe Entwürfe für Stoffe, Fliesen und Porzellan machen können.“

„Kein Problem.“ Perseus stand auf und nahm ihr den Teller ab. Sie hatte fast gar nichts gegessen. Er trug das Geschirr zum Spülbecken, dann wandte er sich um und sagte: „Sie können den Seitenflügel meiner Villa auf Serafinos als Atelier benutzen. Ehrlich gesagt, habe ich schon lange keine so originellen Entwürfe wie Ihre gesehen. Ich werde mich um deren Herstellung und Vermarktung kümmern. Wenn ich Sie eines Tages wieder freigebe, werden Sie im Geschäft erfolgreich Fuß gefasst haben und nie mehr Geldsorgen haben.“

Sam saß wie benommen da.

Aufmerksam blickte Perseus sie an. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Sie noch einen vierten Wunsch haben. Und heute bin ich so gut gestimmt, dass ich Ihnen jeden Wunsch erfüllen würde.“

Ja, ich hatte recht, dachte sie. Perseus besaß beachtliches Einfühlungsvermögen. Offensichtlich ahnte er die geheimsten Gedanken von anderen, und das war fast beängstigend.

Ihr vierter Wunsch … Sie wollte ihrem Vater ins Gesicht sagen, dass sie im Leben größeren Erfolg habe als er – und das ohne seine Hilfe oder Anerkennung. Und dann würde sie sich umdrehen und einfach weggehen, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Perseus war der einzige Mensch, der ihr helfen konnte, diesen Traum zu verwirklichen, bevor sie alt und grau geworden war. Und das schien er zu wissen, obwohl sie ihm keine Einzelheiten verraten hatte.

„Nein, ich … ich weiß momentan keinen“, sagte sie stockend und versuchte, beiläufig zu klingen, was ihr jedoch nicht gelang. „Ich muss über alles nachdenken.“

„Tun Sie das. Ich komme um zehn Uhr abends wieder her.“ Er nahm ihren Wohnungsschlüssel von der Anrichte und verließ das Apartment.

Wie raffiniert von ihm, mich jetzt allein zu lassen, damit ich mir ausmalen kann, wie mein Leben ohne ihn verlaufen würde, dachte Sam.

Bisher hatte sie kaum jemals einen Gedanken an Liebe verschwendet, weil sie viel zu intensiv für ihren Studienabschluss gearbeitet hatte, der Grundlage für eine erfolgreiche Karriere.

Bisher … Bevor sie Perseus Kostopoulos begegnet war.

Sam schaute sich in dem engen, kleinen Apartment um, in dem plötzlich alles an ihn erinnerte.

Der Verband um ihre Hand, die Reste des vorzüglichen Essens, die Collage auf dem Tisch, die er repariert hatte …

Unvermittelt sehnte Sam sich danach, seine Hände in ihrem Haar und auf der Haut zu spüren. Noch nie hatte sie so erotischen Fantasien nachgehangen.

Und plötzlich überkam es Sam wie eine Erleuchtung: Sie hatte sich auf den ersten Blick in Perseus verliebt.

Sie konnte nicht anders. Sie wollte ihn, mit Leib und Seele. Ihn oder keinen.

Meiner Mutter ist es mit meinem Vater genauso ergangen, dachte sie. Wie die Mutter, so die Tochter.

Aber es war unwahrscheinlich, dass Perseus sie, Sam, jemals lieben würde. Konnte sie sich auch mit weniger zufrieden geben?

Ja.

Sie würde bei ihm bleiben, bis er sie wieder wegschickte. Vielleicht würde das noch lange nicht passieren. Vielleicht würde es ihr gelingen, seine Verlobte bei ihm auszustechen. Vielleicht würde er sich doch ihr, Sam, zuwenden und seine Liebe zu ihr entdecken.

Hör auf, dir etwas vorzugaukeln, ermahnte sie sich dann. Falls sie sein Angebot annahm, durfte sie ihn nie den wahren Grund für ihre Entscheidung wissen lassen, die ihr letztendlich nur Kummer bereiten würde.

Das Problem war nur, dass sie sich schon jetzt elend und verlassen fühlte, obwohl Perseus gerade erst weggegangen war. Sam fand den Gedanken unerträglich, dass er womöglich niemals wiederkommen würde.

Die folgende Stunde verging qualvoll langsam. Um fünf nach zehn war Sam am Rand einer Nervenkrise, weil sie dachte, dass Perseus ohnehin nicht beabsichtigt hatte, jemals wieder zu ihr zu kommen. Nein, er hatte nur mit ihren Gefühlen gespielt, um sie dafür zu bestrafen, dass sie den Zettel aus seinem Büro mitgenommen hatte.

Als es um Viertel nach zehn an der Wohnungstür klingelte, war Sam sich sicher, dass es der Hausmeister war, der ihr den Schlüssel zurückbringen wollte, den Perseus inzwischen bei ihm abgegeben hatte.

Aber bevor sie zur Tür gelangen konnte, wurde diese geöffnet, und Perseus kam herein. Sam war überglücklich und wandte rasch das Gesicht ab, damit er ihr die Freude nicht ansah.

„Ich bin durch einen Stau aufgehalten worden“, sagte er. „Haben Sie inzwischen eine Entscheidung getroffen?“

Sam wandte sich ihm zu. „Ich würde nicht einmal im Traum darauf bestehen, dass Sie mir meine ersten beiden Wünsche erfüllen. Aber da ich so schnell wie möglich im Beruf Fuß fassen möchte, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie ein Vorstellungsgespräch mit dem Chef oder der Chefin Ihrer Textilfirma für mich arrangieren könnten. Mehr nicht. Wenn Sie mir diesen Gefallen tun, bin ich bereit, für eine gewisse Zeitspanne als Ihre Ehefrau aufzutreten, Mr. Kostopoulos.“

„Sag ab jetzt Perseus zu mir“, erwiderte er und fügte etwas auf Griechisch hinzu, was sie natürlich nicht verstand, dessen Sinn sie aber ahnte, weil seine dunklen Augen triumphierend leuchteten.

Plötzlich erschrak Sam. Worauf hatte sie sich da eingelassen?

„Wann findet die feierliche Verleihung der Diplome statt?“

„Nächsten Freitag“, antwortete sie langsam, denn ihr Mund war plötzlich ganz trocken.

„Gut, dann heiraten wir am Samstag. Bis dahin kündigst du deinen Job, und wir kaufen dir ein Brautkleid und was du sonst noch an Kleidern brauchst. Deine Möbel und sonstigen Habseligkeiten werden eingelagert. Um die Überführung des Leichnams deiner Mutter kümmere ich mich. Nach der Hochzeit fliegen wir nach Wyoming und lassen den Grabstein nach deinen Angaben anfertigen. Sobald er fertig ist, wird deine Mutter beerdigt. Anschließend fliegen wir nach Athen. Ich schätze, in etwa zwei Wochen. Und wenn wir schließlich auf Serafinos sind, kannst du die Heiratsanzeigen verschicken.“

Sam stand wie benommen da. Perseus hatte bei seiner Planung an wirklich alles gedacht. Sie konnte nur noch zustimmend nicken.

In der folgenden Woche hielt Perseus Sam mit den Vorbereitungen für die Hochzeit und die Reise nach Griechenland dermaßen beschäftigt, dass ihr die Zeit bis zur Abschlussfeier wie im Flug verging.

Sie hatte immer erwartet, die feierliche Verleihung der Diplome würde für sie eine zugleich freudige und traurige Angelegenheit werden, da sie ja keine Angehörigen hatte. Aber nun war Perseus da! Er saß zwischen den stolzen Eltern und Verwandten der anderen Studenten und beobachtete, wie sie ihr Diplom in Empfang nahm.

Sam war erstaunt, dass er sich die Mühe gemacht hatte, an der Feier teilzunehmen, und liebte ihn dafür umso mehr. Aber sie wagte es nicht, ihm ihre Gefühle zu zeigen, sondern dankte ihm lediglich für sein Kommen. Dass er in der Stunde ihres Triumphes bei ihr war und ihr Glück über den mühsam erkämpften Erfolg teilte, machte den Tag zu einem ganz besonderen Erlebnis, an das sie sich immer erinnern würde.

Sie verbrachte die Nacht vor der Hochzeit in Perseus’ Penthaus im Gästezimmer. Erschöpft schlief sie ein, sobald sie sich ins Bett gelegt hatte.

Am nächsten Tag wurden sie und Perseus um zehn Uhr in seiner Limousine zur Kirche gefahren. Er trug einen dunkelblauen Anzug und ein blütenweißes Hemd, Sam ein kurzes weißes Spitzenkleid, das er ihr ausgesucht hatte, und einen schulterlangen Spitzenschleier.

Als sie Perseus fragte, warum er eine kirchliche Hochzeit statt einer standesamtlichen Trauung arrangiert habe, erklärte er ihr, dass es die einzige Möglichkeit sei, unerwünschtes Aufsehen zu vermeiden, denn die Zeremonie sollte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.

Panik erfüllte Sam plötzlich. „Ich weiß gar nicht, was bei der Zeremonie von mir erwartet wird.“

„Mach mir einfach alles nach“, erklärte er. „Wir werden beide Kränze aus Orangenblüten tragen, die mit Bändern verbunden sind. Der Pope führt uns einmal um den Altar herum, dann fragt er uns, ob wir einander heiraten wollen, wir sagen Ja, trinken Wein aus einem Kelch – und schon bist du Kyria Kostopoulos, also Mrs. Kostopoulos.“

Sam empfand es fast als gotteslästerlich, an einer so ehrwürdigen Zeremonie teilzunehmen, wenn die Ehe nur zum Schein geschlossen wurde. Als sie die alte, wunderschöne griechisch-orthodoxe Kirche betrat, hätte sie sich am liebsten umgedreht und wäre geflüchtet.

Perseus ahnte offensichtlich, was in ihr vorging, denn er umfasste ihren Ellbogen und führte sie zum Altar, wo sie der Pope und die beiden Trauzeugen schon erwarteten. Der eine war Dr. Strike, der Arzt, der ihre Verletzung behandelt hatte, der andere Mr. Paulos, Perseus’ Anwalt.

Nun erst wurde Sam bewusst, dass sie in der vergangenen Woche in einer Traumwelt gelebt hatte, und ihre Freude verschwand schlagartig.

Schon bald würde Mr. Paulos sich um die Scheidung kümmern müssen – oder wahrscheinlich eher um die Annullierung der Ehe, die ja nicht vollzogen werden würde, wie Perseus betont hatte.

Was bin ich doch für eine Närrin, tadelte Sam sich.

Die Zeremonie wurde hauptsächlich auf Englisch abgehalten, nur einige Gebete wurden auf Griechisch gesprochen. Ein Gefühl der Unwirklichkeit befiel Sam, als sie an Perseus’ Seite dem Popen um den Altar folgte, was den gemeinsamen Lebensweg des Brautpaars symbolisieren sollte. Süß duftend stieg Weihrauch auf.

Die Blumen dufteten ebenfalls betäubend, und ihr wurde plötzlich schwindlig. Perseus merkte es offensichtlich und legte ihr stützend den Arm um die Taille. Er ließ Sam auch nicht los, als sie schließlich wieder vor dem Popen standen, um das Ehegelübde zu sprechen.

„Willst du, Samantha Telford, den hier anwesenden Perseus Kostopoulos zu dem dir angetrauten Ehemann nehmen, ihn lieben und ehren in guten wie in schlechten Zeiten bis ans Ende eurer Tage?“

„Ja, das will ich.“ Von ganzem Herzen, fügte sie im Stillen hinzu. Auch wenn die Trauung nur zum Schein vollzogen wurde, sie, Sam, liebte Perseus. Ihre Antwort war also keine Lüge.

Perseus umfasste ihre Taille fester, als der Priester ihn feierlich fragte: „Willst du, Perseus Kostopoulos, Samantha Telford zur Ehefrau nehmen?“

„Ja, das will ich“, erwiderte Perseus nachdrücklich.

Er war ein großartiger Schauspieler, denn er klang, als wäre ihm das Gelübde tatsächlich ernst.

Sam traute sich nicht, ihn anzusehen, denn sie hatte Angst, ihm unwillkürlich ihre Gefühle zu verraten, wenn er sie küsste. Schockiert stellte sie jedoch fest, dass der Pope weder dem Bräutigam erlaubte, die Braut zu küssen, noch sie zu Mann und Frau erklärte. Stattdessen reichte er ihr einen Kelch mit Wein.

Mit bebenden Fingern hob sie ihn an die Lippen und trank einen Schluck, dann reichte sie Perseus das Gefäß. Er berührte mit den Lippen dieselbe Stelle wie sie zuvor, dann blickte er ihr in die Augen. Vielleicht lag es nur an dem gedämpften Licht in der Kirche, aber Sam glaubte, in seinen Augen einen leidenschaftlichen Ausdruck zu erkennen. Ein Stromstoß schien sie zu durchzucken.

Nun nahm Perseus ihr den Blumenkranz vom Kopf, und ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen, als er ihr den Ring mit einem tropfenförmig geschliffenen Brillanten überstreifte.

„Täusch dich nicht, Kyria. Wir sind vor Gott und der Welt verheiratet. Ich bin jetzt dein Ehemann.“

Ja, solange du mich brauchst, dachte Sam beklommen und wünschte sich sehnlichst, die Hochzeit wäre kein Spiel, sondern Wirklichkeit.

Sam wandte endlich den Blick ab und nahm die Glückwünsche des Popen und der Trauzeugen entgegen.

Die Ereignisse der folgenden Woche nahm Sam wie durch einen Schleier wahr. Sie und Perseus kümmerten sich um den Grabstein und das Begräbnis und besuchten gemeinsam einige Verwandte und alte Freunde ihrer Mutter. Nach der Beerdigung flogen sie nach Griechenland.

Sam war bis dahin noch nie im Ausland gewesen. Und nun befand sie sich im Flugzeug, und ihr Ehemann saß ihr gegenüber. Er hatte bestimmt keine Ahnung, dass ihre Gefühle ständig in Aufruhr waren, seit sie ihn kennen gelernt hatte.

So vieles erlebte sie zum ersten Mal, und sie empfand dabei zugleich Begeisterung und Beklommenheit. Fast fühlte sie sich wie ein Kind, das jeden neuen Aspekt des Lebens bestaunte.

Als sie schließlich Athen erreichten, war Sam von der Hektik der vorausgegangenen Wochen so erschöpft, dass sie in Perseus’ Apartment sofort ins Bett gehen wollte.

Sie war zu müde, um richtig zu begreifen, was er damit meinte, als er ihr sagte, hier in seiner Heimat müsse sie nun die Rolle der frisch verheirateten jungen Frau zu spielen anfangen.

Sie hatte es doch bisher schon getan, oder? Aber sie war zu abgekämpft, um nachzufragen. Rasch versicherte sie Perseus, sie würde sich an die Abmachung halten und ihm keinen Grund zur Klage geben.

Er empfahl Sam, ins Bett zu gehen. Dieser Aufforderung folgte sie gern, und dann schlief sie tief und traumlos fünfzehn Stunden lang.

Sam liebte Athen – die Hitze, die Menschenmassen und die Düfte, ja sogar die Staus und den Lärm.

Durchs Fenster der Limousine blickte sie abschiednehmend auf die Szenerie, während sie und Perseus vom Chauffeur nach Piräus zum Hafen gebracht wurden.

„Manche behaupten, man könne Athen nicht sehen, ohne zu weinen“, sagte Perseus. „Aber es ist eine großartige Stadt, die man einfach lieben muss.“

„Ich sehe ohnehin keine Makel“, erwiderte Sam, denn ihr gefiel alles, was sie bisher gesehen hatte.

„Dann zählst du zu den seltenen Fremden, die die Schattenseiten der Stadt zu übersehen bereit sind“, meinte er trocken. „Übrigens können wir noch immer mit dem Hubschrauber nach Serafinos fliegen. Du brauchst es nur zu sagen.“

Sie wandte sich ihm rasch zu und streckte die Hand aus, berührte ihn aber nicht. „Nein, Perseus. Ich freue mich doch schon so auf die Überfahrt mit der Fähre.“

„Die dauert allerdings fünf Stunden, und es ist heute sehr heiß.“

„Aber ich liebe das Meer! Bisher bin ich nur auf den Fähren in New York gewesen, und das ist nicht Gleiche.“

Er lachte leise.

Wahrscheinlich hielt er sie für albern und naiv, aber das war ihr egal. Ihr war zu Mute, als würde sie träumen. Eines Tages würde sie wahrscheinlich in ihrem winzigen Apartment aufwachen, sich mit der harten Wirklichkeit abfinden und einen richtigen Job suchen müssen.

Aber vielleicht erfüllte sich bis dahin ja auch ihr Wunsch, als Designerin Erfolg zu haben. Wenn ja, würde sie es dem rätselhaften, schwer zu ergründenden Mann zu verdanken haben, der neben ihr saß und jetzt eine griechische Zeitung las.

Sam war fest entschlossen, die Sprache so schnell wie möglich zu lernen.

„Worauf konzentrierst du dich denn so intensiv?“, fragte Perseus unvermittelt.

Sie hatte gedacht, er hätte ihre Anwesenheit vergessen. „Ich arbeite an meinem Griechisch. Laut der Broschüre, die dein Hausmädchen mir zusammen mit dem Frühstück serviert hat, fahren wir zum ‚Limani‘ um dort die ‚Vapori‘ zu nehmen.“

Perseus lachte herzlich. „Großartig, Kyria Kostopoulos.“

Mrs. Kostopoulos. Sam liebte es, so angesprochen zu werden, und wünschte sich, sie würde nie darauf verzichten müssen.

„Schön, dass du dir die Mühe gemacht hast, die Broschüren durchzusehen. Jetzt sprich mir einige Wörter nach, dann bist du bald in der Lage, dich meinen Landsleuten verständlich zu machen.“

Auf der Fahrt zum Hafen erhielt Sam von Perseus die erste Lektion in Griechisch, und als sie in Piräus ankamen, konnte sie in seiner Muttersprache bereits Guten Tag, Wie geht’s? und Auf Wiedersehen sagen. Sie erprobte ihr Wissen sogleich in Gegenwart des Chauffeurs, der sie anlächelte und ihr ein Kompliment machte.

Auch Perseus lächelte strahlend, und das ließ ihn um Jahre jünger erscheinen.

Leider erinnerte das Sam an das tragische Ereignis, das ihm als jungem Mann widerfahren war, und rief ihr ins Gedächtnis, warum sie vorübergehend die Rolle seiner Ehefrau spielte: Perseus wollte seiner Exverlobten beweisen, dass er sich nichts mehr aus ihr machte. In Wirklichkeit aber würde er immer diese Frau lieben, die ihn abgewiesen hatte und ihn nun offensichtlich wiedergewinnen wollte.

Sie wird Perseus allerdings nicht bekommen, schwor Sam sich. Dafür würde sie sorgen. Sie würde Perseus beschützen, und wenn seine Exverlobte es wagen sollte, irgendwelche Tricks zu versuchen, dann …

Plötzlich legte er den Arm um Sam und zog sie an sich. Ihr Herz begann wie rasend zu pochen. Wieso tat Perseus das? Es fühlte sich herrlich an.

„Wieso hegst du an einem so schönen Morgen finstere Gedanken?“, fragte er leise, die Lippen an ihren Hals gepresst, und ein erregendes Prickeln überlief sie. „Deine Augen wirken plötzlich ganz dunkel.“

Bleib gelassen, ermahnte Sam sich. Perseus erwartete von ihr ja nur, dass sie in der Öffentlichkeit die verliebte Braut spielte, während er die Rolle des liebenden Ehemanns übernahm. Das durfte sie niemals vergessen.

Schon bevor sie ihn kennen gelernt hatte, hatte sie gewusst, dass die Paparazzi ihn ständig verfolgten, aber bisher war ihr nicht klargewesen, wie schlimm das war. Überall lauerten ihnen die Reporter auf, um Fotos zu machen.

Nun schien Perseus diesen Umstand für seine Zwecke zu nutzen. Er wollte offensichtlich, dass überall bekannt wurde, dass er mit seiner Ehefrau auf seine Heimatinsel zurückkehrte. Auf die Insel, wo seine frühere Verlobte ihn mit offenen Armen erwartete, bereit, ihn um Verzeihung anzuflehen und sich mit ihm zu versöhnen.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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