Julia Best of Band 243

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SCHÖN, DASS ES DICH GIBT
Alles könnte wundervoll sein: Auf den Kanarischen Inseln ist Frühling, der Himmel ist blau, die Sonne strahlt! Die frisch mit dem holländischen Arzt Cornelius van Kepler verheiratete Krankenschwester Matilda sollte glücklich sein. Doch etwas Wichtiges fehlt – Liebe.

VON LIEBE SPRICHST DU NIE
Eine schnelle Traumhochzeit, dann romantische Flitterwochen … Erst als der Alltag einkehrt, erkennt die hübsche Krankenschwester Katrina, dass sie so gut wie nichts über ihren Ehemann Raf van Tellerinck weiß. Und er verschweigt ihr etwas, da ist sie sicher!

AUF EINEM WEISSEN SCHIFF IM MITTELMEER
Als Angela dem gutaussehenden Jonas van Draak auf einer Kreuzfahrt durchs Mittelmeer begegnet, verliebt sie sich Hals über Kopf in diesen faszinierenden Mann! Glücklich genießt sie seine aufregenden Umarmungen – bis sie erfährt, dass sie eine Rivalin hat …


  • Erscheinungstag 27.08.2021
  • Bandnummer 243
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502870
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Betty Neels

JULIA BEST OF BAND 243

1. KAPITEL

In dem überfüllten Wartezimmer roch es nach feuchten Regenmänteln und Eukalyptusbonbons, die der alte Mr. Stokes lutschte. Er litt an einer chronischen Bronchitis und behandelte sich immer erst einmal selbst, ehe er den Arzt aufsuchte. Jetzt saß er da mit finsterer Miene und wartete darauf, dass das Lämpchen über der Tür zum Sprechzimmer grün aufleuchtete, denn er war als Nächster an der Reihe.

Plötzlich blinkte das Lämpchen im Zimmer der jungen Sprechstundenhilfe. Ihr Onkel Thomas brauchte sie. Sie sollte Mrs. Spinks’ krankes Bein verbinden. Ruhig stand sie auf und ging ins Sprechzimmer. Sie lächelte ihren Onkel freundlich an und nahm die Patientin mit in den kleinen Raum hinter einen Vorhang.

„Viel zu tun heute Morgen“, sagte Mrs. Spinks, während sie sich hinsetzte und das Bein auf dem Hocker ausstreckte, den die junge Frau ihr hinschob. „Wir halten Sie in Trab, nicht wahr, meine Liebe?“

Die Sprechstundenhilfe legte den Verband geschickt und sanft an. Sie war eine sehr hübsche junge Frau mit großen braunen Augen und vollen Lippen. Das gelockte kastanienbraune Haar hatte sie hochgesteckt. Sie trug einen weißen Kittel, war groß und hatte eine außergewöhnlich gute Figur.

„Oh, das sind wir gewöhnt“, antwortete sie mit ihrer wohlklingenden Stimme. „Wann sollen Sie wiederkommen, Mrs. Spinks?“

Sie half der Frau aufzustehen und begleitete sie zur Tür. Dann räumte sie den kleinen Raum auf und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch.

Die Patienten kannten die Nichte des Doktors gut, die seit ihrer Kindheit hier im Dorf lebte. Während ihrer Ausbildung hatte sie einige Jahre in London gelebt und dann noch eine Zeit lang dort als Krankenschwester gearbeitet. Da sie ihrem Onkel viel zu verdanken hatte, war es für sie selbstverständlich gewesen, den Job aufzugeben und zurückzukommen, als er gesundheitliche Probleme hatte. Seitdem half sie ihm in der Praxis.

Sie und Leslie, der einzige Sohn des Gutsbesitzers, der sich schon zwei Jahre um sie bemühte, sollten endlich heiraten, wünschte man sich. Auch wenn der junge Mann die ganze Woche in London war, hatten sie Zeit genug gehabt, sich kennenzulernen, meinten die Frauen im Ort, die ziemlich altmodische Ansichten vertraten. Ein Jahr, um sich miteinander anzufreunden, dann die Verlobung und ein Jahr später eine große Hochzeit in der Kirche mit allem Drum und Dran, so sollte es sein.

Matilda sortierte die Patientenkarten und zählte die Wartenden. Wenn Mr. Stokes noch lange brauchte, würde es zeitlich eng werden und ihr Onkel erst spät mit den Hausbesuchen anfangen können. Das bedeutete, dass er vor Beginn der Nachmittagssprechstunde nur rasch ein Sandwich essen und eine Tasse Tee trinken könnte, was bestimmt nicht gut für ihn war. Er arbeitet zu viel, dachte Matilda besorgt. Außer ihm hatte sie niemanden mehr. Er hatte sie bei sich aufgenommen, als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren.

Als das Wartezimmer schließlich leer war, öffnete sie die Tür zum Sprechzimmer.

„Den Kaffee habe ich ins Wohnzimmer gestellt, Onkel. Ich räume hier auf, während du unterwegs bist.“

Müde saß der ältere Mann mit dem runden, freundlichen Gesicht und den klaren blauen Augen am Schreibtisch.

„Das war ein anstrengender Vormittag, Ana.“ Langsam stand er auf. „In zwei Monaten wird es Frühling, vielleicht haben wir dann nichts mehr zu tun.“

„Das möchte ich erleben! Aber bald wird es weniger. Januar und Februar sind doch immer die schlimmsten Monate, stimmt’s?“ Sie schob ihn sanft zur Tür. „Lass uns den Kaffee trinken, sonst wird er kalt. Soll ich dich fahren?“

„Nein, nicht nötig. Ich brauche ja heute nur im Dorf herumzufahren. Hast du die Liste? Vielleicht ruft Mrs. Jenkins an, das Baby wird bald kommen.“

Sie setzten sich an den Kamin. Während Matilda den Kaffee einschenkte, kam eine ältere grauhaarige Frau herein.

„Ich gehe jetzt zum Metzger. Lammkoteletts für heute und schöne Steaks für morgen, Miss Matilda?“, fragte sie.

„Klingt gut, Emma. Ich helfe Ihnen, sobald ich das Sprechzimmer aufgeräumt habe.“ Matilda lehnte sich im Sessel zurück.

„Ach, ich habe ganz vergessen, dir zu erzählen, dass ich Besuch eingeladen habe, einen holländischen Arzt. Er praktiziert in Holland, kommt aber oft nach England. Ich habe ihn vor mindestens zehn Jahren kennengelernt. Momentan hält er sich in London auf und hat mir geschrieben, dass er mich gern besuchen würde. Deshalb habe ich ihn gestern Abend angerufen und gebeten, das Wochenende bei uns zu verbringen“, sagte ihr Onkel.

Da es sein freies Wochenende war, hatte Matilda schon Pläne gemacht, was sie mit ihm unternehmen wollte. Es gefiel ihr nicht, dass sie sich stattdessen um einen älteren Arzt kümmern mussten, der zum Frühstück Kaffee statt Tee trank, wie sie vermutete, weil er kein Engländer war.

„Schön für dich, Onkel“, antwortete sie jedoch rasch. „Wann kommt er an?“

„Morgen nach dem Lunch. Für Freitag hast du ja nicht so viele Patienten bestellt, oder? Du kannst ihm die Zeit vertreiben, bis ich fertig bin. Er ist wirklich ein netter Mensch“, versicherte er ihr etwas besorgt.

„Ich backe einen Kuchen.“ Und dann muss ich noch mehr Steaks holen, dazu Gemüse und einiges andere, überlegte Matilda.

„War er schon einmal hier in der Gegend, Onkel?“

„Wahrscheinlich nicht. Es wird ihm sicher gefallen.“

Später bezog sie das Bett in einem der Gästezimmer des geräumigen Hauses und ging dann in die Küche, um Emma die Neuigkeit zu erzählen.

„Ein älterer Holländer?“ Emma rümpfte die Nase. „Vielleicht ist er etwas schwierig, was das Essen angeht.“

„Ach, ich glaube nicht. Mein Onkel hat gesagt, dass er oft in London ist.“

Matilda räumte das Sprechzimmer auf, dann half sie Emma beim Kochen.

Kurz nachdem die Sprechstunde am nächsten Vormittag beendet und ihr Onkel unterwegs zu den Hausbesuchen war, rief Mr. Jenkins an.

„Das Baby kommt, meine Frau ist ziemlich aufgeregt“, erklärte er beunruhigt. Es war ihr viertes Kind.

„Der Doktor ist zu Patienten unterwegs. Aber ich schwinge mich aufs Fahrrad und komme sogleich zu Ihnen“, versprach Matilda dem Mann. „Meinem Onkel hinterlasse ich eine Nachricht. Er ist bestimmt bald wieder da.“ Sie hörte noch, wie Mr. Jenkins erleichtert aufatmete, dann legte sie auf.

Sie bat Emma, den Doktor sogleich nach seiner Rückkehr zu informieren. Rasch zog sie sich den nicht mehr ganz neuen Mantel an, nahm die Geburtshilfetasche mit und fuhr auf dem Rad durchs Dorf zur Farm.

„Hallo“, begrüßte sie Mr. Jenkins heiter, der in der ziemlich unordentlichen Wohnküche Wasser kochte. „Sie ist oben im Schlafzimmer, oder?“

Er nickte. „Ja. Gut, dass die Kinder heute bei der Großmutter sind.“

„Ich gehe zu ihr.“ Matilda stieg die Holztreppe hinauf und klopfte an die angelehnte Tür am Ende des Flurs.

Mrs. Jenkins saß auf dem Bett und sah sehr ängstlich aus. Doch als sie Matilda erblickte, hellte sich ihre Miene auf.

Matilda stellte die Tasche hin, setzte sich neben die Frau aufs Bett und legte ihr den Arm um die Schultern. Ruhig stellte sie ihre Fragen.

„Wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange“, erklärte sie schließlich. „Soll ich nachsehen? Sie legen sich am besten jetzt hin.“

Das Baby, ein Junge, hatte es überaus eilig, auf die Welt zu kommen. Es wartete nicht, bis der Doktor eintraf, der dann nur noch Mutter und Kind zu untersuchen brauchte. Er war mit dem Gesundheitszustand der beiden sehr zufrieden und verabschiedete sich schon bald wieder, weil er noch mehr Patienten besuchen musste. Er überließ es Matilda, sich um Mrs. Jenkins zu kümmern.

Nachdem Matilda das Baby gebadet, Mrs. Jenkins versorgt und mit den stolzen Eltern Tee getrunken hatte, war es bereits Nachmittag.

„Bis heute Abend“, rief Matilda den Jenkins zu, ehe sie sich aufs Rad setzte und davonfuhr.

Ein heftiger Wind blies ihr den feinen Nieselregen ins Gesicht, und sie war ziemlich zerzaust, als sie am Hintereingang des Hauses ankam. Rasch zog sie in der Küche Schuhe, Socken und Mantel aus. Dann durchquerte sie die Eingangshalle und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer ihres Onkels. Er stand am Schreibtisch, und in dem großen Ledersessel vor dem Kamin saß ein Besucher. Als Matilda hereinkam, stand der Fremde sogleich auf. Er war sehr groß und breitschultrig und sah mit dem blonden Haar und den blauen Augen auffallend gut aus. Matilda schätzte ihn auf Mitte dreißig. Ist er etwa der Gast, den wir erwartet haben?, überlegte sie.

„Da bist du ja, Matilda.“ Ihr Onkel blickte sie strahlend an. „Das ist Cornelius van Kepler, unser Gast.“

„Herzlich willkommen.“ Matilda reichte ihm die Hand. Sie ärgerte sich, weil sie so zerzaust aussah und keine Schuhe und Strümpfe anhatte.

Er begrüßte sie freundlich. „Ich glaube, ich bin in einem ungünstigen Moment angekommen“, entschuldigte er sich und betrachtete ihre bloßen Füße, das vom Regen nasse Gesicht und ihr unordentliches Haar.

„Nein, überhaupt nicht“, antwortete Matilda kühl. „Ich musste nur das Baby der Jenkins’ auf die Welt holen.“ Sie sah ihren Onkel an. „Habt ihr etwa mit dem Essen auf mich gewartet?“

„Ach, meine Liebe, wir hatten uns so viel zu erzählen. Wir haben uns nur einen Drink genehmigt.“ Erst jetzt schien er zu bemerken, wie sie aussah. „Du willst dich sicher erst zurechtmachen. Ich schenke dir inzwischen schon einen Sherry ein.“

Während Matilda den Raum verließ, war sie sich der aufmerksamen Blicke der beiden Männer sehr bewusst.

Sorgfältig bürstete sie ihr langes Haar, trug etwas Make-up auf und zog sich um. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Emma sie in der Küche nicht brauchte, gesellte sie sich zu den beiden und plauderte höflich übers Wetter und dergleichen. Ihr Onkel warf ihr ab und zu einen prüfenden Blick zu. Er war verblüfft, wie reserviert sie war, was Matilda sich selbst nicht erklären konnte.

Dr. van Kepler war ein ausgesprochen liebenswürdiger Mensch und ein angenehmer Gesprächspartner. Er und ihr Onkel hatten offenbar viele gemeinsame Interessen. Dennoch redete er während des Essen nur über allgemeine Themen, um Matilda nicht auszuschließen.

Nach dem Lunch zogen die beiden Männer sich wieder ins Arbeitszimmer zurück, während Matilda den Tisch abräumte und Emma beim Abwaschen half. Dr. van Kepler ist eigentlich ganz nett – nein, nett ist zu nichtssagend, er sieht sehr gut aus und wirkt beeindruckend, überlegte Matilda und gestand sich ein, dass sie nichts dagegen hätte, ihn besser kennenzulernen. Doch diesen Gedanken verdrängte sie sogleich wieder. Sie wollte Leslie gegenüber nicht unfair sein.

Leslie Waring, der in London als Rechtsanwalt arbeitete, würde wie immer am Wochenende nach Hause kommen und sie im Manor, dem schlossähnlichen Herrenhaus seiner Eltern, erwarten. Und sie würden wieder stundenlang spazieren gehen und sich unterhalten. Sie kannten sich schon viele Jahre, aber Matilda hatte nie daran gedacht, ihn vielleicht zu heiraten. Wahrscheinlich war es die Idee seiner Mutter gewesen.

Mrs. Waring, eine einschüchternd wirkende Matrone, war überzeugt, dass Matilda die Frau war, die sie sich für ihren Sohn wünschte. Sie würde sich formen und zurechtbiegen lassen. Auch wenn Matilda nicht unbedingt eine standesgemäße Partie war, wie Leslies Mutter ihrem Mann gegenüber betonte, hatte sie dafür andere Vorzüge. Ihr Onkel, Dr. Groves, besaß eine gut gehende Praxis und ein schönes Haus. Das große Grundstück grenzte an das der Warings, was Mrs. Waring als absoluten Glücksfall betrachtete. Sie war stolz auf ihren Sohn und dessen Karriere. Aber sie hatte große Angst, er würde in London eine junge Frau kennenlernen, die nicht zu ihm passte. Mit Matilda, die sie schon seit der Kindheit kannte, hatte sie keine Probleme.

Und Matilda akzeptierte die Situation. Sie hatte Leslie gern, liebte ihn jedoch nicht. Es war für sie selbstverständlich, dass sie bei ihrem Onkel blieb, bis er sich zur Ruhe setzte und sie Leslie heiratete.

Ihr war klar, dass sie trotz allem viel Glück gehabt hatte im Leben. Dennoch hatte sie manchmal das Gefühl, ihr würde etwas Wichtiges fehlen. Sie sehnte sich nach einer romantischen Beziehung und wünschte sich, sich richtig zu verlieben. Leslie würde bestimmt ein guter Ehemann sein, und Matilda hoffte, dass sie nach der Hochzeit ihre romantischen Träume vergaß. Ich bin ja kein Teenager mehr, schalt sie sich.

Als sie aus dem Haus ging, um im Dorf noch einige Extras fürs Abendessen einzukaufen, blieb sie trotz Regen und Wind kurz vor dem in der Einfahrt geparkten Rolls-Royce des jungen Doktors stehen und betrachtete das dunkelblaue Fahrzeug bewundernd. Unser Gast ist offenbar ein sehr erfolgreicher Arzt, dachte sie und ahnte nicht, dass er am Fenster des Arbeitszimmers stand und sie seinerseits bewundernd betrachtete.

Mrs. Binns, die Inhaberin des Lebensmittelladens, wusste schon, dass Dr. Groves Besuch hatte. In dem kleinen Dorf sprachen sich Neuigkeiten schnell herum.

„Soll gut aussehen, Ihr Gast, habe ich gehört“, sagte sie, während sie den Schinken schnitt. „Er spricht doch Englisch, oder? Ihr Onkel ist bestimmt froh über die Abwechslung.“

„Ja, Mrs. Binns. Ich brauche noch Käse …“

„Kommt Mr. Leslie am Wochenende?“

„Ja. Hoffentlich hört es bald auf zu regnen.“

Aber fürs Wetter interessierte Mrs. Binns sich nicht. „Er freut sich sicher auf zu Hause. Wissen Sie schon, wann Sie sich verloben, Miss Matilda?“, wollte sie stattdessen wissen.

„Nein, noch nicht.“ Matilda überlegte, wie sie es erklären sollte, ohne dass die Frau daraus die falschen Schlüsse zog. „Wir haben momentan beide zu viel zu tun.“

Das stimmte sogar, war aber genau genommen kein Grund, sich nicht zu verloben.

Auf dem Rückweg kam ihr Dr. van Kepler entgegen.

„Hallo! Ich wollte Ihnen tragen helfen“, sagte er freundlich. „Können wir noch einen Umweg machen und ein bisschen spazieren gehen, oder stört Sie der Regen?“

„Überhaupt nicht. Aber die Wege hier sind ziemlich schmutzig.“ Sie betrachtete vielsagend seine eleganten Schuhe.

„Die kann man wieder sauber machen“, versicherte er ihr. „Was tun Sie in Ihrer Freizeit, Matilda?“

„Ich wandere viel, arbeite im Garten, und im Sommer spiele ich Tennis. Ab und zu fahre ich nach Thame oder Oxford zum Einkaufen.“

„Nicht nach London ins Theater oder zum Dinner in ein gemütliches Restaurant?“ Er blickte sie an. „Ihr Onkel hat erwähnt, Sie seien verlobt.“

„Noch nicht. Mein Freund ist Rechtsanwalt in London und kommt oft übers Wochenende nach Hause.“ Sie führte ihn den aufgeweichten Feldweg entlang nach Rush Bottom. „Sind Sie verheiratet, Dr. van Kepler?“, fragte sie ihn jetzt ihrerseits aus.

„Nein, aber hoffentlich bald, denn es würde mir das Leben in mancher Hinsicht erleichtern.“

Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er aus keinem anderen Grund heiraten wolle. Sie tat es jedoch nicht, denn dazu kannte sie ihn nicht gut genug.

Da er nicht gern über sich selbst redete, unterhielt er sich mit ihr über ihre Arbeit als Sprechstundenhilfe und Krankenschwester und andere unverfängliche Themen.

Abends fuhr sie noch einmal zu Mrs. Jenkins, die übers Wochenende von der Gemeindeschwester aus Haddenham betreut werden sollte. Als Matilda zurückkam, fand sie Emma ziemlich aufgeregt vor.

„So ein netter junger Mann“, sagte Emma. „Ich muss heute ein ganz besonders gutes Essen hinzaubern.“

„Das tun Sie doch immer, Emma“, versicherte Matilda ihr und fügte nach kurzem Zögern hinzu: „So jung ist er auch nicht mehr. Mindestens fünfunddreißig.“

„Jedenfalls in den besten Jahren“, erklärte Emma.

Da Matildas Onkel am nächsten Morgen keine Sprechstunde hatte, verschwand er nach dem Frühstück mit seinem Gast ins Arbeitszimmer, während sie das Geschirr in die Küche brachte. Nachdem sie im Haus aufgeräumt hatte, zog sie ihre neue Tweedhose und eine warme Jacke an, wickelte sich den Schal um den Hals und wanderte durchs Dorf zu den Warings.

Leslie kam freitags immer erst so spät nach Hause, dass sie sich nicht mehr sehen konnten. Außerdem hatte er ihr klar gemacht, dass er nach einer anstrengenden Woche in London seinen Schlaf brauchte. Jetzt wartete er wahrscheinlich schon auf sie. Nach einem ausgedehnten Spaziergang würde er sie nach Hause begleiten, sich fünf Minuten mit ihrem Onkel unterhalten und rechtzeitig zum Lunch wieder bei seinen Eltern sein. Das war zur Routine geworden, und Matilda akzeptierte es genauso wie den gemeinsamen Kirchgang am Sonntag und die anschließende Versammlung zum Drink bei den Warings.

Zu Anfang hatte Matilda den Wunsch geäußert, lieber einen Tag mit Leslie irgendwo allein zu verbringen. Aber er hatte ihr erklärt, dass seine Mutter sich viel zu sehr auf seine Besuche freue und ihn am Wochenende um sich brauche. Matilda hatte es schweigend hingenommen.

Als sie im Manor eintraf, saß er im Wohnzimmer über irgendwelchen Akten.

„Hallo, altes Mädchen“, begrüßte er sie.

Matilda ärgerte sich über die Anrede, obwohl sie sonst sehr ausgeglichen und vernünftig war. Normalerweise legte sie keinen Wert auf romantische Begrüßungen und dergleichen.

Nachdem sie einige Minuten höflich mit seiner Mutter geplaudert hatte, ging sie mit Leslie spazieren. Er erzählte ununterbrochen von seiner Arbeit und sprach immer noch über einen für ihn interessanten Fall, als sie das Haus ihres Onkels betraten.

Der Doktor und sein holländischer Gast saßen im Wohnzimmer und standen auf, als die beiden hereinkamen. Matildas Onkel stellte Leslie vor und bot ihm einen Drink an, den er jedoch ablehnte.

„Tschüss, altes Mädchen“, verabschiedete er sich rasch und klopfte Matilda freundschaftlich auf die Schulter.

Wieder ärgerte Matilda sich über die Anrede, vor allem weil Dr. van Kepler es mitbekam. Sie errötete und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. Obwohl er sich nichts anmerken ließ, spürte sie, wie belustigt er war.

Beim Lunch erklärte Matilda ihrem Onkel, dass sie Leslie erst am nächsten Morgen wiedersehen würde. Er wollte mit seiner Mutter zu Freunden nach Henley fahren und erst spätabends zurückkommen.

„Schade, dass ihr den Tag nicht gemeinsam verbringen könnt. Fahr doch mit Cornelius nach Oxford. Er will dort Erinnerungen auffrischen“, schlug ihr Onkel unbekümmert vor.

Matilda wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war ihr peinlich.

„Ich würde mich freuen, wenn Sie mir Gesellschaft leisten würden“, rettete Dr. van Kepler die Situation. „Ich habe es Ihnen nicht selbst angeboten, weil ich dachte, Sie wären den ganzen Tag mit Leslie beschäftigt.“

„Na gut, dann komme ich mit.“ Sie lächelte ihn an. „Haben Sie in Oxford studiert?“

„Ja. Ich erinnere mich noch an die gemütliche Teestube in der High Street.“

„Die gibt es noch.“

Es wurde ein angenehmer Nachmittag. Der Doktor ließ sich vom Regen die Laune nicht verderben. Sie schlenderten die High Street hinunter zur Magdalen Bridge, bewunderten den Tom Tower und sahen sich andere Sehenswürdigkeiten an. Dann setzten sie sich in die Teestube, in der sich überhaupt nichts verändert hatte, wie der Doktor behauptete.

Er ist viel netter, als ich gedacht habe, überlegte Matilda auf der Rückfahrt in dem komfortablen Rolls-Royce. Es war ein schöner Ausflug und eine willkommene Abwechslung gewesen. Schade, dass Leslie für so etwas keine Zeit hat, ging es ihr durch den Kopf. Doch rasch verdrängte sie den Gedanken wieder. Sie wollte nicht unfair sein.

Weil der Doktor erst am Nachmittag nach London zurückfahren würde, stand Matilda am Sonntag früh auf und backte eine Biskuitrolle zum Tee. Nach dem Frühstück ging sie in die Kirche. Ihr Onkel und Dr. van Kepler begleiteten sie und nahmen sie in die Mitte. Nach dem Gottesdienst begrüßten sie Leslie und seine Mutter.

„Sie müssen unbedingt mitkommen“, forderte Mrs. Waring Dr. van Kepler auf, nachdem man ihn ihr vorgestellt hatte. „Sonntags vormittags sitzen wir immer gemütlich zusammen. Und Sie kommen auch mit, Thomas, Sie haben ja so selten Zeit.“

Alle folgten ihr den schmalen Weg entlang, der von der Kirche direkt zum Manor führte.

Matilda verstand sich selbst nicht mehr. Obwohl alles so ablief wie an jedem Sonntag, fühlte sie sich unbehaglich. Sie saßen in dem großen Wohnzimmer und tranken den trockenen Sherry, den Matilda noch nie gemocht hatte, während Mrs. Waring die Unterhaltung beinah ganz allein bestritt. Dr. van Kepler mit seinem ausgezeichneten Benehmen ließ sich nicht anmerken, was er dachte. Matilda war sich jedoch sicher, dass er sich insgeheim amüsierte und sich so seine Gedanken machte.

Als Mrs. Waring ihren Redefluss kurz unterbrach, um Luft zu holen, sagte Mr. Waring leise: „Du hast recht, meine Liebe.“

Alle stimmten ihm zu, und Mrs. Waring war zufrieden.

Matilda war überrascht, als Mrs. Waring plötzlich anfing, Dr. van Kepler auszufragen. Sie wollte wissen, ob er verheiratet sei, wo er wohne und ob er sich auf ein bestimmtes Fachgebiet spezialisiert habe.

Er wurde mühelos mit ihr fertig, antwortete höflich, ohne irgendetwas preiszugeben.

„Sie sind ein ganz Schlimmer“, sagte Mrs. Waring und tätschelte seinen Arm. „Sie wollen uns nichts verraten.“

„Es gibt leider nichts zu erzählen“, erwiderte er betont liebenswürdig. „Außerdem höre ich viel lieber Ihnen zu. Sie schildern das Leben hier im Dorf sehr anschaulich.“

„Daran nehme ich auch sehr aktiv teil. Was halten Sie von den beiden jungen Leuten hier? Ich freue mich darauf, dass Matilda meine Schwiegertochter wird.“

„Sie können sich wirklich glücklich schätzen“, antwortete er sanft.

Matilda errötete und senkte den Blick. Sie war erleichtert, als Onkel Thomas endlich zum Aufbruch drängte.

Nach dem Lunch zogen die beiden Männer sich zurück, und Matilda sah sie erst beim Tee wieder. Danach verabschiedete sich Dr. van Kepler ausgesprochen herzlich von ihrem Onkel und merklich kühler von ihr und fuhr davon.

Mit gemischten Gefühlen blickte sie hinter dem Rolls-Royce her. Einerseits tat es ihr leid, dass sie den Doktor nicht besser kennenlernen konnte, andererseits war sie froh darüber. Er war nicht nur der attraktivste Mann, der ihr je begegnet war, sondern auch ein Mensch, dem man vertrauen konnte. Sie war sich jedoch noch nicht sicher, ob sie ihn überhaupt mochte. Jedenfalls kam das große Haus ihr ohne ihn ganz leer vor.

„Du hättest ihn selbst fragen können“, erwiderte ihr Onkel, als sie mehr über den Arzt wissen wollte. „Aber ich glaube, wir werden ihn häufiger sehen. Er hält sich oft in England auf, und wir verstehen uns gut. Er ist sehr erfolgreich – und sehr bescheiden.“ Er lachte in sich hinein. „Mrs. Waring hat nicht viel aus ihm herausgekriegt, stimmt’s?“

Er hat überhaupt nicht viel über sich gesagt, überlegte Matilda später. Er war ihr noch genauso fremd wie zu Anfang. Nein, fremd ist er mir nicht, irgendwie habe ich das Gefühl, ihn schon mein Leben lang zu kennen, gestand sie sich verblüfft ein.

„Was für ein Unsinn!“, sagte sie laut vor sich hin, während sie ins Bett ging.

Die nächsten Tage hatte sie kaum Zeit, über den Doktor nachzudenken. Sie musste sich um Mrs. Jenkins und ihr Baby und um einige andere bettlägerige Patienten kümmern. Morgens und nachmittags war das Wartezimmer überfüllt, weil eine Grippe im Dorf grassierte. So vergingen die Tage viel zu schnell, und am Wochenende waren Matilda und ihr Onkel völlig erschöpft.

Auch am Samstag kamen zahlreiche Patienten, und das Telefon läutete beinah unaufhörlich. Am Sonntag war für den Kirchgang keine Zeit, denn Matilda fuhr ihren Onkel durch Regen, Wind und Hagel von einem Patienten zum anderen.

Am Abend ließ ihr Onkel sich in den Sessel vor dem Kamin sinken. Er sah krank und erschöpft aus und schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Matilda eilte in die Küche, um ihm einen Kaffee mit einem Schuss Whisky zu holen.

Als sie zurückkam, saß er reglos da. Rasch stellte sie das Tablett hin und fühlte ihm den Puls – und begriff sogleich, dass ihr Onkel nicht mehr lebte. So einen Tod hatte er sich immer gewünscht. Er hatte gesagt, er hoffe, mitten in der Arbeit zu sterben. Und so war es auch geschehen.

Matilda war über den plötzlichen Tod ihres Onkels zutiefst erschüttert. Leslie reiste extra aus London an, und Mrs. Waring schlug ihr vor, eine Zeit lang bei ihnen im Manor zu wohnen. Matilda lehnte dankend ab. Sie wollte Emma nicht allein lassen. Außerdem war ihr Mrs. Waring zu dominant, auch wenn sie es gut meinte.

„Ihr solltet jetzt heiraten, Leslie und du“, erklärte Mrs. Waring. „Ihr könntet im Haus deines Onkels wohnen. Leslie müsste eben jeden Tag hin- und herfahren. Es wäre doch eine gute Lösung.“

Seltsamerweise teilte Matilda Mrs. Warings Meinung nicht. Sie war etwas enttäuscht, dass Dr. van Kepler nichts von sich hören ließ, obwohl die Todesanzeige in den großen Londoner Tageszeitungen erschienen war. Ab und zu sehnte sie sich nach ihm. Sie brauchte jemanden, mit dem sie über ihren Onkel reden konnte, was mit Leslie unmöglich war. Sie spürte, dass ihm das Thema nicht behagte.

Er griff den Vorschlag seiner Mutter auf und erwähnte, dass sie im nächsten Monat im kleinen Kreis heiraten könnten. Doch Matilda wünschte sich, geliebt zu werden und sich an der Schulter ihres Mannes ausweinen zu können. Bei Leslie kam sie sich seltsam verloren vor und antwortete deshalb ausweichend. Wahrscheinlich konnte sie so kurz nach dem Tod ihres Onkels nicht ans Heiraten denken. Sie musste sich erst daran gewöhnen, ohne ihn zu leben. Es machte ihr nichts aus, allein in dem Haus zu wohnen, wie sie Leslie und seiner Mutter erklärte, die ihr gute Ratschläge erteilten.

Aber es kam alles ganz anders.

Alle Dorfbewohner, die laufen konnten, nahmen an der Beerdigung teil. Und die, die nicht laufen konnten, ließen sich im Rollstuhl von Verwandten und Freunden schieben. Auch Onkel Thomas’ Schwester erschien mit ihrem Sohn und dessen Frau. Matilda kannte ihre Tante kaum, ihren Cousin und dessen Frau noch weniger. Sie sprachen höflich ihr Beileid aus und verhielten sich korrekt. Als sich alle Freunde und Patienten des Doktors verabschiedet hatten, ging Matilda mit ihren Verwandten und dem Notar ihres Onkels ins Arbeitszimmer.

Nach einer halben Stunde kamen alle wieder heraus. Matildas Tante und deren Sohn Herbert wirkten ausgesprochen zufrieden. Herbert durchquerte großspurig die Eingangshalle und setzte sich im Wohnzimmer in den Lieblingssessel des Doktors.

Matildas Cousin, der für seine dreißig Jahre schon ziemlich dick war, fuhr sich durch das spärliche Haar und lächelte überheblich.

„Na, das ist ja bestimmt eine Überraschung für dich, Matilda.“ Er blickte seine Frau Jane an, eine ziemlich schüchterne, unscheinbare junge Frau. „Wir müssen Platz machen für meine Cousine, nicht wahr, meine Liebe? Natürlich respektiere ich Onkel Thomas’ Wünsche. Das Haus ist sehr groß. Du kannst hier wohnen bleiben und dein Zimmer behalten, bis du Leslie Waring heiratest, Matilda“, wandte er sich wieder an Matilda. „Ich könnte jetzt eine Tasse Tee gebrauchen, der Tag war anstrengend.“

„Ich kümmere mich darum“, sagte Matilda und verließ den Raum. Sie ließ sich nicht anmerken, was in ihr vorging.

Emma saß in der Küche und weinte. „Oh Miss Ana, weshalb hat Ihr Onkel das gemacht? Er hat bestimmt nicht richtig darüber nachgedacht.“

Matilda setzte Wasser auf. „Doch, das hat er, und ich bin sicher, er war überzeugt, das Richtige zu tun. Er hatte Herbert jahrelang nicht mehr gesehen und wusste nicht, was aus ihm geworden ist.“ Ihr schauderte. „Ich kann hier wohnen bleiben, bis ich heirate, Emma, und dann kommen Sie mit mir.“

„Natürlich, Miss Ana. Bei dem schrecklichen Kerl bleibe ich nicht. Sie und Mr. Waring suchen sich ein schönes Haus, und ich führe Ihnen den Haushalt.“ Sie wischte sich die Tränen weg und stellte den Kuchen auf ein Tablett. „Es dauert nicht mehr lange, oder?“

„Nein. Ich habe Mrs. Waring gesagt, dass ich in den nächsten zwei Monaten noch nicht heiraten möchte, aber unter den Umständen …“

Herbert fuhr mit seiner Mutter und seiner Frau am Abend nach Cheltenham zurück. Er müsse noch arbeiten, erklärte er großspurig. In den nächsten Tagen würde er Matilda über seine Pläne informieren. Vielleicht würde er in das Haus des Doktors ziehen, das größer war als seins in Cheltenham. Seine kleine Firma am Stadtrand konnte er auch von hier aus leiten. Oder er würde das große Haus seines Onkels verkaufen.

Matilda sagte nichts dazu. Onkel Thomas hatte sich offenbar gewünscht, sein Haus solle im Familienbesitz bleiben. Er hatte im Testament bestimmt, dass es auch ihr Zuhause sein sollte, solange sie es brauchte. Höflich verabschiedete sie sich von ihren Verwandten. Nachdem sie aufgeräumt hatte, rief sie Leslie an.

„Er ist schon unterwegs nach London und kommt erst am Wochenende zurück, meine Liebe“, sagte seine Mutter. Matilda war enttäuscht. „Ruf ihn doch im Büro an. Du willst ihm wahrscheinlich erzählen, was im Testament steht. Ich denke, es sieht für dich so gut aus, dass ihr jetzt den Termin für die Hochzeit festsetzen könnt.“

Matilda klärte Mrs. Waring nicht über ihren Irrtum auf. Früher oder später würden es sowieso alle erfahren, aber Leslie sollte es als Erster wissen. Sie nahm sich vor, ihn am nächsten Tag anzurufen. Doch dann überlegte sie es sich anders. Sie würde nach London fahren und persönlich mit ihm reden.

Am Morgen machte sie sich sorgfältig zurecht und zog das Kostüm an, das Leslie so gut gefiel. Es war noch früh, und deshalb traf sie schon kurz nach zehn in seinem Büro ein. Der junge Mann am Empfang wollte sie jedoch abwimmeln.

„Es ist sehr wichtig“, erklärte Matilda und lächelte den Mann so charmant an, dass er nachgab und sie anmeldete.

Leslie sah in dem eleganten Anzug ganz anders aus, als sie ihn kannte. Er begrüßte sie recht freundlich.

„Setz dich, Ana. Ich habe nur wenig Zeit. In einer Viertelstunde muss ich zum Gericht. Hast du dich doch noch entschlossen, mich zu heiraten, nachdem du weißt, was dein Onkel dir hinterlassen hat?“

Matilda kam gleich zur Sache. „Mein Onkel hat bestimmt, dass mein Cousin Herbert das Haus bekommt. Ich kann darin wohnen bleiben, bis ich heirate.“

Leslie runzelte die Stirn. „Heißt das, du erbst überhaupt nichts?“

„Nur fünfhundert Pfund in bar. Herbert soll mir ein angemessenes Taschengeld bezahlen …“

„Willst du das Testament anfechten? Ich rede mit deinem Anwalt. Du bist ja jetzt völlig mittellos.“

Matilda blickte ihn nachdenklich an. „Ändert das etwas an unseren Plänen?“, fragte sie und war sich plötzlich ganz sicher, dass es so war.

2. KAPITEL

„Ich muss gehen“, sagte Leslie. „Darüber müssen wir uns in Ruhe unterhalten. Morgen Abend komme ich nach Hause. Dann können wir alles mit meinen Eltern besprechen.“

„Sie wissen noch nichts davon. Ich dachte, es sei nicht wichtig für sie, denn deine Mutter drängt uns ja schon lange, endlich zu heiraten.“ Matildas Stimme klang ruhig, obwohl sie völlig verunsichert war. Sie hatte gehofft, Leslie würde sie trösten.

„Pass mal auf, altes Mädchen, lass uns das morgen klären.“ Irgendwie schien ihm die Sache unangenehm zu sein. Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum und küsste Matilda auf die Wange. „Mach dir keine Sorgen.“

Natürlich dachte sie auf der Rückfahrt und den ganzen restlichen Tag an kaum etwas anderes. Das Haus kam ihr schrecklich leer vor. Ab Montag würde ein Arzt aus Haddenham vertretungsweise die Praxis weiterführen, bis man einen Nachfolger gefunden hatte.

Matilda wurde hier jedenfalls nicht mehr gebraucht. Das wäre gar nicht so schlimm, wenn ich heiraten würde, überlegte sie. Aber wahrscheinlich war Leslie jetzt nicht mehr an ihr interessiert.

Mrs. Waring rief am nächsten Morgen an und lud Matilda zum Dinner ein. Leslie würde früher als sonst nach Hause kommen, und sie hätten viel zu besprechen. Herbert teilte ihr schriftlich mit, er würde mit Jane und seiner Mutter Anfang der Woche das Haus besichtigen und alle nötigen Änderungen veranlassen. Jane und seine Mutter würden ziemlich kurzfristig einziehen, er selbst müsse sich erst noch um den Verkauf seines Hauses kümmern.

Mit seiner abschließenden Bemerkung, dass sie als Krankenschwester sicher bald eine gute Stelle finden würde, gab Herbert ihr deutlich zu verstehen, was man von ihr erwartete. Wahrscheinlich war es sowieso die beste Lösung, dass sie in London arbeitete. Ihr wurde immer klarer, dass Leslie sie nicht heiraten würde.

„Hallo, altes Mädchen“, begrüßte Leslie sie so freundlich wie immer. Während des Dinners war die Atmosphäre seltsam gespannt, und es wurde nur über unverfängliche Themen gesprochen. Als man sich später ins Wohnzimmer setzte und Kaffee trank, konnten die Warings ihr Unbehagen nicht mehr verbergen.

„Ich habe gehört“, begann Mrs. Waring würdevoll, „dass dein Onkel dich in seinem Testament nicht bedacht hat. Leslie sagt, man könne es nicht anfechten.“

Er hat also mit seinen Eltern schon darüber geredet, dachte Matilda und schaute ihn ärgerlich an. Aber Leslie wich ihrem Blick aus.

„Es war immer unser Herzenswunsch“, fuhr Mrs. Waring mit falscher Freundlichkeit fort, „dass Leslie und du heiratet. Das Grundstück deines Onkels grenzt an unseres, und das Haus wäre für ein junges Paar ideal gewesen. Außerdem kennen wir dich schon viele Jahre, wir hätten dich gern zur Schwiegertochter gehabt.“ Sie seufzte theatralisch. „Es tut uns sehr leid, dass daraus nichts werden kann. Du weißt, wir sind selbst nicht sehr reich. Deshalb muss Leslie eine Frau heiraten, die Geld genug hat, um sich an den Lebenshaltungskosten zu beteiligen. Nur so kann er sich ganz auf seine Karriere konzentrieren. Glücklicherweise seid ihr nicht offiziell verlobt.“

Matilda stellte vorsichtig die Kaffeetasse hin, damit niemand merkte, wie sehr ihre Hände zitterten.

„Sie haben sich deutlich genug ausgedrückt, Mrs. Waring. Ich möchte gern noch erfahren, was Leslie dazu meint. Es geht ja hier um sein Leben.“ Sie zögerte kurz, ehe sie hinzufügte: „Und um meins.“

Leslie lächelte sie unsicher an. „Du musst es verstehen, altes Mädchen … Wir hätten ja keine Wohnung. In der Stadt kann ich mir noch kein großes Apartment erlauben. Außerdem braucht man heutzutage viel Geld, um Karriere zu machen. Man muss die richtigen Leute kennenlernen, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen …“

„Oh ja, ich verstehe“, erwiderte sie kühl. „Ich bin auch sehr froh, dass wir nicht verlobt sind, sonst würde ich die Verlobung auf der Stelle lösen. Nur schade, dass ich keinen Ring habe, den ich dir vor die Füße werfen kann, Leslie.“

Sie stand auf und durchquerte den Raum. In der Eingangshalle nahm sie ihren Mantel von der Garderobe und eilte aus dem Haus.

Zornig, wie sie war, ließ sie den Tränen freien Lauf, während sie im Dunkeln nach Hause eilte. Als Emma sah, wie aufgewühlt Matilda war, schenkte sie ihr sogleich einen Sherry ein und blieb neben ihr stehen, bis sie ihn getrunken hatte. Dann hörte sie geduldig zu, was Matilda ihr zu erzählen hatte.

„Freuen Sie sich, dass Sie ihn los sind, meine Liebe. Ein Mann, der sich hinter seiner Mutter versteckt, wird nie ein guter Ehemann. Suchen Sie sich einen Job, Miss Ana. Auf mich brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen, Ihr Onkel hat für mich gesorgt. Wohnen Sie nur nicht mit Ihrem Cousin unter einem Dach. Es würde kein gutes Ende nehmen.“

Am Sonntag ging Matilda mit hoch erhobenem Kopf in die Kirche und grüßte die Warings kühl. Am Nachmittag schrieb sie einen Brief an die Oberschwester des Krankenhauses, wo sie zuletzt gearbeitet hatte, und fragte an, ob man einen Job für sie habe.

Zwei Tage später traf Herbert mit Frau und Mutter ein, die offenbar schon einziehen wollten. Mit selbstgefälliger Miene ließ er sich in den Sessel des Doktors sinken.

„Meine Mutter und Jane können sich schon daran gewöhnen, für immer hier zu leben. Ich komme vorerst nur am Wochenende. Mein Haus in Cheltenham verkaufe ich. Die Möbel, die wir mitnehmen wollen, lasse ich herbringen, sobald ich Zeit habe.“

Mit einer Handbewegung versuchte er, Matilda aus dem Zimmer zu schicken. Sie blieb jedoch sitzen.

„Wer kümmert sich denn um den Haushalt?“, fragte sie betont freundlich.

„Meine Mutter wahrscheinlich. Aber die ersten Tage kannst du ihr helfen, bis sie sich eingelebt hat.“

„Das weiß ich noch nicht“, antwortete Matilda. „Du hast mir ja gleich nach der Beerdigung klargemacht, dass es nicht länger mein Zuhause ist und ich hier nur geduldet bin. Warum sollte ich unter den Umständen auf euch Rücksicht nehmen? Tante Nora wird bestimmt bestens zurechtkommen.“

Sie ging in die Küche und schloss die Tür hinter sich. Sie wollte Herbert einfach nicht mehr sehen. Plötzlich merkte sie, dass Emma beim Kartoffelnschälen weinte.

Bei einer Tasse Tee sprachen sie über die Zukunft. Am liebsten hätte Matilda auch geweint, aber sie nahm sich zusammen und tröstete Emma.

„War der Briefträger schon da? Ich warte auf einen Brief vom Krankenhaus. Sobald ich einen Job habe, suche ich mir eine Wohnung, dann kommen Sie zu mir. Halten Sie so lange durch, Emma. Ich verspreche Ihnen, es wird alles wieder gut. Ach, da kommt er ja.“

Es war tatsächlich ein Brief für sie dabei. Rasch öffnete sie ihn und las ihn durch. Leider konnte man ihr im Moment keine Stelle anbieten. Man gab ihr jedoch den Tipp, dass für die geriatrischen Abteilungen an Krankenhäusern immer qualifiziertes Personal gesucht würde.

Matilda war enttäuscht, aber auch dankbar für den Hinweis. In der Fachzeitschrift für Krankenschwestern fand sie einige Adressen und setzte sich sogleich hin, um drei Bewerbungen zu schreiben. Während Emma den Lunch zubereitete, brachte Matilda die Briefe zur Post. Unterwegs begegnete sie Mrs. Waring, die offenbar stehen bleiben und mit ihr reden wollte.

„Ich habe keine Zeit“, rief Matilda ihr betont fröhlich zu. „Mein Cousin und seine Frau sind überraschend gekommen.“

„Ziehen sie schon ein?“, fragte Mrs. Waring entsetzt. „Ana, was willst du denn machen? Leslie ist so beunruhigt.“

„Ach ja? Ich muss weiter. Auf Wiedersehen, Mrs. Waring.“ Matilda lächelte höflich und eilte nach Hause. Wenn Leslie wirklich beunruhigt war, könnte er ja etwas dagegen tun.

Aber er rief nicht an und schrieb auch nicht.

Als Matilda auf ihre Bewerbungen eines Tages eine Antwort erhielt, nahm sie ihre Chance wahr. Sie stellte sich in einem Krankenhaus im Norden Londons vor, wo man eine Stationsschwester für die geriatrische Frauenabteilung suchte.

Der Portier führte sie einen Flur entlang, dessen Wände schmutzig gelb und spinatgrün gestrichen waren. Am Ende des Flurs klopfte er an eine Tür und ließ Matilda eintreten. Bis jetzt war sie von dem Gebäude und der Atmosphäre wenig beeindruckt. Auch die Frau, die am Schreibtisch saß, gefiel ihr nicht.

„Miss Groves?“

„Ja“, sagte sie betont freundlich. Die piepsige Stimme passt zu der dünnen Frau, dachte sie.

„Ich bin Oberschwester und für das Personal zuständig. Ihrer Bewerbung entnehme ich, dass Sie eine Stelle als Krankenschwester suchen. Schade, dass Sie schon länger nicht mehr in Ihrem Beruf gearbeitet haben. Aber Ihre Zeugnisse sind in Ordnung, deshalb sind wir bereit, Sie auf Probe einzustellen. Auf der Station, für die wir Sie einteilen würden, liegen vierzig Patientinnen. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, viel zu arbeiten.“

„Nein. Wäre ich die einzige Krankenschwester auf der Station?“

„Wir haben genug Teilzeitpersonal, Miss Groves“, fuhr die Frau mit den kleinen runden Augen sie grob an. „Außerdem werden dort auch Lernschwestern aus verschiedenen anderen Krankenhäusern für eine bestimmte Zeit eingesetzt, und wir haben Aushilfskräfte. Zwei Tage in der Woche hätten Sie frei, aber nicht unbedingt immer an denselben Wochentagen. Die Bezahlung erfolgt nach Tarif und jeweils am Monatsende. Nach Ablauf der Probezeit müssten Sie einen Vertrag für ein ganzes Jahr unterschreiben.“

„Ich würde mir die Station gern ansehen.“ Matilda lächelte freundlich.

Die Frau blickte sie leicht überrascht an. „Ja, das lässt sich machen.“

Nachdem sie kurz telefoniert hatte, erschien eine untersetzte kleine Frau in einer karierten Schwesterntracht, die ihr als Schwester Down vorgestellt wurde.

„Teilen Sie mir bitte bald mit, ob Sie die Stelle annehmen, Miss Groves.“ Die Oberschwester nickte kurz, und Matilda konnte gehen.

Sie folgte der Schwester über endlos lange und deprimierend düstere Flure eine breite Steintreppe hinauf zur Station. Nein, das ist nichts für mich, das ist ja ein Albtraum, dachte Matilda, als sie die langen Bettenreihen rechts und links des Gangs betrachtete. Auf der einen Seite eines jeden Betts stand ein Nachttisch, auf der anderen ein Sessel, in dem die Patientinnen saßen. Matilda ging hinter der Schwester her in das Schwesternbüro am anderen Ende.

Die Frau, die am Schreibtisch saß und Tabellen ausfüllte, begrüßte Matilda mit ernster Miene. „Eine neue Kollegin? Ich könnte Sie gut gebrauchen. Wann können Sie anfangen?“

Sie sieht völlig erschöpft aus. Kein Wunder bei vierzig alten Leuten, die wie Statuen in den Sesseln sitzen, sagte Matilda sich. Sie wusste selbst nicht genau, weshalb sie plötzlich ihre Meinung änderte. Jedenfalls hatte sie das Gefühl, etwas Fröhlichkeit und Lebendigkeit in das trostlose Dasein dieser Menschen bringen zu müssen.

„Wann Sie möchten“, antwortete sie freundlich.

Ihrer Tante und Jane erzählte sie keine Einzelheiten über den neuen Job, doch Emma vertraute sie sich an.

„Und wenn es Ihnen nicht gefällt?“, fragte Emma, die ein ungutes Gefühl bei der Sache hatte. „Für mich hört es sich so an, als wäre es ein schrecklicher Ort.“

„Ideal sind die Zustände dort nicht“, gab Matilda zu. „Aber es ist immerhin ein Anfang. Hier kann ich nicht bleiben.“ In ihren schönen Augen blitzte es empört auf. „Meine Tante hat alle Möbel im Wohnzimmer umgestellt und erklärt, ein offenes Feuer im Kamin sei Verschwendung. Stattdessen hat sie so eine elektrische Anlage einbauen lassen. Und aus dem Arbeitszimmer meines Onkels sollen alle Bücher verschwinden, weil es Herberts Büro werden soll. Nein, Emma, ich muss schnellstens hier weg. Ich habe etwas Geld und suche mir eine Wohnung in der Nähe des Krankenhauses.“

Emma blickte sie finster an.

„Hoffentlich ist Ihnen klar, dass wir in London keinen Garten haben und in irgendeinem Wohnblock leben werden. Sie werden das Leben auf dem Land vermissen, Emma.“

„Noch viel mehr würde ich Sie vermissen, Ana.“

Am nächsten Abend kam Leslie vorbei. Ohne nachzudenken, bat Matilda ihn höflich ins Wohnzimmer. Ihre Tante, die dort mit Jane saß, begrüßte Leslie steif und sah Matilda vorwurfsvoll an.

„Gehst du bitte mit Mr. Waring in ein anderes Zimmer, Ana? Jane und ich wollen eine Familienangelegenheit besprechen.“ Sie lächelte kühl. „Mir ist klar, es fällt dir schwer, dich an die neue Situation zu gewöhnen. Aber es ist jetzt unser Haus.“

Matilda musste sich sehr beherrschen. „Komm mit in die Küche, Leslie“, forderte sie ihn auf. „Dort können wir ungestört sitzen, obwohl wir uns nichts mehr zu sagen haben.“

„Diese Frau war ja sogar zu mir unhöflich“, beschwerte Leslie sich.

Matilda fand die Bemerkung irgendwie unpassend, schwieg jedoch und setzte sich an den Küchentisch. Da sie nicht wusste, worüber sie noch mit Leslie reden sollte, wartete sie einfach ab.

„Du kannst unmöglich hier bei diesen Leuten bleiben“, erklärte er schließlich und setzte sich auch. „Man behandelt dich ja wie einen Eindringling. Dabei ist es dein Zuhause.“

„Nicht mehr.“

„Doch, dein Onkel hat es so bestimmt. Das ist doch deinem Cousin klar, oder?“

„Herbert ist zu nichts verpflichtet“, erwiderte sie.

Leslie rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. „Also, ich …“, begann er und fing dann noch einmal an: „Wenn alles anders wäre … Ana, es tut mir wirklich leid, dass ich dich nicht heiraten kann.“

Sie stand auf. „Mach dir nichts daraus.“ Es gelang ihr, die Stimme fröhlich klingen zu lassen. „Ich würde dich selbst dann nicht heiraten, wenn du der einzige Mann weit und breit wärst, Leslie. Außerdem habe ich einen Job in London gefunden und ziehe jetzt sowieso aus.“

Er schien insgeheim aufzuatmen. „Oh, das freut mich. Darf ich es meiner Mutter erzählen? Sie wird sehr erleichtert sein.“ Er erhob sich und ging zur Tür. „Bist du mir noch böse, Ana?“, fragte er verlegen.

„Auf so eine dumme Frage fällt mir keine Antwort ein.“ Sie hielt ihm die Tür auf.

Als er weg war, setzte sie sich wieder hin und weinte sich erst einmal richtig aus.

Am nächsten Tag kam Herbert an und erteilte großspurig Befehle, die jedoch weder Matilda noch Emma beachteten.

Die Oberschwester des Krankenhauses teilte ihr schließlich mit, sie könne am nächsten Montag mit der Arbeit anfangen. Matilda blieben nur zwei Tage, ihre Sachen einzupacken und ihr Zimmer zu räumen. Emma half ihr dabei und wollte ihr alles schicken, was sie nicht mitnehmen konnte.

Der Abschied fiel ihr schwer. In dem schönen alten Haus, das so viele Jahre ihr Zuhause gewesen war, war sie sehr glücklich gewesen. Schlimm war auch, dass sie sich zumindest vorübergehend von Emma trennen musste. Matilda versprach, jede Woche zu schreiben und rasch eine Wohnung für sie beide zu suchen.

Das Schwesternwohnheim war ein ziemlich trostloses Gebäude. Man führte Matilda auf ihr Zimmer im obersten Stock mit Aussicht auf Dächer und Schornsteine und zwei kahle Bäume. Das Zimmer mit dem einfachen Bett, einer Frisierkommode, einem Schrank und einem Waschbecken erfüllte seinen Zweck. Auf dem Bett lag eine blau-weiß karierte Schwesterntracht, die so aussah, als hätte man am Stoff gespart. Matilda betrachtete die Sachen und erinnerte sich wehmütig an das hübsche blaue Baumwollkleid und die gestärkte weiße Schürze, die sie als Schwesternschülerin getragen hatte.

Nachdem sie ihre Sachen ausgepackt und sich umgezogen hatte, ging sie ins Büro der Oberschwester, die sie streng begrüßte.

„Beeilen Sie sich, Schwester Evans wartet schon auf Sie!“

Obwohl es erst kurz vor drei war, fing man schon an, die vierzig alten Frauen in die Betten zu legen. Soweit Matilda feststellen konnte, arbeiteten nur vier Leute auf der Station. Als Schwester Evans Matilda erblickte, ließ sie die Frau, mit der sie gerade beschäftigt war, allein und kam auf sie zu.

Zur Begrüßung nickte sie nur. „Ich habe um fünf Feierabend, Schwester. Vorher zeige ich Ihnen noch die Patientinnenunterlagen und den Medikamentenschrank. Abendessen gibt es um sechs. Zehn Patientinnen müssen gefüttert werden. Um sieben machen Sie einen Rundgang. Mrs. Dougall hilft Ihnen. Sie ist sehr zuverlässig und kennt sich aus. Nach dem Tee werden die Medikamente verteilt. Sie haben viel zu tun, bis Sie von der Nachtschicht abgelöst werden.“ Schwester Evans lächelte und bemühte sich, freundlich zu sein. Plötzlich begriff Matilda, wie müde die Frau war.

„Werden Sie zurechtkommen? Ich bin einige Tage nicht da, weil ich wochenlang keinen freien Tag mehr hatte. Die Lernschwestern kommen erst in zwei Wochen, und eine Teilzeitkraft hat gekündigt. Morgen nach dem Essen ist eine andere Teilzeitschwester wieder da, sodass Sie den Nachmittag freinehmen können.“ Sie setzte sich an den Schreibtisch und zeigte Matilda die Karteikarten. „Es tut mir leid, dass Sie sozusagen ins kalte Wasser geworfen werden.“

Am liebsten wäre Matilda sogleich wieder weggelaufen. Sie antwortete jedoch nur: „Ich werde es schon schaffen, Schwester. Ist Mrs. Dougall auch Krankenschwester?“

„Nein, aber sie ist schon fünf Jahre hier und kann gut mit den alten Leuten umgehen.“

Die ersten Tage kamen Matilda wie ein einziger Albtraum vor. Mrs. Dougall war eine kräftige Frau. Sie hob die Frauen aus den Betten und setzte sie in die Sessel, später legte sie sie wieder hin. Sie schien alles zu wissen. Wenn sie keinen Dienst hatte, musste Matilda sich mit drei Hilfsschwestern begnügen, die ihre Geduld auf eine harte Probe stellten. Sie waren freundlich, aber sie behandelten die Patientinnen wie Marionetten. Sie wuschen und fütterten sie und legten sie ins Bett. Mindestens die Hälfte der Patientinnen hätte sich jedoch selbst helfen können. Wenn die Frauen jemanden hätten, der sich ab und zu um sie kümmert, könnte man sie nach Hause entlassen, überlegte Matilda. Sie hatte das Gefühl, die Verzweiflung, die sich in ihren Gesichtern spiegelte, würde ihr das Herz brechen.

Es war immer dasselbe, die Tochter oder der Sohn wollten die alte Mutter nicht bei sich haben, weil sie keine Zeit für sie hatten. Und da die alten Leute hier nichts anderes zu tun hatten, als den ganzen Tag herumzusitzen und die anderen Patienten zu beobachten, hatten sie keine Energie mehr und waren abgestumpft. Matilda war klar, dass sie kaum etwas ändern konnte, obwohl sie es gern getan hätte. Es gab zu wenig Personal, und man hielt an Behandlungsmethoden fest, die längst überholt waren. Das waren die größten Hindernisse. Die geriatrischen Stationen, die Matilda während ihrer Ausbildung kennengelernt hatte, waren viel moderner eingerichtet und wurden ganz anders geführt. Man ermutigte dort die alten Leute, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst zu helfen und am Leben teilzunehmen.

„Wie ist es gelaufen?“, fragte Schwester Evans, als sie wieder da war, und fügte hinzu: „Offenbar gut, wie ich sehe. Ich bin froh, dass wir wieder regelmäßig freihaben.“

Als sie Matildas fragenden Blick bemerkte, erklärte sie: „Wir haben kein Personal. Die Leute kündigen immer wieder, weil Miss Watts stur an den alten Methoden festhält. Sie sollte sich zur Ruhe setzen. Es geht ihr sowieso nicht gut, aber sie will es nicht. Ich hätte auch schon gekündigt. Es lohnt sich jedoch nicht mehr, denn ich will mit meinem Verlobten nach Kanada auswandern. Sind Sie auch verlobt oder so?“

„Nein, Schwester.“

„Ich dachte nur, weil Sie so hübsch sind.“ Sie zog die Karteikarten heraus und machte sich an die Arbeit.

Matilda freute sich schon auf ihre freien Tage. Sie hatte Emma geschrieben und ihr erklärt, warum sie sie nicht besuchen würde, obwohl sie es gern getan hätte. Aber das Haus ihres Onkels würde sie nicht mehr betreten. Emma antwortete ihr sogleich und schlug ihr vor, die beiden Tage bei ihrer Schwester, Mrs. Spencer, in Southend-on-Sea zu verbringen, die Zimmer mit Frühstück vermietete. Die Seeluft werde Matilda sicher guttun, meinte Emma.

Eine gute Idee, dachte Matilda. Sie sehnte sich danach, aus der deprimierenden Krankenhausatmosphäre herauszukommen. Kurz entschlossen rief sie Mrs. Spencer an und machte sich am Montagmorgen ganz früh auf den Weg. Nach einer Stunde Fahrt stieg Matilda in Southend-on-Sea aus dem Zug, wo ihr ein kühler, frischer Wind ins Gesicht wehte. Es war nicht schwierig, Mrs. Spencers Haus zu finden.

Matilda klopfte an die Tür des schmalen zweistöckigen Reihenhauses, und sogleich öffnete man ihr.

„Kommen Sie rein, meine Liebe“, forderte Mrs. Spencer Matilda freundlich auf. Sie war Emma wie aus dem Gesicht geschnitten. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Emma hat mir geschrieben. Sie werden sich bestimmt bei mir wohlfühlen. Ich zeige Ihnen erst einmal Ihr Zimmer.“

Es lag im obersten Stock, war sauber und gemütlich. Und wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte man sogar die Bucht und das Meer sehen.

„Normalerweise vermiete ich nur mit Frühstück. Aber ich kann Ihnen auch das Abendessen machen. Um diese Jahreszeit ist nicht viel zu tun, und das Essen im Hotel oder Restaurant ist sehr teuer. Unten im Aufenthaltsraum ist der Fernseher. Sie können kommen und gehen, wie es Ihnen gefällt.“

Die freundliche Frau wieselte im Zimmer hin und her und schloss das Fenster. „Mein Mann arbeitet im Krankenhaus als Pförtner.“ Sie ging zur Tür. „Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir, ich sehe Ihnen an, dass sie Ihnen guttun würde. Ich gebe Ihnen einen Stadtplan und zeige Ihnen, wo die Geschäfte sind. Wenn Sie frische Luft und das Meer lieben, wird Ihnen der herrliche Wanderweg die Klippen entlang zum Westcliff bestimmt gefallen.“

Matilda fühlte sich wohl in der Obhut der fürsorglichen Frau. Nachdem sie den Tee getrunken und sich warm angezogen hatte, machte sie sich auf zum Westcliff. Der Wind wehte ihr ins Gesicht, als sie an der Bucht entlangging und die hübschen Häuser mit den gepflegten Vorgärten bewunderte. Als sie das Westcliff erreichte, waren ihre Wangen gerötet, und sie war hungrig. Aber alle Cafés weit und breit waren geschlossen. Deshalb versuchte sie ihr Glück landeinwärts und fand tatsächlich ein kleines Café, wo sie einen Kaffee trank und sich Sandwiches bestellte. Dann ging sie denselben Weg zurück und setzte sich in der Stadt in ein gemütliches Café und genoss es, in Ruhe ein Kännchen Tee zu trinken. Nachdem sie sich ein Taschenbuch gekauft hatte, kehrte sie zurück.

Um halb sieben servierte Mrs. Spencer das Abendessen, Würstchen mit Kartoffelpüree und Wintergemüse. Zum Dessert gab es Apfelkuchen und viele Tassen Tee. Es herrschte eine angenehme Atmosphäre, und Mr. Spencer erzählte, was er an dem Tag bei der Arbeit so alles erlebt hatte.

„Emma hat mit mir nicht über Sie geredet“, sagte Mrs. Spencer schließlich vorsichtig. „Wir wissen nur, dass Sie bei Ihrem Onkel gelebt haben.“ Sie lächelte so freundlich und aufmunternd, dass Matilda ihr alles anvertraute, was ihr in der letzten Zeit passiert war, auch die Sache mit Leslie.

Am nächsten Morgen war der Himmel klar, wie sie erfreut feststellte. Nach dem Frühstück half sie Mrs. Spencer beim Abwaschen und wanderte in die andere Richtung nach Shoeburyness. Erst als sie in einem kleinen Café saß, um sich zu stärken, merkte sie, wie müde sie war. Auf halber Strecke stieg sie dann in den Bus, der sie in die Stadt zurückbrachte. Da sie bis zum Abendessen noch Zeit hatte, bummelte sie durch die Straßen mit den Geschäften.

Zum Abendessen gab es Schellfisch mit verlorenen Eiern und eine Torte und Tee zum Nachtisch. Matilda ließ es sich schmecken und ging früh ins Bett. Sie würde mit dem Zug um zehn Uhr zurückfahren, weil sie erst um ein Uhr zum Dienst erscheinen musste.

„Sie sind jederzeit herzlich willkommen. Zumindest bis Ostern ist es hier noch schön ruhig“, versicherte Mrs. Spencer ihr, als Matilda sich verabschiedete.

Es war eine angenehme Abwechslung, überlegte sie, als sie im Zug saß. Sie würde bestimmt wieder einmal hinfahren. Jetzt musste sie sich erst um eine Wohnung kümmern.

Nach den schönen Tagen fiel ihr die Arbeit besonders schwer. Der einzige Lichtblick war, dass Schwester Evans sich aufrichtig freute, Matilda wiederzusehen. Am Nachmittag machte Matilda ihren Rundgang, redete mit den alten Frauen, während sie aufräumte und sie überredete, ihren Tee zu trinken. Einige wollten genau wissen, wo sie gewesen war und was sie gemacht hatte. Sie nahm sich die Zeit, es ihnen zu erzählen, denn für viele war das Pflegepersonal der einzige Kontakt zur Außenwelt.

Später kam der Arzt zur Visite. Er redete freundlich mit den Patientinnen, wirkte jedoch etwas gelangweilt.

„Einige haben erhöhte Temperatur und Kopfschmerzen“, erklärte Matilda.

„Vielleicht die Grippe? Beobachten Sie die Leute. Haben Sie sich gut eingelebt?“

„Ja, danke.“

Er nickte. „So richtig zufrieden sind Sie hier nicht, stimmt’s? Ich habe ja befürchtet, dass die Leute Grippe bekommen.“ Er schrieb Medikamente auf. „Sie brauchen mehr Personal, wenn es noch schlimmer wird.“

Man schickte ihnen zwei Schwestern von der Chirurgie zur Aushilfe, die nicht begeistert waren, auf der geriatrischen Station arbeiten zu müssen. Immerhin konnte Schwester Evans sich Samstag und Sonntag freinehmen. Sie sah so blass und erschöpft aus, dass Matilda am Freitagabend früher zum Dienst erschien, damit ihre Kollegin rasch nach Hause gehen konnte.

Am Montag erfuhr Matilda, dass sie ohne Schwester Evans zurechtkommen musste, die krank im Bett lag.

„Sie haben ja zwei Aushilfsschwestern“, erinnerte die Oberschwester im Personalbüro sie kühl. „Wir sind alle überanstrengt. Sie müssen sich den Verhältnissen anpassen, Schwester Groves.“

Das bedeutete, dass Matilda den ganzen Tag pausenlos auf den Beinen war. Sie hatte sogar noch mehr Arbeit als sonst, weil immer mehr Frauen mit Grippe im Bett bleiben mussten.

Nach fünf Tagen sah Matilda sehr mitgenommen aus. Abgekürzte Pausen, unregelmäßige, hastig gegessene Mahlzeiten und die Anstrengung, die es erforderte, trotz allem heiter und freundlich zu bleiben, hatten deutliche Spuren hinterlassen. Zu allem Überfluss teilte man ihr auch noch mit, dass Schwester Evans eine weitere Woche krankgeschrieben sei und sie, Matilda, die ihr zustehenden freien Tage vorerst nicht nehmen könne.

„Vierzig alte Frauen, davon ist mehr als die Hälfte krank im Bett – und so wenig Personal“, beschwerte Matilda sich später bei dem Arzt. „Schwester Willis kommt dreimal nachmittags, dann haben wir noch Mrs. Dougall, zwei Hilfskräfte und die beiden Aushilfsschwestern. Da nicht alle ständig im Dienst sind und auch ihre freie Zeit haben wollen, sind wir meist nur zu zweit. So geht das einfach nicht. Sie müssen unbedingt sofort etwas tun.“

„Ich will sehen, ob ich Ihnen helfen kann“, antwortete er widerwillig. Offenbar wollte er sich damit nicht befassen. Er war genauso überarbeitet wie alle anderen und hatte genug mit den Patienten zu tun.

Er erreichte auch nichts. Im Gegenteil, man verweigerte ihr nicht nur jede zusätzliche Hilfskraft, sondern bestellte sie ins Personalbüro und kündigte ihr zum Monatsende.

„Sie eignen sich nicht für diese Tätigkeit“, warf die Oberschwester ihr vor.

Da Matilda jetzt nichts mehr zu verlieren hatte, hielt sie sich mit ihrer Kritik nicht zurück.

„Wahrscheinlich passen Ihnen meine Vorstellungen, wie man mit den älteren Leuten umgehen sollte, nicht ins Konzept. Auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen, handelt es sich hier um lebendige Menschen, die sich für alles interessieren, was um sie her vorgeht. Aber Sie leben noch in der Vergangenheit und behandeln die Leute wie unmündige Kinder. Sie müssen in Reih und Glied sitzen, bis sie vor Langeweile sterben.“ Sie war so zornig, dass sie mit erhobenem Zeigefinger auf die immer wütender werdende Frau am Schreibtisch zuging. „Mehr Personal, Bilder und freundlich dekorierte Wände, Beschäftigungstherapien und Spaziergänge würden …“

„Sie werden uns am Monatsende verlassen, Schwester.“

„Ja, ganz bestimmt! Und ich werde mich auch an die zuständigen Stellen wenden und genau beschreiben, wie schrecklich es auf der geriatrischen Station zugeht. Sie sollten sich schämen!“

Matilda stürmte aus dem Büro. Sie zitterte am ganzen Körper vor Zorn. Plötzlich fragte sie sich, was man hier mit Schwestern machte, die so respektlos mit Vorgesetzten redeten.

Einfach alles hinzuwerfen kam für Matilda nicht infrage. Schwester Willis hatte ihren freien Tag, und Mrs. Dougall durfte als Hilfskraft nicht allein auf der Station arbeiten, obwohl sie sich bestens auskannte. Deshalb machte Matilda weiter wie bisher und setzte sich am Ende des langen Tages hin, um die Berichte zu schreiben. Alle Patientinnen lagen im Bett und waren dabei einzuschlafen. Plötzlich ging die Tür am anderen Ende des großen Raums auf, und Dr. van Kepler kam herein.

3. KAPITEL

Verblüfft beobachtete Matilda, wie er langsam den Saal durchquerte. Vor ihrem Schreibtisch blieb er stehen und blickte sie so aufmerksam an, dass sie sich mit der Hand übers Haar fuhr.

„Ich sehe ziemlich unordentlich aus, aber ich hatte den ganzen Tag so viel zu tun …“, begann sie und ärgerte sich, weil ihr nichts Besseres einfiel.

„Leider habe ich erst gestern erfahren, dass Ihr Onkel gestorben ist“, unterbrach er sie, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. „Ich habe mich sogleich auf den Weg gemacht. Es tut mir sehr leid – er war so ein feiner Mensch. Warum sind Sie überhaupt hier und aus dem Haus ausgezogen? Weshalb arbeiten Sie ausgerechnet auf dieser Station?“

„Leider habe ich keine Zeit, Ihre Fragen zu beantworten. Ich muss noch alles eintragen und Berichte schreiben. In zehn Minuten kommt schon die Nachtschwester.“

„Dann gehen wir anschließend irgendwohin, und Sie erzählen mir alles in Ruhe.“ Er zog einen Stuhl heran.

„Sie können nicht hierbleiben“, sagte Matilda.

„Doch, ich habe einen Freund in der Verwaltung. Ich wollte Sie unbedingt sehen. Und die schreckliche Frau, mit der ich am Telefon sprach, wollte es mit allen Mitteln verhindern.“

„Das ist die Oberschwester, die fürs Personal zuständig ist. Sie hat mir gekündigt.“

„Ach ja? Das trifft sich gut. Ich bleibe hier, bis Sie fertig sind“, sagte Dr. van Kepler bestimmt. Dann nahm er den Stuhl mit und setzte sich vor die offene Tür.

Matilda widersprach ihm nicht, sondern konzentrierte sich auf die Arbeit. Als die Nachtschwester eintraf, erklärte Matilda ihr genauso ruhig und sachlich wie sonst, was zu beachten war. Plötzlich überlegte sie, ob das alles vielleicht nur ein Traum war. Ärzte, die nicht zum Krankenhaus gehörten, durften nicht einfach irgendeine Station betreten. Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu, aber er saß völlig entspannt da.

Als sie fertig war, begleitete er sie hinaus. „Ich warte auf Sie am Haupteingang. Reichen Ihnen fünfzehn Minuten?“

Sie strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht. „Ich bin müde …“

„Ich suche uns ein ruhiges Restaurant.“ Er lächelte sie freundlich an.

Mit ihm zu argumentieren wäre reine Zeitverschwendung, überlegte sie und nickte zustimmend. Dann drehte sie sich um und ging ins Schwesternwohnheim.

Ich sehe fürchterlich aus, dachte sie, als sie auf ihrem Zimmer in den Spiegel blickte. Nachdem sie geduscht, etwas Make-up aufgetragen und sich das Haar gebürstet hatte, zog sie ihre Wollhose mit der dazu passenden langen Jacke an. Obwohl ihr die Füße wehtaten, schlüpfte sie in die eleganten Schuhe mit den hohen Absätzen.

Dr. van Kepler wartete unten auf sie. „Sie haben sich beeilt“, sagte er und hielt ihr die Tür auf.

Matilda hatte viele Fragen, war aber zu müde, sie auszusprechen. Stattdessen stieg sie schweigend ins Auto. Während der Doktor den Wagen durch die Straßen Londons lenkte, lehnte Matilda sich entspannt auf dem bequemen Sitz zurück. Vor einem kleinen Restaurant hielt er an.

Als sie an dem Tisch in einer ruhigen Ecke Platz genommen hatten, brach der Doktor endlich das Schweigen.

„Was möchten Sie vor dem Essen trinken, Matilda?“

Sie bestellte sich einen Sherry und studierte dann die Speisekarte.

„Haben Sie zu Mittag gegessen?“, fragte er wie beiläufig.

„Ja, ein Sandwich …“

„Was nehmen Sie? Wie würde Ihnen eisgekühlte Melone mit Cassislikör als Vorspeise gefallen? Und dann Seezunge à la Veronique?“

„Klingt gut – einverstanden“, antwortete sie.

Das Essen schmeckte köstlich. Der Doktor sagte wenig, sodass Matilda den feinen Fisch mit den frischen Kartoffeln, Brokkoli und Artischockenherzen ungestört genießen konnte. Zum Dessert gab es ein Soufflé mit Schokoladensauce. Dann bestellte der Doktor Kaffee und lehnte sich zurück.

„So, Matilda, jetzt erzählen Sie mir alles von Anfang an“, forderte er sie auf.

Der Weißwein, den sie zu dem Fischgericht getrunken hatten, machte Matilda gesprächig. Sie fand es gut, mit jemandem reden zu können, der ihr zuhörte und ihren Onkel gut gekannt hatte. Sachlich schilderte sie ihm die Zustände auf der Station im Krankenhaus.

„Danke, dass Sie sich mir anvertraut haben. Leider muss ich morgen wieder nach Holland zurück“, sagte er, als sie fertig war. „Irgendetwas wird geschehen, das verspreche ich Ihnen.“

„Aber Sie kommen doch wieder, oder?“ Ihre Stimme klang besorgt.

„Ja, natürlich“, erwiderte er.

Matilda war beruhigt. „Woher wussten Sie überhaupt, wo Sie mich finden konnten?“

„Ich habe im Haus Ihres Onkels angerufen. Eine Frau, wahrscheinlich Ihre Tante, war nicht besonders mitteilsam. Deshalb bin ich hingefahren und habe dann mit Emma gesprochen.“ Er bemerkte ihren fragenden Blick und fügte hinzu: „Morgens früh, es war sonst noch niemand auf. Emma hat mir gesagt, wo Sie sind.“

„Sie haben sich viel Mühe gegeben.“ Sie betrachtete ihn nachdenklich.

„Ihr Onkel war mein Freund. Ich bringe Sie jetzt zurück.“ Ihm fiel auf, wie blass sie war. „Geht es Ihnen gut?“

Matilda nickte. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass ich mich aussprechen konnte.“

Wenn er so nett lächelt, ist er gar nicht wiederzuerkennen, dachte sie.

Vor dem Schwesternwohnheim stieg sie aus. Er winkte ihr kurz zu und fuhr davon. Als sie sich auf ihrem Zimmer auszog, fiel ihr ein, dass sie ihn nicht gefragt hatte, warum er sich überhaupt um sie kümmerte. Vielleicht fühlte er sich dazu verpflichtet, weil er mit ihrem Onkel befreundet gewesen war. Wenn das der Grund ist, muss ich dem Doktor klarmachen, dass ich ganz gut allein zurechtkomme, überlegte sie müde und erschöpft.

Am nächsten Tag hatte sie genug mit den Patientinnen zu tun, sodass sie keine Zeit für ihre eigenen Probleme hatte. Sie war immer noch müde, hatte Kopfschmerzen, und alles, was sie anpackte, dauerte viel länger als sonst.

„Sie haben auch die Grippe, Schwester“, sagte plötzlich Mrs. Dougall beim Bettenmachen.

„Ich bin nur erschöpft, das ist alles. Wahrscheinlich haben wir das Schlimmste hinter uns. Noch eine Woche, dann sind wir über den Berg, hoffe ich. Alles wäre viel leichter, wenn wir mehr Personal hätten.“

Matildas Kopfschmerzen wurden jedoch immer unerträglicher. Am Nachmittag legte sie sich in ihrer zweistündigen Pause ins Bett und fühlte sich danach auch nicht besser. Als sie abends die Karteikarten ausfüllte, nahm sie sich vor, nichts zu essen, sondern eine Kopfschmerztablette zu nehmen und sich sogleich hinzulegen.

Am nächsten Morgen ging es ihr noch schlechter. Mühsam schleppte sie sich zum Dienst. Sie wollte ihre Kolleginnen nicht im Stich lassen. Außer ihr waren nur Mrs. Dougall und eine Aushilfsschwester auf der Station. Nachdem die Nachtschwester ihr berichtet hatte, was vorgefallen war, läutete das Telefon. Mrs. Dougall nahm den Anruf entgegen.

„Sie sollen ins Personalbüro kommen, Schwester“, sagte sie und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu: „Lassen Sie sich nichts gefallen. Sie sehen richtig krank aus, es ist eine Schande.“

Matilda verließ die Station und ging die Treppe hinunter. Sorgfältig vermied sie es, den Kopf zu bewegen, weil die Schmerzen unerträglich waren. Vor der Bürotür atmete sie tief ein, dann klopfte sie an und betrat den Raum.

Statt der Oberschwester saß ein untersetzter Mann mit schütterem Haar am Schreibtisch und neben ihm ein anderer, der viel dünner war. Etwas weiter weg stand Dr. van Kepler.

Er kam sogleich auf Matilda zu und schloss die Tür hinter ihr. Dann schob er ihr einen Stuhl hin.

„Schwester Groves, wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen“, begann der Mann am Schreibtisch und sah sie an. „Sie sind sehr blass – das wundert mich gar nicht. Im Namen der Krankenhausverwaltung möchte ich Ihnen erklären, dass wir sehr beunruhigt sind über die Situation auf der Station. Wir werden uns sofort darum kümmern und Abhilfe schaffen. Bei einer Zeitarbeitsfirma haben wir zusätzliches Pflegepersonal angefordert. Die Oberschwester ist … für längere Zeit krankgeschrieben, und wir sind froh, dass wir sogleich Ersatz gefunden haben. Man hat mir berichtet, dass man Ihnen gekündigt hat. Da wir überzeugt sind, dass die Kündigung nicht gerechtfertigt ist, wird sie selbstverständlich zurückgenommen. Wir würden uns über Ihre weitere Mitarbeit sehr freuen.“

Seine Stimme klang so voll und kräftig, dass sie Matilda wie Hammerschläge vorkam. Als sie ihn ansah, wurde ihr schwindlig. Krampfhaft bemühte sie sich, seine Worte zu verstehen, und runzelte die Stirn. Was macht eigentlich Dr. van Kepler hier?, überlegte Matilda und drehte sich zu ihm um. Plötzlich zuckte sie vor Schmerzen zusammen und schloss sekundenlang die Augen. Undeutlich hörte sie ihn sagen: „Sie hat die Grippe, das überrascht mich gar nicht. Ich nehme sie mit. Sie wird nicht zurückkommen, davon bin ich überzeugt.“ Dr. van Kepler nickte dem dünnen Mann zu. „Danke für deine Hilfe, Dick.“

„Das ist doch selbstverständlich. Ich muss dir dafür danken, dass du mich über die Zustände hier informiert hast, Cornelius. Wir hören voneinander.“

Dr. van Kepler nickte noch einmal. Dann hob er Matilda mühelos hoch und trug sie zum Ausgang. Der überraschte Pförtner hielt ihm die Tür auf, eilte vor ihm her und riss auch die Wagentür auf.

„Würden Sie bitte veranlassen, dass man die Sachen von Miss Groves zusammenpackt und so schnell wie möglich zu mir bringt?“, bat er den Mann. Nachdem er Matilda auf dem Beifahrersitz abgesetzt hatte, schrieb er etwas auf einen Zettel und reichte ihn dem Pförtner zusammen mit einem Trinkgeld. „Hier, das ist meine Adresse. Vielen Dank.“

Matilda versuchte, sich zusammenzunehmen. „Ins Schwesternwohnheim“, flüsterte sie und hatte plötzlich das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. „Es tut mir so leid …“

Der Doktor antwortete nicht, sondern stieg ein und fuhr los. Sie ließen das Krankenhaus hinter sich. In einer schmalen, vornehm wirkenden Straße in der Nähe vom Grosvenor Square parkte er den Wagen vor einem schönen alten Haus. Sogleich wurde die Tür geöffnet, und Emma eilte die Steintreppe hinunter.

„Haben Sie Miss Matilda mitgebracht, Sir?“, rief sie besorgt. „Wie geht es ihr?“

„Sie ist bei mir“, erwiderte er ruhig, während er ausstieg. „Sie hat die Grippe und muss sich gleich hinlegen. Ist das Zimmer fertig?“

„Oh ja.“ Emma lief um das Auto herum und musterte Matilda durchs Fenster.

Verwirrt erwiderte Matilda ihren Blick. Es geschahen wirklich seltsame Dinge um sie her, und sie fand es schade, dass sie darüber nicht nachdenken konnte.

„Emma“, sagte sie, „warum sind Sie hier? Wo bin ich überhaupt?“

„Reden Sie jetzt lieber nicht“, forderte der Doktor sie auf.

Und weil seine Stimme leicht gereizt klang, schwieg Matilda vorsichtshalber. Sie konnte sich sowieso nicht konzentrieren.

Nur undeutlich nahm sie wahr, was um sie her vorging. Sie wurde ins Haus und die Treppe hinaufgetragen, während Emma viel zu viel Aufhebens um sie machte. Jemand legte Matilda ins Bett, das sich herrlich kühl und bequem anfühlte. Dann gab man ihr etwas zu trinken. Sie musste Tabletten schlucken und noch mehr trinken. Danach schlief sie ein.

Als sie später wieder wach wurde, war es draußen schon dunkel, und die Kopfschmerzen waren erträglicher. Langsam drehte sie den Kopf auf die andere Seite und erblickte den Doktor, der am Bett saß und etwas schrieb. Als er merkte, dass sie sich bewegte, stand er auf und stellte sich neben sie.

„Geht es Ihnen besser?“

Sie nickte.

„Ich sage Emma Bescheid. Sie wird sich um Sie kümmern.“ Er schenkte ihr ein Glas Wasser ein aus der Karaffe auf dem Nachttisch. „Trinken Sie das.“

Matilda fühlte sich überhaupt nicht wohl, ihr war zu heiß, und sie war gereizt. Als er aus dem Zimmer ging, weinte sie vor Erschöpfung und Hilflosigkeit, bis Emma mit einer Flasche Saft hereinkam, den sie selbst gemacht hatte. Sie wusch Matilda das Gesicht und die Hände, bürstete ihr das Haar und überredete sie, den Saft zu trinken.

„So, mein Lämmchen, morgen geht es Ihnen schon wieder besser. Schlafen Sie jetzt weiter.“

„Das ist ja alles gut und schön“, sagte Matilda verdrießlich, „aber warum sind Sie hier, Emma? Und wo bin ich?“

„Ach, der Doktor hat mich geholt. Er ist ein vernünftiger Mensch. Wir sind in seinem Haus. Sie sollten schlafen, Miss Ana.“

„Nein! Erst muss man mir alles erklären!“, verlangte Matilda störrisch.

„Sie haben Fieber“, ertönte plötzlich die Stimme des Doktors. Er griff nach ihrer Hand. „Schlafen Sie jetzt. Dann geht es Ihnen morgen besser, und Sie dürfen fragen, so viel Sie wollen.“

Den Ton kenne ich doch, so redet man als Arzt mit widerspenstigen Patienten, dachte Matilda.

Er hielt ihre Hand fest und setzte sich aufs Bett. „Ich bleibe hier, bis Sie eingeschlafen sind“, sagte er ruhig.

„Na gut, wenn Sie meinen“, gab sie nach und schloss die Augen.

Sie schlief durch bis zum nächsten Morgen. Als sie wach wurde, hob sie vorsichtig den Kopf – die Kopfschmerzen waren beinah weg. Sogleich setzte sie sich auf und blickte sich im Zimmer um. Eingewickelt in eine Wolldecke, schlief Emma tief und fest in einem Sessel. Im schwachen Lichtschein, der durch die Vorhänge drang, betrachtete Matilda den Raum. Er war ziemlich groß und stilvoll eingerichtet. Neugierig stand Matilda auf und merkte sogleich, wie schwach sie noch war. Langsam ging sie über den weichen Teppich zum Fenster und schob vorsichtig die Vorhänge aus altrosa Seide etwas auseinander. Der Himmel war an diesem Morgen sehr klar und versprach einen sonnigen Tag. Der relativ kleine Garten mit dem gepflegten Rasen und den Blumenbeeten, die um den Zierteich herum angelegt waren, war von hohen Mauern umgeben.

Während Matilda das alles betrachtete, begegnete sie plötzlich dem Blick des Doktors, der unter dem Fenster stand und nach oben sah. Er hatte einen dicken Pullover an und einen großen Schäferhund bei sich.

Schockiert legte sie sich wieder ins Bett. Sie fühlte sich ertappt und war erleichtert, als Emma aufwachte und sie besorgt fragte, wie es ihr gehe. Matilda bestand darauf, endlich zu erfahren, wo sie sich befand.

„Da es Ihnen wieder besser geht, meine Liebe, wird man es Ihnen gleich sagen“, antwortete Emma und zog die Vorhänge zurück.

Matilda schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Aber als es sanft an die Tür klopfte und der Doktor hereinkam, machte sie die Augen wieder auf.

Er stellte sich neben sie ans Bett und fühlte ihr den Puls. „Es geht Ihnen besser.“ Er schien sich zu freuen.

„Das ist ein sehr großer Hund, den Sie da haben“, sagte sie.

„Dickens heißt er. Wir waren gerade vom Spaziergang zurückgekommen.“ Er betrachtete sie prüfend mit seinen blauen Augen! „Wahrscheinlich haben Sie tausend Fragen.“

„Oh ja. Ich möchte wissen, wo ich bin, wie ich hergekommen bin und wieso Emma hier ist. Woher wussten Sie überhaupt …?“

„Lassen Sie uns zusammen Tee trinken, während ich Ihre Fragen beantworte“, unterbrach er sie lächelnd und nahm das Tablett entgegen, das Emma hereinbrachte.

Er schenkte den Tee ein und reichte Matilda eine Tasse. „Was möchten Sie wissen?“

„Wo ich bin.“

„In meinem Haus.“ Er nannte ihr die genaue Adresse. „Gestern Morgen habe ich Sie hergebracht. Ihre Sachen sind gestern Abend geschickt worden. Emma hat schon alles ausgepackt.“

Autor

Betty Neels
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