Julia Bestseller Band 164

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SPIEL NICHT MIT MEINEM HERZEN von MARINELLI, CAROL
Als der Millionär Rico Mancini die betörende Christine nach Jahren wiedersieht, erwachen in ihm erneut die sinnlichen Gefühle wie damals. Aber starke Zweifel nagen an ihm: Empfindet Christine wirklich das Gleiche für ihn oder ist sie bloß hinter seinem Vermögen

WAS GESCHAH AN JENEM ABEND? von MARINELLI, CAROL
Für Lucinda wird ein Traum wahr: Endlich küsst ihr attraktiver Kollege Sebastian Carlisle sie stürmisch, und sie erlebt in seinen Armen das pure Glück! Verliebt wie noch nie, stellt Lucinda ihn ihren Eltern vor. Danach behandelt Sebastian sie plötzlich äußerst kühl …

FEUER UND EIS von MARINELLI, CAROL
Wild rauscht das Verlangen durch Xantes Adern, wenn er Karin eng an sich zieht. Doch trotz der leidenschaftlichen Momente, die der griechische Milliardär mit ihr teilt, verhält sie sich ihm gegenüber reserviert. Wie nur soll er ihr Herz aus Eis zum Schmelzen bringen?


  • Erscheinungstag 07.08.2015
  • Bandnummer 0164
  • ISBN / Artikelnummer 9783733703134
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli

JULIA BESTSELLER BAND 164

CAROL MARINELLI

Spiel nicht mit meinem Herzen

Nie hätte Christine gedacht, dass sie den Italiener Rico noch einmal trifft. Jenen Mann, der ungeahnte Begierde in ihr entfachte – und sie einfach sitzen ließ. Nun ist er zurück! Christine ist entschlossen, ihr Herz nicht wieder an den Tycoon zu verlieren, der anscheinend nicht lieben kann! Dennoch lassen Ricos glühende Blicke sie alles andere als kalt …

Was geschah an jenem Abend?

Der alleinerziehende Sebastian Carlisle hat keine Zeit für Beziehungen, sondern will sich bloß um seinen kleinen Sohn kümmern. Dann allerdings tritt die erfolgreiche Ärztin Lucinda Chambers in sein Leben und sofort spürt er dieses magische Knistern zwischen ihnen. Doch ist Lucinda die Frau, die seinen Wunsch von einer glücklichen Familie erfüllen kann?

Feuer und Eis

Xantes dunkle Augen versprechen heiße Sünden und hemmungslose Lust. In Karins Bauch scheinen hunderte Schmetterlinge zu flattern. Die erste Begegnung zwischen dem aufregenden Hotelbesitzer und der mittellosen Schönheit ist feurig. Nichtsdestotrotz hat Karin sich geschworen, nicht der Versuchung zu erliegen – zu tief ist der Schmerz der Vergangenheit …

1. KAPITEL

„Zumindest mussten Ihre Schwester und deren Mann nicht leiden“, sagte die junge Krankenschwester.

„Das stimmt. Sie ahnen nicht, wie recht Sie haben“, antwortete Christine bitter. Ihre Schwester Janey und ihr Schwager Marco hatten das Leben immer auf die leichte Schulter genommen. Verantwortung und Leiden waren Fremdwörter für die beiden gewesen. Bei Schwierigkeiten hatten sie sich immer erst einmal einen Drink eingeschenkt. Waren die Probleme nicht von selbst verschwunden, hatten sich Marco und Janey an ihre Familie um Hilfe gewandt.

All dies konnte die Krankenschwester nicht wissen. Sie wollte lediglich ihr Mitgefühl und ihr Verständnis ausdrücken. Der Autounfall war so schnell passiert, dass Marco und Janey sicher nichts gemerkt hatten. Trotzdem halfen die tröstlichen Worte nicht, denn sie trafen einen wunden Punkt. Außerdem versuchte Christine, sich nicht immer wieder die letzten Sekunden im Leben ihrer Schwester vorzustellen.

Für Trost war Christine noch nicht empfänglich. Sie stand zu sehr unter Schock. Bislang saß sie tief verstört und erschöpft in dem kleinen Warteraum im Krankenhaus und konnte kaum fassen, was geschehen war.

„Es tut mir wirklich leid für Sie.“ Die Schwester reichte ihr einen dicken Briefumschlag.

„Danke.“ Christine nahm ihn entgegen. Sie wusste, was er enthielt.

„Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?“

Christine schüttelte den Kopf, dann war sie wieder allein in dem kleinen Zimmer. Sie riss den Briefumschlag auf und ließ den Inhalt in ihre Hand gleiten. Seltsamerweise kamen ihr nicht die Tränen, als sie die drei Schmuckstücke betrachtete. Aber sie hatte das entsetzliche Gefühl, dies alles schon einmal erlebt zu haben. Auf den Tag genau vor acht Jahren und zwei Monaten hatte sie einen ähnlichen Umschlag geöffnet und ihm denselben Diamantring entnommen. Seither hatte Janey ihn getragen.

Damals hatte man Christine neben den Wertsachen ihrer Eltern weit mehr Verantwortung übergeben, als eine Neunzehnjährige normalerweise verkraften musste. Die endlosen Verhandlungen mit den Rechtsanwälten und das Ordnen des Nachlasses ihrer Eltern, der sich in einem chaotischen Zustand befunden hatte, waren noch die einfachere Aufgabe gewesen.

Es hatte sich als sehr viel mühsamer erwiesen, mit ihrer eigensinnigen Schwester Janey fertig zu werden, die damals gerade sechzehn geworden war.

Lange blickte Christine den Ring mit dem großen Solitärdiamanten an, der erst ihrer Mutter und dann Janey gehört hatte. Mit einem Mal fühlte sie sich in das Schlafzimmer ihrer Mutter zurückversetzt. Wie oft hatte sie neben dem Frisiertisch gestanden und gewünscht, ihr dunkles lockiges Haar wäre so glatt und blond wie Janeys und das ihrer Mutter und sie hätte statt ihrer braunen die blauen Augen ihrer Mutter geerbt.

Doch Christine kam eher nach ihrem Vater, sowohl was das Aussehen als auch den Charakter betraf. Sie war gewissenhaft und fleißig, dabei aber nicht so nachgiebig wie ihr Vater. Seine Frau Lily brauchte nur schmollend den Mund zu verziehen, und schon tat er, was immer sie von ihm wollte. Nur damit seine geliebte Lily wieder lächelte.

Janey hatte wie ihre Mutter die Erfahrung gemacht, dass ihre Schönheit ihr alles verschaffen konnte, was sie wollte. Beide hatten dieses gewisse Etwas ausgestrahlt, das die Männer faszinierte und dazu brachte, bereitwillig das Chaos zu beseitigen oder die Scherben aufzulesen, die sie hinterließen.

Den zweiten Ring aus dem Umschlag zierte ein großer Saphir: Janeys Verlobungsring. Das intensive Blau des Steins erinnerte Christine so sehr an die leuchtend blauen Augen ihrer Schwester, dass es ihr beinahe körperlich wehtat, dieses Schmuckstück in der Hand zu halten. Janey hatte den Ring so gern getragen. Seit ihrer Verlobung war sie überzeugt gewesen, sich auf der Überholspur des Lebens zu befinden. Sie hatte geglaubt, dass sich durch ihre Beziehung zu Marco all ihre Probleme von selbst lösen würden. Darunter ihre erheblichen finanziellen Schwierigkeiten, die für Christines beschränkte Mittel eine Nummer zu groß geworden waren.

Christine glaubte fast, Janeys stets etwas atemlose Stimme hören zu können, so lebhaft war ihre Erinnerung an jenes Gespräch.

„Marcos Wohnung ist der Wahnsinn!“, hatte Janey begeistert erzählt. „Sie liegt direkt am Strand. Du gehst nur einen Schritt von der Terrasse, und schon stehst du im Sand. Allein seine Garage ist größer als deine Wohnung, Christine!“

Christine war Marcos Garage zwar egal, aber sie ließ Janey weiterplappern, in der Hoffnung, ihr Redefluss würde irgendwann versiegen, damit sie, Christine, ihr die Antworten auf wichtigere Fragen entlocken konnte.

„Was macht Marco denn?“, fragte sie Janey, als diese endlich verstummte.

Janey schwieg.

Christine ließ nicht locker. „Wovon lebt er? Hat er einen Beruf?“

„Er genießt das Leben.“ Janey blickte sie trotzig an. „Als seine Mutter starb, war er noch ein Teenager.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Genau wie unsere Eltern. Mit dem kleinen Unterschied, dass Bella Mancini ihren Kindern etwas vererbt hat.“

„Meinst du Geld?“, fragte Christine scharf. Denn sie hatte nach dem Tod ihrer Mutter eine abgrundtiefe Leere empfunden. So ein Vakuum ließ sich nicht füllen. Auch nicht mit Geld.

Jedenfalls nicht aus Christines Sicht.

„Verschone mich mit deinen Standpauken!“, schimpfte Janey. „Ich habe es satt, mir anzuhören, wie unwichtig dir Geld ist oder dass du neben dem Collegestudium in zwei Jobs gleichzeitig gearbeitet hast. Als wäre das nicht genug, musst du mir immer wieder vor Augen halten, dass dir die Plackerei nichts ausgemacht hat. Weil dir nur daran lag, dass wir beide zusammenbleiben konnten. Unsere Eltern hätten lieber regelmäßig die Prämien für die Lebensversicherung zahlen sollen. Dann wäre uns vieles erspart geblieben. Du hättest nicht so viel arbeiten müssen, und wir würden noch in unserem Elternhaus leben statt in dieser winzigen Wohnung.“

„Mich hat es nicht gestört“, beharrte Christine.

„Aber mich!“ Janey funkelte sie zornig an. „Ich hasse es, arm zu sein, und habe nicht vor, mein Leben lang jeden Cent zwei Mal umzudrehen. Ab jetzt kann Marco für mich sorgen. So wie seine Mutter für ihn gesorgt hat. Bella Mancini hat mit Immobilien ein Vermögen gemacht, und jetzt gehört die Firma den Kindern.“

Das Imperium der Mancinis! Natürlich! Den Mancinis gehörte halb Melbourne, und sie konnten praktisch die Immobilienpreise diktieren. An jedem dritten Anwesen entlang der Uferstraße an der Port-Philip-Bucht standen schicke blaue Tafeln, die jedem Interessenten mitteilten, dass er dieses Grundstück mit Seeblick über die Firma Mancini erwerben konnte.

Um es in der Welt der Grundstücksmakler zu etwas zu bringen, brauchte man Ausdauer, Intelligenz und Verantwortungsbewusstsein. Genau die Eigenschaften also, über die ein Mann verfügen musste, der Janey auf dem rechten Weg halten wollte.

„Dann gehört Marco zum Mancini-Clan?“ Christine ließ sich die Erleichterung nicht anmerken. Aus langjähriger Erfahrung wusste sie, dass es das Aus für eine neu aufkeimende Beziehung von Janey bedeutete, wenn sie, Christine, sich allzu begeistert darüber äußerte. Leider zerschlug sich ihre Hoffnung, Janey hätte einen verantwortungsbewussten Freund gefunden, als Janey weitersprach.

„Marco hat seinen Anteil am Geschäft an seinen Bruder Rico verkauft.“ Das schien Janey sehr zu irritieren, doch Christine sprach sie nicht darauf an.

Wichtiger schien es ihr, mehr über den Mann zu erfahren, mit dem sich Janey eingelassen hatte.

„Als Marco achtzehn wurde, wollte er in die Firma einsteigen, aber sein Bruder Rico hatte gerade beschlossen, die Firma zu erweitern. Das hieß viel Arbeit, Sechzigstundenwoche und …“

„So ist das im Geschäftsleben, Janey.“

Mit einer abfälligen Geste warf Janey das blonde Haar über die Schulter und trank einen Schluck Wein. „Wozu sich anstrengen, wenn man reich ist? Marco besitzt genug Geld. Er braucht nicht zu arbeiten, also tut er es nicht.“

„Dann lebt er von seinem Erbe?“ Christine schüttelte den Kopf. „Hat er überhaupt schon einmal gearbeitet?“

„Du redest wie sein Bruder“, antwortete Janey verächtlich. „Und ich gebe dir jetzt dieselbe Antwort, die Marco für Rico parat hat: Es geht dich nichts an. Marco liegt schließlich nicht der Familie auf der Tasche, sondern verbraucht sein eigenes Geld.“

„Aber welcher Mann würde …“

„Was weißt du schon von Männern? Und wie kommst du dazu, mir Ratschläge geben zu wollen?“

„Immerhin bin ich deine Schwester.“ Christine versuchte, sich nicht provozieren zu lassen. Janey reagierte immer sehr gehässig, wenn sie ihr die Leviten las. „Mir liegt viel an dir, Janey, deshalb mache ich mir Sorgen um dich. Seit Mom und Dad gestorben sind, versuche ich, für dich da zu sein. Deshalb bitte ich dich, mir jetzt zuzuhören. Du kennst diesen Marco erst seit zwei Monaten. Warum hast du es so eilig? Warte doch erst einmal ab, wie sich die Dinge entwickeln.“

„Ich bin schwanger.“

Diese Mitteilung ließ die Situation in einem anderen Licht erscheinen, doch Christine zeigte nicht, wie schockiert sie war. Sie erhob nicht einmal Einspruch, als Janey wieder einen großen Schluck Wein trank. Dies war nicht der Moment für Vorhaltungen über das richtige Verhalten während der Schwangerschaft.

„Natürlich bin ich auch in diesem Fall für dich da, Janey“, versicherte Christine. „Wir finden bestimmt eine Lösung. Du musst Marco trotzdem nicht unbedingt heiraten. Überleg es dir gut und handle erst, wenn du weißt, was du wirklich willst.“

„Bist du tatsächlich so dumm, oder tust du nur so?“ Janey sah sie spöttisch an. „Für eine Lehrerin bist du unglaublich schwer von Begriff. Das war doch kein Zufall.“

„Wie bitte?“

„Stell dich nicht so an, Christine! Ich weiß, was ich tue, und ich will dieses Baby.“

„Oh, dann entschuldige, Janey.“ Christine stand auf. „So war es nicht gemeint.“ Verwirrt suchte sie nach den richtigen Worten. „Babys haben dich noch nie interessiert.“

„Stimmt. Das wird auch so bleiben.“ Ärgerlich runzelte sie die Stirn. „Muss ich dir denn alles bis ins Einzelne erklären? Mir ist es noch nie so gut gegangen wie jetzt. Ich kann in jedes Geschäft gehen und kaufen, was mir gefällt, ohne erst nach dem Preis zu sehen. Wir suchen uns die besten Restaurants aus, und ich wähle von der Speisekarte, worauf ich Appetit habe. Egal, was es kostet. Wenn du glaubst, ich würde mir so eine Chance entgehen lassen, kennst du mich schlecht. Kann sein, dass Marco mich liebt. Vielleicht hätten wir ewig so weiterleben können wie bisher. Aber ich wollte kein Risiko eingehen, also habe ich Tatsachen geschaffen.“ Sie klopfte sich vielsagend auf den Bauch.

Christine blickte sie entgeistert an.

„Falls dich mein fehlender Mutterinstinkt beunruhigt, vergiss es! Marco kann sich die besten Kindermädchen leisten. Ich muss mich um nichts kümmern. Deine Vorwürfe und Ratschläge kannst du dir ab sofort sparen, denn ich brauche dich nicht mehr, Christine!“

Selbst ein Jahr danach taten diese Worte noch weh.

Janeys goldener Ehering rief Erinnerungen an ihren Hochzeitstag wach. Im Geist sah Christine wieder Marcos Bruder Rico vor sich. Er hatte in der Kirche die Ringe über die Bibel gehalten und sie beinahe trotzig fallen lassen. In diesem Moment hatte Christine gewusst, dass nicht nur sie Vorbehalte gegen diese Ehe hegte.

„Wie geht es Ihnen, Miss Masters?“, machte die Krankenschwester Christines schmerzlichen Erinnerungen ein Ende.

Christine lächelte müde, stand auf und nahm ihre Jacke. „Gut, danke. Ich glaube, jetzt möchte ich auf die Kinderstation gehen und Lily Gesellschaft leisten.“

Lily.

Bei dem Gedanken an ihre Nichte, die so früh die Eltern verloren hatte, hasste Christine ihre Schwester Janey geradezu.

„Die Ärzte geben Ihnen Bescheid, sobald alle Untersuchungen abgeschlossen sind. Es dauert bestimmt nicht mehr lange. Sie müssen ja zu Tode erschöpft sein, Miss Masters. Zumindest ist es uns nun gelungen, mit den Eltern von Marco Mancini Kontakt aufzunehmen. Offenbar machen sie gerade Urlaub in den Vereinigten Staaten. Deshalb konnten wir sie nicht eher erreichen.“

„Marcos Vater und seine Stiefmutter“, korrigierte Christine. „Die leibliche Mutter ist schon vor Jahren gestorben.“

„Ja? Jedenfalls sind sie nun informiert.“

Christine nickte. Sie hatte nicht erwartet, dass die Mancinis alles stehen und liegen lassen würden, um ins Krankenhaus zu eilen. Sicher würden viele Entscheidungen zu fällen sein, und sie war froh, dass sie sich nicht sofort darum kümmern musste. Der Tag war so schon schwer genug gewesen.

„Mr Rico Mancini hat angerufen und Sie gebeten, hier zu bleiben und auf ihn zu warten, Miss Masters. Oh, geht es Ihnen nicht gut?“

Christine wurde plötzlich schwindelig. „Doch. Ich bin nur …“ Sie befeuchtete sich die trockenen Lippen. Ihr Herz pochte so laut, dass sie glaubte, die Schwester müsste es hören können.

Die Schwester schob ihr einen Stuhl hin, und Christine setzte sich dankbar wieder.

„Atmen Sie einige Male tief durch, Miss Masters, und lassen Sie den Kopf hängen! Ja, so ist es gut. Kein Wunder, dass Ihnen schwindelig wird, nach allem, was Sie durchgemacht haben. Es muss ein furchtbarer Schock für Sie gewesen sein.“

Christine nickte und ließ den Kopf entspannt hängen. Nicht der Tod von Janey und Marco hatte sie so sehr schockiert, sondern eher deren Lebensstil, aber das konnte die Krankenschwester nicht wissen.

Auch als diese sie wieder allein ließ, hing Christine weiter ihren Erinnerungen nach. Marco und Janey hatten alle vor den Kopf gestoßen, indem sie die Regeln der Gesellschaft missachteten, wenn sie ihnen nicht passten. Sie lebten nach dem Motto: Für Reiche gelten eigene Regeln. Oder keine. Insofern kam ihr plötzliches und gewaltsames Ende nicht überraschend.

Doch dass Christine schwindelig wurde, lag weder an dem Unfall noch an der Wartezeit im Krankenhaus. Dass sie seit dem Frühstück nichts gegessen hatte, hatte auch nichts damit zu tun. Nein, der Grund war ein ganz anderer: Rico wollte kommen! Nach all der Zeit würde sie ihn wieder sehen.

„Rico“, flüsterte sie, schloss die Augen und vergaß für einen Moment, wo sie sich befand und was geschehen war. Die Schrecken des Tages verblassten, während sie sich an Ricos Gesicht erinnerte. Eigentlich hatte sie dieses Gesicht vergessen wollen. Vergeblich, denn wie oft hatte sie von ihm geträumt …

Rico hatte sie damals zum Lachen gebracht.

Janeys Hochzeitstag, dem Christine mit Bangen entgegengesehen hatte, war dank Rico der bis dahin aufregendste und spannendste Tag ihres Lebens geworden. Anfangs hatte sie äußerlich gelassen, innerlich jedoch angespannt und unsicher herumgestanden und verwirrt mit angesehen, wie sich Marco und Janey über die traditionellen Hochzeitsbräuche hinwegsetzten. Sie machten sich über alles lustig, was ihr selbst lieb und teuer war.

Und dann hatte Rico sie angesprochen und ihre Welt auf den Kopf gestellt. „Sie müssen mit mir reden!“ Sein drängender Ton hatte sie völlig überrumpelt.

„Ich?“ Weshalb sollte der begehrteste Junggeselle von Melbourne ihr, Christine Masters, seine Aufmerksamkeit schenken? „Warum?“, fragte sie schroff.

„Das verrate ich Ihnen gleich, es ist mir wirklich wichtig“, beharrte er. „Vermutlich ist es das Letzte, wonach Ihnen gerade der Sinn steht, aber ich bitte Sie: Tun Sie so, als wären Sie ganz ins Gespräch mit mir vertieft!“

Das fiel Christine nicht schwer, denn sie fand ihn faszinierend. Es war kein Kunststück, ihm in die dunklen Augen zu blicken und sich den Anschein zu geben, sie würde sich gut unterhalten. Rico besorgte zwei Stühle und setzte sich ihr gegenüber hin. Dann rückte er näher, sodass sich seine Beine rechts und links von ihren Knien befanden, und bat sie ernst, so sitzen zu bleiben.

Christine musste lachen. „Was ist denn los?“ Sie fühlte sich verlegen, aufgeregt und geschmeichelt.

„Die Frau des Pastors hat es auf mich abgesehen.“

„Esther?“ Erstaunt blickte Christine zur anderen Seite des Saals, wo sich die Pastorengattin, ein Ausbund der Tugend, mit einigen Gästen unterhielt. Zu einer Kombination aus Rock, Pulli und Jacke aus Strickstoff trug sie eine lange Perlenkette, und sie war offensichtlich beim Friseur gewesen. Die Frisur war mit Haarspray so stark fixiert, dass sich kein Härchen rührte. Christine wäre nie auf die Idee gekommen, dass eine solche Frau überhaupt erotische Gefühle hatte. Doch Esther sah tatsächlich immer wieder beunruhigt zu ihnen herüber. Und daran gemessen, welchen Effekt die wenigen Minuten in Ricos Nähe auf sie, Christine, ausübten, war vermutlich alles möglich! Gegen jemanden wie Rico waren offenbar nicht einmal Pastorengattinnen gefeit.

„Sehen Sie nicht hin!“ Rico berührte leicht ihre Wange und zwang Christine so, ihm ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

„Oh, tut mir leid.“ Sie saß wie auf Kohlen. Seine Berührung hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Obwohl sie spürte, dass sie über und über errötet war, gab sie sich gelassen. „Sicher irren Sie sich!“

„Zuerst habe ich mir das auch gesagt“, stimmte Rico zu. „Sogar dann noch, als sie begann, mir die Jacke aufzuknöpfen.“

„Das ist nicht wahr!“

„Doch. Es kam sogar noch schlimmer.“ Er schüttelte sich unwillkürlich, und Christine musste lachen. „Wenn Ihre Schwester sich mit einer altmodischen katholischen Hochzeit zufriedengegeben hätte, wäre so etwas nicht passiert.“

„Ja, das war typisch Janey“, antwortete Christine trocken. Sie und Rico lächelten sich verständnisinnig zu.

„Natürlich habe ich mich sofort entschuldigt und behauptet, meine Freundin würde warten. Deshalb möchte ich Sie bitten, heute Abend meine Freundin zu spielen, wenn Sie nichts dagegen haben!“

„Einverstanden.“ Christine lächelte ihm zu und nahm das Glas Champagner, das er ihr reichte. Erstaunlicherweise zitterten ihr nicht einmal die Hände, obwohl ihr Herz wie verrückt pochte.

Es wurde der schönste Abend ihres Lebens. Christine störte es weder, dass Rico sie aus den falschen Gründen angesprochen hatte, noch machte es ihr etwas aus, nur wegen Esther so behandelt zu werden, als wäre sie jemand ganz Besonderes und die einzige interessante Frau im Saal.

Anfangs hatte Rico Christine immer wieder misstrauisch angesehen, doch als sie später in seinem Hotelzimmer gestanden hatten, war sein Blick sanfter geworden. Und dann hatte er sie geküsst.

Wenn sie die Augen schloss, konnte sie noch immer seine weichen Lippen spüren und den Duft seines Aftershaves wahrnehmen. Damals hatte sie die Arme um Ricos kräftigen Nacken gelegt, die Finger in sein pechschwarzes Haar geschoben und den Kuss erwidert.

Nie zuvor hatte sie sich dem drängenden Verlangen eines Mannes so rückhaltlos hingegeben wie an jenem Abend. Der Kuss löste Empfindungen in ihr aus, die ihr neu und doch sehr willkommen waren. Unwillkürlich presste sie sich an ihn, drängte ihm entgegen und wartete beinahe ebenso ungeduldig wie er darauf, dass er die vielen kleinen Knöpfe ihres Kleides löste. Doch die winzigen rosa Knöpfchen erwiesen sich als zu hinderlich. Irgendwann zerriss Rico den feinen rosa Tüll und streifte Christine das Kleid von den Schultern. Ihr war es egal, dass er ihr Kleid ruiniert hatte. Sie hatte es sowieso gehasst und es nur Janey zuliebe getragen.

Ricos Blicken schutzlos ausgesetzt und seltsam erregt, stand Christine dann vor diesem Mann, den sie kaum kannte, und beobachtete und spürte atemlos, wie er mit den Händen eine sinnliche Reise über ihren Körper unternahm. Als er ihre weißen Brüste in seinen sonnengebräunten Händen hielt, blieb ihr fast das Herz stehen, und als er begann, ihre Brüste mit den Lippen zu liebkosen, entrang sich ihr ein leises Stöhnen.

Ihre Knospen richteten sich auf und wurden beinahe schmerzhaft hart, sobald seine Lippen sie umschlossen, doch noch stärker empfand sie die Erregung am Sitz ihrer Lust. Dann begann Rico, ihre Beine zu streicheln. Er tat es langsam und zärtlich, und schließlich schob er die Hände unter ihren Slip und streichelte sie dort, wo sie weich und warm und feucht war. Unwillkürlich erbebte sie, drängte ihm entgegen und keuchte lustvoll auf.

Damals wie heute wunderte sich Christine, wie hemmungslos sie sich verhalten und wie leicht sie sich diesem Mann hingegeben hatte.

Rico schien zu verstehen, wie sehr sie die Erfahrung überwältigt hatte, denn danach hielt er sie einfach nur in den Armen. Für kurze Zeit fühlte sie sich sicher und geborgen.

„Wir müssen wieder nach unten, Christine“, flüsterte er ihr sanft zu, als sie allmählich aus dem Rausch der Lust auftauchte. Offenbar hatte er gemerkt, wie ungewohnt die Situation und wie selten ein so lustvolles Erlebnis für sie war.

Obwohl Rico versuchte, einen sanften Übergang zu schaffen, empfand sie die Rückkehr in die raue Wirklichkeit wie einen Schlag ins Gesicht. Sie kannte diesen Mann kaum, und doch stand sie halb nackt und unglaublich erregt vor ihm. Dabei fühlte sie sich lebendig wie nie zuvor, ihre Augen funkelten, und ihre Wangen glühten.

Rico schien zu spüren, was in ihr vorging. „Es gibt keinen Grund zur Reue“, erklärte er mit seiner tiefen, ruhigen Stimme. „Du bist wunderschön – und diese Erfahrung war etwas Herrliches.“

„Aber ich hätte nicht …“

„Sch!“ Er drückte sie so eng an sich, dass sie seine Erregung spürte.

Jetzt betraf ihr schlechtes Gewissen nicht mehr die Situation an sich, sondern die Tatsache, dass Rico sein Verlangen nicht hatte ausleben können. Sie war sicher, dass nur sie ihre Lust befriedigt hatte und er zu kurz gekommen war. Weil sie annahm, dass er so etwas von ihr erwartete, berührte Christine ihn dort, wo sein Begehren am offensichtlichsten war.

„Nein, Christine, hör auf!“, keuchte er atemlos und hielt ihre Hand mit eisernem Griff fest.

Verlegen errötete sie tief. Hatte sie ihn verletzt? Sicher merkte er ihr an, wie unerfahren sie war.

„Wir müssen nach unten gehen und das Brautpaar verabschieden. Schließlich sind wir Brautjungfer und Brautführer.“

„Aber ich …“ Christine schluckte. „Du hast doch noch keinen …“

„Das holen wir später nach.“

Sein Versprechen tröstete sie. Die Aussicht auf ein Morgen, auf eine weitere Gelegenheit, beruhigte sie, und ihr Verlangen und ihre Ungeduld ließen nach.

„Sobald das Brautpaar abgereist ist, muss ich zum Flughafen. Ich fliege in die Staaten. Aber wir können uns vorher noch kurz treffen und verabreden.“ Rico küsste sie ein letztes Mal fordernd, voller Verlangen und unsagbar zärtlich.

Als Christine später Janey half, das Hochzeitskleid auszuziehen und sich reisefertig zu machen, zitterten ihr die Hände so sehr, dass sie kaum den feinen Reißverschluss aufbekam. Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Rico, denn in einer knappen Stunde würde sie ihn wieder sehen.

„Du hast dich ja mächtig verändert“, bemerkte Janey. „Mit offenem Haar siehst du aus, als würdest du dich ausnahmsweise einmal amüsieren.“ Dann verstummte sie und musterte ihre Schwester aufmerksam. Das zerzauste Haar, die glänzenden Augen, die roten Wangen. „Wieso hast du dich denn umgezogen?“ Kritisch betrachtete sie Christines schlichte rostfarbene Seidentunika.

„Rosa Tüll steht mir nicht“, antwortete Christine gelassen, doch sie spürte, dass ihr das Blut in die Wangen stieg.

„Rico gefällt es offensichtlich. Er hatte ja nur noch Augen für dich.“ Janey runzelte die Stirn. „Wohin seid ihr eigentlich nach den Reden verschwunden?“

„Das ist doch jetzt nicht wichtig“, wehrte Christine ab und dachte: Hoffentlich merkt Janey nichts! „Beeil dich, Janey, sonst verpasst ihr noch den Flug.“

„Nein, das Flugzeug wartet“, widersprach Janey locker. „Das ist der Vorteil eines Privatjets: Er fliegt nicht ohne dich ab.“ Dann senkte sie die Stimme, wurde ernst und sah ihre Schwester so eindringlich an, dass Christine nervös wurde. „Du brauchst nur deine Karten richtig auszuspielen, und alles gehört dir, Christine!“

„Unsinn!“

„Doch! Ich meine es ernst. Ich habe dir den Weg geebnet, Christine. Weißt du eigentlich, was es mich gekostet hat, Marco davon zu überzeugen, dass ich ihn liebe und ihn nicht bloß wegen seines Geldes will? Das war ein hartes Stück Arbeit, sage ich dir.“

„Ich möchte nicht darüber sprechen, Janey.“

„Dabei hat er recht, ich will sein Geld.“ Sie lächelte boshaft. „Jetzt habe ich es geschafft: Ich bin mit einem sehr reichen Mann verheiratet. Warum machst du es mir nicht nach, Christine?“ Sie lachte kalt.

Christine hielt sich die Ohren zu. Sie fand es abscheulich, wenn ihre Schwester so berechnend redete.

Doch Janey amüsierte sich über ihre Verlegenheit. Je länger sie sprach, desto begeisterter und lauter wurde sie. Schließlich zog sie Christines Hände weg, damit sie ihr zuhören musste. „Gib’s ruhig zu, Christine, du hasst deine Arbeit, du hasst es, diese schrecklichen Kinder zu unterrichten, und du hasst deine schäbige kleine Wohnung!“

„Janey!“ Doch Christine sah ein, dass es keinen Zweck hatte, ihre Schwester überzeugen zu wollen. Janey würde sie nie verstehen und niemals glauben, dass sie ihre Arbeit liebte. Natürlich stöhnte sie manchmal über die Schule, den Lehrermangel oder ihre Schüler. Aber das wollte nichts heißen. Im Allgemeinen unterrichtete sie gern und liebte ihre Wohnung. Sie war zwar klein, aber ihr Zuhause.

Bei diesen Erinnerungen kamen Christine nun doch die Tränen. Damals war Janey so glücklich, begeistert und aufgeregt gewesen, und nun lag sie steif und kalt im Krankenhaus aufgebahrt. Aber Christine ließ ihren Tränen nicht freien Lauf. Wozu auch? Niemand würde sie trösten. Sie musste allein mit der schrecklichen Wirklichkeit fertig werden.

Janey war tot. Und Rico?

Rico verachtete sie, Christine.

2. KAPITEL

„Christine!“

Rico! Die Ringe ihrer Schwester in der Hand, erstarrte Christine. Ihr stockte der Atem, und sogar ihr Herz schien eine Sekunde lang auszusetzen.

„Christine?“

Nun blickte sie zu ihm auf. Plötzlich raste ihr Herz. Sie hatte gehofft, dass sie nach so langer Zeit unempfänglich für seine männliche Ausstrahlung sein würde und dass sie ihm in ihrer Fantasie Attribute zugeschrieben hätte, die er in Wirklichkeit nicht besaß.

Aber jetzt stellte sie fest, dass ihre Fantasie ihm nicht gerecht geworden war. Sie hatte vergessen, wie lässig elegant er wirkte mit seinem markanten Gesicht und dem pechschwarzen, erstklassig geschnittenen Haar. Das erste Grau an den Schläfen verlieh ihm etwas Distinguiertes, und in der Tiefe seiner unglaublich schwarzen Augen hätte Christine sich nur zu gern verlieren mögen.

„Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.“

Sie antwortete nicht. Dass er da war, im gleichen Raum wie sie, hatte ihr die Sprache verschlagen. So nickte sie nur und bewegte die Lippen, ohne dass ihr ein Wort entschlüpfte.

„Wie lange bist du schon hier?“

„Seit fünf Uhr.“ Sie verstummte.

Er sah sie erwartungsvoll an.

Natürlich musste sie ihm mehr erzählen. Es war sein gutes Recht, die Tatsachen zu erfahren. „Als ich nach der Schule nach Hause kam, warteten zwei Polizisten auf mich. Sie haben mich gleich hergefahren.“

„Haben sie erzählt, wie es passiert ist?“

Christine schwieg.

Ungeduldig drängte Rico auf Antwort. „Ich weiß, dass Marco und Janey einen Unfall hatten. Sie sind beide tot, Lily liegt auf der Kinderstation. Mehr hat man mir nicht gesagt.“ Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, und an seinem Hals zuckte ein Muskel.

Christine ahnte, wie schwer es für einen Mann wie Rico war, nicht informiert zu sein. Denn normalerweise kannte er sich aus, wusste als Erster Bescheid und behielt die Kontrolle. Diesmal dagegen tappte er im Dunkeln. Angesichts einer solchen Katastrophe konnte selbst er nichts tun, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen.

„Ich habe versucht, die Ärzte und die Polizei zu sprechen, aber wer direkt mit dem Fall zu tun hatte, hat inzwischen Feierabend. Natürlich werde ich morgen früh alles von ihnen erfahren, aber im Moment wäre ich dankbar, wenn du mir berichten würdest, was du weißt.“ Er klang höflich. Als würde er mit einer Fremden sprechen.

Christine versetzte es einen Stich. Vermutlich war sie genau das für ihn: eine Fremde, der er einmal kurz begegnet war. „Ja, natürlich Rico.“ Sie räusperte sich und suchte nach den richtigen Worten für den Anfang.

Rico sah sie so fordernd an, dass sie den Blick abwenden musste, um sich zu konzentrieren. Ihr tat der Kopf weh, und sie massierte sich die Schläfen, während sie versuchte, sich zu entspannen, damit ihr einfiel, was sie sagen sollte.

„Ich muss erfahren, was passiert ist, Christine“, drängte er.

„Das ist mir klar, und ich versuche, es dir zu erzählen. Aber könntest du …“

„Ich will es sofort hören!“ Ungeduldig schnippte er mit den Fingern.

Christine fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Sein lauter Ton und die gebieterische Geste ließen sie zurückfahren.

„Es tut mir leid, dass du als Einzige vor Ort warst, Christine. Aber ich konnte wirklich nichts dafür. Ich war bei einer Klausurtagung. Um konzentriert arbeiten zu können, hatten wir uns eingeschlossen und weder Telefon noch Handy im Konferenzraum. Sobald ich von dem Unfall erfahren habe, habe ich mich sofort auf den Weg gemacht, doch ich bin erst am Flughafen aufgehalten worden und dann in einen Stau geraten. Die ganze Zeit über habe ich mir Sorgen gemacht, nach Erklärungen gesucht … Ich brauche Antworten!“ Rico verstummte und blickte Christine zum ersten Mal genauer an: ihre schockierte Miene, die verweinten Augen, ihr blasses Gesicht. „Ich kann mir vorstellen, welch einen schweren Tag du hinter dir hast, und es tut mir leid, dass du allein mit der Tragödie konfrontiert warst. Aber jetzt bin ich ja hier und kann alles in die Hand nehmen.“

„Du?“ Christine lachte verächtlich. Mit einem Mal brach sich der Ärger Bahn, der sich in ihr angestaut hatte, seit die Polizisten sie benachrichtigt hatten. Ob Rico eine Schuld traf oder nicht, war ihr in diesem Moment egal, denn er bot eine Zielscheibe für ihre Wut. Christine blitzte ihn wütend an, ihre Worte überschlugen sich, sie bebte vor Zorn. Wie konnte er es wagen, einfach hereinzuspazieren und Antworten zu fordern? Was fiel ihm ein, weit nach Mitternacht aufzutauchen und zu behaupten, er würde alles in die Hand nehmen? Dabei hatte doch sie sich ganz allein den Fragen der Polizei und der Sozialarbeiter gestellt.

„Ich bin diejenige, die sich um alles gekümmert hat, Rico!“, schrie sie ihn an. „Genau wie damals, als meine Eltern umgekommen sind. Eigentlich müsste ich mich daran gewöhnt haben. Immerhin bin ich kein Neuling, wenn es darum geht, Leichen zu identifizieren und Formulare auszufüllen!“

Rico regte sich nicht. Schweigend hörte er sie an, ohne eine Miene zu verziehen.

Seine Passivität schürte Christines Zorn. „Seit sieben Stunden sitze ich hier und kümmere mich um alles. Deshalb ist es ein Unding, dass du hier hereinplatzt und eine sachliche Darstellung des Hergangs von mir forderst. Und dann wagst du es auch noch, ungeduldig mit den Fingern zu schnippen, weil ich dir zu langsam bin!“ Sie hob trotzig das Kinn und sah Rico direkt in die Augen. „Ich bin weder mit dir verwandt noch deine Angestellte. Du hast kein Recht, irgendetwas von mir zu fordern. Trotzdem werde ich dir erzählen, was ich weiß. Es ist wenig genug. Aber du musst dich hinsetzen und etwas geduldiger mit mir sein.“ Eine Sekunde lang fürchtete sie, er würde sie schlagen. War sie zu weit gegangen?

Rico ballte die Hände zu Fäusten, seine Augen funkelten zornig. Sicher hatten ihn die langen Stunden des Wartens während der Reise genervt. Doch nach einer Weile entspannte er die breiten, muskulösen Schultern und nickte beinahe unmerklich. Dann sah er sich in dem kleinen Raum um, als würde er seine Umgebung zum ersten Mal wahrnehmen. Schließlich setzte er sich auf den mit Kunstleder bezogenen Sessel neben Christine, fuhr sich über das kurz geschnittene Haar und sah sie an.

„Ich bin so schnell wie möglich gekommen“, wiederholte er leise. Es klang beinahe, als wollte er sich entschuldigen.

In diesem Moment erhaschte Christine einen kurzen Blick auf die Trauer und den Schmerz, die Rico Mancini hinter seinem gepflegten Äußeren verbarg, und sie verstand, wie schwer auch ihn der Verlust getroffen hatte.

„Janey und Marco sind mittags essen gegangen“, begann Christine mit leiser Stimme. „Lily mussten sie mitnehmen, weil das Kindermädchen Jessica morgens gekündigt hatte.“ Sie schwieg gedankenvoll.

Rico setzte zum Sprechen an, hielt sich dann aber zurück. Christine nickte ihm dankbar zu. Wenn er ihr genug Zeit ließ, würde sie ihm nach und nach alles erzählen.

„Ich war gestern Abend noch bei ihnen, Rico“, stieß sie nach einer Weile hervor.

„Du hast Marco und Janey besucht?“ Erstaunt blickte er sie an. Viele Fragen lagen ihm auf der Zunge, doch es gelang ihm, sich zurückzunehmen und es Christine zu überlassen, wann und wie sie mit ihrem Bericht fortfahren wollte.

„Ich hatte gestern Elternabend in der Schule und kam erst nach neun Uhr dort weg. Weil ich nicht sofort nach Hause wollte, bin ich stattdessen zu ihnen gefahren. Ich weiß nicht, warum.“ Sie ballte die Hände im Schoß, weil sie den Schmerz sonst nicht ertragen hätte. Rico nahm ihre Hand und hielt sie fest in seiner. Nun erst gelang es Christine fortzufahren. „Ich konnte nicht länger untätig zusehen“, flüsterte sie. „Was Janey und Marco taten, ging mich nichts an. Aber um Lilys willen wollte ich endlich eingreifen.“

Rico nickte verständnisvoll.

„Natürlich waren sie nicht zu Hause, also beschloss ich, auf sie zu warten und mit Jessica zu sprechen. Ich wollte wissen, ob es so schlimm stand, wie ich befürchtete. Jessica hat mir nur allzu gern ihr Herz ausgeschüttet. Sie hatte den Lebensstil von Marco und Janey gründlich satt, die wilden Partys, das Chaos, die Unruhe. Dass sie ständig ‚vergessen‘ haben, Jessica zu bezahlen, kam noch dazu. Gestern Abend hätte sie freigehabt, aber nicht zum ersten Mal sind Janey und Marco einfach ausgegangen. Und das, ohne ihr vorher Bescheid zu sagen.“

Christine blickte in ihren Schoß, wo ihre Hand in Ricos lag. Er hatte die Finger mit ihren verschränkt. Seine Finger waren lang, gebräunt und kräftig, das Handgelenk zierte eine breite Herrenarmbanduhr. Christines Hand wirkte dagegen schmal und blass. Am Zeigefinger hatte sie einen Tintenfleck, und die Fingernägel sahen weniger gepflegt aus als Ricos.

„Jessica und ich haben auf Marco und Janey gewartet.“ Sie schwieg.

Lange saßen Rico und Christine Hand in Hand, ehe er leise fragte: „Hat es dann Streit gegeben?“

Christine schloss fest die Augen. Es tat so weh, sich an die Szene zu erinnern. „Jessica kündigte an, dass sie am folgenden Tag ihre Stelle aufgeben würde. Sie wollte nur noch abwarten, bis Marco und Janey nüchtern genug waren, um die Verantwortung für Lily zu übernehmen. Vermutlich war Lily deshalb mit im Auto. Ich hätte erwartet, dass sie mit einem Baby im Wagen langsamer und vorsichtiger fahren würden, aber …“

„Dann hatten sie getrunken?“ Es klang eher wie eine Feststellung als eine Frage.

„Ich weiß es nicht. Marco ist gefahren, und der Blutprobe nach hat er unter der erlaubten Promillegrenze gelegen. Doch beim Verlassen des Restaurants soll er getaumelt sein. Der Türsteher des Lokals hat ausgesagt, Marco hätte so unzusammenhängend geredet, als wäre er nicht ganz bei sich. Dabei war es erst vier Uhr nachmittags! Ich glaube, das einzig Vernünftige, was die beiden getan haben, war, Lily sicher in ihrem Babysitz anzuschnallen.“

„Marco saß am Steuer?“

„Ja.“

„Ist außer ihm und Janey noch jemand zu Schaden gekommen?“ Rico sprach gelassener als zuvor und stellte seine Fragen weniger hektisch und nicht mehr so aggressiv.

Nun fiel es Christine sogar leichter zu antworten, als frei zu erzählen. Wider Erwarten empfand sie es als tröstlich, die schrecklichen Ereignisse mit jemandem zu teilen. „Nein, verletzt wurde niemand. Anscheinend ist Marco am Steuer eingeschlafen und auf die Gegenfahrbahn geraten. Zum Glück kam gerade kein Gegenverkehr.“

„Und waren sie gleich …?“ Rico schloss die Augen und ballte wieder die Hände zu Fäusten. Aber diesmal tat er es nicht aus Zorn.

„Nein, Marco und Janey haben nicht leiden müssen.“ In der Hoffnung, Rico könnte den Trost daraus ziehen, der ihr versagt geblieben war, wiederholte Christine die Worte der Krankenschwester.

Doch Rico reagierte ähnlich, wie sie es getan hatte. „Hm. Das haben sie uns überlassen.“

Uns.

Dieses kleine Wort durchdrang den Schleier der Verzweiflung, der Christine umgab, und tröstete sie für einen Moment. Rico drückte ihre Hand, und auch das half etwas.

„Entschuldigen Sie!“ Die Krankenschwester stand an der offenen Tür und lächelte verständnisvoll.

Rico ließ Christines Hand schnell los wie ein heißes Eisen. Christine zuckte zusammen. Uns gibt es nicht und hat es nie gegeben, sagte sie sich insgeheim. Trost war eine Illusion. Sie würde die Katastrophe allein bewältigen müssen.

„Ich habe gleich Pause. Soll ich Sie vorher auf die Kinderstation führen, Miss Masters? Der Weg ist ziemlich kompliziert.“

„Nein, danke, nicht nötig.“ Rico erhob sich. Sobald er die Führung übernahm, war ihm die Verletzlichkeit nicht mehr anzumerken. „Ich habe Lily schon besucht und der Nachtschwester erklärt, dass Miss Masters und ich in einem Hotel in der Nähe übernachten werden. Morgen früh kommen wir wieder.“ Mit einem Nicken entließ er die Krankenschwester.

„Du bist bei Lily gewesen?“, fragte Christine wie benommen.

„Ja, natürlich.“

Natürlich? Christine kamen Zweifel, als sie sah, wie misstrauisch Rico sie beobachtete. „Ich will nicht im Hotel übernachten und Lily allein lassen.“ Sie stand auf. Zum Glück gaben ihre Beine nicht nach, obwohl sie sich immer noch zittrig fühlte. „Wenn sie irgendwann aufwacht und nur fremde Gesichter um sich …“

„Die Schwestern kümmern sich um sie“, fiel Rico ihr ins Wort. „Sollte es Probleme geben, sind wir in wenigen Minuten hier. Deshalb habe ich ein Hotelzimmer genommen. Wir wohnen praktisch nebenan.“

„Trotzdem bleibe ich bei Lily“, beharrte Christine. „Du bist dir natürlich zu schade, um auf einer Liege im Krankenzimmer zu übernachten, aber für mich gilt das nicht.“

„Mir ist wirklich nach einer heißen Dusche und einem kühlen Drink zumute. Danach würde ich gern …“ Doch er teilte ihr nicht mit, was ihm vorschwebte, sondern sah sie nur arrogant an. „Die Krankenschwestern werden gut für Lily sorgen, darauf können wir uns verlassen.“

„Aber sie braucht …“

„Was? Oder wen?“, fragte Rico unwirsch. „Was sie nicht kennt, vermisst sie nicht. Ich bezweifle, dass dieses Baby seine Mutter jemals nach achtzehn Uhr zu Gesicht bekommen hat. Lily ist erst ein halbes Jahr alt und hat schon fünf Kindermädchen gehabt. Sie regt sich sicher nicht mehr auf, wenn sie nachts von einer Unbekannten gefüttert wird. Deine Schwester hat dafür gesorgt, dass Lily sich an Fremde gewöhnt.“

Die Worte deine Schwester klangen sehr verächtlich, aber Christine ließ sich nicht provozieren. „Ich möchte bei Lily sein“, erwiderte sie ruhig. „Geh du ruhig ins Hotel. Ich habe nichts dagegen. Aber ich bleibe hier.“ Sie nahm ihre Handtasche und die Jacke und ging zur Tür.

Rico klatschte laut in die Hände. Christine blieb stehen und drehte sich erstaunt zu ihm um.

„Bravo!“, lobte er sie höhnisch. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich dir die gramgebeugte trauernde Tante beinahe glauben.“

„Ich möchte nur tun, was meiner Ansicht nach für Lily am besten ist.“

„Natürlich! Die Gier nach Besitz ist ja eins der stärksten Handlungsmotive.“

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Sein Sarkasmus verletzte Christine, aber es interessierte sie nicht, warum er sich so verhielt. Sie fühlte sich körperlich und geistig ausgelaugt und erschöpft. Man hatte ihr zwar nur eine Liege neben Lilys Bett angeboten, doch sie würde sich wenigstens ausstrecken und die Augen schließen können. „Wir können uns ja morgen weiterunterhalten.“

„Du redest heute Abend mit mir!“ Obwohl er leise sprach, war die Drohung nicht zu überhören.

Plötzlich bekam Christine eine Gänsehaut. „Ich habe dir alles erzählt, was ich weiß“, widersetzte sie sich hitzig. „Ist es nicht egal, wie es genau passiert ist? Sie sind tot. Immer wieder davon anzufangen ändert nichts daran.“

„Oh doch, das tut es.“ Rico warf ihr einen durchbohrenden Blick zu. „Ihr Tod ändert alles. Warum hast du mir verschwiegen, dass du bereits mit der Sozialarbeiterin geredet hast, Christine? Und warum erwähnst du deine Absicht nicht, Lily mit nach Hause zu nehmen, sobald sie hier entlassen wird? Oder dass du die Vormundschaft übernehmen und das Sorgerecht beantragen willst?“

Christines Gedanken rasten, als ihr aufging, welche Schlechtigkeit Rico ihr zutraute. „Das hast du missverstanden. Es war ganz anders. Das Krankenhaus hat darauf bestanden, den Namen der nächsten Angehörigen zu erfahren. Sie brauchten jemanden, der sein Einverständnis hätte geben können, falls Lily hätte operiert werden müssen.“

„Und du hast dich natürlich gern zur Verfügung gestellt.“

„Ja. Auch wenn es dir nicht passt, habe ich doch dasselbe Recht, mich um Lily zu kümmern, wie du. Ich bin ihre Tante, du bist ihr Onkel. Da ihre Eltern tot sind, gehören wir beide zu ihren nächsten Angehörigen. Es war mein gutes Recht, das Formular zu unterschreiben, und ich lasse mir nicht einfach irgendwelche anderen Motive unterstellen.“ Christine atmete tief durch. „Jetzt geht es Lily gut, aber heute Nachmittag war das noch nicht sicher. Sie hatte Prellungen von dem Unfall, der Arzt meinte, sie könnte innere Verletzungen erlitten haben. Du warst nicht dabei, Rico! Was hätte ich tun sollen? Die Unterschrift verweigern?“

„Okay“, gab er zögernd nach. „Aber außerdem hast du ihnen gesagt, dass du Lily zu dir nehmen und für sie sorgen willst.“

Angesichts seines tiefen Misstrauens verlor Christine die Beherrschung. „Das will ich ja auch!“, rief sie aufgebracht. „Lily ist meine Nichte, und ich möchte für sie sorgen. Zumindest in der ersten Zeit.“

„Die Sozialarbeiterin hat mir aber …“

„Hör auf! Heute Nachmittag ist Janey gestorben. Ich habe noch kaum begriffen, was geschehen ist, geschweige denn Zeit für Zukunftspläne gefunden.“

„Lüg mich nicht an!“, schimpfte er. „Die arme kleine Lily! Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie du die Sozialarbeiterin überzeugt hast. Ein bisschen Druck auf die Tränendrüsen, ein halb unterdrücktes Schluchzen, und schon war sie voller Mitgefühl!“ Verächtlich verzog er die Lippen. „Dabei ist die kleine Lily gar nicht arm, sondern seit heute unglaublich reich. Sicher hast du dir schon gratuliert, weil die Mancinis nicht rechtzeitig im Krankenhaus aufgetaucht sind, um dich daran zu hindern, als zukünftiger Vormund aufzutreten.“

„Das ist nicht wahr!“ Christines Stimme klang schrill vor Empörung. „Was fällt dir ein, mir zu unterstellen, ich würde versuchen, vom Tod meiner Schwester zu profitieren? Als ob ich meine Nichte als Pfand missbrauchen würde! Warum sollte ich …“

„Das kann ich dir verraten!“ Im Gegensatz zu Christine sprach Rico leise und kalt, aber er sah sie dabei drohend an. „Weil du dein Leben hasst, Christine, und weil du alles tun würdest, um es zu ändern.“

„Du bist abscheulich!“ Sie wandte sich zum Gehen, doch Rico hielt sie am Arm fest. „Lass mich los, Rico! Ich will zu meiner Nichte.“

„Nur über meine Leiche.“ Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. „Du kommst mit mir ins Hotel, Christine! Wir werden uns noch heute unterhalten!“

3. KAPITEL

Die Fahrt zum Hotel war ziemlich kurz, und weder Rico noch Christine sprach ein Wort.

Christine hätte gern seine Vorwürfe zurückgewiesen, aber ein Blick auf sein Profil, das angespannte Kinn und die Tatsache, dass er das Lenkrad viel zu fest hielt, verrieten ihr, dass dies der falsche Zeitpunkt war. Auch eignete sich Ricos Sportwagen ebenso wenig wie der Warteraum im Krankenhaus dafür, etwas so Wichtiges wie Lilys Zukunft zu besprechen. Nur deshalb hatte Christine nachgegeben und sich darauf eingelassen, Rico ins Hotel zu begleiten.

Schweigend steuerte er den silberfarbenen Flitzer durch die nächtlichen Straßen. Die Wagenfenster waren heruntergelassen. Dankbar, keine Krankenhausgerüche mehr riechen zu müssen, sog Christine die frische Nachtluft ein. Als sie an einer roten Ampel hielten, fuhr die Straßenbahn an ihnen vorbei. Ein Stück weiter küsste sich ein junges Paar in einem Hauseingang. Vor einem Kiosk lagen die Morgenausgaben der Zeitungen aufgestapelt. Christine konnte es kaum begreifen, dass das Leben weiterging wie immer. Vermutlich brachten die Morgenzeitungen sogar schon einige Zeilen über den tragischen Tod von Janey und Marco und womöglich auch ein Foto von ihnen.

Der Nachtportier begrüßte Rico, als wäre er extra aufgeblieben, um ihn zu empfangen. „Welch unerwartetes Vergnügen, Mr Mancini. Gerade habe ich gesagt, dass wir Sie schon lange nicht mehr …“

Rico ignorierte die herzliche Begrüßung und wandte sich ungeduldig an die Empfangsdame an der Rezeption. „Die Schlüssel bitte, ich möchte mich sofort zurückziehen.“

„Ihr Gepäck wird gerade hinaufgebracht, Mr Mancini, und das Zimmermädchen sieht nach, ob alles für Sie bereit ist. Wenn Sie sich einen Moment gedulden würden …“

„Nein, ich will nicht warten.“ Er hörte sich unglaublich arrogant an. „Miss Masters ist müde, ich bin müde, und ich begebe mich jetzt in mein Zimmer.“ Mit großen Schritten ging er zum Lift.

Obwohl Christine zu erschöpft war, um viel von ihrer Umgebung mitzubekommen, war ihr Ricos Verhalten peinlich. Sobald sich die Lifttür hinter ihnen schloss, sagte sie ihm die Meinung. „Du hältst dich offenbar wirklich für etwas Besseres!“

Er schwieg. Ausnahmsweise schien ihm keine Antwort einzufallen. Der Lift hielt im obersten Stock. Kaum hatten sie die Suite erreicht, entließ Rico mit einer herrischen Geste das Zimmermädchen und den Angestellten, der das Gepäck gebracht hatte.

Christine beobachtete verächtlich, wie Rico eine Flasche aus der Hausbar nahm und sich einen Drink einschenkte. Natürlich fiel es ihm nicht ein, ihr auch etwas anzubieten.

„Du hattest kein Zimmer bestellt. Trotzdem erwartest du, dass alle für dich springen, sobald du sie mit deiner Gegenwart beehrst.“

„Was soll ich deiner Ansicht nach tun, Christine?“ Mit einem Zug leerte er sein Glas. „Erzähl mir, wie ich mich am Empfang hätte verhalten sollen!“

„Du hättest wenigstens höflich bleiben können. Der Portier wollte doch nur freundlich sein.“

„Dafür wird er bezahlt. Es gehört zu seinem Job, zu wissen, wer ich bin. Ich bin Stammgast in diesem Haus. Mein Bruder und ich essen hier zusammen Mittag, wann immer es mein Terminkalender erlaubt. Manchmal bleibe ich auch über Nacht.“

„Mag sein, dass der Portier dafür bezahlt wird, die Gäste zu kennen. Trotzdem kannst du höflich antworten, wenn dich jemand begrüßt!“

„Mein Bruder ist tot!“

„Meine Schwester auch. Aber ich nehme es nicht zum Anlass, andere vor den Kopf zu stoßen.“

„Wenn ich dem Portier nicht ins Wort gefallen wäre, hätte er mich gefragt, wie es Marco geht und wann er ihn wieder als Gast begrüßen darf. Hast du erwartet, dass ich im Foyer stehen bleiben und aller Welt von Marcos Tod erzählen würde?“ Kopfschüttelnd griff Rico zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Kurz darauf flimmerten die Lokalnachrichten über den Bildschirm. Rico beobachtete Christines Mienenspiel, während erst der völlig zerstörte Unfallwagen und dann ein Hochzeitsfoto von Janey und Marco gezeigt wurde.

Der Nachrichtensprecher sprach Dinge aus, auf die Christine noch gar nicht vorbereitet war. Ihr kamen die Tränen, und sie hielt sich unwillkürlich die Ohren zu.

„Ich hatte das Krankenhaus gebeten, die Namen erst nach unserer Abfahrt bekannt zu geben.“

Christine blickte ihn verständnislos an.

„Ein Mancini ist gestorben.“

„Zwei Mancinis“, korrigierte sie sofort. „Meine Schwester zählt dazu.“

„Nein, deine Schwester zählt nicht. Aber du hast recht, genau genommen, sind zwei Mancinis tot. Das ist eine Sensation. Wetten, dass sich der arme Portier, der dir so leidtut, in diesem Moment die Zunge abbeißen könnte, weil er so unsensibel gewesen ist? Oder er ruft die Presse an, um zu erzählen, wo ich abgestiegen bin.“ Rico zuckte die Schultern. „Für welche der beiden Möglichkeiten er sich entscheidet, ist mir allerdings egal.“

„Wie kommst du darauf, dass sich die Presse für dein Hotel interessiert?“

„Stell dich nicht so dumm, Christine. Oder bist du nur eine gute Schauspielerin?“

Seine unfreundlichen Worte konnten sie nicht mehr verletzen. Dafür hatte sie an diesem Tag schon zu viel Schmerzliches erlebt. Müde, wie sie war, wurde sie nicht einmal mehr zornig. „Nein, dumm bin ich nicht, Rico. Ich lese Zeitung und sehe mir die Nachrichten im Fernsehen an. Daher weiß ich, wie groß die Macht der Mancinis ist und dass die Entscheidungen und Abschlüsse eures Konzerns die Börsenkurse beeinflussen.“ Sie sah ihm in die Augen. „Aber Marco hatte mit der Firma nichts zu tun. Er hat nie gearbeitet, und sein Tod macht für das Unternehmen keinen Unterschied.“

„Glaubst du, die Medien interessieren sich für solche Details? Marco ist reich, und er hat eine Tochter …“

„Er war reich.“ Nur für einen Sekundenbruchteil war Christine, als würde sie hinter der arroganten, unergründlichen Miene einen Blick auf den Mann erhaschen, der um seinen Bruder trauerte. „Und er hatte eine Tochter.“

„Genau deshalb habe ich dich hergebracht.“

„Falsch. Nicht du hast mich hergebracht, sondern ich habe mich entschieden mitzukommen. Vielleicht bin ich tatsächlich naiv gewesen. Mir wird erst jetzt klar, dass sich in den nächsten Tagen viele Menschen über Lilys Zukunft den Mund zerreißen werden. Menschen, denen nichts an ihr als Person liegt. Aber mir ist es egal, was die Presse dazu sagt, denn im Endeffekt sind wir es, die die Entscheidungen fällen und mit den Konsequenzen leben müssen.“

„Ich kümmere mich gewöhnlich nicht um die Meinung der Medien“, antwortete Rico. „Aber sie sind nicht die Einzigen …“ Gedankenvoll musterte er Christine. „Meine Stiefmutter wird dir Lily streitig machen.“

Erschrocken sah Christine ihn an, doch sie behielt ihren Protest für sich. Das Thema lag ihr so sehr am Herzen, dass sie ihn nicht unterbrechen wollte.

„Meine Stiefmutter Antonia wird garantiert dafür sorgen, dass Lilys Erbe in der Familie bleibt.“

„Warum?“, fragte Christine erstaunt. „Geld braucht sie ja nicht. Sie hat doch selbst …“

„Nie genug. Antonia wirft das Geld zum Fenster hinaus. Sie freut sich sicher, dass ihr mit Lily unerwartet ein Vermögen in den Schoß fällt.“ Er presste die Lippen zusammen. „Meine Stiefmutter ist kalt und berechnend. Ihretwegen ist Marco vom rechten Weg abgekommen und hat angefangen zu trinken.“

„Das war nur ein Vorwand“, widersprach Christine. „Solche Argumente hat mir Janey auch aufgetischt. Sobald sie in Schwierigkeiten geriet, gab sie meinen Eltern die Schuld. Du stammst aus derselben Familie wie Marco, ihr hattet dieselben Eltern. Aber du arbeitest und kümmerst dich verantwortlich um deine Angelegenheiten. Vielleicht war Marcos Verhältnis zu seiner Stiefmutter ein Nachteil für ihn. Trotzdem hatte er sicher mehr Chancen, mit seinem Leben etwas Sinnvolles anzufangen, als viele andere. Du tust ihm keinen Gefallen, wenn du deiner Stiefmutter die Schuld an seinem Versagen gibst.“

„Mag sein“, räumte Rico ein. „Aber ganz so simpel ist es nicht. Die Menschen sind verschieden. Ich habe zufällig mehr Charakterstärke als Marco und bin nicht so weich wie er.“ Das sagte er nicht arrogant, sondern stellte nur eine Tatsache fest. „Meine Stiefmutter Antonia ist eine abscheuliche Frau. Sie trägt zumindest einen Teil der Schuld dafür, dass Marco jetzt in der Leichenhalle liegt.“ Ricos Stimme bebte leicht, und seine Augen röteten sich. Entschlossen ballte er die Hände zu Fäusten und schüttelte den Kopf. Dann hatte er sich wieder in der Hand. „Ich lasse nicht zu, dass Antonia Lilys Leben ebenso verpfuscht wie das von Marco.“

„Warum hast du dich dann vorhin im Krankenhaus so über mich aufgeregt?“, fragte Christine ruhig. Um keinen Preis wollte sie sich von ihm einschüchtern lassen. „Nach allem, was du gerade gesagt hast, bin ich sicher besser geeignet, Lily großzuziehen. Nein, warte, eins muss ich dir unbedingt noch sagen! Mit deinen Unterstellungen, ich wollte Lily nur, weil sie erben wird, liegst du falsch. Ich habe erst an das Geld gedacht, als du mich heute Abend darauf gebracht hast.“

Rico glaubte ihr nicht. „Vielleicht willst du ja beides.“ Müde zuckte er die Schultern. „Möglicherweise liegt dir an Lily und an dem Geld. Es ist keine Schande, wenn du gern reich wärst.“ Christine wollte widersprechen, doch er redete einfach weiter. „Ich kann Lily nicht Antonia überlassen, Christine.“

„Dann gib sie mir!“

„Das ist nicht so einfach. Antonia wird vor Gericht gehen und alles tun, um zu beweisen, dass du für diese Aufgabe ungeeignet bist. Sie kann sich die besten und gerissensten Anwälte leisten. Du dagegen musst mit dem Gehalt einer Lehrerin auskommen. Gegen Antonia hast du keine Chance.“

Seine Worte klangen so überzeugend, dass Christine fast den Mut verlor. Doch sie wusste, sie hatte keine Wahl. Obwohl sie ihn nur ungern um Unterstützung bat, sprach sie aus, was ihr als Erstes in den Sinn kam. „Du könntest mir helfen.“

„Warum sollte ich? Ich kann ja selbst das Sorgerecht beantragen.“

„Dann tu es doch!“, schlug Christine locker vor, obwohl ihr vor Schreck fast das Herz stehen blieb. Mit Genugtuung bemerkte sie, wie sehr ihre Antwort Rico überraschte. Trotzig hielt sie seinem Blick stand und trat für das ein, was ihr Gefühl ihr gebot. „Aber versuche nicht, mich mit deinem Gerede über Geld und Anwälte abzuschrecken. Notfalls verkaufe ich meine Eigentumswohnung. Wenn das Geld aufgebraucht ist, kann ich immer noch staatliche Unterstützung für den Prozess beantragen. Doch eins sage ich dir, Rico, und ich bin bereit, es auch allen anderen Mancinis zu sagen: Ich habe ein Recht darauf, für Lily zu sorgen. Anders als du habe ich sogar zu ihr gehalten. Obwohl ich Marcos und Janeys Lebensstil verabscheut habe, habe ich sie regelmäßig besucht und war immer für Lily da.“

„Ich hatte zu viel zu tun. Außerdem konnte ich es nicht ertragen, mit anzusehen, wie die beiden …“

„Spar dir die Worte!“, schimpfte Christine. „Du kannst ja dem Gericht erklären, warum du nicht zu Lilys Taufe gekommen bist. Oder wie es kam, dass du deine Nichte am Tag nach ihrer Geburt kurz im Krankenhaus gesehen hast und danach nie wieder.“

„Ich hatte meine Gründe“, schrie Rico.

Christine funkelte ihn zornig an. „Das sind Ausreden, Rico! Wenn du wirklich gewollt hättest, wärst du gekommen. Und nun besitzt du die Frechheit, mir zu erklären, du wolltest das Sorgerecht für ein Baby, das du praktisch nie gesehen hast. Nein, Rico, das lasse ich nicht zu. Das Geld der Mancinis bedeutet mir nichts, und ich pfeife auf eure Macht. Ich werde um Lily kämpfen, das verspreche ich dir. Wenn du ehrlich bist, weißt du auch, dass ich die beste Person für sie bin.“

„Du?“, fragte er verächtlich.

Doch sie ließ sich nicht provozieren. „Ja, ich. Ich werde tun, was nötig ist, damit Lily eine Zukunft hat. Alles, egal was“, bekräftigte sie, damit er merkte, wie ernst sie es meinte. „Ich weiß, dass du nicht viel von mir hältst. Das hast du mir am Abend der Hochzeit von Janey und Marco nur zu deutlich gemacht …“

„Jene Nacht hat mit diesem Gespräch nichts zu tun.“

„Oh doch, das hat sie sehr wohl.“ Christine errötete verlegen, ließ sich jedoch nicht beirren. Dafür lag ihr Lilys Zukunft zu sehr am Herzen. „Immerhin warst du derjenige, der mich wie eine billige Schlampe behandelt hat, Rico.“ Bei den ungeschminkten Worten zuckte er zusammen, doch sie fuhr fort: „Du hast damals die Feier verlassen, ohne dich auch nur von mir zu verabschieden.“ Die Erinnerung an diese Demütigung weckte ihren Zorn. „Ich bin dir noch nachgelaufen und habe an dein Wagenfenster geklopft. Erinnerst du dich? Du hast mich nicht einmal angesehen!“

„Weil ich dein Verhalten abscheulich fand.“

Christine wich vor ihm zurück, als hätte er sie geschlagen. Sie wurde aschfahl, doch sie ließ sich nicht unterkriegen. „Darf ich dich daran erinnern, dass es dafür zwei braucht, Rico?“ Obwohl sie leise sprach, klang sie klar und gelassen. „Solltest du versuchen, meinen Ruf mit dem Bericht über die Vorfälle jener Nacht zu beschmutzen, warne ich dich: Damit schneidest du dich ins eigene Fleisch, denn du hattest sehr viel damit zu tun.“

„Wovon redest du eigentlich?“

„Offenbar gehörst du zu jenen Chauvinisten, die davon ausgehen, dass Männern vieles erlaubt ist, für Frauen jedoch andere Regeln gelten.“ Rico wollte etwas sagen, aber Christine kam ihm zuvor. „Vielleicht hast du tatsächlich Recht, Rico. Mir ist es bis heute nicht gelungen, mich zu rechtfertigen. Ich könnte niemandem erklären, wie es kam, dass ich im Hotelzimmer eines Mannes gelandet bin, den ich kaum kannte. Nicht einmal mir selbst. Okay, ich habe mich also verhalten wie eine billige Hure. Du siehst, damit kannst du mich nicht mehr verletzen oder beschämen, weil ich es schon selbst tue. Mag sein, dass mein Verhalten dich abgestoßen hat, aber ich versichere dir, ich fand es noch unmöglicher als du.“

Nach diesem Ausbruch herrschte Schweigen.

Irgendwann hielt Christine es nicht länger aus. Gab es denn keine Möglichkeit, der unangenehmen Situation zu entkommen? Die Badezimmertür! Erst als sie im Bad allein war, konnte sie wieder frei atmen und sich etwas entspannen.

Selbst ein Jahr nach jenem Abend wusste sie sich nicht zu erklären, was sie damals bewogen hatte, mit einem fremden Mann so intim zu werden. Außer dass Rico ihr nicht fremd, sondern seltsam vertraut vorgekommen war. Christine lehnte sich an den Spiegel und schmiegte ihr glühendes Gesicht an das kühle Glas. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte sie sich daran, wie die Leidenschaft sie erfasst und dazu gebracht hatte, die Zurückhaltung aufzugeben, die ihr zur zweiten Natur geworden war.

Christine zog sich aus und nahm eine Dusche. Dankbar genoss sie das warme Wasser auf der Haut. Es beruhigte und tröstete sie. Am liebsten wäre sie noch länger im Bad geblieben, aber sie musste ja stark sein und Rico die Stirn bieten.

Für Lily.

Nach dem Duschen zog sie einen flauschigen weißen Bademantel an und wusch schnell Strümpfe und Slip im Waschbecken aus. Das Hotel stellte seinen Gästen zwar Bademäntel, aber keinen voll bestückten Kleiderschrank zur Verfügung. Außerdem war es ihr ganz recht, einige Minuten Zeit zu gewinnen, ehe sie mit Rico sprach.

„Was machst du denn da?“

Verstört drehte Christine sich um. „Was fällt dir ein, ohne Anklopfen hereinzukommen?“, fuhr sie ihn unwirsch an. „Ich hätte noch unter der Dusche stehen können.“

Rico ließ sich nicht beirren. „Wir müssen dringend miteinander reden, und du versteckst dich im Bad!“

„Unsinn, ich verstecke mich nicht“, log Christine.

Er schüttelte den Kopf. „Wieso wäschst du deine Sachen wie eine hergelaufene Zigeunerin am Fluss?“ Verächtlich sah er sie an. „Doch, du versteckst dich, Christine …“

„Das geht zu weit, Rico, damit du es weißt! Nur zu deiner Information: Als die Polizei vor meiner Tür aufgetaucht ist, habe ich nicht daran gedacht, eine Tasche mit Sachen zum Übernachten zu packen.“

„Dann gib die Sachen in die Hotelwäscherei.“

„Ich habe auch meinen Stolz.“ Christine straffte sich. „Nicht viel, der größte Teil ist dir bereits zum Opfer gefallen. Aber wenn du glaubst, ich würde meine Unterwäsche waschen und bügeln lassen, hast du dich verrechnet.“ Ganz bewusst kehrte sie ihm den Rücken, spülte die Sachen aus und drapierte sie zum Trocknen über den Wannenrand. Ricos Ungeduld ignorierte sie, ja, sie ließ sich sogar extra viel Zeit und drehte sich auch nicht um, als er das Gespräch von vorher wieder aufnahm.

„Wenn Lily älter wäre, könnten wir sie fragen, was sie will. Bei einem Säugling ist das leider unmöglich.“

Christine nickte stumm.

„Vielleicht sollten wir uns stattdessen fragen, was ihre Eltern wohl für sie gewünscht hätten.“

Das klang so vernünftig, dass Christine sich schließlich doch umwandte, bereit, ihm wenigstens zuzuhören.

„Marco und ich haben uns oft gestritten. In den letzten Jahren habe ich mehr Abstand zu ihm gehalten, weil mir sein Lebensstil nicht gefiel. Trotzdem trafen wir uns regelmäßig, meistens in diesem Hotel. Marco wusste, dass ich für ihn da war, wenn er Probleme hatte, und ich bin sicher, dass er mich respektierte.“ Rico verstummte. Dann schluckte er einige Male, ehe er fortfuhr: „Im Grunde bin ich sicher, dass er mich geliebt hat, Christine. Genauso sicher würde er wollen, dass ich sein Kind großziehe. Und Janey? Was hätte Janey sich für Lily gewünscht?“

„Sie hätte gewollt, dass ich Lily aufnehme.“ Christine verstummte.

Rico spürte ihre Unsicherheit und nahm seinen Vorteil sofort wahr. „Weil Janey dich geliebt hat? Hätte sie dir deshalb ihr Kind anvertraut?“

„Ja, sie hat mich geliebt. Wir waren doch Schwestern.“ Christine befeuchtete sich die trockenen Lippen.

„Nicht alle Geschwister lieben sich.“ Rücksichtslos sprach Rico den Punkt an, der Christine schon lange schmerzte. „Nicht einmal alle Ehegatten lieben sich. Janey hat Marco nicht geliebt, stimmt’s? Tatsache ist, dass Marco für seine junge Braut ein wandelndes Scheckbuch war. Nicht mehr und nicht weniger.“

Christine hielt es nicht mehr aus. „Hör auf, Rico!“ Sie wollte sich die wenigen kostbaren Erinnerungen an ihre Schwester nicht verderben lassen.

„Janey liebte schnelle Autos, ein schönes Zuhause, Hauspersonal, Marcos Lebensstil. Sicher hätte sie sich das auch für ihre Tochter gewünscht.“

„Nein, Janey hätte sich für mich entschieden.“ Christine merkte, wie wenig überzeugt sie klang. „Du siehst das falsch, Rico.“

„Meinst du?“ Er runzelte die Stirn. „Was habe ich denn missverstanden?“

„Alles“, flüsterte Christine. In diesem Moment wusste sie, dass sie ihm nie sagen würde, wie recht er hatte. Es tat zu weh. Denn Janey hatte sie nicht geliebt, sondern gehasst und Marco wegen seines Geldes geheiratet. Sollte die Wahrheit jemals ans Licht kommen, hatte sie, Christine, ihre Chance verspielt, sich gegen die Macht der Familie Mancini durchzusetzen. Dann würde ihr niemand Lily anvertrauen. Bei diesem Gedanken regte sich Christines Widerstand. Plötzlich fühlte sie sich wie eine Löwin, die ihr Junges verteidigt. Sie würde alles tun, um Lily zu behalten. Schweigen wie ein Grab oder lügen, was das Zeug hielt. Janeys unbedachte Worte würden bei ihr sicher sein.

Denn Lily brauchte ihre Tante Christine.

„Janey hat Marco geliebt, Rico.“

„Hat sie dir das gesagt?“

Obwohl ihr noch nie etwas so schwer gefallen war, blickte Christine ihm in die Augen und log ihn an. „Ja, Rico. Sie hat mir selbst gesagt, dass sie Marco liebt. Sein Geld hatte nichts damit zu tun. Im Grunde meines Herzens weiß ich, dass Janey …“

„Spar dir die Worte.“ Plötzlich wirkte er müde und entmutigt. „Es wird Zeit, schlafen zu gehen.“

„Ich dachte, du wolltest mit mir reden.“ Sein Stimmungsumschwung verwirrte Christine. Unsicher folgte sie ihm in das Wohnzimmer der Hotelsuite. Um Lilys willen hatte sie sich für eine Konfrontation gewappnet, und nun schien Rico jeglicher Kampfgeist verlassen zu haben. „Nur deshalb bin ich mit ins Hotel gekommen.“

„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“, antwortete er. „Aber mir ist klar geworden, dass dies der falsche Zeitpunkt für Entscheidungen ist. Wir sind beide zu müde. Es war ein anstrengender Tag voller Emotionen.“

Christine musste beinahe lachen, als er die Situation so distanziert beschrieb. Rico klang, als wüsste er gar nicht, was Emotionen waren.

„Da, nimm das.“ Er reichte ihr ein frisch gestärktes weißes Hemd. „Ich habe immer ein Ersatzhemd dabei. Du kannst es als Nachthemd benutzen.“

„Aber wir …?“ Christine verstummte frustriert. Seine Teilnahmslosigkeit nervte sie. Ihr gefiel es viel besser, wenn Rico zornig und leidenschaftlich wurde. Fast, als hätte sie sich bereits an sein südländisches Temperament gewöhnt.

„Geh schlafen, Christine! Du kannst das große Schlafzimmer haben, ich nehme das kleine.“

Unter anderen Umständen wäre es Christine unangenehm gewesen, mit dem Mann, der ihr das Herz gebrochen hatte, in einer Suite zu übernachten. Doch diese Nacht gehörte dem Andenken an Janey.

Christine ging nach nebenan, zog den Bademantel aus und das Hemd an und blieb dann kurz an der offenen Tür von Ricos Schlafzimmer stehen. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, lag er im Bett und blickte starr an die Decke. Da erst verstand Christine seinen Stimmungsumschwung: Er trauerte um seinen Bruder.

„Gute Nacht, Rico.“

Er antwortete nicht.

Sie schloss leise die Tür und ging in ihr Schlafzimmer. Erschöpft schlüpfte sie ins Bett, doch statt in tiefen, erholsamen Schlaf glitt sie hinüber in die Welt der Erinnerungen an die Zeit, als ihre Eltern noch gelebt hatten. Damals waren sie und Janey zwei ganz normale kleine Mädchen gewesen, eins dunkelhaarig, eins blond. Janey hatte das Geld noch nicht entdeckt, und sie liebte und bewunderte ihre große Schwester Christine.

Danach folgten acht schwere einsame Jahre, in denen Christine das Leben bei den Hörnern packen und mit allem allein fertig werden musste. Unwillkürlich schluchzte sie laut auf. Doch gleich darauf schluckte sie, hielt die Trauer und den Schmerz zurück.

Sie wollte jetzt nicht weinen.

„Christine?“, fragte Rico mitfühlend.

Wie erstarrt lag sie im Dunkeln.

Er kam herein, legte sich neben sie aufs Bett und knipste das Licht an. „Bist du okay, Christine?“

Sie nickte stumm.

„Weinen ist nicht verboten“, sagte er sanft.

Abwehrend schüttelte sie den Kopf. „Weinen macht sie nicht wieder lebendig.“

„Sie?“ Weil Christine schwieg, fragte er nach. „Du meinst nicht nur Janey und Marco, stimmt’s? Was war denn mit deinen Eltern?“

„Sie sind tot.“

„Erzähl mir davon.“

Am liebsten hätte sie sich geweigert, aber dann siegte das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Nicht einmal die Tatsache, dass Rico sie verachtete und ihr später womöglich die Dinge vorwerfen würde, die sie ihm anvertraut hatte, konnte sie bremsen. In diesem Moment reichte es, dass er ein Mensch und bereit war, Anteil zu nehmen, sodass sie mit ihrer abgrundtiefen Trauer nicht allein sein musste.

„Meine Mutter war eine Schönheit.“ Ihre Stimme bebte. Christine räusperte sich, ehe sie weitersprach. „Sie hieß Lily, und mein Vater hätte alles für sie getan.“

„So wie Marco für Janey?“

„In mancher Hinsicht, ja. Obwohl mein Vater vernünftig war, wenn es um uns Kinder ging, hat er meiner Mutter immer nachgegeben. Eines Tages sah Mum im Fernsehen einen Werbespot über Reisen in den Schnee und beschloss spontan, zum Skilaufen zu fahren. Sie hat nicht einen Moment gezögert, obwohl Dad noch nie in den Bergen gewesen, geschweige denn im Schnee Auto gefahren war. Auch die fünfstündige Anreise und die fehlenden Schneeketten störten sie nicht. Sie wollte hin, das reichte.“ Christine schloss die Augen und presste die Lippen fest zusammen.

Rico nahm sanft ihre Hand. Die tröstliche Berührung gab Christine die Kraft weiterzuerzählen. „Sie haben es nicht geschafft. Genau wie heute haben irgendwann zwei Polizisten an der Haustür geklingelt. Sie haben sogar dasselbe gesagt wie die Krankenschwester heute: ‚Zumindest mussten sie nicht leiden‘.“

„Du dafür umso mehr.“ Rico berührte zart ihre Wange, strich sanft eine ihrer dunklen Haarsträhnen nach hinten und umfasste dann ihr Gesicht.

Gern hätte Christine sich an ihn geschmiegt und sich trösten lassen, aber sie lag immer noch wie erstarrt da.

„Wie ging es dann weiter?“, fragte er.

Sie schloss die Augen. „Meine Eltern hinterließen ein finanzielles Chaos. Ich musste zwei Jobs annehmen, um mich und Janey über die Runden zu bringen.“

„Und gleichzeitig hast du am College studiert.“

„Ja. Vielleicht war das ein Fehler. Wenn ich das Studium abgebrochen und mich mehr um Janey gekümmert hätte, wäre wohl alles anders gekommen. Damals hielt ich es für wichtiger, das Examen zu machen und einen qualifizierten Beruf zu ergreifen. Offenbar habe ich mich geirrt.“

„Janey hat sich für ein anderes Leben entschieden“, versuchte Rico sie zu trösten.

Christine ließ das nicht gelten. „Irgendwann musste ich das Haus meiner Eltern verkaufen, weil ich die Tilgungsraten für die Hypothek nicht mehr aufbringen konnte.“ Ihre Lippen bebten. „Mit meiner Hälfte des Erlöses habe ich die Anzahlung für eine Eigentumswohnung geleistet. Natürlich habe ich gehofft, Janey würde es mir nachtun. Aber sie hat ihren Anteil verschwendet, teure Apartments gemietet, sich neu eingekleidet und ist in exklusiven Restaurants essen gegangen. Immer wieder habe ich versucht, sie zur Vernunft zu bringen. Vergeblich.“

Inzwischen war Christine den Tränen nahe. Sie wahrte die Fassung nur, indem sie die Augen fest schloss und die Lippen zusammenpresste. Als sie die Augen schließlich wieder öffnete, saß Rico immer noch neben ihr.

Doch er wirkte nicht mehr kalt oder spöttisch, sondern sah sie mitfühlend an. „Nachdem du so viel verloren hast, brauchst du dich doch deiner Tränen nicht zu schämen, Christine.“

„Es nützt nichts. Das habe ich schon vor acht Jahren herausgefunden. Tränen ändern nichts an der Realität.“

„Da bin ich anderer Meinung“, widersprach er leise. „Manchmal ist es besser, Schmerz zuzulassen, als gar nichts zu fühlen.“

Daraufhin hätte Christine ihren Tränen gern freien Lauf gelassen, doch sie konnte sich nicht entspannen. Stumm lag sie auf dem Rücken und blickte zur Zimmerdecke.

Schließlich sprach Rico aus, was sie beide so sehr beschäftigte. „Er wird mir fehlen.“ Als Christine sich nicht regte, fuhr er fort: „Es tut mir so weh, an Marco zu denken. Ich kann es nicht fassen, dass er nie mehr zurückkommen wird.“

Jetzt drehte sich Christine auf die Seite und schmiegte die Wange in Ricos Hand.

„Marco wurde in diesem Land geboren.“ Rico lächelte versonnen. „Ich habe immer auf ihn aufgepasst und mich um ihn gekümmert. Er sollte nicht dasselbe durchmachen müssen wie ich.“

Fragend blickte Christine ihn an.

„Als ich eingeschult wurde, sprach ich kein Wort Englisch. Ich war der Junge aus Sizilien, dessen Pausenbrot so aufdringlich roch. Knoblauchsalami und Hitze vertragen sich nun mal schlecht. Anfangs hat Marco zu mir aufgeschaut und mich um Rat gefragt, wenn er nicht weiterwusste.“ Er räusperte sich. „Heute wünschte ich, er hätte das auch als Erwachsener getan, statt über die Stränge zu schlagen und dann diesen Unfall zu bauen. Natürlich wusste ich, dass er dumme Dinge angestellt und Fehler gemacht hat. Geliebt habe ich ihn trotzdem. Es gab ja auch schöne Momente mit ihm.“

„Ja, das ging mir mit Janey ähnlich.“ Christine merkte, dass Rico gern widersprochen hätte, aber er hielt sich zurück.

Er saß immer noch auf der Bettkante, nur eine Armlänge von ihr entfernt. Inzwischen empfand Christine seine Nähe nicht mehr als bedrohlich, sondern eher tröstlich. Im Licht der Nachttischlampe sahen seine Schultern noch breiter aus als sonst, sein Körper durchtrainiert und fit. Der dunkle Bartschatten am Kinn und das markante Gesicht ließen ihn besonders männlich wirken. Und doch blickte er Christine mitfühlend und verständnisvoll an. Sein Misstrauen schien ganz verschwunden.

Jetzt fühlte sich Christine bei ihm sicher genug, um sich zu öffnen und etwas von sich preiszugeben. „Vorhin habe ich an die Zeit gedacht, als Janey und ich klein waren. Wir haben viel miteinander gespielt. Wie oft hat sie mich zum Lachen gebracht! Sie war immer zu Streichen aufgelegt. Ich kann es nicht glauben, dass sie nicht mehr da ist.“ Unwillkürlich schluchzte Christine auf.

Rico zog sie an sich, nahm sie in die Arme und hielt sie fest. „Lass los, Christine! Dies ist der falsche Moment für Zurückhaltung.“

In Ricos Armen fühlte sie sich sicher und geborgen, und sie war dankbar, dass er es gewagt hatte, zu ihr zu kommen und ihr zu sagen, wie sehr er seinen Bruder vermisste. Trotzdem kamen die Tränen nicht.

Stattdessen weckte Ricos Zärtlichkeit die Erinnerung an jenen Abend mit ihm, als Christines Gefühle die Oberhand gewonnen hatten. Sie hielt sich an Rico fest, denn sie wollte in dieser Nacht nicht allein sein, und sie ahnte, dass es ihm ebenso erging. Er strich ihr sanft über den Kopf und streichelte tröstlich ihren Nacken.

Doch nach einer Weile veränderten sich seine Bewegungen. Er wechselte das Tempo. Seine Liebkosungen bekamen etwas Drängendes. Der Halt und die Geborgenheit, die Christine eben noch bei ihm gefunden hatte, wichen ganz anderen Gefühlen. Als er sanft ihren Hals und ihre Wangen küsste, fühlte sie sich mit einem Mal wieder lebendig und am ganzen Körper wie elektrisiert. Unwillkürlich öffnete sie die Lippen und hob den Kopf seinem Kuss entgegen. Es war so viel leichter, sich Ricos Zärtlichkeiten hinzugeben, als der grausamen Realität ins Auge zu sehen.

Selbst wenn sie es am nächsten Tag vielleicht bereuen würde, sehnte sich Christine nach Vergessen und Hingabe und den sinnlichen Genüssen, die nur Rico ihr verschaffen konnte. Als er begann, mit der Zunge ihren Mund zu erforschen und gleichzeitig ihre Brüste zu streicheln, wusste sie, dass er sie ebenso sehr begehrte wie sie ihn.

Nun drängte sie sich ihm entgegen, schmiegte sich an ihn und legte ihre langen Beine um seine Hüften. Ungeduldig schob er ihr Hemd hoch. Dann stand er kurz auf und schlüpfte aus den Boxershorts. Als er so nackt vor ihr stand, verschlang Christine ihn beinahe mit ihren Blicken, bis er sich wieder hinlegte und sie an sich zog. Jetzt spürte sie ihn wie nie zuvor, sein Begehren, seine Wärme. Dann streifte er ihr das Hemd über den Kopf, kniete sich zwischen ihre Beine und küsste sie auf den flachen Bauch und die Innenseite ihrer Schenkel, bis sie es vor Ungeduld kaum noch aushielt.

Die Mischung aus Erregung, Angst und Vorfreude stieg Christine zu Kopf wie Champagner. Ihr stockte der Atem, und ihr Puls raste, als Rico beide Hände unter ihren Po schob und sie anhob, sodass er leichter in sie eindringen konnte.

Sein heißer Atem streifte ihre Schulter, während sich Rico in ihr bewegte. Christine legte die Arme um seine Schultern, einmal mehr erstaunt, wie muskulös er war. Jetzt nahm sie nichts mehr wahr außer ihm. Seine Haut, seinen Duft und seinen Geschmack. An ihn geschmiegt, genoss sie das lustvolle Auf und Ab ihrer gemeinsamen Bewegungen und gab sich ganz dem Moment und diesem Mann hin. Unwillkürlich entrang sich ihr ein lustvolles Stöhnen.

Autor

Carol Marinelli
Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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