Julia Extra Band 292

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MILLIONEN FÜR DEINE LIEBE von BIANCHIN, HELEN
Vier Jahre lebte Shannay von Manolo getrennt - und schon sein erster Kuss erweckt in ihr dasselbe heiße Verlangen wie damals. Trotzdem weigert sie sich, die Ehe mit ihrem vermeintlich untreuen Mann wieder aufzunehmen. Doch der Milliardär hat einen Trumpf in der Hand …

HAPPY END AUF CAPRI von POWER, ELIZABETH
Hat Libby ihr Kind an die Schwiegereltern "verkauft"? Ihr Schwager Romano kann es nicht glauben. Kurzerhand entführt er sie nach Capri und merkt schnell: Er hat die bezaubernde junge Witwe, die er so leidenschaftlich begehrt, zu Unrecht verdächtigt. Ob Libby ihm verzeiht?

TAGEBUCH MEINES HERZENS von HANNAY, BARBARA
Simone ist entsetzt: Ausgerechnet ein Journalist hat ihr Tagebuch gefunden. Zum Glück ist Ryan Tanner ein feinfühliger - und äußerst attraktiver Mann. Wie gerne würde sie in seinen Armen liegen und sich ihm ganz anvertrauen. Nur ein Geheimnis darf sie niemals preisgeben …

EIN FÜRSTLICHES ANGEBOT von PARV, VALERIE
Begeistert nimmt Carissa das Jobangebot von Eduard de Marigny an. Ihr großer Jugendschwarm ist jetzt der Regent des Fürstentums Carramer - und der einzige Mann, den sie wirklich liebt. Es gibt nur ein Problem: Carissa erwartet das Kind eines anderen …


  • Erscheinungstag 30.12.2008
  • Bandnummer 292
  • ISBN / Artikelnummer 9783862954933
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elizabeth Power, Barbara Hannay, Valerie Parv, Helen Bianchin

Julia Extra, Band 292

ELIZABETH POWER

Happy End auf Capri

Als Romano in ihr Fotoshooting platzt, ist Libby aufgeregt wie nie. Schon früher hat sie gern mit ihrem Schwager geflirtet. Doch diesmal scheint alles anders. Sie sieht Verachtung in seinem Blick ...

BARBARA HANNAY

Tagebuch meines Herzens

Dass er Simones Tagebuch findet, ist für Ryan ein Wink des Schicksals: Jetzt hat er einen Grund, seine Traumfrau noch einmal wiederzusehen. Dummerweise verläuft das Treffen nicht wie geplant …

VALERIE PARV

Ein fürstliches Angebot

Nachdem sie einem Betrüger zum Opfer fiel, ist Carissa fast mittellos. Nicht ganz uneigennützig bietet Eduard ihr einen Job an. Denn die junge Hotelmanagerin ist nicht nur kompetent, sondern auch sehr sexy …

HELEN BIANCHIN

Millionen für deine Liebe

Jahrelang hat Manolo nach seiner Frau gesucht, die plötzlich spurlos verschwunden war. Nur durch einen Zufall hat er Shannay endlich in Australien gefunden. Doch sie ist nicht mehr alleine …

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Elizabeth Power

Happy End auf Capri

1. KAPITEL

„Okay, Blaze! Das ist es! Wirf deine fantastische Mähne zurück und strahle! Lächle das Kind an. Vergiss nicht, es ist deine Tochter! Höher … noch höher! Perfekt! Einfach wundervoll, Darling! Wun-der-voll!“

Mechanisch folgte sie den Anweisungen, ohne Gefahr zu laufen, auch nur ein Wort ernst zu nehmen. Das überschwängliche Lob des Kameramannes war ebenso künstlich wie ihre Beziehung zu dem brabbelnden Baby auf ihrem Arm. Oder wie der Spitzname, den ihr irgendjemand zu Beginn ihrer Karriere verpasst und der sie die Erfolgsleiter bis zum Supermodel hinaufgepuscht hatte. Entdeckt worden war sie als junges, unbedarftes Ding auf einer kleinen Modenschau, wo sie für einen karitativen Zweck auf dem Laufsteg herumstolzierte.

Doch was interessierte es die Presse oder Öffentlichkeit, dass sie diese Art Zurschaustellung längst satthatte? Oder dass sie unter der Flut der tizianroten Haarfülle, den Designerkleidern und dem raffinierten Make-up immer noch Libby Vincent war? Auch wenn sie gerade auf einer blühenden Sommerwiese stand und für eine Lotion warb, die ihre Haut angeblich so zart und weich wie die eines Babys machte.

Korrekt müsste es sogar Vincenzo heißen, dachte Libby und schnitt innerlich eine Grimasse. Und wer oder was bin ich tatsächlich? Nichts weiter als eine durchschnittliche junge Frau mit einem durchschnittlichen Hintergrund, die weder vor ihren Wurzeln noch vor dem erdrückenden Schuldgefühl davonlaufen kann, sosehr sie es auch versucht …

„Okay! Das war’s! Wunderbar, Darling! Einfach perfekt!“

Mit einem unhörbaren Seufzer ließ sie die Arme sinken und damit auch das Kind. Plötzlich verspürte sie nur noch Erleichterung, weil das Foto-Shooting endlich vorüber war. Keine Sekunde länger hätte sie es aushalten können.

Während Libby durch das hohe Gras schritt, schwang das schneeweiße Batistkleid im Country-Style um ihre schlanken Fesseln. Das kleine Mädchen, das Libby mehr widerwillig in ihren Armen wiegte, strahlte sie zahnlos an und klammerte sich mit seinen winzigen Fingern am Ausschnitt ihres Mieders fest.

Libby sog scharf den Atem ein, als sie sich von einem wilden Verlangen überschwemmt fühlte, dieses kleine Wesen fest an ihre Brust zu drücken und nie wieder loszulassen. Ihre zarten Gesichtszüge gefroren zur Maske, und mit letzter Kraft legte sie den Weg bis zur mobilen Schminkstation zurück, wo das gesamte Team auf sie wartete.

„Hier …“ Die unterdrückten Emotionen ließen ihre Stimme rau und brüchig klingen, als sie das Kind seiner Mutter fast in die Arme warf, woraufhin die Kleine in lautes Protestgeschrei ausbrach und die Ärmchen verlangend nach Libby ausstreckte. Doch die hatte sich bereits abgewandt.

„Ist sie nicht süß?“, fragte Fran, ihre rundliche Maskenbildnerin und selbst Mutter von zwei halbwüchsigen Jungen.

„Wenn du es sagst“, presste Libby hervor und strebte an ihr vorbei, um sich endlich in den großen grünen Wohnwagen flüchten zu können, der im Hintergrund stand.

„Eines darfst du nicht vergessen, Fran …“, hörte sie Steve Cullum spöttisch sagen. Er war einer der Techniker, der, so wie alle Männer am Set, von Libby eine höfliche Abfuhr kassiert hatte, als er sie zum Tanzen ausführen wollte. „In unserer Blaze steckt nicht ein mütterlicher Knochen. Vielleicht nicht einmal ein Herz … zumindest nicht für Männer“, fügte er gehässig hinzu.

Das war es, worüber die Presse ständig spekulierte … ihre Vergangenheit, das Fehlen von Männern in ihrem Leben, manchmal wurde sogar vermutet, sie wäre lesbisch.

„Gibt es vielleicht nur Eis unter dem Feuer?“, hatte einmal ein Klatschblatt getitelt, nachdem sie sich geweigert hatte, dem aufdringlichen Reporter Einsicht in ihr Privatleben zu gewähren oder wenigstens ihre Einstellung zu Ehe, Familie und Kindern preiszugeben.

Warum sollte ich auch?, dachte Libby bitter. Das ist privat und geht die Öffentlichkeit nichts an. Außerdem ist es der Garant dafür, dass niemand meinen wahren Namen erfährt und dadurch womöglich eine Verbindung zu Luca herstellen kann.

Sie spürte einen heftigen Stich im Herzen beim Gedanken an den charmanten Draufgänger, den sie vor Ewigkeiten geheiratet hatte und dessen junges kraftvolles Leben kaum ein Jahr später durch einen tragischen Autounfall beendet wurde. Sie hatte Luca geliebt, aber das war lange her, bevor ihre romantischen und zärtlichen Gefühle durch gewisse Umstände abgetötet wurden, die zu schrecklich waren, um auch nur daran zurückzudenken.

Damals hatte sie tatsächlich geglaubt, dass Glück so eine Art Geburtsrecht sei … sogar für sie.

Damit war es allerdings schlagartig vorbei gewesen, sobald sie sich der Verachtung von Seiten der Vincenzo-Familie ausgesetzt sah. Besonders als sie die Tyrannei von Lucas despotischem Vater und die vernichtende Kritik seines älteren Bruders am eigenen Leib zu spüren bekam …

Wie durch Zauberhand tauchten die dunklen, beunruhigenden Züge von Romano Vincenzo vor ihrem inneren Auge auf, und Libby spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Zwischen ihr und dem verheerend attraktiven und ebenso charismatischen wie unbarmherzigen Mann war es Abneigung auf den ersten Blick gewesen.

Nein, das war viel zu schwach ausgedrückt – es ging um viel mehr. Etwas Unfassbares, Bedrohliches hatte ihr das Atmen zur Qual gemacht und seinen brütenden Blick noch dunkler und gefährlicher wirken lassen. Was es war, vermochte sie nie zu ergründen. Und heute, sechs Jahre später, spielte es keine Rolle mehr.

All das lag in ferner Vergangenheit begraben. Mit den Jahren hatte Libby gelernt, die Maske des Gleichmutes bis zur Perfektion zu beherrschen. Deshalb wirkte ihr Lächeln auch ganz natürlich, als sie erneut von Fran angesprochen wurde.

„Kommst du heute Abend zur Party, Blaze?“

„Versuche, mich daran zu hindern!“, forderte sie mit perlendem Lachen und wusste, dass sie damit eine schauspielerische Glanzleistung ablieferte. Und das würde sie auch weiterhin tun, zumindest bis sie endlich in ihrem Porsche saß und von hier verschwinden konnte. Weg von den quälenden Gedanken, die durch ein simples Shooting für eine alberne Hautcreme unverhofft wachgerufen worden waren.

„Eine ganze Woche war ich eingesperrt und musste jeden Morgen um vier aufstehen, nur um mich hier von Moskitos zerstechen zu lassen! Da habe ich es mir redlich verdient, bis morgen früh Party zu machen!“, rief sie über die Schulter zurück. Na, bravo! Aber was hätte er auch anderes von ihr erwarten können? Etwa, dass sie sich inzwischen geändert hatte?

Romano, der mit verschränkten Armen in der Tür zum Wohnwagen lehnte, zog die Mundwinkel noch ein Stück tiefer.

Da Libby sich erst umdrehte, als sie bereits auf der ersten Stufe stand, wäre sie fast mit dem großen, dunkelhaarigen Mann zusammengestoßen. Er hörte ihr erschrockenes Aufkeuchen, und ihr unverwechselbarer femininer Duft umwehte ihn wie eine warme Sommerbrise.

Buon giorno, Libby.

Romano selbst erkannte seine Stimme kaum wieder und spürte, wie ihn die gewohnte Selbstsicherheit und Beherrschung plötzlich im Stich ließen. Sein Herz schlug bis zum Hals, und das Blut rauschte heiß und drängend durch seine Adern, während er wie hypnotisiert ins totenbleiche Gesicht seiner Schwägerin starrte.

Auf den hohen Wangenknochen blühten plötzlich rote Flecken, und die weichen kirschfarbenen Lippen zitterten.

„Tut mir leid, Blaze …“ Frans Stimme brachte Libby in die Gegenwart zurück. „Ich wollte es dir die ganze Zeit über sagen. Entschuldigen Sie bitte, Mr. Vincenzo …“

Romano Vincenzos lackschwarzes Haar glänzte wie das Gefieder eines Raben, als er mit einem knappen Nicken um Libby herumreichte und die Tür des Wohnwagens von innen zuzog. Damit waren Fran und der Rest der Welt ausgeschlossen.

Er hat sich kein bisschen verändert, registrierte ein winziger, noch funktionierender Teil von Libbys Gehirn. Der typische steinreiche Finanztycoon mit der Aura nahezu unverschämter Selbstsicherheit, körperlicher Fitness und makellosem Stil in Kleidung und Auftreten. Immer noch dominierte er den Raum, sobald er ihn betrat, und immer noch erschienen ihr seine fast greifbare Arroganz und Autorität unerträglich.

„W… was willst du hier?“

Libby hätte sich ohrfeigen können, als ihr bewusst wurde, dass Romanos Gegenwart heute wie damals denselben Effekt auf sie hatte. Zum einen schien sich ihre Zunge unerklärlicherweise zu verknoten, zum anderen reizte dieser Mann sie zum Widerspruch und zur Rebellion. Doch er antwortete ihr nicht, und seine undurchdringliche Miene gab nichts preis.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“, hakte sie alarmiert nach. „Sag schon, was ist passiert!“

„Nichts, was sollte sein?“, fragte er kühl zurück.

„Gott sei Dank …“, hauchte Libby kaum hörbar.

Fasziniert beobachtete Romano, wie sich die Lider über den seegrünen Augen schlossen, bis die dichten dunklen Wimpern zarten Vogelschwingen gleich die alabasterfarbene Haut berührten. Dann hoben sich ihre Lider, und Libby bedachte ihren Schwager mit einem offenen, kritischen Blick, der ihn überraschte.

„Wie lange bist du schon hier?“, fragte sie direkt.

„Lange genug.“

Seine Stimme war noch genauso dunkel und samtig, wie Libby sie in Erinnerung hatte. Und der eindringliche Blick aus seinen nachtschwarzen Augen hatte ihr von der ersten Sekunde an den Eindruck vermittelt, dass Lucas Bruder bis in die Tiefe ihrer Seele schauen konnte … wenn er nur wollte.

„Warum hast du dich dann nicht früher bemerkbar gemacht?“

Er lachte spöttisch auf. „Um dadurch vielleicht den grandiosen Auftritt des bezauberndsten Models unseres Landes in seiner ebenso hingebungsvollen wie rührenden Mutterrolle zu verpassen?“

Libby biss die Zähne zusammen und zuckte scheinbar achtlos mit den Schultern. „In der Tat keine Rolle, die ich mir freiwillig aussuchen würde“, sagte sie leichthin und dachte daran, wie vehement sie sich tatsächlich gegen diesen Auftrag gewehrt hatte. Doch ihr Agent warnte sie, dass es äußerst unklug sei, eine derart Karriere fördernde Imagekampagne abzulehnen, zumal sie ohnehin die Medien immer wieder mit ihrer Zugeknöpftheit, was private Dinge betraf, vor den Kopf stieß.

Schließlich hatte er gewonnen.

„Hast du deshalb das Kind seiner Mutter übergeben, als handele es sich um einen Sack Kartoffeln?“

„Habe ich das?“ Es fiel ihr unglaublich schwer, so zu tun, als verletze Romano sie nicht mit jedem seiner zynischen Worte bis ins Mark. „Und ich dachte, ich sei besonders behutsam gewesen.“

„Genauso behutsam, wie du es warst, als du Giorgio abgegeben hast?“

Giorgi …?“ Der Kosename war ihr wie ein sehnsüchtiger Seufzer entschlüpft, ehe sie es verhindern konnte. Hatte Romano nicht eben noch behauptet, alles sei in Ordnung? Aber etwas musste geschehen sein, weil er sich in all den Jahren noch nicht einmal telefonisch bei ihr gemeldet hatte. „Es geht ihm doch gut?“

Romano zögerte nur eine Sekunde, bevor er nickte, doch Libby erschien es wie eine Ewigkeit. „Das hat dich doch die letzten sechs Jahre nicht interessiert. Wieso jetzt?“

Hätte sie diesem harten Mann etwa gestehen sollen, wie sie um ihren kleinen Sohn getrauert und wie sehr sie sich nach ihm gesehnt hatte? Tag für Tag … Nacht für Nacht? Keine Stunde war vergangen, in der sie ihn nicht in ihrem Herzen getragen und innerlich um ihn geweint hatte.

„Du wärst nicht hier, wenn es nicht etwas mit Giorgio zu tun hätte“, schloss Libby nüchtern und fühlte sich wie eine zitternde Sklavin vor ihrem grausamen Herrn, der nicht nur den Schlüssel zum Glück, sondern zu ihrer gesamten Existenz in der Hand hielt. „Willst du mir nicht endlich verraten, was wirklich los ist?“ Ihre Augen wirkten wie dunkle, unergründliche Seen in dem blassen Gesicht. „Oder verschafft es dir vielleicht eine perverse Genugtuung, mich leiden zu sehen?“

Du und leiden?“ Romano lachte hart auf. „Das ist wohl etwas zu dick aufgetragen, Libby. Noch vor nicht einmal fünf Minuten hattest du nichts anderes im Kopf, als bis morgen früh Party zu machen.“

Libby hatte das Gefühl, als reiße eine viel zu straff gespannte Saite in ihrem Innern, und im nächsten Moment stürzte sie sich zu ihrem eigenen Entsetzen auf den Mann vor sich und umklammerte das Revers seines teuren Maßanzuges.

„Wirst du mir jetzt endlich sagen, was los ist?“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Oder soll ich es aus dir herausschütteln?“

Und dann verließ sie plötzlich alle Kraft angesichts der Erkenntnis, wie sehr er ihr physisch überlegen war und ihr unsinniger Ausbruch ihn amüsieren musste. Doch Romano legte nur ruhig seine gebräunten warmen Hände über ihre verkrampften Fäuste und presste sie gegen seine Brust. In seinen dunklen Augen flackerte ein seltsames Licht, als er seinen Blick auf ihre bebenden Lippen heftete.

„Ganz ruhig“, sagte er heiser.

Insgeheim war er regelrecht geschockt über ihre heftige Reaktion auf seine zugegebenermaßen ebenso unschönen wie unnötigen Sticheleien. Aber er war eben auch kein Heiliger und hatte der Herausforderung einfach nicht widerstehen können. Zumal er genau zu wissen glaubte, was diese kleine Opportunistin zu ihrem unbeherrschten Ausbruch veranlasst hatte. Sie fühlte sich schuldig, und das zu Recht!

Möglicherweise hatte auch sie gelitten. Das wollte er ihr gar nicht absprechen, denn immerhin war sie auch nur ein Mensch … und eine Frau. Die zarten Hände, die er unter seinen fühlte, und der betörend feminine Duft, der seine Sinne umnebelte, ließen daran nicht den geringsten Zweifel.

Nur mit Mühe erinnerte Romano sich selbst daran, dass Libby … oder Blaze, wie sie sich jetzt nannte, nichts weiter als eine hartherzige, berechnende Frau war. Damit konnte er wenigstens umgehen.

„Also gibt es doch noch Feuer unter dem Eis …“, murmelte er ironisch. „Und wir beide wussten schon immer, dass ich es bin, der es zum Brennen bringen kann, nicht wahr, cara?“

„W…was, wovon redest du überhaupt?“, stammelte sie benommen. Er konnte doch unmöglich auch nur ahnen, was allein seine Gegenwart für eine verheerende Wirkung auf ihr Innerstes hatte – damals wie heute! Oder doch …?

Wie grauenvoll, wenn er von ihren verstörenden und sehnsüchtigen Träumen wüsste, in denen er die Hauptrolle gespielt hatte, während sie glücklich mit seinem Bruder verheiratet gewesen war! Aber das hatte doch nur an ihrer Jugend, ihrer Naivität und Unerfahrenheit gelegen. Zumindest hatte sie sich das immer wieder vorgebetet. Denn geliebt hatte sie allein Luca! Und sie tat es immer noch …

Und Giorgio natürlich!

Ihr Blick verdunkelte sich vor Sorge und Trauer. Die Angst, ihre unterdrückten Gefühle nicht mehr länger zurückhalten zu können, machte ihre Knie weich und ließ ihren schlanken Körper erbeben.

„Ich glaube, du setzt dich besser hin“, riet Romano nüchtern.

Erst jetzt spürte Libby, dass er einen Arm stützend um ihre Taille gelegt hatte, und kam seiner Aufforderung hastig nach, indem sie einen Stuhl vom Schminkspiegel zurückzog und kraftlos darauf niedersank.

Romano ließ sie nicht aus den Augen und atmete tief durch. Es würde Libby nicht gefallen, was er ihr zu sagen hatte.

Libby klemmte ihre Hände zwischen die Knie, um sie am Zittern zu hindern, und starrte Romano an, als sei er ihr gerade aus einer Wolke erschienen.

„Würdest du das bitte wiederholen?“, flüsterte sie erstickt, nachdem er seinen Monolog beendet hatte.

Seine harten Züge gaben nichts preis. „Ich denke, du hast sehr gut zugehört, Libby.“

Ja, das hatte sie … erstaunt, verblüfft und ungläubig. Sie konnte es kaum fassen, dass Romano plötzlich leibhaftig vor ihr stand, da konfrontierte er sie bereits mit einer Forderung, die ihr wie ein verrückter Traum erschien, aus dem sie Angst hatte aufzuwachen.

„Du willst, dass ich mit dir nach Italien komme?“, vergewisserte Libby sich vorsichtig.

Um Giorgio zu sehen …

Diese Aussicht war so ungeheuerlich und gleichzeitig so schmerzlich verlockend, dass sie es nicht wagte, sie laut zu wiederholen. Nie hätte sie gedacht, dass ein Mitglied der Vincenzo-Familie ihr so etwas je erlauben, geschweige denn darauf bestehen würde.

Libby zitterte vor Schock so unkontrolliert, dass sie irgendetwas unternehmen musste, um nicht völlig die Fassung zu verlieren. Mühsam erhob sie sich vom Stuhl und ging mit steifen Schritten zur Couch hinüber, auf der sie ihre Privatkleidung abgelegt hatte. Mechanisch und mit bebenden Fingern öffnete sie die Knöpfe des Batistkleides, das sie für den Dreh getragen hatte. Dann streifte sie es von ihren Schultern, sodass es wie ein jungfräulich weißes Blütenblatt zu Boden fiel und sich dort um ihre Füße bauschte.

Romano, der die Witwe seines Bruders nicht eine Sekunde aus den Augen ließ, konnte so viel Kaltschnäuzigkeit kaum fassen. Seelenruhig und mit unnachahmlicher Grazie stieg sie aus dem Stoffbündel, mit nichts anderem an ihrem atemberaubenden Körper als einem geschnürten Spitzenmieder und halterlosen weißen Seidenstrümpfen.

„Wenn es nach mir gegangen wäre, würde ich in diesem Moment ganz sicher nicht hier stehen“, knurrte er grimmig. „Ich tue es nur, weil ein fünfjähriger Junge einfach nicht begreifen kann, warum er keine Mutter hat. Und sich seinen kleinen Kopf darüber zerbricht, ob er vielleicht die Schuld daran trägt, dass sie ihn derart im Stich lassen konnte.“

Libby biss sich verzweifelt auf die Unterlippe, um den Protestschrei zu unterdrücken, der ihrer schmerzenden Kehle entringen wollte.

„Ein Kind, das so verstört darüber ist, dass es sich weigert, in die Schule zu gehen“, fuhr Romano erbarmungslos fort. „Das weder schlafen noch essen, noch mit seinen Freunden spielen will.“

Oder sich mit einem Pony und einem Ausflug ins Disneyland bestechen lassen würde, fügte er in seinem Kopf hinzu. Und der tatsächlich glaubte, sein zio Romano könne alles möglich machen – sogar eine Mutter zurückholen, die ihn nicht haben wollte …

Romano presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Giorgio hatte ihn wieder und immer wieder bedrängt, bis er nicht mehr ein noch aus wusste. Er, der erfolgreiche Geschäftsmann, der einen multinationalen Konzern mit lässiger Hand leitete, kapitulierte vor den flehenden Augen eines Kindes! Eines aufgeweckten, intelligenten Jungen. Lucas Sohn.

Dabei war ihm bis vor Kurzem nicht einmal bewusst gewesen, was für schwerwiegende Probleme seinen kleinen Neffen bewegten.

Mutter hatte recht, dachte Romano grimmig. Sein Vater hätte Libby Vincent – wie sie sich selbst inzwischen nannte – niemals in die Nähe seines einzigen Enkels gelassen. Sogar dann nicht, wenn sie von sich aus versucht hätte, Kontakt zu ihrem Sohn aufzunehmen.

Libby hatte inzwischen das Mieder gelockert, und Romano beobachtete fasziniert, wie sie mit einer graziösen Bewegung ihre schlanken Arme hob und es über den Kopf zog. Das tizianrote Haar fiel wie ein feuriger Fächer über ihren schmalen Rücken herab, und als sie sich etwas zur Seite wandte, um nach ihrer Bluse zu greifen, gewährte sie ihm absolut schamlos einen kurzen Blick auf eine feste, runde Brust.

Romano spürte ein heftiges Ziehen in seinen Lenden und fluchte unhörbar in sich hinein.

Sie war ein Model. Ein Topmodel! Also nicht mehr als ein Körper und ein Gesicht, mit dem sie Ware präsentierte. Sich vor anderen auszuziehen war für Blaze nichts Besonderes. Und trotzdem verursachte ihm der Gedanke an jeden anderen Mann, der sie so gesehen hatte, ein heftiges Brennen im Magen, das er sich nicht erklären konnte.

Und noch schmerzhafter traf ihn die Erkenntnis, dass er ihrer Schönheit immer noch genauso verfallen war wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte … als Frau seines Bruders!

Sie hatte ihn verhext, mit einem einzigen stolzen und gleichzeitig wachsamen Blick aus ihren wundervollen smaragdgrünen Augen. Wachsam, weil sie gleich erkannt hatte, dass er sie durchschaute. Wie sein Vater hatte er in ihr nie etwas anderes gesehen als die berechnende Schlange, der sein jüngerer Bruder verfallen war.

Und trotzdem war es ihm nicht anders ergangen. Er begehrte sie mit aller Macht und beneidete Luca, der die sexuellen Wonnen genießen konnte, die ihm versagt blieben. Wie viele Nächte er wach gelegen und sich vor Begierde und Schuldbewusstsein verzehrt hatte, wusste Romano nicht.

Libby war damals wie ein warmer Frühlingswind in ihr dekadentes, übersättigtes Leben geweht. Ausgestattet mit einer Frische und innerlichen Reife, die ihrem jugendlichen Alter weit voraus war. Aber diese kultivierte Unschuld war nur eine Seite der Medaille gewesen …

Inzwischen trug seine Schwägerin eine lange Bluse aus indischer Baumwolle und musterte ihn aufmerksam unter gerunzelter Stirn, während sie die winzigen Knöpfe auf der Vorderseite schloss. Einen nach dem anderen … sehr bedächtig und mit – für Romanos Empfinden – provozierender Laszivität.

„Mein Sohn macht deinen Eltern also Probleme, und da entscheidet ihr euch ganz plötzlich, mich in den ach so liebevollen Familienkreis zurückzuholen!“ In ihren Worten lag all die Bitterkeit, die sie in den letzten Jahren empfunden hatte, seit die Vincenzos sie als verletzlichen Teenager aus ihrer illustren Runde ausgestoßen hatten.

„Es war nicht meine Mutter, die mich veranlasst hat hierherzukommen“, erwiderte er gepresst. „Und mein Vater ist, wie du wissen müsstest, inzwischen verstorben.“

Ja, sie wusste es. Vor sechs Monaten hatte es in allen Zeitungen gestanden. Das Dahinscheiden eines derart reichen und mächtigen Mannes wie Maurizio Vincenzo konnte natürlich von der Öffentlichkeit nicht unbemerkt bleiben. Es stand auch etwas über Romano in dem Artikel. Jedes Wort hatte sie gierig aufgesogen, obwohl sie wusste, dass sie ebenso gut einen Becher Gift hätte leeren können.

Es ging darum, wie schnell sich das Firmenschiff der Vincenzos, das unter Maurizios Führung in stürmisches Wetter geraten war, sich unter der fähigen Hand des neuen Kapitäns, Romano Vincenzo, wieder ins richtige Fahrwasser hatte dirigieren lassen und inzwischen mehr Fahrt denn je machte.

„Tut mir leid“, murmelte Libby und fühlte sich schuldig, weil sie in Wahrheit kein bisschen Bedauern über den Tod von Romanos Vater empfand. Maurizio Vincenzo war ein selbstherrlicher Tyrann gewesen, den sie von der ersten Sekunde an nicht leiden konnte. „Für dich“, fügte sie hinzu, weil sie eben von Natur aus unheilbar aufrichtig war. „Und für deine Mutter natürlich.“

Sofia Vincenzo hatte ihr ebenso wenig Sympathie entgegengebracht wie ihr despotischer Gatte. Das Einzige, was Libby und ihre scharfzüngige Schwiegermutter tatsächlich gemeinsam hatten, war ihre Liebe zu Luca. Eine Liebe, die auf Sofias Seite nach dem Tod ihres vergötterten und idealisierten Lieblingssohnes in unversöhnlichen Hass gegen seine blutjunge Witwe umgeschlagen war.

Libbys Kondolenzbekundungen überraschten Romano. Wie er sehr gut wusste, hatte sie für seine Eltern ebenso wenig übriggehabt wie die beiden für sie.

„Nun denn …“, sagte Libby und bemühte sich, ihre Stimme so gleichmütig wie möglich klingen zu lassen. „Wenn deine Mutter dagegen ist, dass ich Giorgio wiedersehe, gibt es wohl nicht mehr viel zu sagen, oder? Immerhin ist sie sein Vormund.“

„Nein.“

Das klang so brüsk, dass Libby unwillkürlich zurückzuckte.

„Meine Mutter ist momentan viel zu schwach, um mit einem Energiebündel von fünf Jahren fertig zu werden. Inzwischen bin ich Giorgios offizieller Vormund.“

„Aber ich dachte …“ Ihre Stimme verebbte. Wie war das möglich? Ihr Sohn! Ihr kleines Baby in der Obhut von Romano Vincenzo? Des Mannes, der ihr noch mehr Misstrauen und Ablehnung entgegenbrachte als seine Eltern?

„Was hast du gedacht, Libby? Dass wir uns vielleicht seiner entledigen, wie du es getan hast? Ihn einfach weitergeben, weil er uns zur Last wird?“

So, wie er es nach Lucas Tod von ihr geglaubt hatte? Libby schloss gepeinigt die Augen und schüttelte hilflos den Kopf.

„Wie du siehst, cara, hast du es nur noch mit einem zu tun. Was immer geschieht oder wie du meinen Neffen behandelst, du wirst dich allein vor mir dafür verantworten müssen, verstanden?“

Stumm griff sie nach ihren Jeans und war sich seines brennenden Blickes sehr bewusst, als sie die enge Hose über ihre langen Beine streifte und ihre Hüften unbeabsichtigt wiegte, um den festen Stoff bis zur schmalen Taille hochziehen zu können.

„Was soll ich verstehen?“, fragte sie kühl, während sie den Reißverschluss hochzog und versuchte, den heißen Schauer zu ignorieren, der über ihren Rücken lief. „Dass du mir gnädigerweise gestattest, einen Part im Leben meines Sohnes zu spielen, bis du dich plötzlich dafür entscheidest, mich nicht länger zu brauchen?“

Noch einmal würde sie eine Trennung von ihrem eigenen Fleisch und Blut nicht überleben. Und trotzdem würde sie Romanos Forderung nachkommen. Sie konnte gar nicht anders! Sie musste Giorgio endlich wiedersehen … ihn in ihre Arme schließen. Und sei es nur für eine kurze Zeit.

„Es ist Giorgio, der dich braucht, nicht ich.“

Seine Worte verfehlten nicht die beabsichtigte Wirkung auf Libby. Doch sie ignorierte den heftigen Stich in ihrem Herzen und hob stolz den Kopf. „Ach ja?“, fragte sie gedehnt und wich seinem sengenden Blick nicht aus. „Nun, umso besser.“

Romano lachte anscheinend amüsiert auf, doch Libby stimmte nicht mit ein.

„Warum hasst du mich eigentlich so sehr?“, fragte sie ruhig. „Vielleicht deshalb, weil du mich für Lucas Tod verantwortlich machst?“

Schlagartig verdüsterte sich sein Gesicht, und auf der dunklen Wange zuckte ein Muskel. Offenbar fiel es ihm immer noch schwer, über den Verlust seines sechs Jahre jüngeren Bruders zu reden.

„Das habe ich dir nie vorgeworfen.“

„Bravo!“ Libby applaudierte anerkennend. „Warum eigentlich nicht? Dein Vater hat es getan.“

„Aber ich bin nicht mein Vater!“,kam es hart zurück.„Luca war bekannt für seine riskante Fahrweise, und er hat mit dem Leben dafür bezahlt.“ Ein Schatten flog über sein Gesicht, und Libby wartete darauf, was noch kommen würde. „Außerdem ist Hass ein viel zu starkes Wort für das, was ich dir gegenüber empfinde. Hass ist bekanntermaßen die Kehrseite von Liebe …“

Libby schluckte heftig, und es kostete sie jeden Funken Selbstbeherrschung, nicht die Augen vor Romanos eindringlichem Blick niederzuschlagen.

„Und was immer unter der Oberfläche unserer … Beziehung brodeln mag, mit Liebe hat das ganz sicher nichts zu tun. Darin sind wir uns doch einig?“

Libby zuckte scheinbar achtlos mit den Schultern und räusperte sich. „Wenn ich zustimme, dich nach Italien zu begleiten, was genau erwartest du dann von mir? Und vor allem, wie denkst du, soll ich reagieren, wenn sich die Sachlage ändert? Einfach so verschwinden?“

„Das müsste dir doch nicht allzu schwerfallen“, erwiderte er zynisch. „Darin hast du immerhin ausreichend Übung.“

Libby stockte der Atem. Wie ein Messer schnitten seine grausamen Worte in ihr Herz. „Was weißt du überhaupt von mir?“, fragte sie heiser. „Wie kannst du es wagen zu beurteilen, wie ich mich fühle … oder damals gefühlt habe?“

„Mein Herz blutet für dich“, murmelte er sarkastisch.

„Du hast doch gar keines!“

Laut der spärlichen Nachrichten, die sie über ihn gelesen hatte, gab es keine Frau in Romanos Leben, die man mehr als ein, zwei Monate an seiner Seite gesehen hatte oder noch enger mit ihm in Verbindung hätte bringen können.

„Und das, cara mia, kommt ausgerechnet von dir!“, stellte er mit einem freudlosen Lachen fest. „Was gibt es wohl Herzloseres als eine Mutter, die ihren eigenen Sohn im Stich lässt!“

„Ich habe ihn nicht im Stich gelassen!“, rief Libby gepeinigt aus und wandte sich abrupt um. „Wie auch immer“, fügte sie dann rau hinzu. „Ich bin nicht die erste Frau, die ihr Kind zur Adoption freigegeben hat.“

„Nein, damit hast du wohl recht“, bestätigte er hart. „Aber es muss schon eine ganz spezielle Sorte Frau sein, die bereit ist, ihr Kind zu verkaufen!“

Libby hatte das Gefühl, einen Schlag in den Magen bekommen zu haben. Unter der Grausamkeit seiner Anschuldigung drohte sie zusammenzubrechen, aber die Genugtuung wollte sie Romano nicht geben. Doch er schien zumindest zu ahnen, wie sehr er sie getroffen hatte.

„Laut ausgesprochen hört es sich ziemlich abscheulich an, nicht wahr?“, setzte er noch nach.

Sie brachte kein Wort über die Lippen, sondern konnte ihren Schwager nur stumm anstarren.

Dio lo sa! Bei Gott, du hast es wirklich nicht verdient, Libby, aber ich gebe dir die Gelegenheit, wenigstens etwas von deiner Schuld wiedergutzumachen.“

„Etwas gutmachen …?“, flüsterte sie erstickt. Heiße Tränen der Wut und Hilflosigkeit standen in ihren schönen Augen. „Wie ungeheuer anmaßend von dir! Ich habe mein Kind nicht verkauft!“

„Verschwende nicht dein schauspielerisches Talent an mich, sondern denke lieber darüber nach, wie du es Giorgio eines Tages erklären willst“, riet er unbeeindruckt.

„Du hast doch nicht … Deine Eltern … selbst sie können nicht so grausam sein, ihm so etwas erzählt zu haben!“

„Wage es nicht, meine Familie nach deinen Maßstäben zu bemessen!“, warnte Romano mit eisiger Verachtung.

Aber die traf Libby gar nicht, so sehr fühlte sie sich erleichtert.

„Ich habe den Beweis für deinen perfiden Handel“, behauptete er kalt. „Du bist bezahlt worden …“ Romano machte eine Kunstpause, bevor er eine exorbitant hohe Summe nannte, die sein Vater auf das Bankkonto der ungeliebten Schwiegertochter überwies, nachdem sie ihm ihren acht Wochen alten Sohn überlassen hatte. „Und wenn meine Erkundigungen wahr sind, gibt es keinen Zweifel daran, dass dieses Geld innerhalb weniger Monate abgehoben wurde.“

Immerhin schuldete er es mir!, hätte Libby am liebsten geschrien. Obwohl nichts auf der ganzen Welt den Verlust des eigenen Kindes ausgleichen konnte.

„Ja, ich habe es abgehoben“, gab sie zu und dachte nicht im Traum daran, diesem dickköpfigen Italiener zu erklären, was sie mit dem Geld gemacht hatte. Immerhin war er ein Vincenzo und – mit Ausnahme von Luca – nicht anders als der Rest seiner Familie. „Schließlich musste ich von irgendetwas leben.“

„Sicher!“

Das klang so bitter und voller Verachtung, dass Libby sich innerlich krümmte, als sie seinen Blick auf ein Hochglanzmagazin geheftet sah, das jemand auf dem Schminktisch hatte liegen lassen. Auf dem Titelbild räkelte sich Blaze auf der Motorhaube eines feuerroten Ferraris, mit schwerem Goldschmuck behängt, für den sie bei diesem Foto-Shooting Werbung gemacht hatte.

„Und das offensichtlich nicht schlecht, angesichts des rasanten Porsches, der draußen geparkt ist, und deiner diversen Immobilien … Nicht schlecht für ein Mädchen, das mit keinem eigenen Cent in der Tasche gestartet ist.“

Oh ja, sie war durchaus wohlhabend zu nennen und dankbar für ihren nicht unbeachtlichen Immobilienbesitz. Aber darüber, genauso wie über das Geld auf dem Konto, war sie Romano keinerlei Rechenschaft schuldig.

„Noch irgendein Unrat, mit dem du mich bewerfen willst?“, fragte sie mit hoch erhobenem Kinn.

Romano starrte sie an, als suche er irgendetwas Bestimmtes hinter der gelassenen Fassade, zu der sie wieder zurückgefunden hatte.

„Ich nehme an, dass du verschiedene Verpflichtungen hast, die du aufgeben müsstest, wenn du mich begleitest. Sicher bringt es Probleme und finanzielle Einbußen mit sich, hier so plötzlich zu verschwinden.“

Libby spürte, dass er diesmal jedes seiner Worte genau überlegte, und wartete geduldig.

„Also nenne deinen Preis. Ich denke, wir werden uns einigen können.“

Ihren Preis? Er wollte sie dafür bezahlen, dass sie ihren Sohn wiedersehen konnte?

„Wie kannst du es wagen!“ Mit einer heftigen Bewegung schlug sie Romano die lederne Brieftasche aus der Hand, die er während seines Monologs aus der Innentasche seines Jacketts gezogen hatte. „Raus hier! Verschwinde, bevor ich mich noch völlig vergesse!“

Angesichts seiner gefrorenen Miene hatte ihn ihr Angriff kalt erwischt. Dennoch wich er keinen Millimeter zurück, sondern hob anscheinend gelassen seine Brieftasche vom Boden auf und steckte sie ein. „Verzeih bitte meinen Irrtum“, sagte er kalt. „Wie konnte ich nur übersehen, dass unser Geld inzwischen natürlich längst nicht mehr den Reiz auf dich ausübt wie zu früheren Zeiten …“

„So ist es“, bestätigte Libby ebenso unterkühlt.

Romano betrachtete sie noch einen Augenblick aufmerksam, dann zog er eine Visitenkarte hervor und händigte sie ihr aus. „Ich bin noch einige Tage in London. Wenn sich wider Erwarten ein Funken Verstand oder Mitgefühl hinter deiner hübschen Stirn regen sollte, dann zögere bitte nicht, mich anzurufen. Es könnte dir möglicherweise sogar guttun, wenigstens für eine Weile in die Realität einzutauchen und zu sehen, wie die andere Hälfte der Menschheit lebt.“

Ohne auf ihre Antwort zu warten, stieß Romano die Wohnwagentür auf und füllte für einen Moment den Rahmen mit seinen breiten Schultern aus, bevor er die Stufen hinabstieg und gelassen davonschlenderte.

Während Libby ihm frustriert hinterherschaute, brannten Tränen der Wut in ihren Augen. Realität! Was hatte das mit dem Millionenvermögen und Luxusanwesen der Vincenzos zu tun? Die andere Hälfte der Menschheit! Die, die sich alles erkaufen konnte, wie ihr sein Vater eindrucksvoll bewiesen hatte?

Ohne sich abzuschminken, sammelte Libby ihre Siebensachen zusammen und stürmte aus dem Wohnwagen hinüber zu ihrem Porsche. Während sie in die Stadt zurückfuhr, bezog sich der Himmel, und innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich der strahlende Sommertag in ein düsteres Szenario, das ihrer Gemütsverfassung viel eher entsprach.

Libby versuchte, sich aufs Fahren zu konzentrieren, doch obwohl sie den Scheibenwischer auf doppelte Geschwindigkeit stellen musste, um überhaupt etwas von der regennassen Straße sehen zu können, wollte es ihr nicht gelingen, die bitteren Erinnerungen und Gefühle, die sie erfüllten, beiseitezuschieben.

2. KAPITEL

Libby war noch auf dem College gewesen, als sie Luca Vincenzo kennenlernte.

Ohne Mutter und mit einem Vater, der aus gesundheitlichen Gründen frühpensioniert war, besserte sie an den Wochenenden und während der Ferien ihre schmale Haushaltskasse auf, indem sie als Kellnerin in einem schicken kleinen Bistro in ihrer Heimatstadt arbeitete.

Natürlich war sie sich dessen bewusst, dass ihre ungewöhnliche Schönheit ihr nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch häufig ein besonders großzügiges Trinkgeld von Seiten der männlichen Gäste eintrug. Dennoch brachte sie es fertig, sich ihre Bewunderer mit gleichbleibender Höflichkeit und Zurückhaltung vom Leib zu halten.

Luca war die einzige Ausnahme von der Regel gewesen. Der attraktive junge Italiener mit dem Auftreten eines Draufgängers und Tunichtguts war einen ganzen Monat lang jeden Abend im Bistro zum Dinner erschienen und hatte sich bemüht, Libby mit seinem südländischen Charme einzuwickeln. Doch erst als er mit einem unheilvollen Funkeln in den dunklen Augen drohte, einen Helikopter zu chartern und auf der Spitze des Nelson-Denkmals zu landen, wo er so lange ausharren wolle, bis sie ihn erhöre, gab sie lachend nach und versprach, mit ihm auszugehen.

Nach diesem Date erfuhr sie, wer er tatsächlich war: der jüngste Spross einer sehr wohlhabenden, einflussreichen und – nach seinen eigenen Worten – unglaublich steifen und konservativen Familie.

Während Libby einem Lkw mit Handzeichen erlaubte, vor ihr einzuscheren, dachte sie daran, wie sehr ihr Vater Luca gemocht hatte. Genauso sehr wie Lucas Großvater, Giovanni Vincenzo, für den er bis zu seiner Frühpensionierung als Obergärtner auf dem riesigen Familienanwesen außerhalb der Stadt arbeitete.

Als Giovanni starb, erbte Lucas Vater Maurizio den gesamten Besitz und übernahm den Vorsitz im Familienunternehmen, das er bevorzugt von seiner Heimat Italien aus leitete. Deshalb ließ er das Haus in England zu einem Konferenzzentrum und Country-Club umbauen und verkaufte das restliche Land, mit Ausnahme einiger kleinerer Grundstücke.

Von seinem Vater auf einen verantwortungsvollen Posten innerhalb des Familienbetriebes gehievt, verbrachte Luca jenen Sommer im neuen Konferenzzentrum, um etwas Business-Luft zu schnuppern und sich langsam mit dem Ernst des Lebens vertraut zu machen. Mit seinen einundzwanzig Jahren erschien er der drei Jahre jüngeren Libby ungeheuer erwachsen und erfahren.

Wie ein Mann von Welt, dachte sie mit einem schmerzlichen Lächeln an die Zeit vor sechs Jahren zurück.

Er war weit gereist und aufregend männlich. Aber in erster Linie waren es sein Humor und seine Abenteuerlust gewesen, die sie besonders angezogen hatten und die sich, sehr zum Leidwesen seiner Familie, einfach nicht unterdrücken ließen.

Bis über beide Ohren verliebt, hatte sie nicht eine Sekunde gezögert, als Luca ihr bereits nach wenigen Wochen einen Heiratsantrag machte. Die schlichte Trauung fand im örtlichen Standesamt nur in Anwesenheit ihres Vaters und einer anderen Kellnerin aus dem Bistro statt, die beide als Trauzeugen fungierten.

Damals war es ihr ungeheuer aufregend und romantisch erschienen, erinnerte sich Libby mit einem traurigen Lächeln. Erst als ihr frischgebackener Ehemann sie mit nach Italien in den aufwändig restaurierten Palazzo seiner Familie nahm, um sie als seine Frau vorzustellen, bekam Libby eine Ahnung davon, wie sehr seine Eltern gegen die Heirat ihres jüngsten Sohnes waren.

Die eisige Kälte, die ihr damals entgegenschlug, ließ sie heute noch schaudern.

Ungeachtet ihres Studiums war sie für die Vincenzos nichts weiter als eine erbärmliche kleine Aushilfskellnerin, die ihren Sprössling vorsätzlich in die Ehefalle gelockt hatte. Und das unmissverständliche Statement seiner Mutter, dass sie für Luca eine weitaus bessere und passendere Partie geplant hätte, verwies Libby ein für alle Mal auf ihren Platz, der ganz bestimmt nicht im Schoß der Familie Vincenzo lag!

Libbys Hände krampften sich unwillkürlich noch fester ums Lenkrad, während sie sich an ihre ebenso verzweifelten wie nutzlosen Versuche erinnerte, den Respekt ihrer Schwiegereltern zu gewinnen. Dabei boten ihr die Lebensumstände, auf denen Lucas Vater bestand, dafür ausreichend Gelegenheit. Das junge Paar musste im Palazzo wohnen, weil Maurizio ansonsten damit drohte, seinen Sohn zu enterben und zu verstoßen.

Luca war darüber so wütend gewesen, dass er auf der Stelle gehen wollte. Libby hatte ihn schließlich überreden können nachzugeben, weil sie nicht auch noch an einem Bruch zwischen ihm und seinen Eltern die Schuld tragen wollte.

„Mit der Zeit wird sich alles entspannen, du wirst schon sehen“, behauptete sie damals in sträflicher Naivität.

Der Lkw vor ihr kam abrupt zum Halten und zwang Libby damit zu einer Vollbremsung. Durch die dichten Regenschleier konnte sie mehr ahnen als sehen, dass sie wahrscheinlich vor einer roten Ampel standen.

Um sich besser auf den stockenden Berufsverkehr konzentrieren zu können, zwang Libby ihre Gedanken in die Gegenwart zurück und landete damit unweigerlich bei Romano und seinem heutigen Überfall …

Damals, als Luca sie mit nach Italien genommen hatte, war Romano geschäftlich in Übersee gewesen. Doch nur wenige Tage nach ihrer Ankunft fand auch er sich im Palazzo ein, um die neue Frau seines in Ungnade gefallenen jüngeren Bruders zu inspizieren. Sicher auf Geheiß seines Vaters.

Mit seinen siebenundzwanzig Jahren war Romano längst ein gewiefter Profi im internationalen Familien-Business. Während Luca warmherzig und charmant war, zeichnete sich sein Bruder durch einen scharfen, analytischen Verstand, ungeheuren Ehrgeiz und eine geradezu animalische Attraktivität aus, die nicht allein in seinem Äußeren begründet lag. Weder die scharf geschnittenen, dunklen Gesichtszüge noch der kraftvolle, athletische Körper erklärten die fast magische Anziehung, die er auf Männer und Frauen ausübte … auf Letztere natürlich besonders!

Es war mehr – Präsenz, Persönlichkeit, Charisma, Poesie …

Wie er damals im eleganten Salon des Palazzo an den Marmorkamin gelehnt dastand, hatte er sie von der ersten Sekunde an eingeschüchtert. Lucas Bruder bombardierte sie mit anscheinend harmlosen Fragen, die ihr dennoch wie ein Test erschienen, den sie nie würde bestehen können. Angespannt und hypernervös, hatte sie sich deshalb in eine Selbstsicherheit geflüchtet, die ihr absolut nicht entsprach.

Wann immer sie in den nächsten Tagen aufschaute, begegnete sie seinem eindringlichen Blick, und am Tag seiner geplanten Abreise kam er zu ihr auf die Terrasse hinaus, nachdem er sich bereits von allen anderen verabschiedet hatte. Libby war vor der angespannten Atmosphäre im Haus nach draußen geflüchtet, um ein paar erfrischende Bahnen im Pool zu schwimmen.

„Es war … mehr als interessant, dich kennenzulernen, Libby“, hatte Romano mit seiner dunklen, leicht heiseren Stimme gemurmelt, als sie in ihrem winzigen Bikini vor ihm stand. „Ich weiß, dass es äußerst nachlässig von mir war, aber ich glaube, ich habe es bisher tatsächlich versäumt, die neue Frau meines Bruders zu küssen.“

Libby war zur Salzsäule erstarrt, als er seine schlanken gebräunten Hände auf ihre bloßen Schultern legte, und ihr Herz überschlug sich fast, während er ihr einen brüderlichen Kuss auf die brennende Wange gab.

„Du behauptest also, Luca zu lieben … doch ich denke, wir beide wissen es besser, nicht wahr, cara …?“ Sein warmer Atem hatte ihre Schläfe gestreift, und sein herber, maskuliner Duft brannte sich für immer in ihr Gedächtnis ein, genauso wie die raue selbstsichere Stimme.

Er war längst gegangen, als sie am ganzen Körper bebend immer noch auf der gleichen Stelle stand und ihm hinterherstarrte. Ob er wusste, wie sehr sie seine kleine, fast nachlässige Geste aus der Ruhe gebracht hatte? Ganz bestimmt sogar!, beantwortete sie sich die Frage gleich selbst. Wahrscheinlich hielt er sich für unwiderstehlich und glaubte ohnehin nur das Schlechteste von ihr, genauso wie seine Eltern!

Aber jetzt war Romano wieder weg, und sie konnte ihn getrost vergessen!

Doch schnell erkannte Libby, dass dies nicht so leicht war, wie sie gedacht hatte. Der kleine Zwischenfall auf der Terrasse störte nachhaltig ihren Seelenfrieden und machte ihr eines mit schockierender Selbsterkenntnis klar: Es war durchaus möglich, den einen Mann zärtlich zu lieben und sich gleichzeitig nach einem anderen zu verzehren, selbst wenn man ihn nicht ausstehen konnte.

Lautes Hupen hinter ihr erinnerte Libby daran, dass die Ampel längst auf Grün gesprungen war, und mit aufheulendem Motor überquerte sie die Kreuzung. Himmel noch mal! Allein die Erinnerung an jenen Tag ließ sie offenbar ins Träumen geraten!

Dabei hatte sie Romano gehasst. Mit aller Kraft! Die Gefühle, die Lucas Bruder in ihr wachriefen, waren einfach irrational, geboren aus einer Art morbider Faszination. Sie hatten nichts mit den zärtlichen Emotionen zu tun, die sie mit Luca teilte.

Libby erinnerte sich noch gut daran, wie erleichtert sie sich fühlte, als sie bereits kurz nach der Hochzeit feststellte, dass sie schwanger war. Und wie schnell ihre Begeisterung von der Sorge um ihren Vater gedämpft wurde, der kurz darauf schwer erkrankte. Da er außer ihr niemanden hatte, der sich um ihn kümmern konnte, bestand sie darauf, in regelmäßigen Abständen nach England zu fliegen, um sich persönlich ein Bild von seinem Zustand zu machen und an seiner Seite sein zu können.

Das wurde von ihren Schwiegereltern allerdings als ein weiterer Minuspunkt auf ihrer Negativliste verbucht.

Während sie ihren Porsche in die vertraute Straße mit den hohen Bäumen zu beiden Seiten lenkte, senkte sich die Erinnerung an jene Zeit und alles, was folgte, wie eine dunkle, erstickende Decke über ihr Gemüt.

Als sie unerwarteterweise hier in England plötzlich Wehen verspürte und kurz darauf von einem gesunden Jungen entbunden wurde, hätte ihr Glück eigentlich perfekt sein müssen. Doch es kam alles ganz anders …

Luca verunglückte auf der Fahrt zum Flughafen. Weil er so schnell wie möglich zu ihr kommen wollte, hieß es damals. So zögerten seine Eltern, die sie ohnehin zutiefst verachteten, nicht, ihr die Schuld am Tod ihres geliebten Sohnes zu geben.

Doch die eigentliche Bombe ließen sie erst platzen, als Libby Wochen später noch einmal nach Italien zurückkehrte, um einige von ihren und Lucas Sachen abzuholen.

Sie wollten Giorgio adoptieren. Ihn als ihr eigenes Kind aufziehen. Konnte sie denn nicht begreifen, dass dem Jungen durch Lucas Familie viel mehr Privilegien und Zukunftsaussichten geboten wurden, als wenn er ein ärmliches Dasein bei seiner alleinerziehenden Mutter und einem todkranken Großvater fristen musste? Sollten sie etwa mit ansehen, wie ihrem einzigen Enkel all das vorenthalten wurde, was sie ihm bieten konnten? War Libby tatsächlich so selbstsüchtig?

Natürlich hatte sie den Vorschlag von Lucas Eltern empört abgelehnt und sich geweigert, eine so ungeheuerliche Idee auch nur zu diskutieren. Sie wollte ihr Baby bei sich haben und für ihren kranken Vater sorgen. Sicher würden sie auch harte Zeiten erleben, aber die Liebe zu ihrem kleinen Sohn wog alles wieder auf, dessen war Libby sich ganz sicher gewesen.

Sie würde es schaffen! Anderen alleinstehenden Müttern gelang es doch auch, oder etwa nicht?

Doch das Bombardement ging weiter und mündete immer wieder im gleichen Vorwurf. Wie konnte sie so selbstsüchtig sein und nur an ihr eigenes Glück denken? Sogar ihr Vater gab vorsichtig zu bedenken, dass ihre Schwiegereltern doch eigentlich nur das Wohl des kleinen Giorgio im Auge hätten, und bat seine Tochter, sorgfältig darüber nachzudenken. Sie war so jung. Das ganze Leben lag noch vor ihr …

Verwirrt und verzweifelt hatte sie sich an ihr Kind geklammert. Sie wollte ihren kleinen Sohn nicht aufgeben! Obwohl der ausgeübte Druck auf sie nahezu unerträglich war, weigerte Libby sich standhaft, ihm nachzugeben. Bis Maurizio Vincenzo mit seinem grausamen Ultimatum herausrückte …

Fast blind vor Tränen lenkte Libby den Wagen in die für sie reservierte Parklücke vor dem prächtigen georgianischen Apartmenthaus. Sie stieg aus, schloss den Porsche ab und taumelte ungeachtet des strömenden Regens die Stufen zum Eingang hinauf, während sie versuchte, ihre Erinnerung vor der bitteren Wahl zu verschließen, zu der Lucas Vater sie gezwungen hatte.

Während sie im Lift zur ersten Etage hinaufglitt, in der ihr luxuriöses Apartment lag, ging ihr nur noch eines durch den Kopf: Wie unglaublich verletzlich und verzweifelt sie damals gewesen war, als sie sich hatte überreden lassen, das Dokument zu unterschreiben, mit dem sie ihren kleinen Sohn Lucas Familie überließ. Und wie jung, naiv und unbedarft zu glauben, sie könne ihr Baby eines Tages wieder zurückbekommen.

Ein aufdringliches Läuten an der Haustür ließ Libby genervt aufstöhnen.

Nach ihrem Entschluss, an diesem schrecklichen Abend auf keinen Fall noch auszugehen, hatte sie sich ein heißes Entspannungsbad gegönnt und sich etwas Bequemes angezogen. Auf späten Besuch war sie überhaupt nicht eingerichtet.

„Überraschung!“ Fran und ein gutes Dutzend weiterer Kollegen drängten sich vor ihrer Apartmenttür und schwangen Champagnerflaschen über ihren Köpfen.

„Da du dich offensichtlich entschieden hast, nicht auf der Party zu erscheinen, dachten wir … bringen wir die Party einfach zu dir!“, erklärte eine junge Frau, die Libby völlig unbekannt war, mit erhobener Stimme und erntete dafür Gelächter und Applaus von den anderen.

„Ich kann nicht, tut mir wirklich leid“, protestierte Libby über das Knallen der Champagnerkorken hinweg, doch ihre ungebetenen Gäste strebten einfach an ihr vorbei. Während einige Gläser aus ihrem Wohnzimmerschrank nahmen, stellte irgendjemand den CD-Player an, und übergangslos wiegte sich die Partymeute hingebungsvoll zu schwülen karibischen Klängen, die aus dem Lautsprecher schallten.

Libby hätte am liebsten ihren Frust laut herausgeschrien und die ganze Bagage rausgeworfen. Nach Romanos unerwartetem Besuch hatte sie die geplante Party völlig vergessen. Sie hatte wichtige Entscheidungen zu treffen, über die sie in Ruhe nachdenken wollte.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Fran mit einem forschenden Blick in Libbys blasses, angestrengtes Gesicht.

„Nein!“, gab sie unumwunden zurück. „Ich will einfach nur allein sein!“

„Aber das bist du doch ständig“, hielt Fran ihr vor. „Wir wollten nur, dass du dich nicht schon wieder von einer Party ausschließt und … Hey, alles okay?“ Besorgt musterte die Maskenbildnerin Libbys angespanntes Gesicht und gab sich dann einen Ruck. „Alle mal herhören!“, rief sie über den Lärm hinweg. „Rückzug ist angesagt! Wir gehen! Blaze kann das momentan nicht ertragen!“

Während sich unwilliges Gemurmel um sie herum erhob, wandte Fran sich noch einmal an Libby. „Tut mir echt leid, ich meinte es nur gut … Hoppla, was ist das denn?“, fragte sie neugierig amüsiert, als ihr Blick auf ein weißes Album fiel, das aufgeschlagen auf einem Seitentisch lag.

Libby wollte es schnell schließen und an sich nehmen, aber es war zu spät. Fran hielt es bereits in der Hand und begutachtete die beiden Seiten mit den Babyfotos, der Rest des Fotoalbums war leer.

„Blaze … Bilde ich mir das nur ein, oder …?“ Kritisch verglich sie die kindlichen Züge mit den fein gezeichneten des totenblassen Models vor ihr. „Es ist dein Baby, nicht wahr?“, flüsterte sie dann benommen.

Libby nahm ihr das Album aus der Hand und klappte es mit einem Knall zu. „Das liegt alles in ferner Vergangenheit“, behauptete sie. Aber so war es nicht. Giorgio war ein Teil von ihr und würde es immer bleiben.

Und jetzt wünschte sie nur, die ganze Bande würde endlich verschwinden, damit sie Giorgios Onkel anrufen konnte, um ihm mitzuteilen, dass sie bereit war, mit ihm nach Italien zu kommen.

Libby zwang sich zu einem Lächeln und legte eine Hand auf Frans Arm. „Versprich mir, dass du kein Wort darüber verlierst.“

„Natürlich nicht“, brummte die Maskenbildnerin fast ärgerlich. „Sag mir nur eines. Gibt es irgendeine Verbindung zu diesem umwerfend attraktiven Kerl, der heute da war? Hattet ihr vielleicht eine Affäre?“

„Nein!“, wehrte Libby so vehement ab, dass Fran skeptisch eine Braue hob. Im gleichen Augenblick hämmerte jemand kräftig an die Apartmenttür.

Jetzt hob Fran auch die andere Braue an. „Deine Nachbarn?“

„Ach du lieber Himmel!“, stieß Libby entnervt hervor. Wenn das stimmte, hatten sie auf jeden Fall allen Grund, sich über den ungewohnten Lärm zu beklagen. „Hilf mir, mit dem Chaos fertig zu werden, Fran!“

„Aber sicher“, erklärte die dralle Brünette energisch. „Schließlich bin ich die Hauptschuldige daran.“

Auf dem Weg zur Tür wurde Libby von Steve Cullum, dem blonden Techniker, abgefangen, der offenbar schon einiges getrunken hatte, bevor er hier aufgetaucht war. „Na, meine spröde Schöne? Wie wär’s mit einem Tänzchen?“

Trotz der launigen Worte war seine Haltung so fordernd und aggressiv, dass Libby es für besser hielt, ihn nicht noch weiter zu reizen.

„Okay, aber lass mich erst nachsehen, wer an der Tür ist.“ Damit versuchte sie, ihn ins Wohnzimmer zu dirigieren, wo die Musik immer noch in voller Lautstärke dröhnte. „Kann mal jemand den CD-Player leiser stellen?“, rief sie mit erhobener Stimme in den Raum.

„Musik leiser!“, grölte Steve zu ihrer Unterstützung. „Blaze will tanzen! Mit mir!“

Damit zog er sie in seine Arme und in den Flur zurück, wo er ihren schlanken Körper so fest an sich presste, dass ihr von seiner Alkoholfahne und dem billigen Aftershave regelrecht übel wurde. Mit einem rauen Auflachen vollführte er eine wilde Pirouette, die Libby ganz schwindelig machte und sie beide gegen die Garderobe taumeln ließ.

Geschockt versuchte Libby, sich aus seiner Umklammerung zu befreien, doch Steve, der ihre ständigen Zurückweisungen schlichtweg satthatte, zerrte grob am Ausschnitt ihres weichen Wollpullovers, und plötzlich spürte sie seine feuchten Lippen auf ihrer nackten Schulter.

Noch ehe Libby ihrem aufdringlichen Verehrer einen Kinnhaken verpassen konnte, wurde es schlagartig totenstill um sie herum. Aller Augen richteten sich auf den stummen CD-Player und den Mann mit dem dunklen Regenmantel, der hoch aufgerichtet danebenstand und die Szenerie mit zynischer Genugtuung in sich aufnahm.

Romano Vincenzo! Wie war er nur hereingekommen?

Was für eine Frage! Fast hätte Libby hysterisch aufgelacht. Hatte sie nicht selbst Fran gebeten, Ordnung in dieses Chaos zu bringen? Allerdings nicht so …

„Ich denke, du solltest deine Freunde jetzt bitten zu gehen“, riet er seiner Schwägerin mit seidenweicher Stimme. Doch das kalte Glitzern in den nachtschwarzen Augen und die herabgezogenen Mundwinkel verrieten ihr, wie es wirklich in ihrem Schwager aussah.

Libby seufzte unterdrückt. Schlimmer hätte es nicht kommen können!

Während ihre ungebetenen Partygäste sich auf leisen Sohlen zurückzogen, musste Steve von der energischen Fran noch mit wenigen harschen Worten überredet werden, den vermeintlichen Nebenbuhler nicht aus dem Hemd zu heben, wie der angetrunkene Techniker es vollmundig angekündigt hatte.

„Na, leugnest du jetzt immer noch …?“, murmelte Fran kaum hörbar, als sie mit dem verhinderten Don Juan an Libby vorbeiging.

Tödlich verlegen und gleichzeitig schäumend vor Wut und Frust, schloss Libby die Tür und wandte sich mit blitzenden Augen Lucas Bruder zu.

Romano Vincenzo … ihr Liebhaber?

Benommen hatte er sich auf jeden Fall, als hätte er das Recht, ihre Gäste aus ihrer Wohnung zu weisen! Auch wenn sie versucht hatte, das Gleiche zu tun, stand es diesem arroganten Kerl absolut nicht zu! Und genau das würde sie ihm auch unmissverständlich klarmachen.

„Was fällt dir ein, hier einfach hereinzuplatzen und meine Gäste herumzukommandieren?“

„Tut mir leid, wenn ich deine vergnügliche Party gesprengt habe, aber irgendwie habe ich gehofft, selbst du hättest so viel … soll ich lieber mütterliche Zuneigung oder Feingefühl sagen, um auf derartige Vergnügungen zu verzichten, wenn du weißt, dass dein Kind dich dringend an seiner Seite braucht. Doch offenbar bedeuten dir deine Freunde mehr als dein eigener Sohn.“

„Das sind nicht meine Freunde!“

„Nein …?“ Seine spöttische Miene sprach Bände, und Libby spürte heiße Röte in ihre Wangen steigen.

„Nun, ein oder zwei schon“, gab sie zu.

„Ganz offensichtlich.“

Die Röte vertiefte sich noch. „Steve Cullum war betrunken“, presste sie mühsam hervor. „Und eingeladen war nicht einer von ihnen.“

„Darauf wäre ich beim besten Willen nicht gekommen, so animiert, wie du getanzt und mitgefeiert hast.“

Libby presste die Lippen zusammen. Wenn Romano womöglich noch Steves begeisterte Ankündigung ihrer Tanzeinlage mitgehört hatte, war es am klügsten, kein weiteres Wort zu ihrer Verteidigung vorzubringen. Er würde ihr ohnehin nicht glauben.

„Ich wollte dich anrufen“, informierte sie ihn dann mit fester Stimme.

„Wann? Heute Abend noch? Oder gleich morgen, nachdem du deinen Kater ausgeschlafen hättest?“

Er stand vor ihr wie ein dunkler Racheengel.

Libby öffnete den Mund, um ihm zu versichern, dass sie nicht einen Schluck Alkohol getrunken hatte, doch Romano ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Du vergisst, dass ich dich genau kenne, cara. Sogar besser, als Luca es getan hat.“

„Das denkst du vielleicht, aber so ist es nicht.“ Natürlich wusste Libby genau, worauf er anspielte. Sie war im fünften Monat schwanger gewesen, als sie sich zufällig in London begegneten, wo sie angeblich ihren kranken Vater pflegte, von Romano aber stattdessen zusammen mit Freunden im Country-Club seines Vaters gesehen wurde. Damals hatte er ihre Erklärung schon nicht hören wollen, wieso sollte es dann heute anders sein?

„Was willst du überhaupt hier?“, fragte sie kühl und begann, die Spuren der unfreiwilligen Party zu tilgen. Sie zupfte die Kissen auf der Couch zurecht und sammelte die Gläser auf einem Tablett zusammen, das sie in die Küche hinübertrug.

Romano folgte ihr langsam.

Er war hergekommen, um sich bei seiner Schwägerin für den rüden Ton zu entschuldigen, den er ihr gegenüber angeschlagen hatte. Aber jetzt …

„Wir haben uns heute nicht gerade im besten Einvernehmen getrennt, und deshalb wollte ich mich für meinen Ton dir gegenüber entschuldigen. Doch inzwischen habe ich das Gefühl, ich sollte dich eher um Verzeihung bitten, weil ich durch mein unangemeldetes Hereinplatzen deine vergnügliche Party ruiniert habe“, schloss er zynisch.

Allein dass er überhaupt vorgab, sich für irgendetwas entschuldigen zu wollen, erschien Libby absolut unglaubhaft. Der große, unfehlbare Romano Vincenzo zerknirscht zu ihren Füßen? Einfach lächerlich!

Mit einem Lappen in der Hand wollte sie ins Wohnzimmer zurückgehen, um den Tisch abzuwischen, doch Romano war in der Tür stehen geblieben und versperrte ihr den Weg.

„Machst du mir bitte Platz?“, fragte sie mit gepresster Stimme. In seinen Augen glomm ein seltsames Licht, das ihren Pulsschlag beschleunigte.

„Natürlich …“

Lässig trat er zur Seite, aber nicht weit genug, sodass ihr der vertraute Duft seines herben Rasierwassers in die Nase stieg und ihre Sinne zu benebeln drohte. Libby sog scharf den Atem ein und achtete darauf, ihn auf keinen Fall zu streifen, da hob Romano plötzlich einen Arm und stemmte ihn gegen den Türpfosten.

„Lass mich gehen!“, forderte sie heiser.

„Ich halte dich doch gar nicht fest“, murmelte er spöttisch und stützte den zweiten Arm auf ihrer anderen Seite gegen den Rahmen. Damit saß Libby in der Falle.

Ihre Brüste hoben und senkten sich heftig, während sie um Atem rang. „Was versprichst du dir davon?“, fragte sie gepresst. „Damit erreichst du gar nichts.“

„Oh, da bin ich aber ganz anderer Meinung, cara …“, raunte er ihr ins Ohr. „Und, ehrlich gesagt, verspreche ich mir eine ganze Menge von dir und deinem wundervollen Körper …“

Ihren halbherzigen Protest erstickte er mit einem hungrigen Kuss, der Libby gegen ihren Willen ein lustvolles Aufkeuchen entlockte. Nicht einmal die wildesten ihrer verbotenen Träume hatten sie auf eine derartige Explosion der Gefühle vorbereitet. Romanos Arme lagen wie Eisenbänder um ihren bebenden Körper und erweckten ihn auf schockierende Weise zum Leben.

Libby hatte gar nicht gewusst, dass sie zu so einem heftigen Begehren, oder besser gesagt, zu einer derartigen Begierde fähig war.

Ins schwache Schuldbewusstsein, das in ihr aufflackerte, mischte sich die triumphierende Erkenntnis, dass es Romano nicht anders erging. Und den Grad seiner Erregung konnte sie leicht feststellen, als er die Arme senkte, seine Hände fest auf ihren runden Po legte und Libby mit einem unartikulierten Laut hart gegen seinen Unterleib presste.

Gepeinigt schloss sie die Augen.

Sie hasste diesen Mann … und verzehrte sich gleichzeitig nach ihm …!

Ihr unbewusstes Entgegenkommen fachte Romanos brennendes Verlangen noch mehr an, bis er Angst hatte, den Verstand zu verlieren, wenn er sich nicht endlich nahm, was dieser atemberaubende Frauenkörper an sexueller Erfüllung versprach. Es wäre so leicht, sie hier und jetzt zu lieben.

Er begehrte dieses Zauberwesen seit der Sekunde, in der er es das erste Mal sah – als Frau seines Bruders! Sie hatte seine Träume beherrscht, ihn zu den wildesten Fantasien angeregt, und ihn – weil es keine Erfüllung geben konnte – fast in den Wahnsinn getrieben.

Doch jetzt gab es keinen Grund mehr, sich zurückzuhalten.

Als er sie noch fester an sich presste, stieß Libby einen kleinen Laut aus, der ihn innehalten ließ. Er schaute in ihre smaragdgrünen Augen und erkannte den inneren Kampf zwischen Hingabe und Widerstreben. Und plötzlich sah er Luca vor sich und dachte daran, wie schmählich diese Frau seinen jüngeren Bruder hintergangen hatte.

„Da es offenbar deine feste Absicht war, die heutige Nacht im Bett eines Mannes zu verbringen, wie wäre es mit meinem?“, fragte er heiser und wusste, dass er damit nicht nur ihr wehtat. Doch er konnte sich nicht mehr stoppen. „Ich kann dir all das geben, wonach du dich verzehrst, cara. Und ich garantiere dir sehr viel mehr Vergnügen und Befriedigung als in den Armen dieses betrunkenen Idioten …“

Libby konnte sich nicht rühren, nicht denken, sondern starrte nur wie benommen in das dunkle Gesicht über ihr. Doch dann setzte endlich ihr Verstand wieder ein, und sie machte sich mit einem Ruck frei. „Sollte das etwa ein Antrag sein?“ Ihre Stimme klang brüchig.

Romanos Auflachen ließ jede Wärme vermissen. „Um in der gleichen Falle zu landen wie mein toter Bruder?“

Er spielt also nur mit mir!,dachte Libby bitter. Was hatte sie auch sonst erwartet? Romano wollte sich selbst beweisen, wie leicht er die intrigante Witwe seine Bruders ins Bett bekommen konnte – womit er sein Urteil über sie dann auch endgültig bestätigt gesehen hätte!

„Morgen werden wir fliegen“,informierte Romano sie knapp, nachdem Libby ihn keiner Antwort würdigte.

„Wie bitte?“

„Deiner Behauptung, du wolltest mich heute Abend anrufen, entnehme ich, dass du dich doch noch entschlossen hast, mit mir nach Italien zu kommen … oder habe ich mich getäuscht?“

Libby suchte in seinem Gesicht nach irgendeinem Anzeichen von Milde, Freundlichkeit oder wenigstens einer gewissen Neugier wegen ihrer verspäteten Entscheidung, aber da war nichts.

Sie seufzte. „Ja, ich werde dich begleiten.“

„Gut, schlaf dich gründlich aus. Ich möchte nicht, dass mein Neffe noch irgendwelche Spuren von dem Partygirl an seiner Mutter zu sehen bekommt.“

3. KAPITEL

„Was ist da drin?“, fragte Romano mit einer Grimasse, als er Libbys Gepäck am Flughafen aus dem Kofferraum der Großraumlimousine hievte. „Die gesamte nächste Frühjahrskollektion für die Frau von Welt?“

Typisch für ihn, dachte Libby und zwang sich zu einem süßen Lächeln. „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen!“

Romano warf ihr einen misstrauischen Seitenblick zu, knallte den Kofferraum zu und klopfte zweimal drauf, als Zeichen, dass der Chauffeur losfahren konnte. „Planst du etwa, während deines Aufenthaltes in Italien auch wilde Partys zu veranstalten?“

„Möglicherweise.“ Libby versuchte, mit ihm Schritt zu halten, während er sie durch den überfüllten Terminal dirigierte. Natürlich lag ihr nichts ferner, aber Romanos ständige Anspielungen gingen ihr langsam auf die Nerven. Andererseits wusste sie, dass sie es mit ihrer Patzigkeit etwas zu weit trieb. „Ich war mir einfach nicht sicher, was ich mitnehmen sollte … oder wie lange ich bleiben würde“, lenkte sie deshalb ein. „Außerdem habe ich auch ein paar Dinge für Giorgio eingepackt.“

Was das wohl sein mochte!, überlegte Romano zynisch. Geschenke, die ihn über die verlorenen Jahre ohne seine Mutter hinwegtrösten sollten? Irgendetwas, womit sie sich die Sympathie ihres Sohnes erkaufen wollte?

Die Reise im familieneigenen Privatjet verlief für Libby nicht so entspannend, wie man es angesichts des Komforts an Bord hätte erwarten können. Möglicherweise lag das ja auch an Lucas älterem Bruder, der ihr dumpf brütend im ledernen Luxussitz gegenübersaß und sie nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Deshalb war sie froh, als er nach einer Weile seinen Laptop aufklappte und sich in irgendwelche Arbeiten vertiefte.

Libby seufzte innerlich erleichtert auf, schaute aus dem Seitenfenster in den regenverhangenen Himmel und überließ sich ihren schweren Gedanken, aus denen sie erst wieder aufschreckte, als Romano sie ansprach.

„Möchtest du irgendetwas?“

Sie wandte ihren Blick von ihm zu der hübschen blonden Stewardess, die abwartend neben seinem Sitz stand, und schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein danke.“ In ihrer derzeitigen Verfassung verspürte sie weder Hunger noch Durst.

„Bist du ganz sicher? Es kann eine Weile dauern, bevor du erneut die Chance bekommst, etwas zu dir zu nehmen.“

Lag da etwa ein Anflug von Besorgnis in seiner Stimme? Bestimmt hatte sie sich getäuscht.

„Ganz sicher.“

Wie Giorgio wohl aussehen mochte? Natürlich würde er sich nicht an sie erinnern, aber vielleicht gab es ja ein Band zwischen ihnen, das er spüren konnte. Oder war sie eine völlig Fremde für ihn?

Kalte Furcht beschlich Libby und legte sich wie ein dichter grauer Nebel über ihr Gemüt. In knapp drei Wochen feierte ihr Sohn seinen sechsten Geburtstag. Ob er damit bereits alt genug war, ihr vorzuwerfen, dass sie ihn verlassen hatte? Und wenn ja, würde er ihr jemals vergeben können?

Vielleicht. Wenn er wüsste, wie sehr sie sich die ganzen Jahre über nach ihm gesehnt hatte …

Vor etwa vier Jahren war sie anlässlich einer Modenschau in Italien gewesen und hatte zufällig in einer Illustrierten gelesen, dass die Vincenzos sich zur gleichen Zeit in Mailand aufhielten. Stunden hatte sie vor dem prachtvollen Hotel gewartet, ehe sie einen kurzen Blick auf Lucas Mutter und den zweijährigen kleinen Jungen an ihrer Hand erhaschte.

Sie hatte sogar Bruchstücke von seinem Babygeplapper hören können, aber kein Wort verstanden. Ihr Sohn war ein echter Italiener geworden. Danach brauchte Libby vier Monate, um über diesen Schock hinwegzukommen.

„Hier.“

Benommen schaute sie auf die Platte mit delikaten Sandwiches, die Romano auf dem Tisch zwischen ihnen platziert hatte. Duftendes weißes Brot mit Wildlachs und weichem Käse, garniert mit Zitronenspalten und Cocktailtomaten. Unter anderen Umständen durchaus verlockend.

„Ich kann nicht …“

„Ich weiß“, unterbrach er sie ruhig und umfasste ihre Hand, als sie das Essen zu ihm hinüberschieben wollte.

Es wird dir aber danach besser gehen, sagte sein überraschend sanfter Blick.

Ob Romano tatsächlich nachvollziehen konnte, wie sie sich fühlte? Ahnte er etwas von dem Tumult in ihrem Innern – von ihrer Beklommenheit, ihrer Furcht und den erstickenden Schuldgefühlen?

Und selbst wenn, dann dachte er wahrscheinlich nur, dass sie genau das bekam, was sie verdient hatte …

Gedankenverloren biss Libby von einem Lachssandwich ab und schaute wieder aus dem Fenster.

Sie war froh, als der Jet endlich landete und sie von einer anderen Luxuslimousine mit Chauffeur abgeholt und zum Familiensitz, dem Palazzo der Vincenzos, gefahren wurden. Und das, obwohl sie dort die unglücklichste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Inzwischen war es später Nachmittag, und die Sonnenstrahlen wurden in sanftem Goldton von dem mit Zinnen bewährten Dach und den ockerfarbenen Mauern reflektiert.

„Ich habe Angst“, entschlüpfte es Libby unfreiwillig, als die Limousine vor dem Eingangsportal hielt. Furcht vor den Erinnerungen, die sie plötzlich heimsuchten, vor der strengen Frau, die sie nie hatte leiden können, und vor allem Angst vor Giorgios Reaktion auf ihr Kommen.

„Das musst du nicht“, sagte Romano knapp, der ihre innere Panik völlig unterschätzte. „Er ist nur ein Kind, das versucht zu verstehen, warum es vor sechs Jahren von seiner Mutter im Stich gelassen wurde. Und jetzt komm, Angelica wird dir deine Zimmer zeigen.“

Libby lächelte der ältlichen Haushälterin scheu zu. Sie war das einzige freundliche Wesen, das ihr damals – natürlich außer Luca – in diesem antiken Gemäuer begegnet war.

„Wenn du dich frisch gemacht hast und so weit bist, findest du mich im Wohnzimmer.“ Damit war ihr Schwager verschwunden.

Stumm folgte Libby der rundlichen, munter vor sich hin plappernden Frau hinauf ins Obergeschoss, wobei sie sich neugierig umschaute. Erstaunt stellte sie fest, dass der Palazzo seit ihrem letzten Aufenthalt ein beachtliches Facelifting erhalten hatte. Alles erschien ihr viel heller und freundlicher.

Das elegante Wohnzimmer hatte sich allerdings kein bisschen verändert, wie Libby eine halbe Stunde später feststellte. Oder sie konnte es nicht sehen, weil ihr Blick gleich nach dem Eintreten von Romano festgehalten wurde, der in einem Sessel neben dem Kamin saß und von einer Zeitung hochschaute.

„Wo ist er?“, fragte sie rau. „Wo ist mein Sohn?“

Ihr Schwager stand bedächtig auf und hob eine dunkle Braue. „Pazienza, cara … nur Geduld. Ich habe die beiden bereits davon unterrichtet, dass du hier bist.“

Die beiden? Ach, natürlich, dachte Libby benommen, Sofia Vincenzo residierte selbstverständlich auch im Palazzo.

Ihr Magen hob sich bedenklich, und während sie in Romanos unbewegtes Gesicht schaute, fielen die letzten Jahre plötzlich von ihr ab, und sie fühlte sich wieder wie das verschüchterte Mädchen von achtzehn Jahren. Voller Angst, einen schlechten Eindruck zu machen, und gleichzeitig auf eine Sympathie hoffend, die sie nie erfahren hatte …

Doch da war wenigstens noch Luca an ihrer Seite gewesen. Heute brauchte sie keinen Schutz. Sie war nur hier, um ihren Sohn zu sehen.

„Was denkst du gerade?“, fragte Romano im gleichen arroganten, selbstsicheren Ton, wie er es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte. Und wieder verspürte sie dieses seltsame Kribbeln auf ihrer Haut und war sich seiner Gegenwart mit allen Sinnen bewusst – wie damals. „Hast du vielleicht ein Déjà-vu-Erlebnis?“

„Nein“, log Libby, ohne zu zögern, und befeuchtete ihre trockenen Lippen mit der Zungenspitze. „Heute liegen die Dinge ganz anders, Romano.“

„In der Tat …“, murmelte er gedehnt. „Jetzt brauchst du dich nicht mehr hinter einem Ehering zu verstecken.“

Sie begegnete seinem glitzernden Blick so gelassen wie möglich, doch als sich in diesem Moment die Tür in Romanos Rücken öffnete, weiteten sich ihre Augen. Sofia trat ein. Sie war sichtbar gealtert, mit silbergrauem Haar, aber immer noch die graziöse und hoheitsvolle Erscheinung, als die sie in Libbys Erinnerung weitergelebt hatte.

An ihrer Hand ein kleiner Junge, mit Lucas schwarzen Augen unter einer dunklen Lockenfülle …

Giorgio!

Zio!“, rief der Kleine begeistert aus und wäre auf Romano zugerannt, wenn seine Großmutter ihn nicht zurückgehalten hätte. Eine Hand lag auf der schmächtigen Schulter, während Sofia ihrem Enkel leise Instruktionen in ihrer Muttersprache gab.

„Guten Tag. Wie geht es dir?“,formulierte Giorgio sorgfältig auf Englisch – mit typisch italienischem Akzent – und schaute aus großen Augen zu seiner Mutter empor.

Libby hatte das Gefühl, ihr Herz müsse zerspringen, als sie sich instinktiv hinhockte, um mit ihrem Sohn auf Augenhöhe zu sein.

„Danke, sehr gut“, erwiderte sie mit bebender Stimme und konnte sich nur mit äußerster Willenskraft davon abhalten, ihren Sohn in die Arme zu nehmen. Stattdessen ergriff sie die ausgestreckte Kinderhand. „Und dir?“

Giorgio starrte sie einen Moment stumm an, ehe er den Blick zur Großmutter hob.

„Nonna hat mir erklärt, was ich sagen soll“, gab er verlegen zu und schaute dann Hilfe suchend zu seinem Onkel hinüber. Doch der lächelte nur, und zwar überraschend sanft, wie Libby erstaunt feststellte.

„Bist du wirklich meine mamma?“, fragte das Kind nach einen kurzen Pause.

„Ja, Giorgio“, gestand Libby mit schwankender Stimme. „Ich bin deine mamma.“

Der Kleine legte den Kopf schief und betrachtete seine Mutter aufmerksam. „Wirst du bis zu meinem Geburtstag hierbleiben?“, wollte er dann wissen.

Libby lachte etwas zittrig und versuchte, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Das war ihm also wichtig? Kinder waren so klar und so gnädig – ganz anders als die Erwachsenen.

„Darauf kannst du wetten“, versicherte sie mit fester Stimme und vermied es, sowohl Sofia als auch Romano anzuschauen.

Giorgio belohnte sie mit einem breiten Grinsen. Wie jedem angehenden Schulkind fehlten auch ihm die vorderen Milchzähne, doch die zweite Garnitur kündigte sich bereits in Form von kleinen weißen Erhebungen an.

„Oh, bene! Zio Romano hat mir ein neues Fahrrad versprochen! Ich wollte ein viel größeres, aber zio hat gesagt, ich muss erst noch wachsen, und er zeigt mir an meinem Geburtstag, wie ich mit dem neuen Rad fahren kann.“

Sein Onkel Romano schien der Dreh- und Angelpunkt in Giorgios jungem Leben zu sein.

„Du sprichst sehr gut Englisch“, lobte Libby ihren Sohn.

„Romano hat darauf bestanden, dass sein Neffe beide Sprachen seiner Herkunft perfekt erlernt“, erklärte Sofia steif.

„Ich spreche auch genauso gut Italienisch!“, verkündete Giorgio stolz und streckte die Hand aus, um über den bunten Seidenschal zu streichen, der um Libbys Schultern lag. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. „Ich mag dein Haar. Es sieht aus wie Feuer.“

„Und das ist etwas, wovor du dich in Acht nehmen musst“, warnte Romano aus dem Hintergrund. „Sonst kann es dein Verderben sein.“

Giorgio runzelte kurz die Stirn, bemühte sich aber nicht weiter, zios rätselhafte Andeutungen zu entschlüsseln. Libby verstand sie dafür umso besser und atmete tief durch.

„Ich mag dein Haar auch.“ Zärtlich verwuschelte sie die dicken dunklen Locken ihres Sohnes. „Es glänzt wie poliertes Holz.“

Giorgio schien geschmeichelt. „Bestimmt möchtest du mein Zimmer sehen, oder?“, fragte er mit einem konspirativen kleinen Lächeln und ergriff ihre Hand.

Fünf Jahre!, dachte Libby. Und ebenso umwerfend charmant und unwiderstehlich wie sein Vater!

„Sehr gern“, sagte sie völlig aufrichtig und ließ sich von ihrem Sohn aus dem Wohnzimmer ziehen. Als sie über die Schulter nach hinten schaute, sah sie Romanos ruhige Geste, mit der er Giorgios Großmutter daran hinderte, ihnen zu folgen.

Verstand Romano etwa, dass Mutter und Sohn eine Zeit für sich haben mussten? Das wunderte Libby und verursachte ihr gleichzeitig ein warmes, wohliges Gefühl.

Giorgios Zimmer stellte sich als eine Art Apartment mit Schlaf-, Spielzimmer und eigenem Bad heraus. Hier fehlte nichts, was für einen Fünfjährigen das Paradies bedeuten musste. Nachdem sie sich alles in Ruhe angeschaut hatte, fiel Libby ein Plüschbär ins Auge, dem ein Ohr fehlte und dem man sechs Jahre stürmische Liebesbezeugungen deutlich ansehen konnte.

„Das ist Cesare“, erklärte Giorgio, der ihrem Blick gefolgt war. „Ich habe ihn, seit ich denken kann. Nonna sagt, ich bin jetzt zu groß für ihn, aber zio meint, ich muss ihn nicht wegtun, nur weil er alt ist und nicht mehr so gut hören kann.“

Mit einer zärtlichen Geste nahm er den Bär vom Regal und flüsterte ihm etwas ins verbliebene Ohr. „Sprechen kann er leider auch nicht, sonst hätte er dir schon längst buon giorno gewünscht. Dies ist meine mamma, Cesare.“

Libby versuchte verzweifelt, den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. „Wir haben uns schon einmal getroffen“, murmelte sie erstickt.

Sie selbst hatte den Teddy gekauft, als Giorgio gerade mal zwei Wochen alt war, und ihn in sein Bettchen gelegt, an dem Tag, an dem sie für immer ging.

„Warum weinst du?“, wollte Giorgio wissen und schaute sie forschend aus den großen schwarzen Augen seines Vaters an. „Bist du traurig?“

„Nein, Giorgi.“ Was hätte sie auch sonst sagen können?

Instinktiv kniete sich Libby vor ihren Sohn hin und zog ihn in die Arme. Zärtlich und sprachlos vor Glück bettete sie sein Gesicht an ihrer Schulter und strich ihm immer wieder übers Haar.

„Warum bist du damals weggegangen?“, fragte er irgendwann mit dünner Stimme.

Libby hielt den Atem an und schloss gepeinigt die Augen. Mit aller Macht versuchte sie, ein verzweifeltes Aufschluchzen zu unterdrücken, das ihr fast die Brust sprengte.

„Sie ist gegangen, weil sie musste“, erklärte eine dunkle Stimme von der Tür her. „Weil sie eine sehr beschäftigte Lady ist.“

Romano! Lässig und völlig entspannt stand er an den Türrahmen gelehnt da und betrachtete zynisch amüsiert die anrührende Szene.

Trotzdem war Libby ihm dankbar für die Rettung in letzter Sekunde. Sie fühlte sich völlig hilflos und hatte nicht die geringste Ahnung, was sie ihrem Sohn sagen sollte.

„Bist du jetzt auch sehr beschäftigt?“, wollte Giorgio wissen.

„Nein, nein!“, versicherte sie rasch. „Ich kann mir so viel Zeit für dich nehmen, wie du möchtest.“

„Und du gehst nicht einfach wieder weg?“

Was sollte sie darauf sagen? Nein, ich werde dich nie wieder verlassen, weil ich dich mehr liebe als mein Leben?

Es lag nicht in ihrer Macht, das zu entscheiden. Sein zio Romano hielt alle Trümpfe in der Hand. Er allein konnte über ihr Wohl und Wehe entscheiden … und über das seines Neffen und Mündels.

„Lass uns jeden Tag so nehmen und genießen, wie er kommt, Giorgio“, sagte sie sanft und war dankbar für das Hausmädchen, das hinter Romano auftauchte und ihnen ausrichtete, dass die Signora im Salon mit dem Tee auf sie wartete.

Libby senkte den Blick vor Romanos spöttischem Lächeln.

„Warum läufst du nicht schon vor und sagst nonna, dass wir gleich unten sind?“, ermunterte er seinen kleinen Neffen und fügte noch leise etwas auf Italienisch hinzu, worauf Giorgio begeistert seinem Vorschlag folgte.

„Was hast du ihm gesagt?“, fragte Libby angespannt, sobald sie allein waren.

„Bestechung scheint unabhängig von Alter und Geschlecht zu wirken“, entgegnete Romano trocken. „In diesen Fall habe ich ihm versprochen, dass er heute Abend eine Stunde länger aufbleiben darf als sonst.“

Libby seufzte. „Ich habe so viel von seinem Leben versäumt …“ Ihre Schultern sanken nach vorn. „Ich kenne meinen eigenen Sohn nicht mehr. Ich weiß gar nichts von ihm.“

„Das ist wenig überraschend angesichts der Tatsache, dass du ihn so kurz nach seiner Geburt abgegeben hast, würde ich sagen. Trotzdem muss ich dir zu deinem grandiosen Auftritt gratulieren. Ich bin mir ziemlich sicher, du hast Giorgio mit der rührenden Zurschaustellung neu erwachter Mutterliebe von deinen guten Absichten überzeugen können.“

Libby schaute Lucas Bruder an und spürte, wie sie der Rest ihrer Kraft zu verlassen drohte. Ja, Romano war arrogant und unerbittlich, aber er hatte im Grunde genommen recht, wie immer …

Und wie immer brachte er es auch diesmal fertig, sie mit seiner vorsätzlichen Grausamkeit aus ihrem Schmerz und ihrer Lethargie zu reißen und sie in die Opposition zu treiben.

„Was hast du denn erwartet?“, fragte sie kalt. „Die Wahrheit hätte ich ihm ja schlecht sagen können. Dass er meiner Karriere und meinem freien Leben im Weg war.“

„Und das wirst du ihm auch nie sagen, sonst gnade dir Gott!“, knirschte Romano zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Warum nicht? Genau das denkst du doch von mir!“

„Was ich denke, steht nicht zur Debatte! Im Gegensatz zu Giorgio kann ich aber mit einer gefährlichen Sirene wie dir umgehen!“

Libby lachte rau auf. „Das glaubst du wirklich, ja?“

„Und ob! Wir beide sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, cara. Was wir wollen, nehmen wir uns einfach, ohne Rücksicht auf andere.“

„Tun wir das?“ Libby erkannte ihre eigene Stimme nicht mehr wieder. „Wenn du nur wüsstest, wie sehr du dich täuschst, Romano!“, schleuderte sie ihm entgegen. „Wage es nicht noch einmal, mich mit dir oder irgendeinem anderen Mitglied deiner ach so wundervollen Familie auf eine Stufe zu stellen!“

„Das hast du doch selbst getan, als du dich dummerweise an meinen naiven, verblendeten Bruder gehängt und ihn geheiratet hast!“, schoss er zurück.

Plötzlich wurde Libby ganz ruhig. „Daran war nichts Dummes“, sagte sie rau. „Bei Luca habe ich alles bekommen, wonach ich mich immer gesehnt habe.“

Überschäumende Lebensfreude, Lachen, zärtliche Liebe … und Giorgio!

„Wenn du das Vermögen meiner Familie meinst, nehme ich dir das sogar ab, doch wenn du auf etwas anderes anspielst …“ Er ließ ein hässliches Lachen hören. „Es hätte mich keine besondere Mühe gekostet, wenn ich meinem Bruder hätte beweisen wollen, wo deine … wahren Interessen liegen und wie weit es mit deiner Loyalität ihm gegenüber her ist.“

Libby schluckte. Wollte er ihr vielleicht die Schuld dafür zuschieben, dass sie als unerfahrener Teenager so unkontrolliert auf seine überwältigende maskuline Präsenz reagierte? Hatte er ihre Verwirrung etwa als eine Art Einladung betrachtet?

Du hast mich mit deiner dominanten, herausfordernden Art völlig verstört und fast zu Tode geängstigt!, hätte sie ihm am liebsten entgegengeschrien.

„Wie ich bereits sagte, cara mia, wir beide wissen genau, was wir wollen … und wie wir es bekommen. Und jetzt lass uns nach unten gehen. Meine Mutter wartet.“

4. KAPITEL

Den nächsten Tag verbrachte Libby damit, ihren Sohn kennenzulernen. Für sein Alter war er bemerkenswert aufgeweckt. Nicht nur, dass er bereits lesen und schreiben konnte, selbst an seinem PC machte er einen äußerst souveränen Eindruck.

„Ich lese auch für mein Leben gern“, gestand Libby, als er ihr sein Lieblingsbuch zeigte.

Zio sagt, dass er heute mit mir rausfahren will und dass du mitkommen kannst“, erzählte Giorgio in wichtigem Ton. „Du hast doch Lust, mamma?“

Libby stockte der Herzschlag. Wie lange und wie schmerzlich hatte sie sich danach gesehnt, dieses Wort aus dem Mund ihres kleinen Sohnes zu hören!

„Versuche, mich davon abzuhalten!“, forderte sie ihn lachend auf und raufte seine dunklen Locken.

Trotzdem erlebte sie diesen wundervollen Moment mit gemischten Gefühlen. Was für ein ungeahntes Glück, ihr Kind wiederzufinden, und was für ein hoher Preis, dafür Romano Vincenzos Anwesenheit in ihrem Leben in Kauf nehmen zu müssen.

„Du hast deinen Onkel Romano sehr gern, nicht wahr?“, fragte sie leise.

„Und wie!“, gab Giorgio enthusiastisch zurück. „Wenn ich groß bin, will ich genauso sein wie er.“

„Vielleicht hat deine Mutter dazu eine etwas andere Einstellung“, ertönte eine trockene Stimme von der Tür her.

Mit klopfendem Herzen fuhr Libby herum und begegnete Romanos spöttischem Blick. In schwarzen engen Jeans zum schneeweißen Hemd wirkte ihr Schwager weniger unnahbar und ungeheuer sexy.

„Möglicherweise hat sie das tatsächlich“, bestätigte Libby mit belegter Stimme und erntete dafür ein amüsiertes Lächeln.

„Ich fahre gleich in die Stadt“, erklärte Romano. „Hat Giorgio bereits erwähnt, dass es uns ein besonderes Vergnügen wäre, wenn du uns begleiten würdest?“

„Nun … ganz so nonchalant hat er sich zwar nicht ausgedrückt, aber ich habe die Einladung bereits akzeptiert.“

„Fein, wir fahren in zwanzig Minuten“, verkündete Romano und zog sich zurück.

Es wurde ein überraschend vergnüglicher Ausflug. Romano fuhr mit ihnen in einen kleinen benachbarten Ort, wo Libby und Giorgio in seinem Geländewagen auf ihn warteten, während er Bankgeschäfte erledigte.

In der Zwischenzeit zeigte Libby ihrem Sohn einige Fotos, die sie nach Italien mitgebracht hatte. Schnappschüsse von Luca und sich und ein Foto, auf dem ihre eigene Mutter sie als Baby auf dem Arm hielt. Die frappierende Ähnlichkeit zu ihrem Sohn machte ihr den Hals ganz eng.

„Und das ist dein englischer Großvater … dein nonno“, erklärte sie mit rauer Stimme und reichte Giorgio ein Bild ihres Vaters, wo er auf einen Spaten gestützt inmitten eines Gemüsebeetes stand und in die Kamera lächelte.

„Dein Vater?“,fragte Romano, der eben wieder in den Wagen gestiegen war und sich jetzt auf dem Fahrersitz herumdrehte, um das Foto zu betrachten.

Libby nickte.

„Wo ist er jetzt?“

„Gestorben.“ Aus guten Gründen hatte sie diese Nachricht eigentlich für sich behalten wollen, aber nun war es zu spät. „Vor etwas mehr als einem Jahr.“

„Das tut mir leid.“

Sein Blick wirkte aufrichtig, aber sie wollte sein Mitleid nicht – egal ob ehrlich oder aufgesetzt.

„Also, was wollen wir jetzt unternehmen?“, fragte Libby ein wenig zu eifrig und verstaute die Fotos rasch wieder in ihrer Tasche.

Als Romano sie zu einem netten Café chauffierte, wo er Mutter und Sohn zum Lunch einlud, fühlte Libby sich schon viel entspannter. Das Essen war köstlich, die attraktive junge Kellnerin machte ein riesiges Trara um Giorgio und verabschiedete sie später wie eine gute Bekannte.

Lachend verließen sie das Lokal. Wie eine richtige kleine Familie, dachte Libby und verbat sich diese gefährliche Fantasie sofort wieder. Trotz seiner negativen Meinung über sie gab Romano sich alle Mühe, freundlich und unterhaltsam zu sein. Natürlich nur wegen Giorgio!

Nachdem ihr Sohn sich in einem Schuhladen neue Turnschuhe ausgesucht hatte, wollte Libby sie bezahlen.

„Das ist nicht nötig“, murrte Romano.

„Trotzdem möchte ich die Rechnung übernehmen“, beharrte sie, offensichtlich gegen seinen Willen. Doch er schwieg und nahm seinen Neffen bei der Hand, als sie kurz darauf eine belebte Straße überquerten. Automatisch schob der Kleine seine andere Hand in Libbys. Über seinen Kopf hinweg trafen sich die Blicke der Erwachsenen, was dem Knirps nicht verborgen blieb.

„Wirst du jetzt für immer hierbleiben und bei mir und zio Romano wohnen?“, fragte er hoffnungsvoll.

Seine Mutter wartete mit der Antwort, bis sie die andere Straßenseite erreicht hatten. Wie sollte sie einem so unschuldigen und gleichzeitig unmöglichen Ansinnen begegnen?

„Ich … ich möchte deinem Onkel auf keinen Fall länger zur Last fallen als notwendig“, erwiderte sie zögernd.

„Und was heißt das?“, forschte Giorgio mit klarem Kinderblick.

„Das ist so eine Art Frauensprache, die wir Männer nur schwer verstehen können“, erläuterte sein Onkel ruhig, zauberte eine Münze aus der Hosentasche hervor und wies ihn auf Italienisch an, sich ein möglichst großes und klebriges Eis zu kaufen. Ein Befehl, dem Giorgio äußerst vergnügt Folge leistete.

„Tu das nie wieder!“, knurrte Romano, sobald sein Neffe außer Hörweite war.

„Was?“, fragte Libby irritiert.

„Die Unschuld des Jungen zu gebrauchen, um mir deine offensichtliche Abneigung zu demonstrieren.“

„Habe ich doch gar nicht!“, empörte sie sich. „Zumindest nicht absichtlich.“

„Mag sein, aber eines vergiss nie. Mir ist völlig egal, wie unbequem oder belastend das hier für dich ist, mir geht es dabei nur um Giorgio. Und solange es für ihn wichtig ist, bleibst du hier.“

Libby sah keinen Grund, etwas abzulehnen, was ihr größter Herzenswunsch war. So senkte sie nur den Blick, damit Romano nicht das frohe Aufleuchten in ihren Augen sah und es womöglich gleich wieder verstand. Doch einen Dämpfer brauchte Mr. Perfect auf jeden Fall!

„Wenn ich hierbleibe, dann freiwillig und aus eigenem Entschluss“, erklärte sie gelassen. „Und ganz sicher nicht, weil ich mich von irgendjemandem unter Druck setzen lasse.“ Damit warf sie den Kopf in den Nacken und folgte Giorgio in das Eis-Café.

Als Libby sich am Abend ein Entspannungsbad gönnen wollte, war die Luxuswanne bereits von einem achtbeinigen Ungeheuer besetzt. Nach einigen erfolglosen Versuchen, das Problem selbstständig zu lösen, gab sie beschämt auf und läutete, um Unterstützung zu bekommen.

Als sie auf ein kräftiges Klopfen hin die Tür öffnete, schlug ihr das Herz angesichts ihres Retters plötzlich bis zum Hals.

„Angelica hat mich davon informiert, dass es hier eine Monsterspinne zu beseitigen gibt“, murmelte Romano und wirkte mit dem Weinglas in der Hand für Libbys Empfinden viel zu entspannt und selbstgefällig. Auf den zweiten Blick fiel ihr auf, dass sein dunkles Haar sich feucht im Nacken kringelte. Auch die blaue Jeans und das Freizeithemd zeigten, dass er bereits geduscht hatte und für den Abend umgezogen war.

„Keine Umstände, ich werde schon selbst damit fertig“, behauptete sie trotzig. „Ich habe nur wegen eines Gefäßes geläutet, das groß genug ist, damit ich dem armen Ding nicht noch ein paar Beine abklemme.“

Romano musterte sie zweifelnd. „Es macht mir keine Umstände. Ich wollte ohnehin zu dir. Ich dachte, falls du Langeweile bekommst, könntest du dir hiervon etwas anschauen.“ Er trat in ihr Zimmer und legte etwas auf einem Beistelltisch ab.

Videokassetten?

Machte sie einen so gelangweilten Eindruck? Oder hielt er sie für zu beschränkt, um etwas aus den gut bestückten Bücherregalen zu lesen, die sie noch gestern Abend inspiziert hatte?

Was für Filme mochte er wohl für sie ausgesucht haben? Soaps? Horrorfilme? Oder vielleicht einen Erziehungsberater?

„Danke“, brummte sie, ohne ihn anzuschauen, bekam aber aus den Augenwinkeln mit, dass er weiter ins Bad ging.

Sie wirkt irgendwie nervös … gehetzt, ging es Romano durch den Kopf, als er wenig später zurückkehrte, nachdem er den ungebetenen Gast aus dem Badfenster expediert hatte. Vergeblich rüttelte Libby an der obersten Kommodenschublade, die offenbar klemmte.

„Warte, lass mich das machen“, bot er an.

„Ich bin durchaus in der Lage, eine Schublade zu öffnen!“, gab Libby patzig zurück, wofür sie sich aber sofort schämte. Doch Romanos Nähe brachte sie jedes Mal so aus der Fassung, dass sie vor Frust laut hätte aufschreien können. Davon abgesehen, bewahrte sie in der Lade ihre Unterwäsche auf, die sie ihm unter keinen Umständen präsentieren wollte.

„Da hat sich etwas verklemmt.“ Mit einem Ruck zog er die Schublade auf und fischte ein Nichts aus schwarzer Spitze hervor. „Ah … da haben wir ja den Übeltäter! Und was ist das?“ Er griff nach einer Karte, die oben auf der Wäsche lag. Es war eine Geburtstagskarte für Giorgio, die Libby ihm gleich wieder aus der Hand riss.

„Dazu hast du kein Recht!“, fauchte sie.

Mamma mia! Nicht einmal an das exakte Alter ihres Sohnes konnte sie sich erinnern! „Der Junge wird nächsten Monat sechs, nicht fünf“, stellte Romano mit gerunzelter Stirn fest und sah erst jetzt, dass noch mehr Glückwunschkarten auf Libbys Wäsche lagen. Offenbar eine für jedes Jahr. Blitzschnell fischte er eine weitere heraus, auf der Giorgis erstes Weihnachtsfest stand. Sie sah ziemlich ramponiert aus, aber ganz sicher nicht von der Schublade …

„Gib sie mir wieder!“

Getrieben von Neugier, ignorierte er ihre Forderung und las die Worte auf der Rückseite, wobei er sich wie ein Eindringling fühlte. Danach legte er sie zurück und bemerkte erst jetzt ein kleines weißes Fotoalbum mit einer goldenen Inschrift auf dem Einband: Babys erstes Jahr …

Wie unter Zwang öffnete er es und fand noch mehr Schnappschüsse von Libby, ihren Eltern und Luca, ähnlich denen, die sie Giorgio am Morgen gezeigt hatte. Kleine Erinnerungen, die wenig besagten, für ihren Besitzer aber unbezahlbar waren. Das spürte er mit jeder Faser.

Was hatte sie noch am Flughafen zu ihm gesagt?

Autor

Helen Bianchin
Helen Bianchin wurde in Neuseeland geboren und wuchs dort als Einzelkind auf. Sie hatte eine äußerst lebhafte Fantasie und liebte schon damals Bücher über alles. Als Teenager begann sie zu schreiben, doch sie vernachlässigte ihr Hobby, als sie als Sekretärin in einer kleinen Kanzlei arbeitete.

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