Julia Saison Band 10

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DER MANN, DER VOM HIMMEL FIEL von KIM LAWRENCE
Wann fällt einem schon ein Traummann vor die Füße? Weihnachten!
Darcy staunt nicht schlecht, als ein attraktiver Fremder vom Baum stürzt. Rasch fährt sie ihn ins Krankenhaus - und erlebt dort gleich die nächste Überraschung: Reece stellt sie dem Arzt als seine Frau vor!

IN EINER STÜRMISCHEN WINTERNACHT von CAROLE MORTIMER
Ist es ein Wunder? Am Abend vor Weihnachten landet die bezaubernde Meg in Jeds einsamen Cottage. Ihr Wagen ist im Schneesturm vom Weg abgekommen, und nun muss sie bis zum Morgen bleiben. In dieser Nacht erfasst auch Jeds Gefühle ein heftiger Sturm.

LIEBE - EIN HIMMLISCHES GESCHENK von LYNNE GRAHAM
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  • Erscheinungstag 27.11.2019
  • Bandnummer 10
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728632
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Kim Lawrence, Carole Mortimer, Lynne Graham

Julia Saison Band 10

1. KAPITEL

„Hallo, Dad!“, rief Darcy Alexander fröhlich ins Telefon. „Ist Mum da?“ Sie saß gemütlich in einem Sessel in ihrer Wohnung, die sie mit ihrer Freundin Jennifer teilte, und freute sich auf einen Plausch mit ihrer Mutter.

„Es tut mir leid, Darcy, du kannst nicht mit ihr reden. Sie … sie ist nicht hier.“

Darcy stutzte, und ihre Ferienstimmung war dahin. Dass ihre hyperaktive Mutter nicht zu Hause war, hatte nichts zu bedeuten, aber wie ihr Stiefvater es gesagt hatte, war alarmierend. „Was ist es heute? Probt sie für das Weihnachtskonzert, oder tagt der Ausschuss für die Reparatur des Kirchendachs?“, fragte sie so heiter wie möglich. Jack würde ihr von selbst erzählen, was los war, allerdings durfte man ihn nicht drängen.

Kurz spielte ein Lächeln um ihre Lippen, als sie an den Mann dachte, der ihre Mutter geheiratet hatte. Sie mochte ihn wahnsinnig gern. Ihr Bruder Nick war sieben gewesen und sie selbst fünf, als Jack in ihr Leben getreten war. Nach zwei Jahren war Clare geboren worden, und viel später und zu aller Überraschung kamen die Zwillinge Harry und Charlie. Ja, sie waren eine große, einander eng verbundene Familie.

„Weder noch“, antwortete Jack angespannt.

Darcy runzelte die Stirn. Der Mann, der seinem ersten Enkel in einem Landrover auf die Welt geholfen hatte, ohne in Angstschweiß auszubrechen, hörte sich den Tränen verflixt nahe an. Nein, sie sollte sich nicht länger in vornehmer Zurückhaltung üben. „Was ist los, Dad?“

„Deine Mutter …“

Zutiefst beunruhigt rutschte sie auf dem Stuhl hin und her. „Was ist mit ihr? Ist sie krank?“

„Nein. Sie ist weggefahren … Sie will Weihnachten in einem … Kloster in Cornwall verbringen.“

„Das ist am anderen Ende der Welt!“ Was für eine idiotische Bemerkung. Wo ihre Mutter sich aufhielt, war ziemlich egal, aber nicht, warum sie ihr Zuhause verlassen hatte. Ihre stets so stabile Mutter, die für die ganze Familie immer ein Fels in der Brandung war … Nein, es machte keinen Sinn!

„Und es gibt dort auch kein Telefon“, sagte Jack deprimiert. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Jeder fragt nach ihr. Sie ist für die Kostüme zuständig, die die Schulkinder fürs Krippenspiel brauchen, und die Frauenvereinigung will am Donnerstag zweihundert gefüllte Pasteten haben. Wie werden die zubereitet, Darcy?“

„Wir müssen uns über Wichtigeres den Kopf zerbrechen als über Pasteten!“ Verdammt, als ob sie Jack daran erinnern musste! „Hast du eine Ahnung, warum sie weggefahren ist, Dad? Habt ihr euch gestritten?“

„Nein, haben wir nicht. Sie war zuletzt etwas in sich gekehrt … Ja, du hast recht. Ich habe bestimmt etwas falsch gemacht.“

„So ein Unsinn!“ Sollte sie je einen Mann kennenlernen, der nur halb so wunderbar war wie ihr Stiefvater, würde sie sich mit Handschellen an ihn ketten.

„Anscheinend braucht sie etwas Zeit für sich …“

Menschen wie Mum geraten in keine Identitätskrisen, dachte Darcy verwirrt, und sie gehen nicht einfach fort, ohne eine Erklärung abzugeben.

„Darcy, was soll ich tun?“ Jack klang verzweifelt. „Sam, Beth und der kleine Jamie treffen nächsten Freitag aus den Staaten ein. Es ist ein wenig spät, um ihnen abzusagen.“

„Nein, mach das nicht!“, protestierte sie energisch. Seit seine Tochter aus erster Ehe nach Amerika gezogen war, sah Jack die drei nur noch sehr selten.

„Nick hat angerufen und sich fürs Wochenende angekündigt, und Clare wird auch irgendwann kommen.“

Wie typisch für Clare, sich auf kein Datum festzulegen! Darcy lächelte spöttisch.

„Eure Großmutter kann jeden Tag hier auftauchen. Kannst du dir vorstellen, wie sie reagiert … Als wir das letzte Mal gezählt haben, sollten fünfzehn Leute zum Weihnachtsessen da sein, und der Aga-Herd ist ausgegangen. Ich kenne mich mit dem verdammten Ding nicht aus. Eure Mutter …“

Darcy hörte, wie er schluckte. „Nur keine Panik, Dad. Wenn ich jetzt packe und losfahre, dürfte ich in …“

„Dein Skiurlaub, Darcy“, protestierte Jack schwach. „Du hast dich so darauf gefreut.“

Ja, aber leider kam jetzt eine familiäre Krise dazwischen. „Bei meinem Glück wäre ich wahrscheinlich mit einem Gipsbein nach Hause zurückgekehrt.“

„Du darfst den Urlaub nicht absagen“, erklärte Jennifer, als sie zusah, wie Darcy den Koffer wieder auspackte, um Sachen hineinzulegen, die geeigneter für ein Weihnachtsfest im hintersten Yorkshire waren. „Du hast dich das ganze Jahr darauf gefreut. Warum kann Clare nicht zu Hause helfen?“

Darcy lachte. „Die Hausfrau zu spielen scheint mir nicht unbedingt eine Glanzrolle für sie zu sein.“ Ihre hübsche, begabte und etwas verwöhnte Halbschwester hatte zwar ein Herz aus Gold, verlor aber schon wegen eines abgebrochenen Fingernagels die Nerven.

„Und deine ist es?“

„Ich werde sie mir erarbeiten, was bleibt mir anderes übrig?“

Jennifer seufzte resigniert. „Du bist eine Närrin.“

„Was nichts Neues ist.“ Darcy zuckte die Schultern.

Das war nicht deine Schuld“, widersprach die Freundin wütend.

„Erzähl es Michaels Frau und den Kindern.“

„Du bist offenbar etwas verweichlicht“, schimpfte sich Reece Erskine, während er den Schlafsack auf dem Boden des leeren Zimmers ausrollte. Dieses Jahr würde er nicht das geringste Risiko eingehen und deshalb den Rest der Weihnachtszeit hier in dem alten viktorianischen Herrenhaus im hintersten Yorkshire bleiben. Er mochte die Festtage nicht und noch viel weniger das Verständnis, das seine Mitmenschen meinten, ihm entgegenbringen zu müssen.

Dieses Mal wusste außer seinem Freund Greg niemand, wo er sich aufhielt. Und das war gut so. Denn im letzten Jahr hatte ihn seine damalige Freundin – eine Bezeichnung, die er sehr weit fasste – in einem sexy Negligé und mit einer Flasche Champagner in dem Hotelzimmer überrascht, in das er sich zurückgezogen hatte. Sie hatte sich als entsetzlich hartnäckig erwiesen und sich später bitter gerächt, indem sie die Geschichte ihrer angeblich leidenschaftlichen Beziehung an eine Boulevardzeitung verkauft hatte.

Wen stört schon das bisschen Kälte! Du brauchst nur Feuer in dem offenen Kamin zu machen und noch einige Wolldecken zu kaufen, sagte er sich, als er nach draußen in den riesigen verwilderten Garten des Anwesens ging, das sein Freund als Kapitalanlage gekauft hatte. Hätte er gewusst, dass die Renovierungsarbeiten noch so wenig fortgeschritten waren, wäre er vielleicht nicht hergekommen. Doch sich das jetzt zu fragen war akademisch, denn er war nun einmal hier.

Warum schwärmen so viele Leute von der Landschaft Yorkshires, wunderte er sich, während er sich umblickte. Alles wirkte auf ihn nur trist und grau. Plötzlich sah er in der Ferne etwas Rotes schimmern und hörte entrüstet, wie jemand sang. Greg hatte ihm geschworen, dass er auf keine Menschenseele treffen würde, wenn er es nicht wollte.

Empört folgte er der melodischen Stimme des Störenfrieds, der zu allem Übel auch noch ein Weihnachtslied zum Besten gab, durch das unwegsame Gelände und stand schließlich vor dem Grenzzaun. Wenn er den Unruhestifter schon nicht vertreiben konnte, wollte er zumindest herausfinden, wer es war. Entgegen seinem Naturell kletterte er spontan auf die alte Eiche in der Nähe, um sich einen guten Überblick über das Nachbargrundstück zu verschaffen.

Wenn die Gartenlaube im Sommer von Glyzinien und Rosen umrankt war, lud sie zum Träumen ein, doch auch im Winter war sie zuweilen gefragt, weil man dort so herrlich allein sein konnte. Genau deshalb war Darcy hergekommen, denn hier konnte sie ohne lästige Zuhörer für ihren Auftritt proben.

„Worauf habe ich mich nur eingelassen!“ Gepeinigt stöhnte sie auf. Ihre Stimme war wirklich nicht für ein Solo geeignet.

Adam Wells, der neue Pfarrer, war ein teuflisch gefährlicher Mann. Er hatte sie so treuherzig angeblickt und gleichzeitig moralisch unter Druck gesetzt, bis sie sich nahezu aufgedrängt hatte, im Weihnachtskonzert den Part ihrer musikalischen Mutter zu übernehmen. Erst auf dem Nachhauseweg war ihr richtig klar geworden, was sie sich aufgeladen hatte, und ihr war ganz anders geworden. Seit dem Zwischenfall in der Kindheit, als sie beim Krippenspiel ein Esel gewesen war und wie gelähmt auf der Bühne gestanden und das Geschehen behindert hatte, bis man sie tatsächlich weggetragen hatte, litt sie furchtbar unter Lampenfieber.

Schlimmstenfalls blamiere ich mich eben ein weiteres Mal, dachte sie unglücklich und verließ die Laube, als sie es krachen hörte. Im nächsten Moment fiel ihr ein Mann fast vor die Füße, und dann landete neben ihr ein dicker, morscher Ast, der zunächst auf dem Dach aufgeschlagen war und dort ein großes Loch hinterlassen hatte.

Nach der ersten Schrecksekunde ging Darcy vor der leblos daliegenden Gestalt in die Hocke und tastete voller Angst nach der Halsarterie. „Bitte, bitte, sei nicht tot“, flehte sie und fühlte erleichtert, dass der Puls regelmäßig schlug.

Stöhnend drehte sich Reece auf den Rücken. Es flimmerte ihm vor den Augen, und als er endlich wieder halbwegs klar sehen konnte, erkannte er, dass er nicht etwa in das Gesicht eines Engels blickte, sondern in das eines blonden Jugendlichen mit einem dicken Schal um den Hals. „Ich tue mein Möglichstes.“

„Ich wohne ganz in der Nähe und hole Hilfe“, erklärte Darcy und erschrak, als der Unbekannte sie am Arm festhielt.

„Nein.“ Reece wusste nicht, wie schwer er sich verletzt hatte, und wenn er den ziemlich verängstigt wirkenden Jungen jetzt gehen ließ, kam er vielleicht nicht zurück. „Hilf mir aufzustehen.“

Da er wild entschlossen schien, es auch allein zu versuchen, zuckte Darcy die Schultern und fasste ihn unter den Achseln.

„Au!“

Sofort ließ sie ihn wieder los. „Habe ich Ihnen wehgetan? Es … es tut mir leid.“

Reece stützte den verletzten Arm mit dem anderen ab, ignorierte den stechenden Schmerz in der Schulter und setzte sich auf. „Das ist nicht deine Schuld.“ Kurz blickte er den Jungen an. Er hatte ein rundliches Gesicht, eine niedliche Stupsnase und große blaue Augen und vermittelte den Eindruck, als müsste er sich jeden Moment übergeben. Ihm selbst war ähnlich zumute.

„Ist das klug?“ Besorgt beobachtete sie, wie er sich aufraffte und hinstellte.

„Ich glaube, ich habe mir die Schulter verletzt.“

Für Darcy war es keine Glaubensfrage, sondern Gewissheit. Und dass der dunkelhaarige Fremde verboten gut aussah, stand für sie gleichermaßen fest. Er hatte ein energisches Kinn, einen sinnlichen Mund, eine gerade Nase, hohe Wangenknochen und grüne Augen mit atemberaubend dichten Wimpern.

„Ich habe ein Handy dabei. Nimmst du es für mich heraus?“ Vorsichtig hob er den Arm etwas an und blickte bezeichnend auf die Brusttasche seiner Lederjacke. „Ich bin ganz harmlos“, fügte er hinzu, als der Teenager ihn argwöhnisch betrachtete.

Fast hätte sie laut gelacht. Kein Mann mit einem solchen Mund war harmlos! Tief atmete sie ein. Es widerstrebte ihr, ihn zu berühren, was ziemlich seltsam war, denn sie war eigentlich nicht scheu, sondern ging natürlich mit ihren Mitmenschen um.

„In der Innentasche.“

Darcy schluckte und merkte, dass ihre Bewegungen noch ungeschickter wurden. Sie roch sein teures After Shave und spürte, wie ihre Nerven leicht zu flattern begannen, als sie die Hand unter seine Jacke schob. Er fühlte sich trotz der herrschenden Kälte sehr warm an, und plötzlich wurde ihr selbst entsetzlich heiß, und sie errötete. Schnell sah sie zu Boden, während sie die Finger über seine breite, muskulöse Brust gleiten ließ. Seit der Geschichte mit Michael war sie keinem Mann mehr so nah gekommen. Endlich hatte sie das Handy gefunden und holte es hervor. Reece fluchte verhalten. Es hatte den Sturz nicht schadlos überstanden und würde wohl nicht mehr zu gebrauchen sein.

„Sie müssen darauf gefallen sein“, sagte sie bedauernd.

„Welch genialer Rückschluss.“

Darcy wurde ärgerlich. Es war vielleicht nicht die intelligenteste Bemerkung, aber sie war schließlich nicht so dumm gewesen und auf einen morschen Baum geklettert. Warum hatte er es überhaupt getan?

„Sind irgendwelche Erwachsenen in der Nähe, Junge? Deine Eltern vielleicht?“

Junge! Darcy konnte es nicht fassen. Nein, sie war keine strahlende Schönheit wie Clare, doch hatte sie durchaus schon den einen oder anderen Blick auf sich gezogen. Und noch niemand hatte sie je für einen Jungen gehalten!

Allerdings hatte sie sich heute Morgen nicht geschminkt, und die alte Winterjacke, ein abgelegtes Kleidungsstück von einem der Zwillinge, war so dick wattiert, dass sie ihre weiblichen Rundungen verdeckte. Dass er sie fälschlicherweise für ein männliches Wesen hielt, war vielleicht verständlich, insbesondere wenn er eine Gehirnerschütterung erlitten hatte.

Eigentlich hat die Situation etwas Komisches, dachte sie und sagte pfiffig: „Mein Dad ist zu Hause.“ Sie deutete die Richtung an. „Es ist nicht weit weg. Meinen Sie, Sie könnten es schaffen?“ Kritisch sah sie ihn an.

„Du wirst es als Erster merken, wenn nicht.“

„Aber Sie bluten am Kopf.“

„Das ist nicht tragisch.“

Darcy zuckte die Schultern. Sollte er doch den Macho spielen.

„Dad!“, rief Darcy, kaum hatte sie die Hintertür geöffnet, und betrat mit Reece die rustikal eingerichtete Küche, in der schon ihre drei Brüder saßen.

„Große Güte, was ist passiert?“, fragte Jack, der gleich herbeigeeilt war, und sah entsetzt auf Darcys blutbeschmierte Jacke.

„Reg dich nicht auf. Es ist nicht meines“, versicherte sie, als der Fremde leicht schwankte, sodass sie ihn vorsichtshalber am Ellbogen stützte. „Es ist seines. Ein Ast der morschen Eiche ist auf das Dach der Gartenlaube gefallen.“

„Ich habe dem Beauftragten des neuen Eigentümers schon mehrfach gesagt, wie gefährlich der Baum ist“, erklärte Jack. „Bist du wirklich okay?“ Prüfend betrachtete er sie.

„Mir geht es gut.“

„Und Ihnen, Mr. …“

Reece lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen, während er den Schwindel bekämpfte, der ihn in Wellen überfiel. Der Lärm und die Unruhe um ihn her hatten das Dröhnen in seinem Kopf wieder verstärkt. Besorgt blickte Jack seine Tochter an, die lässig die Schultern zuckte.

„Frag mich nicht. Ich weiß nicht, wer er ist.“

„Du bist mit einem Mann in der Gartenlaube und kennst seinen Namen nicht?“ Argwöhnisch sah Nick den Fremden an.

„Ich war nicht in der Gartenlaube, sondern davor.“ Warum suchte er sich nur immer den falschen Moment aus, um den großen Bruder zu spielen?

„Und hast was getan?“

Darcy verdrehte genervt die Augen und wandte sich Reece zu. „Sie sollten sich besser setzen.“

„Lass mir noch eine Minute Zeit“, antwortete er und wehrte sich, in die entsprechende Richtung dirigiert zu werden.

Auch wenn sie über einige Kraft verfügte, war ihr klar, dass sie diesen großen Mann nicht gegen seinen Willen von der Stelle bewegen konnte. „Harry, Charlie, ich brauche eure Hilfe.“

Die eineiigen Zwillinge schüttelten in perfekter Harmonie die Köpfe.

„Wir würden dir gern helfen …“

„Aber wir können kein Blut sehen.“

Darcy schnaufte verächtlich. „Ihr seid hoffnungslose Fälle.“

„Eben Schwächlinge“, sagte Charlie vergnügt.

Harry nickte zustimmend. „Vielleicht ist er einer der Bauleute, die das Herrenhaus renovieren.“

„Nein, die sind jetzt in den Weihnachtsferien“, erwiderte sein Zwilling. „Außerdem sieht er nicht wie einer von denen aus. Er scheint ganz schön betucht zu sein.“

Darcy teilte Charlies Einschätzung, traute dem großen Unbekannten diese Arbeiten allerdings absolut zu. Wenn sie nur daran dachte, wie herrlich muskulös sich seine breite Brust angefühlt hatte …

„Vielleicht ist er der Typ, der das Anwesen gekauft hat“, meinte Harry, und Reece, dem es allmählich wieder besser ging, bemerkte, dass diese Vorstellung allseits Heiterkeit hervorrief. „Mensch, da hat man Sie aber reingelegt.“

Darcy stöhnte leidgeprüft auf. „Ich glaube nicht, dass momentan der richtige Zeitpunkt für ein Kreuzverhör ist. Es ist egal, wer er ist. Er hat sich verletzt, und die Wunde am Kopf muss verarztet werden. Charlie, hol den Verbandskasten.“

„Ich weiß nicht …“

„Er ist im Badezimmer, im ersten Regal unten. Und du, Harry, schaffst die Hunde aus der Küche.“

Reece war noch immer leicht benommen, die Hektik um ihn her machte ihn zusätzlich nervös, und so setzte er sich gehorsam hin, als Darcy ihn energisch dazu aufforderte.

„Ich heiße Reece Erskine“, stellte er sich vor, aber keinem schien sein Name etwas zu sagen. Vielleicht bin ich ja doch nicht so bekannt, dachte er selbstironisch und lehnte sich ein wenig entspannter zurück. „Sie müssen sich meinetwegen keine Umstände machen“, erklärte er bestimmt. „Wenn ich kurz das Telefon benutzen dürfte …“

Er erntete nur freundlich ablehnende Blicke, was eine neue, unliebsame Erfahrung war, denn normalerweise entsprach man seinen Wünschen. Weit mehr ärgerte ihn allerdings, dass er noch nicht wieder im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, um den Anwesenden zu beweisen, wie sehr er Herr der Lage war.

„Sollten wir nicht besser den Notarzt rufen?“, wandte sich Jack besorgt an seine großen Kinder.

„War er lange bewusstlos?“, erkundigte sich Nick.

„Ich weiß es nicht …“

„Ich war überhaupt nicht bewusstlos“, erklärte Reece, aber keiner schien ihm zuzuhören.

„Vermutlich geht es schneller, wenn wir ihn selbst in die Notaufnahme bringen“, meinte Darcy und streckte Charlie erwartungsvoll die Hand entgegen.

„Ich habe den Kasten nicht gefunden.“

„Muss ich mich denn um alles selbst kümmern?“ Schon lief sie die Hintertreppe hinauf nach oben und zog sich unterwegs den Schal und die Winterjacke aus. Natürlich war der Erste-Hilfe-Kasten genau dort, wo sie gesagt hatte. Warum konnten Männer eigentlich nie genau hinsehen! Sie nahm ihn aus dem Regal und kehrte eilig in die Küche zurück, während sie das ohnehin bereits verrutschte Gummi aus den feinen blonden Haaren zog und sie mit den Fingern kurz auflockerte.

„Ich reinige zuerst die Kopfwunde“, sagte Darcy, und Reece ließ die Prozedur gleichmütig über sich ergehen. „Möglicherweise haben Sie sich das Schlüsselbein gebrochen“, erklärte sie dann. „Es schadet jedenfalls nicht, wenn es etwas gestützt wird.“ Schon beugte sie sich wieder zu ihm.

Reece wusste nicht, woher die junge Frau so plötzlich gekommen war, aber es war ihm egal, denn was sie mit ihren schlanken Händen tat, verschaffte ihm kolossale Erleichterung. Aufmerksam betrachtete er ihr Gesicht. Sie musste die Schwester des Jungen sein, der ihn hergebracht hatte, denn die Ähnlichkeit zwischen den beiden war unverkennbar.

„Unsre Darcy ist eine gute Krankenschwester“, stellte Jack stolz fest.

Darcy? Den Namen habe ich doch schon gehört, überlegte er, während sie ihm behutsam die Armschlinge anlegte. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. „Sie sind eine Frau!“, stieß er überrascht und leicht verärgert hervor.

Jack betrachtete ihn besorgt. „Vielleicht sollte ich doch besser den Notarzt rufen.“

Mit spöttisch verzogenem Mund verknotete Darcy die Enden des Dreiecktuchs, richtete sich auf und strich sich über die Hüften. „Ich bin Darcy.“

„Reece“, erwiderte er gepresst, ohne ihr ins Gesicht zu sehen. Irgendwie schien er unfähig, den Blick von ihren vollen, festen Brüsten zu wenden, die sich deutlich unter dem engen Pulli abzeichneten.

Sie beugte sich etwas zu ihm. „Achtzig C“, informierte sie ihn kaum hörbar.

Sofort sah er sie an und wurde rot, als sie ihn anlächelte.

„Mr. Erskine hat mich für einen Jungen gehalten“, erklärte sie ihren Leuten ernst, wollte ihm nach der schmachvollen Verwechslung die Verlegenheit nicht ersparen.

Ihre Familie war im ersten Moment sprachlos vor Überraschung, aber dann war die Erheiterung groß. Sogar Jack wirkte amüsiert. Reece rang sich ein Lächeln ab. Schließlich wollte er nicht als humorlos gelten.

„Das wäre mal etwas Neues.“ Nick lachte seine Schwester an.

Darcy war nicht wirklich rachsüchtig. Sie hatte ihren kleinen Triumph gehabt, und nun sollte sich ihr Patient auch wieder entspannen dürfen, weshalb sie beschloss, ihn aus der Schusslinie zu nehmen. „Warst du es nicht, Nick, der im Zug seinen Sitzplatz einer vermeintlich schwangeren Frau überlassen hat?“

„Erinnere mich bloß nicht daran.“

Unwillkürlich sah Reece zu Darcy hin. Bei ihrer Wespentaille würde man nicht fälschlich auf den Gedanken kommen. Er ließ den Blick zu ihren schlanken Hüften gleiten und zu ihrem festen, rundlichen Po. Wie hatte er sie nur für einen Jungen halten können! Er musste bei dem Sturz eine ordentliche Gehirnerschütterung erlitten haben, anders war sein Irrtum nicht zu erklären.

„Ich bringe ihn ins Krankenhaus.“

„Ja. Doch das übernehme ich, Darcy“, erwiderte Nick.

Liebevoll zerzauste sie ihm das Haar. „Nein, du hast gerade eine lange Fahrt hinter dir. Ich mache es, vorausgesetzt, deine Brüder haben den Wagen wieder aufgetankt, nachdem sie ihn gestern benutzt haben.“

„Aber Darcy!“, entrüsteten sich die Siebzehnjährigen wie aus einem Mund und sahen sie unschuldig an. Wie konnte sie nur meinen, sie hätten für das Benzingeld, das sie ihnen gegeben hatte, eine bessere Verwendung gefunden.

Die drei älteren Familienmitglieder schnauften verächtlich.

„Es ist wirklich nicht nötig.“ Reece stand auf. „Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.“

Amüsiert beobachtete Darcy, wie er versuchte, sich wieder etwas Würde zu erkämpfen. „Das tun Sie bereits. Also können Sie es auch auskosten.“

2. KAPITEL

„Ich bin gleich wieder zurück.“ Schon schlug Darcy die Autotür zu, nachdem Reece sich in den alten Kleinwagen gezwängt hatte.

Momente später merkte er, dass er im Nassen saß. Er blickte sich um, entdeckte das halb offene Seitenfenster, das vermutlich für die Misere verantwortlich war, und probierte vergebens, es zu schließen. Ärgerlich sah er zu Darcy hin, die in einem dunkelgrauen Trenchcoat neben ihrem Bruder auf der Haustürschwelle stand und mit ihm diskutierte.

„Gib mir die Schlüssel“, hörte er Nick sagen.

„Sei nicht albern. Du bist kaputt.“

„Und du nicht? Was ist, wenn er ein gemeingefährlicher Psychopath ist … oder ein gesuchter Triebtäter?“

Reece fühlte sich zwar schon viel besser, brauchte aber zwei, drei Sekunden, bis er begriff, dass sie von ihm sprachen. In dem Fall ist es gerechtfertigt, wenn ich sie belausche, dachte er und lehnte sich lässig gegen die Tür, damit ihm kein Wort entging.

„Das Gesicht habe ich schon mal gesehen. Erskine … Erskine … Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor. Nein, lach nicht, Darcy. Ich meine es ernst. Du bist immer so vertrauensselig.“

Plötzlich fühlte Reece etwas Kaltes und Feuchtes an der Stirn und rückte unwillkürlich vom Fenster weg, durch dessen breiten Spalt ein großer Hund seine Schnauze geschoben hatte.

„Schau, Wally mag ihn!“, rief Darcy triumphierend und kam aufs Auto zu. Freudig sprang der Hund sie an. „Nein, Wally, du musst heute hier bleiben.“

Reece hatte nichts dagegen.

„Entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat.“ Darcys Lächeln verschwand, als sie sich ansahen. Sein Blick schien sie gefangen zu nehmen und zu hypnotisieren, sodass sie unfähig war, sich abzuwenden. Dann war dieser verwirrende Moment vorbei, und sie spürte nur noch, dass ihr Herz zu schnell schlug und ihr Mund seltsam trocken war. Hatte sie sich diese merkwürdige Begebenheit nur eingebildet? Reece wirkte völlig normal, als wäre nichts passiert. Auch schien er nicht mehr benommen zu sein, was sie erleichterte, wenngleich sie nicht wusste, ob ihr der harte, kritische Ausdruck in den grünen Augen besser gefiel.

„Ich darf mich in meiner Lage wohl kaum beklagen …?“

„Darcy.“

„Natürlich … Darcy. Ich stehe in Ihrer Schuld, Darcy.“

Er fand ihren Namen offenbar sehr exotisch und ihre Familie vermutlich auch. Wenn er nicht glaubte, in ihrer Schuld zu stehen, hätte er wahrscheinlich keine Skrupel gehabt, sich zu beschweren. Er vermittelte nicht den Eindruck, als wäre er ein geduldiger Mensch. Allerdings wäre ich bestimmt auch nicht besonders umgänglich, wenn ich mich gerade verletzt hätte, überlegte sie und erwiderte freundlich: „Ich führe keine Strichliste.“

„Sie verhalten sich einfach bloß gutnachbarlich?“

Schon wieder diese bittere Skepsis, dachte sie und stieg ein. „Ist es so ungewöhnlich?“, fragte sie leicht gereizt.

„Nur verschwindend seltener als ein ehrlicher Politiker.“

Er hatte gleich bemerkt, dass sie sich irgendwann in den letzten Minuten die Lippen geschminkt hatte. Diese typisch weibliche Eitelkeit amüsierte ihn, doch zog ihr ausgesprochen sinnlicher Mund seinen Blick jetzt noch magischer an. Und trotz der dumpfen Schmerzen in seinem Körper spürte er, wie Verlangen in ihm erwachte. Nervös setzte er sich etwas anders hin.

„Anscheinend hat Ihr Zynismus den Sturz unbeschadet überstanden. Ich gratuliere.“

„Sie klingen missbilligend.“

Darcy zuckte die Schultern. Sie stritt nicht mit Leuten, die dringend ärztlich versorgt werden mussten.

„Meiner Erfahrung nach tut selten jemand etwas umsonst“, erklärte er energisch.

Offenbar war er ein Mann mit festen Ansichten und hielt sich für unfehlbar. Sollte er doch denken, was er wollte. Sie teilte seine verbitterte Einstellung nicht und hätte unter anderen Umständen vielleicht heftig mit ihm diskutiert, aber so versicherte sie ihm nur freundlich: „Ich habe keine Hintergedanken.“

Reece zog die Brauen hoch, gab ihr ganz eindeutig zu verstehen, dass er ihr nicht glaubte. Und während sie über die beschlagene Windschutzscheibe wischte, fühlte sie, wie ihre Abneigung gegen ihn wuchs und es ihr immer schwerer fiel, diese zu verbergen.

Sollte das eine Rüge sein oder nicht? fragte er sich insgeheim und konnte sich nicht entscheiden. Allerdings hegte er keinen Zweifel an ihrer Missbilligung. Sie schlug ihm fast so deutlich entgegen wie der blumige Duft ihres leichten Parfüms, den er unwillkürlich einatmete.

„Er mag kein nasses Wetter“, entschuldigte sich Darcy, nachdem sie dreimal vergebens versucht hatte, den Motor anzulassen.

„Wer mag …“

„Bingo!“ Erleichtert seufzte sie auf, als es endlich klappte. „Der Wagen ist zuweilen etwas launisch.“ Fast zärtlich klopfte sie auf das Armaturenbrett, und Reece war nicht wirklich überrascht, dass sie dem alten, verrosteten Auto menschliche Eigenschaften zuschrieb. Es passte zu der gefühlvollen Art, die sie bislang gezeigt hatte. „Gleich wird es auch warm“, versprach sie und lächelte ihn an, zählte offenbar nicht zu den nachtragenden Leuten. „Ich fahre einen Schleichweg. Dann sind wir schnell dort.“

„Gut.“ Demonstrativ wandte er den Kopf und blickte zum Fenster hinaus. Hoffentlich verstand sie den Wink und ließ ihn in Frieden.

Darcy fühlte sich brüskiert und errötete vor Zorn. Nur zu gern würde sie diesen Griesgram ignorieren, doch das durfte sie nicht. Er konnte bei dem Sturz einen Schädelbruch erlitten haben, und wenn er während der Fahrt eindämmerte, würde sie nicht wissen, ob er nur schlief oder ins Koma gefallen war. Verstohlen sah sie zu ihm hin und forschte in seinem Gesicht nach Anzeichen für eine drohende Ohnmacht. Glücklicherweise entdeckte sie keine. Allerdings wirkte sein atemberaubend markantes Profil im Zwielicht fast bedrohlich und beunruhigte sie. Das kommt von Nicks abenteuerlichen Vermutungen, die du noch im Hinterkopf hast, machte sie sich insgeheim klar und spürte eine seltsame Nervosität am ganzen Körper.

„Was führt Sie hierher zu uns nach Yorkshire?“ Sie musste ihn wach halten, und eine harmlosere Frage gab es kaum.

„Die Abgeschiedenheit“, antwortete er schroff und hoffte, dass sie den Wink dieses Mal verstand.

Bei jedem anderen hätte Darcy dieses unhöfliche Benehmen dem angegriffenen Allgemeinzustand und den Schmerzen zugeschrieben und es entschuldigt. Doch das galt für jeden anderen!

Reece schätzte sich eigentlich als tolerant und geduldig ein. Aber nach zehn Minuten und einer, wie er fand, wahren Sintflut von Fragen rang er um Beherrschung.

„Sie können Weihnachten unmöglich in dem verfallenen Haus verbringen wollen!“

Nicht, dass der ausgesprochen attraktive und gleichermaßen verschlossene Mr. Erskine dies klar gesagt hätte! Er hatte nichts von sich aus erzählt und nur immer vage geantwortet, doch die wenig gehaltvollen Erwiderungen ließen dennoch diesen Rückschluss zu.

„So?“ Ihm waren ebenfalls schon Bedenken gekommen, allerdings ging sie das überhaupt nichts an. Vermutlich würde er sich auch dieses Jahr wieder über die Feiertage in irgendein festlich geschmücktes Hotel zurückziehen.

Verdammt, fluchte er insgeheim, dieser Wagen ist nichts für große Leute. Sein rechter Fuß schien völlig taub. Er hob das Bein ein wenig an und bewegte den Fuß vorsichtig hin und her, wobei sein Oberschenkel flüchtig gegen Darcys stieß.

Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Sie hatte das Gefühl, einen elektrischen Schlag zu bekommen, dessen Energie sich in ihrem Bauch sammelte und entlud. Verflixt, was war nur mit ihr los?

Fast hätte ihre kurze Unaufmerksamkeit böse Folgen gehabt. Kräftig trat sie auf die Bremse, damit die streunende Katze, die im Licht der Scheinwerfer aufgetaucht war und etwas geblendet wurde, noch sicher auf die andere Straßenseite gelangte, wo sie im Gebüsch verschwand.

„Puh, das war knapp!“, meinte sie, nachdem sie sich etwas von dem Schreck erholt hatte, und gab wieder Gas.

Wie wahr, dachte Reece. Er war nur dank des angelegten Sicherheitsgurts nicht mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geschlagen, und seine geprellten Rippen und die Schulter reagierten sehr schmerzhaft auf diese Rettungstat. Zweifellos gehörte seine Fahrerin zu den Menschen, die Leib und Leben riskierten, um ein Tier vor dem Tod zu bewahren.

„Sind Sie okay?“

Wie nett, dass sie sich danach erkundigte! „Mir geht es gut.“ Er klang ausgesprochen schroff.

Kritisch blickte sie ihn kurz an. „Nein, das tut es offensichtlich nicht. Haben Sie sich noch mehr verletzt? Soll ich anhalten?“

Bloß nicht! Dann würde er sie nur noch länger ertragen müssen. „Nein. Ich habe mir lediglich die Schulter angestoßen. Warum“, fuhr er dann schnell fort, damit sie nicht weiter nachfragte, „soll ich die nächsten Tage nicht in dem Haus verbringen?“

„Klammern wir Ihre Verletzungen einmal aus.“

„Ja, machen wir das.“

„Und die Tatsache, dass das Haus unbewohnbar ist.“

„Ich finde es ganz gemütlich.“

Darcy stoppte vor einer roten Ampel. „Es ist Weihnachten!“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Schon mal was von der Zeit des Friedens und der Freude gehört, vom Fest der Liebe, die man auch seinen Mitmenschen zuteilwerden lässt?“

„Und wenn dann das neue Jahr beginnt, kann ich sie wieder übers Ohr hauen?“

Hinter ihr wurde ungeduldig gehupt. Darcy sah, dass die Ampel Grün zeigte, und fuhr los. „Sind Sie aus Spaß an der Freude immer so widerwärtig?“

„Es vermittelt mir ein Wohlgefühl.“

„Ich glaube, Sie haben den Geist von Weihnachten nicht verstanden, Mr. Erskine.“

„Ich heiße Reece. Und was Weihnachten betrifft, Darcy, so ist es für mich eine Zeit im Jahr wie jede andere.“

„Heißt das, Sie feiern es überhaupt nicht?“ Eigentlich ging es sie nichts an, wie er die Tage verbrachte, doch aus irgendeinem Grund musste sie weiter nachfragen. „Was ist mit Ihrer Familie?“

„Ich habe keine Familie.“ Er hatte nicht im Mindesten ein schlechtes Gewissen, seine vielen Verwandten zu verleugnen.

„Oh!“ Darcy fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie diesbezüglich so reich gesegnet war. „Das ist traurig. Aber selbst Sie müssen Freunde haben“, sagte sie ernst und hörte, wie er scharf einatmete. Nein, sie hatte es nicht so gemeint, wie es geklungen hatte.

Versuchen Sie, mich zu reizen?“

„Warum sollte ich?“ Obwohl es – wenn auch gefährlich – vergnüglich wäre.

„Holen mich die Sünden aus einem früheren Leben ein?“

Sarkastischer Mistkerl! Darcy unterdrückte ein Lachen. „Vielleicht haben Sie keine Freunde?“

„Ich habe Freunde, und zwar solche, die meine Privatsphäre respektieren.“

„Dann ist es eine Glaubenssache?“

„Was ist …“

„Dass Sie Weihnachten ignorieren.“

„Es ist eine persönliche Entscheidung.“

„Sie brauchen nicht zu schreien“, rügte Darcy ihn freundlich.

Genervt atmete Reece ein. „Es ist für Sie vielleicht schwer zu verstehen, aber ich mag die Weihnachtszeit nicht.“

„Drinnen muss es ziemlich spartanisch sein“, überlegte sie laut, während sie sich das verfallene Herrenhaus vorstellte.

„Das hängt davon ab, was man gewohnt ist.“

Verstohlen blickte sie zu ihm hin. Er sah aus, als wäre er in jeder Beziehung nur das Beste gewohnt. Warum beschloss ein Mann wie er, dort seine Zeit zu verbringen? Es ergab keinen Sinn. Außer, er lief vor irgendetwas davon oder versteckte sich. Hatte Nick mit seinen verrückten Vermutungen am Ende vielleicht recht?

Selbst wenn er ein Triebtäter ist, dürfte ich nichts zu befürchten haben, dachte sie im nächsten Moment spöttisch. Er wirkte nicht wie ein Mann, den Frauen reizten, die man für Jungen halten konnte. Ich Glückliche! dachte sie.

Hör auf, dich zu bemitleiden, forderte sie sich insgeheim auf. Sie konnte nicht leugnen, dass sie ihn körperlich anziehend fand, doch sollte sie diesen peinlichen Umstand besser nicht zu erkennen geben, denn er betrachtete es zweifellos als normal, dass sich die Frauen seinetwegen zu Närrinnen machten. Und da sie ihn eindeutig nicht interessierte und sie beide einander fremd bleiben würden, konnte sie sich eine unbequeme Analyse ihrer Gefühle ersparen.

„Ich weiß zwar nicht, wie es im Herrenhaus zurzeit aussieht, aber …“

„Sie überraschen mich“, sagte Reece beißend. Er war es nicht gewohnt, sein Tun zu erläutern, und fest entschlossen, ihren Spekulationen ein Ende zu bereiten. „Ich hatte den Eindruck, dass sich die Einheimischen über alle Entwicklungen hier ziemlich gut auf dem Laufenden halten, und dachte, ich hätte die Neugier-Metropole von Yorkshire entdeckt.“

Scharf atmete sie ein, konnte ihren Ärger nur schwer zügeln. „Sie müssen etwas Nachsicht mit mir üben, denn ich bin nur für die Ferien zu Hause und noch nicht ganz im Bild.“

„Das erklärt einiges.“

Ihre Langmut war nicht grenzenlos und sie auch nicht willens, alles und jedes mit seinem angeschlagenen Allgemeinzustand zu entschuldigen. „Wir sind neugierig? Ich finde das eine köstliche Bemerkung aus dem Mund eines Mannes, der mir von einem Baum aus nachspioniert hat.“ Sie hatte es eigentlich nicht ansprechen wollen, doch er hatte es provoziert.

Reece spürte, wie er erneut rot wurde, was ihm vor dem heutigen Tag eine Ewigkeit nicht mehr passiert war. „Ich habe Ihnen nicht nachspioniert.“

„Das behaupten alle Voyeure“, erwiderte sie mit einem kleinen herausfordernden Lächeln.

Kurz presste er die Lippen zusammen. „Dann bin ich vom Triebtäter zum Voyeur degradiert?“

„Sie haben gelauscht?“ Darcy errötete und überlegte hektisch, was Nick und sie Übles geredet hatten.

„Ich hätte es schwer überhören können, da Sie so geschrien haben.“

„Schreien ist besser als Spionieren.“

„Ich habe lediglich überprüft, woher die Lärmbelästigung kam.“ Er konnte sich nur noch mit Mühe beherrschen. Im nächsten Moment bemerkte er, dass sie auf eine besonders tückische Kurve zufuhren, und stützte sich vorsichtshalber am Armaturenbrett ab. „Würden Sie mir den Gefallen tun und sich auf die Straße konzentrieren“, sagte er grimmig, als Darcy ihn aus den Augenwinkeln wütend ansah.

„Das ist so schwer bei Ihrem Anblick“, entschuldigte sie sich, seufzte inbrünstig und legte kurz eine Hand auf ihr wild klopfendes Herz. Leider fiel es ihr tatsächlich immer schwerer, seine Anziehungskraft zu ignorieren.

Reece rutschte erneut auf dem Sitz hin und her, als suchte er eine bequemere Position, um seine Beschwerden zu lindern. Zwangsläufig streifte er auf dem engen Raum mit seinen breiten Schultern ihren Arm, und Darcy, die gerade noch ein leises Schuldgefühl empfunden hatte, weil sie zu einem verletzten Mitmenschen nicht nett gewesen war, spürte ein Kribbeln in ihrem Körper, das die Gewissensbisse überlagerte. Ihr Blut pulste noch schneller in den Adern, und sie krallte grimmig die Finger ums Lenkrad.

„Ha, ha“, spottete Reece, als sie herausfordernd den Kopf zurückwarf. „Ich bin hergekommen, um meine Ruhe zu haben, und Sie haben einen solchen Lärm verbreitet.“

Sie hatte nie von sich behauptet, eine Wunderstimme zu besitzen, doch ihren Gesang als Lärm zu bezeichnen war nun wirklich übertrieben – und sehr aufbauend. „Wenn Sie sich immer so benehmen, werden Sie bestimmt Ihre Ruhe haben“, erwiderte sie trocken. „Wir hier auf dem Land interessieren uns für das, was unsere Freunde und Nachbarn tun. Es mag zwar manchmal aufdringlich sein …“

Gebannt beobachtete er, wie sich ihre wohlgeformten Brüste schnell hoben und senkten. Warum war er davon so fasziniert? Er hatte schon wesentlich aufregendere Brüste gesehen. Besorgt erinnerte er sich, gelesen zu haben, dass Kopfverletzungen die Persönlichkeit total verändern konnten.

„… ist aber besser als diese Gleichgültigkeit.“

„Große Güte!“ Gequält stöhnte er auf und bewegte den Kopf hin und her, um die immer steifer werdende Nackenmuskulatur zu lockern. „Ich hätte lieber ein Taxi nehmen sollen.“

„So schlecht fahre ich nun auch wieder nicht.“ Es war ihr nicht entgangen, wie angespannt er neben ihr saß.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar für das, was Sie getan haben.“

Wenn das nicht gezwungen geklungen hatte! „Sparen Sie sich Ihre Dankbarkeit.“ Sie winkte seinen Protest so energisch ab, dass sie den Wagen leicht zur Straßenmitte lenkte und gegensteuern musste. „Wir sind hier auf dem Land vielleicht neugierig, aber wir lassen keine Verletzten liegen oder fordern eine Belohnung, wenn wir uns um sie kümmern.“ Empört sah sie ihn von der Seite an. Seinem Benehmen nach zu schließen, hielt er sich wohl für sehr wichtig. „Allerdings möchte ich nicht den Eindruck erwecken, es würde mich auch nur geringfügig interessieren, wenn Sie eine dreifache Lungenentzündung bekämen. Ich war lediglich höflich und habe freundlich Konversation betrieben, um Sie von Ihren Schmerzen abzulenken.“

„Mir tut nichts weh.“

Hochmütig rümpfte sie die Nase. „Sie müssen mir nichts erzählen, wenn Sie nicht wollen.“ Konzentriert blickte sie auf die regennasse Fahrbahn.

„Nein, das brauche ich nicht, oder?“

Als nach fünf Minuten das Krankenhaus in Sicht kam, brach Reece das Schweigen, ohne selbst zu verstehen, warum. „Ich bin eine ganz schöne Last.“

Darcy ließ sich mit der Antwort Zeit. Offenbar plagte den Griesgram doch ein wenig das Gewissen, dessen Existenz er nach außen hin gern leugnete. „Ja“, bestätigte sie schließlich liebenswürdig.

Plötzlich spürte er den unsinnigen Wunsch, ihr noch einmal ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. „Und ich benehme mich wie ein undankbares Scheusal.“ Er hatte sich nicht umsonst bemüht, denn sie verzog amüsiert den Mund.

„Was für eine Einsicht.“

Dieser Mund lädt wirklich zum Küssen ein, dachte er, wenn sie nur nicht eine solch scharfe Zunge hätte. „Ich bin hergekommen, um Weihnachten zu entfliehen.“

„Das hätten Sie gleich sagen sollen.“

„Was hätte ich gleich sagen sollen?“

Darcy hielt vor dem Eingang der Notaufnahme. „Weihnachten ruft schlechte Erinnerungen in Ihnen wach?“

Reece versteifte sich noch mehr, und sie wünschte, sie hätte nicht spontan gefragt. Flüchtig hatte sie in seinen grünen Augen etwas aufblitzen sehen, das ihr das Gefühl vermittelt hatte, ihm zu nahe getreten zu sein. Jetzt war der Moment vorbei, und er blickte sie nur noch argwöhnisch und feindselig an.

„Wovon, zum Teufel, reden Sie?“

Darcy schüttelte den Kopf. „Ich hatte den Eindruck … Ach, vergessen Sie’s, ich habe mich getäuscht. Ich lasse Sie hier raus, dann müssen Sie nicht so weit laufen.“

Soll ich ihm wirklich in die Notaufnahme folgen? überlegte sie, als sie nach langem Suchen endlich einen Parkplatz gefunden hatte, und blieb unschlüssig hinterm Steuer sitzen. Es war gut möglich, dass er es nicht wollte, andererseits war es grob unhöflich, wenn sie einfach wegfuhr, ohne nachgefragt zu haben, wie es ihm ging. Und ihre Familie würde es bestimmt auch sehr seltsam finden, wenn sie ohne Informationen zurückkehrte.

Mit gemischten Gefühlen betrat sie schließlich die leere Wartezone und wandte sich an die Dame in der Anmeldung. „Ich wollte mich nach Mr. Erskine erkundigen“, begann sie zögerlich.

„Sie werden schon erwartet.“

„Ich werde schon erwartet?“ Hier musste eine Verwechslung vorliegen.

„Ja, man hat mir gesagt, ich solle Sie gleich hineinschicken. Rob!“ Sie winkte einen Krankenpfleger herbei. „Bitte bringen Sie Mrs. Erskine in den Untersuchungsraum drei.“

Mrs. Erskine? Große Güte, sie dachten … „Das bin ich nicht“, erklärte Darcy leise, während sie gehorsam neben dem jungen Mann herging, der ihr jedoch nicht zuzuhören schien. Sie empfand die Situation als entsetzlich peinlich und hoffte, dass Reece nicht annahm, sie hätte sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen den Zutritt verschafft. „Ich glaube, ich werde mit jemandem …“, sagte sie, als der Pfleger ihr die Tür öffnete.

„Darcy, Darling, da bist du ja.“

Darling? „Große Güte“, stieß sie hervor, während sie wie gebannt auf den nackten Oberkörper des Mannes sah, der sie so trügerisch warmherzig begrüßt hatte. Er trug inzwischen eine Halsmanschette und versuchte gerade, sich einhändig den Reißverschluss der Hose zuzumachen.

Unwillkürlich bemerkte sie seine breiten Schultern und die muskulöse Brust, und ihr Mund wurde ganz trocken. Auch verstand sie jetzt, warum er vorhin auf ihr Bremsmanöver so gereizt reagiert hatte. Sein Oberkörper war auf einer Seite mit blauen Flecken nur so übersät.

„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, meinte Reece besänftigend, und sie errötete vor Verlegenheit.

„Gut.“

„Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen.“

Ihr stockte der Atem, als sie erkannte, dass er vom Schließen des Reißverschlusses sprach. Beunruhigt wich sie zurück und stieß in dem kleinen Raum mit einer zweiten Person zusammen, die sie bis dahin überhaupt nicht bemerkt hatte. „Entschuldigung.“

„Es ist nichts passiert“, erwiderte der weiß gekleidete Mann freundlich. „Bis auf einige gebrochene Rippen, diverse Prellungen und natürlich die ausgekugelte Schulter.“

„Wie bitte?“

Verwundert blickte der Arzt sie einen Moment an und lächelte dann. „Ich meine nicht mich, sondern Ihren Ehemann.“ Er hielt die Röntgenaufnahme ins Licht.

Hoffnungsfroh wartete Darcy darauf, dass Reece den Irrtum aufklärte. Als er aber nichts unternahm, war sie nur umso verwirrter und wandte sich dem Arzt zu, um nicht unhöflich zu erscheinen. „Was heißt einige gebrochene Rippen?“

Er befestigte die Aufnahme auf dem erleuchteten Bildschirm und benutzte seinen Kuli als Zeigestock. „Nummer eins, zwei … und drei.“

„Ich hatte einen Schlüsselbeinbruch vermutet.“ Überdeutlich spürte sie, dass Reece hinter sie getreten war.

„Ich verstehe warum, doch das ist nicht der Fall. Die Schulter war ausgekugelt. Wir haben sie wieder eingerenkt, und sie dürfte in ein paar Tagen wieder völlig okay sein. Allerdings würden wir Ihren Mann wegen der Kopfverletzung gern über Nacht dabehalten, wovon er nicht begeistert ist, Mrs. Erskine.“

„Ich bin nicht …“

„Du bist nicht überrascht, oder, Darling?“, unterbrach Reece sie freundlich. „Sie weiß, wie sehr ich Krankenhäuser hasse.“

Er strich ihr die Haare zur Seite, und nur Sekunden später spürte sie seine kalten Lippen auf ihrem Nacken. Unwillkürlich schloss sie die Augen und fühlte sich jeder Kraft beraubt.

„Ich hätte darauf bestanden“, erklärte der Arzt lächelnd, „wenn er zu Hause nicht von einer erfahrenen Krankenschwester betreut würde.“

Er ist mit einer Krankenschwester verheiratet, dachte sie und machte die Augen wieder auf. Doch dann begriff sie, dass sie damit gemeint war.

„Wo sind Sie zurzeit beschäftigt, Mrs. Erskine?“

„Ich … ich bin …“

„Darcy ist momentan nicht berufstätig. Sie kümmert sich um unser Zuhause, was zweifellos ein Fulltime-Job ist. Stimmt’s, Darling?“ Er umfasste ihr Kinn, drehte ihren Kopf ein wenig und zwang sie, ihn anzusehen.

Nicht, dass er sie hilfeflehend anblickte. Wenn überhaupt, spiegelte sich ein Ausdruck stummer Herausforderung in seinen Augen. „Ja, du bist wirklich ein Fulltime-Job.“

Der Arzt lachte. „Ich schicke Ihnen jemanden, der die Kopfwunde näht.“

„Sind Sie verrückt geworden?“, fragte Darcy ärgerlich, kaum waren sie allein. Sie ärgerte sich auch über sich, weil sie nicht die Wahrheit gesagt hatte, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte.

„Nicht so laut, Darling. Man könnte dich hören.“ Er wirkte ausgesprochen zufrieden und begann, sich seelenruhig das Hemd anzuziehen, als wäre nichts geschehen.

Sie wurde noch wütender. „Sollen sie doch.“

Leicht gereizt sah er sie an.

„Was wollen Sie eigentlich damit bezwecken?“

„Das wissen Sie genau. So dumm sind Sie nicht.“

Kritisch blickte sie ihn an. „Nehmen wir es rein theoretisch einmal an.“

„Ohne die Zusicherung, dass sich jemand um mich kümmern würde, wollte man mich eigentlich nicht entlassen. Natürlich hätte ich einfach gehen können, aber es schien mir für alle Beteiligten das Angenehmste zu sein, wenn ich mich als Ehemann ausgebe.“ Und mit jeder Minute, die ich länger im Krankenhaus bin, fügte er in Gedanken hinzu, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass mich jemand erkennt, und dann dauert es erfahrungsgemäß nicht mehr lange, bis irgendein Reporter auftaucht.

„Und da haben Sie an mich gedacht. Ich fühle mich zutiefst geehrt.“ Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. „Warum, in aller Welt, musste ich auch noch Krankenschwester sein?“

„Ich fand es eine nette Geste“, antwortete er selbstgefällig.

„Sie sind verrückt … total verrückt.“

„Dann sind Sie keine Krankenschwester?“

„Nein, das bin ich nicht.“

„Als Ihr Vater sagte, Sie seien eine gute Krankenschwester …“

„Ich habe mehrere Brüder und weiß, wie man ein Pflaster aufklebt. Aber ich bin nicht Florence Nightingale!“

„Stimmt. Niemand, der nur einen Funken Mitgefühl im Leib hätte, würde zusehen, wie ich mich abmühe.“ Er stand etwas ratlos da, hatte den einen Hemdsärmel übergestreift und fragte sich, was er nun tun sollte.

„Sie treiben es ganz schön weit. Was ist, wenn mich hier jemand um Hilfe bittet?“

„Ist das wahrscheinlich?“

Er hält mich offenbar für leicht hysterisch, dachte Darcy und wurde sich bewusst, dass sie sich von dem eigentlichen Grund ihrer Wut entfernten. „Versuchen Sie nicht, das Thema zu wechseln.“

Reece zog die Brauen hoch. „Welches da war?“

„Ich bin nicht Ihre Frau!“

„Das ist wahr“, bestätigte er und schien sehr erleichtert. „Ich dachte, Sie hätten nichts dagegen. Schließlich bitte ich Sie ja nicht wirklich, mich zu heiraten oder etwas ähnlich Bedrohliches zu tun.“

„Nur zu Ihrer Information: Mir wurde schon mehrmals ein Heiratsantrag gemacht!“

„Gratuliere.“ Amüsiert sah er sie an.

Verdammt, warum hatte sie sich nur zu dieser Antwort hinreißen lassen, die noch dazu überhaupt nicht zu seiner Erwiderung passte! Sie errötete vor Verlegenheit. „Was wäre gewesen, wenn ich einfach wieder nach Hause gefahren wäre?“

„Ich wusste, dass Sie es nicht tun würden.“

„Das konnten Sie unmöglich wissen!“

„Die Schuldgefühle hätten Sie aufgefressen. Sie wollen immer das Richtige machen“, erklärte er, als würde er es für einen Charakterfehler halten. „Seien Sie keine Spielverderberin, Darcy.“

„Ich werde nicht für Sie lügen.“

Reece seufzte. „Stellen Sie es nur einfach nicht klar. Um mehr bitte ich Sie nicht. Verlassen Sie mit mir das Krankenhaus, und danach brauchen Sie mich nie wieder zu sehen.“

„Ich muss verrückt geworden sein.“

„Das ist sehr nett von Ihnen“, meinte er lächelnd, als auch schon die Tür aufging und der Pfleger hereinkam, der Darcy vorhin hergebracht hatte.

„Ich werde jetzt Ihre Kopfwunde nähen.“

Sofort ergriff sie die Gelegenheit, um sich zu entschuldigen. „Ich warte draußen.“ Auf halbem Weg blieb sie noch einmal stehen. „Machen Sie es unter örtlicher Betäubung?“, fragte sie den Pfleger.

Verwirrt blickte er sie an. „Ja, schon.“

„Wie schade“, erwiderte sie boshaft und ging von Reece’ rauem Lachen begleitet zur Tür.

3. KAPITEL

„Auf Wiedersehen, Mrs. Erskine … Mr. Erskine“, sagte die junge Frau von der Anmeldung schwärmerisch und ehrfürchtig zugleich, als sie sich widerstrebend vor der Drehtür von ihnen verabschiedete.

Draußen seufzte Darcy erleichtert auf. Hätte die Angestellte genug Zeit gehabt, hätte sie bestimmt auch noch einen roten Teppich für sie ausgerollt. Aber zumindest brauchte sie jetzt nicht länger die Rolle der Ehefrau zu spielen. „Fast hätte man meinen können, wir wären Mitglieder der königlichen Familie. Haben Sie immer eine solche Wirkung auf die Leute?“

„Von welcher Wirkung sprechen Sie?“

Darcy zog die Brauen hoch. „Als ob Sie es nicht bemerkt hätten! Die junge Frau hat sich beinahe überschlagen. Ihr Benehmen grenzte schon an Unterwürfigkeit.“

Reece lächelte nur geheimnisvoll, dennoch hatte sie den Eindruck, dass ihm die privilegierte Behandlung noch mehr missfallen hatte als ihr.

„Wo haben wir geparkt?“, fragte er, während sie das Krankenhausgelände verließen.

„Wir?“ Sie sah ihn an und dann schnell wieder beiseite, wollte aus irgendeinem Grund den Blickkontakt nicht aufrechterhalten. Du führst dich wie ein alberner Teenager auf, der sich scheut, das unerreichbare Objekt seiner Begierde zu betrachten, rief sie sich stumm zur Vernunft und ermahnte sich, endlich erwachsen zu werden und aufzuhören, sich wie eine Idiotin zu benehmen.

Unvermittelt blieb Reece unter einer Straßenlaterne stehen und zupfte etwas an der Lederjacke herum, die man ihm um die breiten Schultern gehängt hatte. Er hatte den Kopf leicht vorgebeugt, sodass sie ihm nicht richtig ins Gesicht blicken konnte, doch was sie davon sah, war atemberaubend genug.

„Wollen Sie mich einfach mir selbst überlassen?“

„Ja, das habe ich vor“, bestätigte sie und erkannte, wo ihr Plan hakte, noch bevor Reece es ihr pathetisch aufzeigte.

„Ich habe weder Geld noch eine Kreditkarte dabei. Überzeugen Sie sich selbst.“ Er hielt die Jacke auf.

Oh nein, ich werde mich nicht noch einmal so weit vorwagen und erneut riskieren, dass meine Hormone verrückt spielen, dachte sie und legte unbewusst die zu Fäusten geballten Hände auf den Rücken. „Sie brauchen nicht das vom Aussterben bedrohte Wesen zu mimen. Ich glaube Ihnen.“ Sie seufzte schicksalergeben. „Sehe ich so weich und nachgiebig aus?“

Er neigte den Kopf etwas zur Seite und betrachtete sie. „Ja, das tun Sie.“ Und sie sah ausgesprochen jung aus, steckte offenbar noch voller Ideale und vermittelte den Eindruck, ein leichtes – und verletzbares – Opfer für skrupellose Menschen zu sein. Möglicherweise war sie Studentin, die die Ferien zu Hause verbrachte.

Wie lange ist es schon her, dass ich selbst so jung und naiv war, dachte er, und es schien ihm angesichts seiner seltsamen Gedanken ein günstiger Zeitpunkt zu sein, sich daran zu erinnern, wie sehr sie sich von den Frauen unterschied, die vorübergehend etwas Abwechslung in sein Junggesellenleben brachten. Nicht, dass er mehr als eine kleine Affäre dann und wann überhaupt wollte.

„Und Sie sind jemand, der es ausnutzt“, erwiderte Darcy gereizt. Seine Ehrlichkeit hatte sie furchtbar wütend gemacht.

Von Reece Erskine ausgenutzt – was für eine Idee! Weich … nachgiebig … hallte es in seinem Kopf, und sein Verstand war offenbar fest entschlossen, weiter um diese Worte zu kreisen. An Nahrung fehlte es ihm wahrlich nicht in Anbetracht von Darcys weichen, wohl auch nachgiebigen Lippen und in Erinnerung an ihre herrlichen Brüste …

Reiß dich zusammen, ermahnte er sich im Stillen und bekämpfte das plötzliche Verlangen, sich näher zu ihr zu beugen, den blumigen Duft ihres Parfüms einzuatmen und ihre Weichheit zu spüren.

Energisch ging Darcy weiter, obwohl sie nicht mehr wusste, wo sie den Wagen geparkt hatte. Doch sie wollte sich nicht erneut seinem Spott aussetzen. Der Gedanke, ein zweites Mal mit ihm auf engem Raum eingesperrt zu sein, erschreckte sie so sehr, dass sie nicht mehr klar denken oder mit Würde zu ihrer Gedächtnislücke stehen konnte. Natürlich folgte er ihr auf dem Fuße.

„Sie sagten, dass ich Sie nie wiederzusehen bräuchte.“

„Ich halte viel davon, den Leuten zu sagen, was sie hören wollen, wenn es zum Ziel führt.“

„Sie halten also viel vom Lügen.“

„So würde ich es nicht ausdrücken.“

„Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt.“ Wie schade, dass er trotz seines angeschlagenen Zustands keine Schwierigkeiten hatte, bei ihrem recht hohen Tempo mitzukommen.

„Ich bin auch nicht gerade begeistert, dass ich jemanden bitten muss, mich mitzunehmen.“

Was für ein undankbarer Mistkerl dachte Darcy wütend und blieb so unvermittelt stehen, dass er fast mit ihr zusammenstieß. Zornig sah sie ihn an. „Dann sind wir schon zwei!“

Ihre Blicke begegneten sich, und genau in dem Moment spürte sie es – ein dermaßen spannungsgeladenes Gefühl der Erregung, dass es sogar die Luft zum Flirren brachte und ihre Glieder lähmte. Reece schien Ähnliches zu erleben. In seinen Augen spiegelte sich brennendes Verlangen, und er sah wie unter Zwang immer wieder auf ihren leicht geöffneten Mund, während sie selbst meinte, von diesem glühenden Blick aufgesogen zu werden.

Leise seufzte sie auf, hätte ihm am liebsten die Arme um den Nacken gelegt und ihre Lippen auf seine gepresst. Wie sie sich wohl anfühlten? Warm … kalt … fest … Immer wieder durchrieselten sie prickelnde Schauer.

Natürlich würde sie es nicht tun, denn sie war keine Frau, die einfach der Lust und Begierde nachgab. Allerdings waren ihre Gedanken frei, und ihre Fantasie ging eigene Wege, sodass ihr, Darcy, trotz der herrschenden Kälte ganz heiß wurde, ihr Mund mehr und mehr austrocknete und ihre Knie immer weicher wurden.

Stumm standen sie voreinander, und die abendliche Stille wurde nur von der in weiter Ferne heulenden Sirene eines Krankenwagens unterbrochen. Das wird zu nichts Gutem führen, mahnte die Stimme der Vernunft Darcy leise, doch sie achtete nicht darauf und hatte auch jegliches Zeitgefühl verloren.

Reece sah ihren sinnlichen Mund, hörte sie unregelmäßig atmen und konnte sich mit jeder Sekunde schwerer beherrschen. Er beobachtete, wie sich ihre Finger entkrampften und sie langsam eine Hand hob. Wie würde es sich wohl anfühlen, wenn sie sein Haar berührte … sein Gesicht streichelte …

Er fluchte verhalten und machte einen Schritt zurück. „Darcy.“

Es klang, als würde ein Erwachsener ein sorgloses Kind warnen, das gerade etwas Gefährliches tun wollte.

Verlegen ließ sie die Hand sinken. Sie fühlte sich benommen und war verwirrt von dem, was eben geschehen war. Er hatte sie küssen wollen, oder? Ihre Fantasie konnte unmöglich mit ihr durchgegangen sein, dass sie es sich nur eingebildet hatte, oder etwa doch?

Nein, es ist keine Sinnestäuschung gewesen, es war wirklich so, entschied sie im nächsten Moment und hob herausfordernd das Kinn. Auch wenn es unwahrscheinlich schien, hatte er sie genauso küssen wollen wie sie ihn. Entschlossen blickte sie ihn an und sah seine maskenhaft starre Miene. Offenbar hatte er seine Meinung kurzfristig geändert.

Nein, sie würde sich von ihm nicht das Gefühl vermitteln lassen, dass sie sich schämen müsste. „Darcy, was?“, stieß sie zornig hervor. „Darcy, küss mich nicht?“, schlug sie schrill vor und stöhnte im nächsten Moment entsetzt auf. Wie hatte sie dies nur sagen können!

„Hatten Sie es vor?“

Ich habe es provoziert, gestand sie sich ehrlich ein und wusste nicht, was sie antworten sollte. Vernichtend blickte sie ihn an. „Wie taktlos, das zu fragen“, entrüstete sie sich schließlich, um zu verbergen, wie bestürzt sie über sich war.

Sie ist spontan und bringt sich dadurch leicht in Schwierigkeiten, dachte Reece und verstand, warum ihr Bruder ihn lieber selbst ins Krankenhaus gefahren hätte. Wenn sie seine Schwester wäre, würde er sie auch nach Möglichkeit nicht aus den Augen lassen wollen.

Darcy zwang sich, ihn weiter anzusehen, und bemerkte zum ersten Mal den strengen Zug um seinen Mund. Als wäre es ihm nicht leicht gefallen, mich nicht zu küssen, überlegte sie, und plötzlich kam ihr ein unangenehmer Gedanke. „Sind Sie verheiratet?“

Kritisch blickte er sie an, wunderte sich über die Frage und insbesondere über den vorwurfsvollen Ton. „Das ist belanglos.“

Er war es! Verächtlich presste sie die Lippen zusammen. Diese Situation wollte sie kein zweites Mal erleben. „Für mich nicht!“

Reece seufzte verärgert. Er wurde normalerweise mit ziemlich allem fertig, stellte aber jetzt überrascht fest, dass er es nicht aushalten konnte, von einem Paar großer blauer Augen angesehen zu werden, als wäre er ein unmoralischer Mensch. „Wenn es so wichtig für Sie ist. Ich war es, bin es allerdings nicht mehr.“ Deutlich merkte er ihr die Erleichterung an. „Mir ist jedoch nicht klar, warum es Sie so interessiert.“

Darcy hatte nicht vor, es ihm zu erklären. Sie fand es nicht unbedingt erzählenswert, dass sie – wenn auch unwissentlich – einmal eine Affäre mit einem verheirateten Mann gehabt hatte. „Ich würde mit Ihnen über Moral diskutieren, wenn ich glaubte, Sie würden etwas davon verstehen.“

„Was hat es mit Moral zu tun? Sie haben nichts gemacht …“

„Wenn ich es hätte … hätten Sie …“ Sie errötete und schlug sich an die Stirn. „Ich und mein flinkes Mundwerk!“ Was für eine Glanzleistung! Sie hatte sich von einer Verlegenheit in eine noch viel größere gebracht.

Unwillkürlich betrachtete Reece das Objekt ihrer Verachtung und schluckte. „Ja, ich hätte den Kuss erwidert“, sagte er rau, und es schien, als hätte er gegen seinen Willen geantwortet.

Erstaunt blickte sie ihn an. „Sie hätten …“, stieß sie ungläubig hervor, und er zuckte spöttisch die Lippen. „Ich wusste es.“ Leicht verwirrt, runzelte sie die Stirn. „Warum haben Sie es dann nicht getan?“ Sie errötete, als Reece auflachte und sie sich der Situation bewusst wurde.

„Sie küssen keine Ehemänner“, meinte er, nachdem er sie einige Sekunden eindringlich angesehen hatte. „Und ich küsse keine Frauen, die vom Alter her … meine kleine Schwester sein könnten.“

Mit dieser Erklärung hatte sie absolut nicht gerechnet. „Wie reizend, dass Sie doch Prinzipien haben.“

„Es überrascht mich genauso sehr wie Sie“, meinte er trocken und fuhr übergangslos fort: „Es ist ganz schön kalt. Wenn Sie sich nicht mit dem Gedanken anfreunden können, mich wieder mit zurückzunehmen, kann ich sicherlich eine andere Lösung finden.“

Darcy fasste ihn am Arm. Er zuckte nicht zusammen, war allerdings insgesamt ziemlich angespannt. Konnte es sein, dass er nicht so gelassen war, wie er vorgab? Diese schmeichelhafte Vorstellung beflügelte sie. „Für wie alt halten Sie mich?“

Vielleicht wäre es angesichts der knisternden Atmosphäre zwischen ihnen klüger gewesen, ihn nicht über ihr Alter aufzuklären, aber sie wollte sich gern die Genugtuung verschaffen, auch in seinen Augen als erwachsene Frau von Welt zu gelten. Und möglicherweise wollte sie zum ersten Mal im Leben mit dem Feuer spielen. Sie betrachtete ihn angelegentlich und schluckte. Zweifellos war er ein atemberaubend attraktiver – und gefährlicher – Mann.

„Für neunzehn oder zwanzig.“

„Ich bin siebenundzwanzig.“

Kritisch blickte er sie an. „Das kann nicht sein.“

„Doch. Ich bin kein unschuldiger Teenager mehr.“ Als ob er das unbedingt hatte wissen wollen!

„Was sind Sie dann?“

„Ihre größte Hoffnung, um nach Hause zu kommen.“

Amüsiert verzog er den Mund. „Das hatte ich keineswegs vergessen. Tatsächlich habe ich mich gerade gefragt, was Sie tun, wenn Sie nicht die barmherzige Samariterin spielen.“

Wehmütig sah sie ihn kurz an. „Eigentlich sollte ich momentan im Skiurlaub sein.“

„Aber dann hat Sie dieser glamouröse Ort im hintersten Yorkshire wie magisch angezogen.“

Seine beißende Ironie ließ sie ärgerlich die Stirn runzeln. Sie liebte ihre Heimat über alles und nahm jede Kritik sehr persönlich. „Es hat eine Familienkrise gegeben.“

„Weshalb man Sie herbeigerufen hat.“ Ja, das passte ins Bild.

„Es macht mir nichts aus“, erwiderte Darcy aufgebracht. Sein Ton hatte ihr überhaupt nicht gefallen. „Wen hätten Sie sonst um Hilfe bitten sollen?“

„Sagen Sie es mir. Ich erinnere mich zwar nur vage, doch will es mir scheinen, als wäre Ihre Familie nicht besonders klein.“

„Sie kennen noch nicht einmal die Hälfte“, antwortete sie leise. „Ich gerate jedes Mal in Panik, wenn ich daran denke, für wie viele Leute ich das Weihnachtsessen kochen soll.“

„Ist dies dasselbe Mädchen … pardon, dieselbe Frau, die jeden Streifen Lametta für heilig hält?“

„Dies ist die Frau“, erklärte sie ärgerlich, „die versucht, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten und kläglich scheitert.“ Kaum hatte sie ausgeredet, bereute sie die spontane Antwort und bereute sie umso mehr, als er sie, Darcy, neugierig ansah.

„Ist Ihre Mutter krank?“

„Nein. Sie ist … weg.“

Reece zog die Brauen hoch. „Ein anderer Mann …“, meinte er, und Darcy hatte den Eindruck, dass er sie weniger hart anblickte. „Das ist Pech, Kleines. Aber so etwas passiert.“

Zornig blitzte sie ihn an. Wie konnte er ihrer Mutter unterstellen, eine Affäre zu haben. „Nicht in meiner Familie! Meine Mutter hat sich an einen stillen Ort zurückgezogen, um neue Kräfte zu sammeln. Das ist alles.“ Tränen traten ihr in die Augen. „Und ich bin kein Kleines.“

Aufmerksam betrachtete er sie und hörte sich zur eigenen Überraschung fragen: „Möchten Sie darüber reden?“ Eigentlich neigte er nicht dazu, andere zu ermutigen, ihm das Herz auszuschütten.

„Nicht mit Ihnen.“

„Auch gut.“

Argwöhnisch sah sie ihn an. Er wirkte eher erleichtert als enttäuscht. „Wenn das Verhör vorbei ist, sollten wir weitergehen, bevor uns der Kältetod ereilt.“ Angelegentlich hauchte sie die eisigen Finger an, während sie sich in Bewegung setzte.

Sie war immer noch peinlich berührt von sich und hoffte, dass ihr zumindest die nächste Demütigung erspart blieb und sie den Wagen entdeckte. Ja, das Schicksal war ihr hold – allerdings nur für kurze Zeit.

„Ich finde die Schlüssel nicht“, gestand sie kleinlaut, nachdem sie sie in allen zur Verfügung stehenden Taschen gesucht hatte.

Schweigend hatte Reece sie beobachtet und kam nun um das Auto herum. „Sind es vielleicht die?“ Er zeigte auf den Schlüsselbund im Schloss der Fahrertür und zog ihn heraus.

Darcy streckte die Hand aus, aber er ließ den Bund nicht einfach hineinfallen, sondern legte ihn ihr auf die Innenfläche, wobei seine Finger ihre Haut streiften, die sofort zu kribbeln begann. „Danke“, sagte sie leise, wusste nicht, ob er sie so zufällig berührt hatte, wie es schien.

Er deutete eine Verbeugung an. „Gern geschehen.“

Im Wagen kam es ihr noch enger vor, als sie es in Erinnerung gehabt hatte. Schnell steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss und wollte den Motor anlassen, als Reece ihre Hand festhielt. Sogleich spürte Darcy wieder ein Kribbeln, das dieses Mal noch stärker und beunruhigender war. Aufgebracht und überrascht sah sie ihn an. „Was ist?“ Außer dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand!

„Die Sache mit dem Kuss.“

Sie zog die Hand zurück und legte sie auf die Brust. „Die Sache mit dem Kuss?“ Eine Gedächtnislücke vorzutäuschen schien die beste Strategie.

„Dass Sie mich küssen wollten.“

„Dass Sie mich küssen wollten.“

„Das auch“, bestätigte er. „Da Sie nun wissen, dass ich nicht verheiratet bin, und ich weiß, dass Sie kein Teenager mehr sind … oder noch unschuldig …“

Darcy stöhnte gepeinigt auf.

„… gibt es keinen triftigen Grund, warum wir es nicht machen sollten.“

„Was?“

„Uns küssen.“

„Außer dass ich Zeter und Mordio schreien würde“, erwiderte sie kühl und mit nahezu fest klingender Stimme, während sie darum flehte, dass er ihre Behauptung nicht überprüfte.

„Ach, Sie haben das Interesse verloren. Vielleicht ist es auch besser so.“ Er lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück und schloss die Augen.

Zumindest hätte er so tun können, als wäre er ein klein wenig enttäuscht, dachte sie ärgerlich und betrachtete angewidert sein atemberaubend markantes Profil. Das hätte allein schon die Höflichkeit geboten.

Darcy wusste sofort, dass sie so schnell nicht wieder einschlafen würde, denn ihr schwirrten viel zu viele Gedanken im Kopf herum. Sie warf einen Blick auf das erleuchtete Zifferblatt des Weckers und stöhnte. Es war erst zwei Uhr früh. Sie hörte, wie der Wind gegen die Fensterscheiben drückte, und musste unwillkürlich an das baufällige Herrenhaus und seinen Bewohner denken.

Wütend legte sie sich auf den Bauch und zog sich das Kissen über den Kopf. Lass das, dir seinetwegen Gedanken zu machen, forderte sie sich stumm auf, doch es half nicht das Geringste.

Ihre Familie war sehr überrascht gewesen, als sie allein zurückgekehrt war und den armen Verletzten nicht zum Essen mitgebracht hatte. Sie hatten sich ziemlich verständnislos gezeigt und damit ihre Schuldgefühle nur noch verstärkt. Schließlich war sie explodiert. „Ihr könnt ihn gern versorgen, wenn ihr unbedingt wollt. Tut euch keinen Zwang an. Aber erwartet keinen Dank dafür. Ich, jedenfalls, habe für heute genug von ihm.“

Nach diesem Ausbruch hatten sie nichts mehr gesagt. Allerdings hatte sie während des Abends deutlich gespürt, dass ihre Leute sie für gemein hielten, und auch Nick mehrfach dabei ertappt, wie er sie grüblerisch betrachtete.

Eine halbe Stunde nachdem Darcy aus dem unruhigen Schlaf erwacht war, ging sie mit einer Taschenlampe, einer Wolldecke und einer Thermosflasche voller Kaffee bewaffnet auf das Herrenhaus zu, das noch nicht einmal mehr eine Haustür hatte. Sie trat über die Schwelle und war entsetzt, als sie den desolaten Zustand der großen Diele bemerkte.

„Und ich habe dem armen Mann noch nicht einmal eine Tasse Tee angeboten“, sagte sie leise und stieg über mehrere Leitern, die auf dem Boden lagen. „Wenn er an Unterkühlung gestorben oder ins Koma gefallen ist, bin ich schuld.“

Eilig durchquerte sie die Halle und suchte nach einem Lebenszeichen. Schließlich stieß sie auf eine Tür, öffnete sie und kam in einen Raum, in dem noch die Glut im offenen Kamin glühte. In sicherer Entfernung entdeckte sie einen Schlafsack auf dem Boden. Sie näherte sich vorsichtig und hockte sich hin, nachdem sie die Wolldecke weggelegt und die Thermosflasche abgestellt hatte. Angestrengt lauschte sie, ob sie ihn atmen hörte, und beugte sich gerade noch etwas tiefer, um ihn anzufassen, als sie plötzlich umgestoßen und erbarmungslos in die Rückenlage gezwungen wurde. Im nächsten Moment presste sich ihr eine Hand auf den Mund.

„Wenn ich Ihnen nicht wehtun soll, wehren Sie sich besser nicht“, erklärte Reece grimmig. „Sind Sie allein?“

Wie, zum Teufel, sollte sie ihm antworten, wenn er ihr den Mund zuhielt?

„Ich nehme jetzt die Hand weg. Aber wenn Sie Ihre Komplizen warnen, werden Sie es bereuen. Verstanden?“

Darcy nickte. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Hätte sie nicht gewusst, dass Reece auf ihr kniete, wäre sie bestimmt schon einem Infarkt erlegen. „Gehen Sie endlich von mir runter, Sie Idiot“, keuchte sie, sobald sie reden konnte. „Ich kann nicht mehr atmen.“

Darcy!

Erleichtert merkte sie, dass er sie nicht mehr so fest auf den Boden drückte. „Ja, sicher“, stieß sie ärgerlich hervor. „Wer sollte es sonst sein?“

„Ein Einbrecher.“

Deutlich spürte sie, dass er sich bewegte, und im nächsten Moment blendete sie ein Lichtstrahl. „Nehmen Sie das Ding weg. Ich kann nichts mehr sehen.“

Sie kniff die Augen zusammen und fühlte, wie er ihr die Mütze abzog und mit den Fingern durch ihr Haar fuhr. Und plötzlich lastete kein Gewicht mehr auf ihr, und auch die Hand war weg. Dennoch war sie nicht einfach nur erleichtert. Irgendwie hatte seine zärtliche Geste etwas Beruhigendes gehabt … Nein, das traf es nicht wirklich …

Sie setzte sich auf und blickte sich kurz um. „Ich hatte eine Taschenlampe bei mir, bevor Sie sich auf mich stürzten.“

„Was hatten Sie anderes erwartet, wenn Sie sich mitten in der Nacht anschleichen?“

Das ist zweifellos eine berechtigte Frage, dachte sie und wurde sich bewusst, wie albern ihr spontanes Verhalten wirken konnte. Nervös beobachtete sie, wie er zum Kamin ging, Holz nachlegte und das Feuer neu entfachte. Anschließend zündete er mehrere verschieden hohe Kerzen an, die auf dem Sims standen. Sobald sie brannten, knipste er die Taschenlampe aus und schob sie in die Hosentasche – denn er hatte natürlich in seiner Kleidung geschlafen.

„Sie lieben bestimmt den Kerzenschein.“

„Nicht sonderlich.“ Sein Haar war zerzaust und sein Gesicht stoppelig, aber er sah noch immer beunruhigend umwerfend aus.

Autor

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