Lady Beatrices Sommertraum

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Lady Beatrice ist empört: Ungeniert mustert Charles Lord Pelham ihre Figur, sein Blick verweilt auf ihrem Dekolleté. Und dann macht er ihr auch noch ein anrüchiges Angebot, das sie selbstverständlich zurückweist! Doch der attraktive Adlige hat in ihr eine Sehnsucht geweckt. Die Sehnsucht nach heißen Küssen in einer lauen Sommernacht …


  • Erscheinungstag 25.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746612
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Charles Summerson, neunter Marquess of Pelham, wollte nicht spionieren – ganz gewiss nicht. Er hatte sich lediglich hinausgelehnt, um die Temperatur zu prüfen. Ihn plagten sogar Gewissensbisse, weil er das Fenster nicht sofort schloss, nachdem er festgestellt hatte, dass keine Regenwolken in Sicht waren, sodass er getrost einen Ausritt in den Park unternehmen konnte. Es gab keinen Grund, noch länger an seinem Fensterplatz zu verweilen.

Dennoch verweilte er.

Charles stand nicht einmal an seinem eigenen Fenster. Vielmehr befand er sich in seinem ehemaligen Zimmer im Haus seiner Mutter in der Park Lane, wo er vorübergehend wohnte, während seine eigene Residenz renoviert wurde. In all den Jahren seiner Kindheit hatte er nie erkannt, welch vorzüglichen Aussichtspunkt das Fenster bot, um die Geschehnisse im Nachbargarten zu beobachten. Nicht, dass ihn diese Geschehnisse je interessiert hätten. Offen gestanden war er auch jetzt nicht neugierig darauf, was Lady Sinclair in ihrem Garten trieb. Sie lebte schon so lange nebenan, wie er denken konnte, und war eine jener Matronen der feinen Gesellschaft, deren neunundfünfzigstes Lebensjahr nie zu enden schien, gleich wie viele Jahre vergingen. Das Gift, das sie versprüht, konserviert sie wohl, mutmaßte er.

An diesem Tag jedoch saß nicht Lady Sinclair im Nachbargarten, sondern eine ganz andere Dame, eindeutig jünger und ein viel angenehmerer Anblick als besagte Matrone.

Reglos beobachtete Charles die ihm unbekannte junge Frau. Sie lag mit dem Rücken zu ihm gekehrt auf Lady Sinclairs akkurat geschnittenem Rasen, hatte sich auf einen Ellbogen gestützt und schrieb eifrig etwas in ein kleines Buch. Zu seinem großen Bedauern konnte er ihr Gesicht nicht sehen, sondern nur ihren Kopf, den sie tief über ihre Notizen gebeugt hielt.

Er ließ den Blick über ihren Körper schweifen, oder zumindest über das, was er davon erkennen konnte. Sie trug ein zartgelbes Kleid im Farbton von Lady Sinclairs Kletterrosen, das einen angemessenen – wenngleich auch für ihn enttäuschend – sittsamen Schnitt aufwies. Auf seine Fantasie vertrauend malte er sich die Einzelheiten aus, die das Kleid verbarg: eine schmale Figur, sanft geschwungene Hüften, eine schlanke Taille, runde Brüste. Stumm wünschte er, sie würde sich umdrehen, um seine Neugier zu befriedigen.

Weiter ließ er den Blick wandern, nun über ihre ausgestreckten Beine. Sie hatte die Schuhe abgestreift und nachlässig neben sich auf den Boden fallen lassen. Ihre Waden waren zwar – so, wie es sich ziemte – züchtig bedeckt, aber ihre Füße sah er deutlich. Gelegentlich wackelte sie mit den Zehen im Gras.

Er wusste, er sollte sich abwenden, und hätte dies wohl auch getan, wären da nicht ihre verflixten bestrumpften Füße gewesen. Ihr Anblick stachelte seine Neugier zusätzlich an und ließ ihn umso heftiger wünschen, einen Blick auf ihr Gesicht erhaschen zu können. Zudem war sie ganz vertieft in das, was auch immer sie da tat, und so bestand wohl kaum die Gefahr, von ihr ertappt zu werden.

Plötzlich hielt die junge Frau im Schreiben inne und blätterte durch die Seiten des Buchs. Charles hätte in diesem Moment alles gegeben, um mit ihr lesen zu können. Fast schon begierig hoffte er, es handele sich um ihr Tagebuch, in dem sie ihre innersten Geheimnisse, ihre verborgensten Wünsche aufzeichnete …

Er schenkte dem Buch indes keinerlei Beachtung mehr, als sie, offenbar vergessend, dass sie eine junge Dame war, ein Bein unbekümmert abwinkelte und es hin- und herschwang. Ihr Rock fiel ihr dadurch bis zum Knie hoch, und er kam in den Genuss, einen schlanken Knöchel und eine wohlgeformte Wade bewundern zu können.

Anerkennend hob er eine Augenbraue. Vermutlich sollte ich mich schämen, sie heimlich zu beobachten, dachte er. Sein lästig moralisches Gewissen schob er indes beiseite; es war ihm schlicht unmöglich, den Blick von ihr zu nehmen. Er überlegte sogar, rasch die Gemächer seiner Schwester aufzusuchen, um sich ihr Opernglas zu borgen.

Bevor er allerdings diese Entscheidung treffen konnte, wurden seine ruchlosen Gedanken jäh von einer schrillen Stimme unterbrochen – vermutlich gehörte sie der Xanthippe Lady Sinclair. „Bea! Komm herein, es ist Zeit zum Umkleiden.“

„Ich komme“, antwortete die junge Frau. Jedoch schloss sie weder das Buch, noch stand sie auf.

Einen Augenblick später erklang die Stimme erneut, diesmal ungehaltener: „Bea! Wir werden zu spät kommen.“

Widerstrebend schlug die junge Dame ihr Buch zu, aber sie erhob sich nicht gleich. Sie drehte sich auf den Rücken, streckte sich wie eine Katze und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Mit entrückter Miene und dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen schaute sie in den Himmel.

Nun hätte Charles den Blick tatsächlich abwenden sollen. Jeden Moment hätte sie die Augen zu seinem Fenster richten und entdecken können, dass er sie begehrlich anstarrte. Und dies wäre wirklich fatal gewesen. Die unangenehmen Folgen, die eine Entdeckung nach sich ziehen könnte, kamen ihm jedoch gar nicht in den Sinn. Einen Augenblick vergaß er sogar zu atmen.

Himmel, sie war hinreißend. Ihre Figur fand seine Bewunderung, ihr Gesicht indes raubte ihm den Atem … Die perfekte kleine Nase, die vollen Lippen … Charles schluckte schwer. Nun, da sie auf dem Rücken lag, sah er seine Vorstellung bestätigt. Sie war tatsächlich schlank, aber definitiv an den richtigen Stellen gerundet. Immer noch sah er nicht alles, was er zu sehen wünschte – die Farbe ihrer Augen beispielsweise, den Schwung ihrer Brauen – aber mit ihrem goldblonden Haar war sie unbestritten eine Schönheit.

Wie alt sie wohl ist? fragte er sich. Zwanzig? Vielleicht einundzwanzig? Sie war eindeutig jung, aber nicht zu jung.

Mit unerfahrenen Debütantinnen ließ er sich nicht ein, was schlicht an der Tatsache lag, dass diese gewöhnlich auf Gattenfang waren. In die Ehefalle wollte er ganz gewiss nicht gehen.

Schließlich erhob sich die junge Frau und ging, das Buch fest an die Brust gedrückt, ins Haus. Der Bann war gebrochen.

Mehrere Minuten wartete Charles, darauf hoffend, dass sie wieder in den Garten hinauskam, dann aber schoss ihm ein Erfolg versprechenderer Gedanke durch den Sinn.

Er verließ seinen Platz am Fenster und ging geradewegs zum Zimmer seiner Schwester. Das im Korridor hängende Porträt seines Ururgroßvaters, der missbilligend unter buschigen Augenbrauen auf ihn herabstarrte, ignorierte er geflissentlich.

„Lucy? Bist du da?“, rief er durch die Tür. Seine achtzehnjährige Schwester verbrachte zum ersten Mal die Saison in London. Trotz der zwölf Jahre Altersunterschied standen sie sich sehr nahe, wenngleich er sich immer noch nicht an die Tatsache gewöhnt hatte, dass seine Schwester kein Kind mehr war.

Lucy öffnete lächelnd die Tür. Sie war ein hübsches, zierliches Mädchen. Wie ihr Bruder hatte sie schwarzes Haar und grüne Augen. Von der Größe einmal abgesehen – er war über einen Meter achtzig groß –, war die Ähnlichkeit zwischen ihnen frappierend. „Hast du Sehnsucht nach mir, Charles?“, fragte sie kess.

„Oh, du musst dir nicht selbst schmeicheln, Lu. Ich möchte lediglich deine Pläne für den heutigen Abend erfahren.“

Sie hob eine Augenbraue. „Willst du mich etwa begleiten? Das wäre ja ganz neu.“

„Zu deinem Debüt vor zwei Wochen habe ich dich ebenfalls begleitet“, warf er ein.

„Das zählt nicht, weil du daran teilnehmen musstest. Außerdem hast du mir an jenem Abend selbst gesagt, es wäre das erste und letzte Mal.“

„Vielleicht habe ich meine Meinung inzwischen geändert. Welche Veranstaltung steht heute Abend auf dem Programm?“

„Lady Teasdales alljährlicher Ball.“

Charles nickte, als überlege er, ob er sie begleiten solle, aber er hatte seine Entscheidung längst gefällt. Kaum etwas verabscheute er mehr, als Lady Teasdales verflixten Ball zu besuchen, indes hoffte er, dort der jungen Frau im gelben Kleid zu begegnen, um mehr über sie zu erfahren. Lady Sinclair hatte sie hereingebeten, damit sie sich für irgendeinen Anlass umkleidete, wahrscheinlich für diesen Ball. „Gut, ich werde dort sein.“

„Aber du kannst Lady Teasdale nicht ausstehen!“, rief Lucy.

Charles wurde klar, dass dieses Gespräch wohl kaum so kurz werden würde, wie er angenommen hatte. Er betrat Lucys Zimmer und ließ sich in einen der Sessel fallen, in Gedanken bereits nach einer plausiblen Erklärung suchend. „Mir ist bewusst geworden, dass ich meine Pflichten vernachlässigt habe, Lu. Ich sollte dich mit den Aasgeiern nicht allein lassen.“

„Charles, Mutter begleitet mich. Es ist nicht so, als hätte ich keine Anstandsdame.“

„Ja, aber Mutter kennt die diversen Gentlemen nicht so wie ich. Mir wäre es verhasst, wenn du deine Zeit mit Tunichtguten vergeudest.“

Sie stöhnte ungläubig auf. „Wie kannst ausgerechnet du nur so argwöhnisch sein? Du bist doch der größte Herzensbrecher von allen. Ist es dir nie in den Sinn gekommen, dass ich deine Gesellschaft vielleicht gar nicht möchte?“

Er gab sich entsetzt. „Und diese Worte aus dem Mund meiner geliebten Schwester.“

Lucy gab sich so schnell nicht geschlagen. Sie liebte ihren Bruder von ganzem Herzen, aber gelegentlich übertrieb er es etwas mit der Fürsorglichkeit. Ein letztes Mal wollte sie versuchen, ihm den Ball auszureden. „Gewiss wirst du Mutter sehr glücklich machen, wenn du uns begleitest. Erst heute Morgen erzählte sie mir, es sei höchste Zeit, dass du dich vermählst.“

Eine unschuldige Miene aufsetzend, klimperte sie mit den Wimpern.

„Das sagt Mutter jeden Tag.“

„Tja, Charles …“ Lucy erwärmte sich für dieses Thema. „In letzter Zeit hat Mutter vermehrt Anstrengungen unternommen, eine passende Partie für dich zu finden. Habe ich dir das noch nicht erzählt? Offenbar sorgt sie sich, du würdest dich möglicherweise nie vermählen.“

„Das soll eine Neuigkeit sein?“, fragte er und gähnte gespielt.

Sie ignorierte sein unhöfliches Benehmen. „Nein, aber neuerdings pflegt sie die beunruhigende Angewohnheit, ein Notizbuch bei sich zu tragen, in das sie Namen und Herkunft einer jeden ledigen Frau einträgt, der sie begegnet. Sie geht nie ohne es aus.“

Sprachlos blickte er sie einen Augenblick an, ehe er sagte: „Sie macht sich Notizen? Wie sieht dieses Notizbuch aus, Lucy?“

Sie überlegte, ob sie es ihm beschreiben sollte. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass er nach dem Buch suchen und es entwenden wollte. Das würde ihre Mutter ihr nie verzeihen. Ganz zu schweigen davon, dass ich das Büchlein auch nicht mehr wie ein Damoklesschwert über den Kopf meines Bruders halten kann falls nötig, dachte Lucy. Früher oder später würde er allerdings ohnehin erfahren, wie es aussah. Sie entschloss sich zu einer möglichst vagen Beschreibung. „Tja, so genau kann ich das nicht sagen. Oft habe ich es nicht gesehen und wenn, dann war es immer aufgeschlagen. Ich glaube, der Einband ist aus Leder. Oh, und klein ist es natürlich, damit sie es in ihr Retikül stecken kann.“

Charles hatte nach der Universität mehrere Jahre in den Diensten des Kriegsministeriums gestanden und durchschaute das Ausweichmanöver seiner Schwester mühelos. Beeindruckt von ihrer Geschicklichkeit, die jener der französischen Spione, die ihm über den Weg gelaufen waren, in nichts nachstand, ließ er das Thema für den Moment fallen. Er würde das Buch schon finden und verschwinden lassen.

„Du warst sehr hilfreich, Lu. Dafür kann ich dir gar nicht genug danken – und ich werde euch heute Abend begleiten.“ Charmant lächelnd stand er auf und ging in sein Zimmer zurück. Der Ausritt im Park konnte warten.

2. KAPITEL

Beatrice Sinclair hielt überlegend inne, den Stift über einer leeren weißen Seite ihres Notizbuches gezückt. Sie schrieb drei Worte, strich sie aber sofort wieder aus, um auf weitere – bessere – Worte zu warten. Indes fielen ihr keine ein.

Als sie merkte, dass sie zu zerstreut war, um ihrer Schriftstellerei die verdiente Aufmerksamkeit zu widmen, legte sie das Buch beiseite. Wie sollte sie sich auch in das Schreiben erfundener Geschichten vertiefen, wenn die Wirklichkeit – ihr eigenes Leben – solch ein Trauerspiel war?

Nach Inspiration suchend ließ sie den Blick durch das Zimmer schweifen. Die Wände des Hauses ihrer Großtante Louisa waren mit Seidentapeten bedeckt, die entweder ländliche Motive oder Blumenmuster zeigten. In ihrem eigenen Zimmer tummelten sich Schafhirten neben Mägden auf den Wänden, die Decke zierten aufgemalte Wolken. Beatrice hätte es vorgezogen, sich im Freien aufhalten zu können, aber Tante Louisa hatte sie hineingerufen, da sie es missbilligte, wenn junge Damen sich sonnten. Eine einzige Sommersprosse könne bereits die Chancen eines Mädchens auf eine Hochzeit vereiteln, behauptete sie.

Seufzend wandte sich Beatrice wieder ihrem Notizbuch zu. Sie besaß es seit ihrer ersten Saison vor fünf Jahren. Zunächst hatte sie es als Tagebuch genutzt und darin – im wahrsten Sinne des Wortes – die Ereignisse eines jeden Tages festgehalten. Dies tat sie, weil sie befürchtete, so hohlköpfig wie der gesamte ton zu werden, wenn sie ihren Verstand nicht mit etwas Nützlichem beschäftigte. Das Lesen des Tagebuchs zum Ende dieser ersten Saison hatte ihr indes deutlich gemacht, wie langweilig ihr Leben geworden war. Es bestand bloß noch aus Dinnerpartys, Gesellschaften und Bällen, die einzig dem Zweck dienten, sich einen Gatten zu angeln. Gewiss wäre dies leichter zu ertragen gewesen, wenn sie wenigstens für einen der Gentlemen, die sie bei diesen zahllosen gesellschaftlichen Anlässen traf, freundschaftliche Gefühle empfunden hätte. Tatsächlich aber fiel es ihr schwer, für die meisten der Herren auch nur die leiseste Sympathie aufzubringen.

Nach dieser ersten Saison hatte Beatrice resignierend erkannt, wie weit bei der Gattensuche Wirklichkeit und Wunschtraum auseinanderklafften und dass es nur von Vorteil war, wenn man keine allzu romantischen Vorstellungen hegte. Wo war in der realen Welt der stattliche, geheimnisvolle, attraktive Kavalier ihrer Träume, der zudem über breite Schultern, messerscharfen Verstand und geistreichen Humor verfügte? Ganz eindeutig existierte er nicht. Wenn sie lernte, diese Tatsache zu akzeptieren, konnte die Realität sie nicht mehr enttäuschen.

Bedauerlicherweise kam sie zu spät zu dieser Erkenntnis. Da sie die Heiratsanträge mehrerer Verehrer abgewiesen hatte, galt sie nach ihrer ersten Saison als „Eisblock“. In ihrer zweiten und dritten Saison umwarb man sie daher kaum noch.

Aus diesem Grund hatte sie zwei Jahre auf dem Landsitz ihrer Familie verbracht, und nun – älter, klüger und geläutert – war sie bereit, sich einer weiteren Saison zu stellen. In diesem Jahr ging sie indes planvoll vor. Um ihre romantischen Fantasien in gewissem Maß ausleben zu können, hatte Beatrice im weisen Alter von dreiundzwanzig Jahren das Tagebuchschreiben aufgegeben und beschlossen, einen Roman zu verfassen. Auf diese Weise, so hoffte sie, konnte sie sich den Helden ihrer Träume erschaffen und die graue, stumpfsinnige Realität leichter ertragen.

Leider funktionierte ihr Plan nicht ganz so wie erwartet, aber die Saison hatte auch erst vor wenigen Wochen begonnen.

„Beatrice, das dulde ich nicht.“ Beatrices Großtante war ins Zimmer getreten und funkelte sie verärgert an.

Selbst wenn sie guter Laune war, bot Lady Sinclair dank ihrer großen hageren Gestalt, dem stahlgrauen Haar, den stahlgrauen Augen und der langen Nase einen Respekt einflößenden Anblick. War sie jedoch in Rage, bekam das Wort „einschüchternd“ eine völlig neue Bedeutung. Mit einem einzigen Kräuseln der Lippe konnte Tante Louisa selbst in den tapfersten Herzen Furcht erwecken. Beatrice indes ließ sich nicht erschrecken, weil sie wusste, dass ihre Tante unter der rauen Schale – wenngleich auch gut verborgen – einen weichen Kern besaß. Im Grunde genommen war Lady Sinclair eine großzügige, fürsorgliche Frau, der ihre Familie über alles ging.

Obwohl Beatrice befürchtete, zu wissen, worüber ihre Tante verärgert war, fragte sie nach, um Zeit zu gewinnen. „Bitte entschuldige, Tante Louisa, was duldest du nicht?“

Lady Sinclair schnaubte unfein. „Deine Schwester hat mir soeben mitgeteilt, du willst nicht an Lady Teasdales Ball teilnehmen. Warum erfahre ich das nicht von dir?“

Schuldbewusst setzte Beatrice zu einer Erklärung an: „Nun, Eleanor erzählte, in der Drury Lane werde König Lear aufgeführt und sie habe keine Begleitung …“

„Du hast mir versprochen, Lady Teasdales Ball zu besuchen. Außerdem ist Eleanor erst sechzehn, sie hat noch lange genug Zeit ins Theater zu gehen. Ich hätte mich nie mit ihrem Besuch einverstanden erklären sollen, auch wenn es nur für wenige Wochen ist. König Lear, pah.“ Lady Sinclair rümpfte die Nase. „Ein Mann mit drei Töchtern und schau, welches Ende es mit ihm genommen hat. Ein solches Stück wird Eleanor nichts als Flausen in den Kopf setzen. Ich bin nur froh, dass Helen nicht ebenfalls in London weilt.“

„Ich denke, du übertreibst ein wenig, Tante. Meine beiden Schwestern und ich sind unserem Vater aufrichtig zugetan, und ich kann dir versichern, dass Eleanors Motive rein unschuldiger Natur sind. Sie geht einfach gern ins Theater, das ist alles.“

Lady Sinclair verdrehte die Augen. „Kommen wir zum Punkt zurück, Beatrice. Eleanor weiß, wie gerne du dich vor dem Ball der Teasdales drücken würdest. Offenbar denkt sie, da sie zu jung ist, um daran teilzunehmen, mache es nichts aus, wenn du ihn ebenfalls versäumst.“

„Ist dem so?“, fragte Beatrice hoffnungsvoll.

Lady Sinclair blickte sie in gespielter Ungläubigkeit an. „Hast du dich etwa heimlich vermählt, ohne mir etwas davon zu erzählen, Beatrice Sinclair? Natürlich macht es etwas aus, wenn du den Ball versäumst – damit schmälerst du deine ohnehin schon geringen Chancen auf eine Ehe noch weiter.“

Beatrice war diese Kommentare bereits gewohnt und wusste, ihre Tante meinte es nicht böse. Sie setzte eine unschuldige Miene auf. „Ich kann nicht glauben, dass du mir unterstellst, ich wolle mich vor Lady Teasdales Ball drücken.“

Lady Sinclair schnaubte erneut. „Hältst du mich für eine Närrin? Seit deiner Ankunft im vergangenen Monat erzählst du mir ständig, wie gern du die Einladung absagen würdest. Ja, Lady Teasdale ist grässlich anstrengend, aber ihre Bälle sind immer gut besucht, auch von jungen Gentlemen, die eine passende Partie für dich abgeben würden.“ Sie seufzte. „Du gibst dir überhaupt keine Mühe, einen Gatten zu finden. Die Saison hat bereits vor zwei Wochen begonnen, und ich habe deinem Vater mein Wort gegeben.“

„Ich weiß, Tante Louisa. Ich dachte nur, da ich bereits drei Mal wenig erfolgreich an Lady Teasdales Ball teilgenommen habe …“

„Als ob du mich daran erinnern müsstest. Ganz eindeutig bist du immer noch nicht vermählt.“

Beatrice zählte stumm bis fünf und betete darum, nicht die Geduld zu verlieren. „Eindeutig.“

„Und wie alt bist du?“

Fast hätte Beatrice nicht auf die Frage geantwortet. Ihre Tante erwähnte ihr Alter mindestens zwei Mal am Tag. Sie wusste ganz genau, wie alt ihre Nichte war. „Ich bin dreiundzwanzig, das haben wir doch bereits zur Genüge festgestellt. Ich werde es dich wissen lassen, sollte sich an meinem Alter etwas ändern.“

Lady Sinclair schnalzte missbilligend. „Naseweises Mädchen. Das hast du nun davon, dass du in die Jahre kommst.“

„Was habe ich davon?“

„Mit dem Alter kommt die spitze Zunge.“

Die kommt vielmehr daher, weil ich die letzten Wochen bei dir verbracht habe, dachte Beatrice, sagte aber nichts.

„Wie dem auch sei“, fuhr Lady Sinclair brüsk fort. „Da sich deine Schwester so beharrlich zeigte, habe ich euch den Theaterbesuch erlaubt. Allerdings unter einer Bedingung: Euer Bruder muss euch begleiten.“

Beatrice stöhnte auf, und Lady Sinclair kicherte schadenfroh. „Ja, meine Liebe, ich weiß, dies wird kein leichtes Unterfangen werden. Gewiss wird Ben alles andere als begeistert davon sein, seine beiden jüngeren Schwestern begleiten zu müssen. Es geht indes nicht an, dass zwei ledige junge Damen allein im Theater herumbummeln. Wo kommen wir denn da hin?“

Beatrice sank tiefer in ihren Sessel. Tante Louisa hatte recht. Ben würde gewiss keinerlei Verlangen haben, sie ins Theater zu begleiten. Vermutlich hatte er längst andere Pläne für den Abend. Wenn sie aber sofort damit begann, ihn hartnäckig anzubetteln, würde er sich vielleicht überreden lassen, nur um seine Ruhe zu haben. Beatrice hätte vor Freude über diesen Plan beinahe aufgelacht, indes beherrschte sie sich klugerweise. „Danke, Tante Louisa. Ich weiß, wie viel es Eleanor bedeutet, und es wäre mir verhasst gewesen, sie enttäuschen zu müssen.“

Lady Sinclair lächelte selbstgefällig. „Ja, schon gut. Ich habe mich übrigens informiert. Das Stück beginnt um sieben Uhr. Das bedeutet, du kannst nach der Aufführung immer noch zu einer annehmbaren Stunde bei Lady Teasdale erscheinen. Und ich wünsche, dass du deinen Bruder mitbringst.“

Nach dieser Ankündigung segelte Lady Sinclair mit der Würde einer königlichen Barke aus dem Raum. Beatrice schloss die Augen. Ihre aufkeimende Hoffnung erstarb. Es half nicht, sie konnte immer noch das triumphierende Lächeln im Gesicht ihrer Tante sehen. Sie öffnete die Augen und blickte zu den fröhlichen Mägden auf der Wand. Selbst sie schienen schadenfroh zu grinsen.

Oh, wie sie den bevorstehenden Abend fürchtete. Drei Mal hatte sie bereits an Lady Teasdales verflixtem Ball teilgenommen, wie man es von ledigen jungen Damen erwartete. Lady Teasdales Tochter Sarah hatte im gleichen Jahr wie Beatrice debütiert und sich bereits in der sechsten Woche ihrer ersten Saison vermählt – noch dazu mit einem Viscount. Offen gestanden empfand Beatrice Mitgefühl für Sarah. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als im Alter von achtzehn Jahren an den Meistbietenden verhökert zu werden. Das änderte jedoch nichts daran, dass Lady Teasdale es als ihren Lebensinhalt betrachtete, diese Tatsache ihr und jedem, dem sie begegnete, unter die Nase zu reiben.

Zugegebenermaßen mutete es recht jämmerlich an, gestand sich Beatrice ein, dass es ihr nach drei Jahren des Bemühens immer noch nicht gelungen war, sich einen Gatten zu angeln. Zählte man die zwei Jahre des erholsamen Dornröschenschlafes auf dem Landsitz ihrer Familie in Hampshire hinzu, summierte sich ihr Versagen unleugbar sogar auf fünf Jahre.

Das hieß nun nicht, dass sie es als ihren Lebenszweck ansah, in den Stand der Ehe zu treten. Es machte ihr nichts aus, keinen Gatten an ihrer Seite zu haben. Tatsächlich hatte sie sich bereits so sehr an den Gedanken gewöhnt, ledig zu bleiben, dass sie die Saison gar nicht in London hatte verbringen wollen. Dies tat sie ausschließlich auf den ausdrücklichen Wunsch ihres Vaters.

Ihm zuliebe hatte sie die letzten Wochen bei ihrer Tante verbracht. Wochen, in denen sie eifrig nach einem Gatten Ausschau gehalten hatten – nun, zumindest ihre Tante hatte Ausschau gehalten. Ihr Ruf als „Eisblock“ war inzwischen verblasst, und Beatrice hatte einige Verehrer gewonnen, die ihr tapfer den Hof machten. Ihre Erfolglosigkeit beruhte also weder auf mangelndem Bemühen noch auf mangelndem Interesse an ihrer Person. Doch sosehr sie auch dagegen ankämpfte, plagte sie erneut das altbekannte Problem – ihre romantische Ader. Sie wusste, es war dumm und unvernünftig, aber sie glaubte – ein ganz klein wenig nur – an die Liebe auf den ersten Blick. Irgendwo da draußen wartete ihr Traumprinz. Sie hatte ihn bloß noch nicht getroffen.

Es lag freilich kein Sinn darin, länger darüber zu grübeln. Besser, sie schlug sich solche romantischen Gedanken endgültig aus dem Kopf.

3. KAPITEL

Charles bereute es zutiefst, sich zu diesem Ballbesuch entschlossen zu haben. Im Allgemeinen hielt er sich von derlei Veranstaltungen fern, insbesondere wenn diese von Lady Honoria Teasdale gegeben wurden. Kaum hatte er den Saal betreten, wurde er auch schon daran erinnert, weshalb ihm solche Gesellschaften derart verhasst waren. Jede Frau im Zimmer, ob nun Mutter oder Tochter, jung oder alt, beleibt oder schlank, nahm ihn sofort abschätzend in Augenschein. Vermutlich überlegten sie, ob es in diesem Jahr gelänge, ihm die Fesseln der Ehe anzulegen. Hätte er nicht die Hoffnung gehegt, hier der unbekannten Dame im gelben Kleid zu begegnen, hätte er den Besuch dieses Balles niemals in Betracht gezogen. Ironischerweise war sie jedoch nicht erschienen.

„Schau nicht so grimmig, Charles“, tadelte seine Mutter. „Sonst jagst du den jungen Damen noch Angst ein und vertreibst sie.“ Anders als ihr Sohn, der eine athletische Statur besaß, war Lady Pelham zierlich und hatte blonde Haare statt schwarze. Ihr Lächeln wiederum war ebenso charmant und strahlend wie das seine. Indes war Charles im Augenblick nicht nach Lächeln zumute.

„Nichts wäre mir lieber“, erwiderte er mit finsterer Miene. Er wusste, sein geheimnisvoll gefährliches Aussehen zog die Damen scharenweise an, doch seine Bemerkung war ernst gemeint. Im Gegensatz zu seinen Freunden, die eine Ehe als ihr unausweichliches Schicksal akzeptierten, wenn es einen Titel zu vererben galt, hatte sich Charles geschworen, sich niemals zu vermählen. Titel hin oder her. Eine Ehe – insbesondere eine, die aus Liebe geschlossen wurde – barg zu große Gefahren. Er hatte bereits zwei innig geliebte Menschen verloren und war nicht bereit, erneut das Risiko einzugehen, einen solch schmerzlichen Verlust zu erleiden.

Seine Mutter seufzte resigniert. „Oh, ich wünschte, du würdest dich freundlicher zeigen. Warum hast du uns überhaupt begleitet? Ich weiß, dass dir derlei Abendgesellschaften keine Freude bereiten. Du machst dir hoffentlich nicht ernsthaft Sorgen um Lucy, oder?“

„Ich bin nicht besorgt um sie, Mutter. Indes halte ich es für ratsam, gelegentlich an meine Gegenwart zu erinnern, damit diese Jungspunde nicht auf dumme Gedanken kommen.“

Lady Pelham rümpfte die Nase. „Gelegentlich, aha. Das ist sehr vorausschauend von dir, immerhin hast du einen gewissen Ruf zu wahren. Da wäre es natürlich fatal, wenn du zu oft an Festivitäten der feinen Gesellschaft teilnimmst, nicht wahr?“

„Weißt du, Mutter, ich habe angenommen, mit Lucys Debüt würdest du dich mehr auf ihr Liebesleben konzentrieren statt auf das meine.“

„Allerdings könntest auch du durchaus Hilfe gebrauchen“, erwiderte seine Mutter lächelnd.

„Danke, aber ich benötige keine Hilfe in Gestalt eines Notizbuches, in dem Vermögen, Stammbaum und Aussehen einer jeden ledigen Dame verzeichnet werden, die einem begegnet. Und zwar genau in dieser Reihenfolge“, konterte er.

„Lucy hat es dir verraten?“

„Natürlich hat sie das. Sie mag mich und vertraut mir alles an.“

Lady Pelham musterte ihn zweifelnd. „Nun, sie hat die Reihenfolge ein wenig durcheinandergebracht. Übrigens mache ich mir auch Notizen zu Charakter und Intelligenz der betreffenden Dame, obwohl es mir scheint, dass du diese Eigenschaften bei einer Frau zuweilen für verzichtbar hältst, mein Lieber.“

Charles wurde es allmählich unbehaglich zumute. „Wovon redest du, Mutter?“

Sie legte den Finger ans Kinn. „Die Reihenfolge lautet Charakter, Intelligenz, Aussehen, Stammbaum, Vermögen. Wir sind selbst recht wohlhabend, da kann die Mitgift getrost an letzter Stelle stehen.“

Nervös fuhr sich Charles mit der Hand durchs Haar. Ihm war soeben bewusst geworden, dass seine eigene Mutter eine der Ehefallenstellerinnen war, vor denen er sich in Acht nehmen musste. Es war eindeutig an der Zeit, zu gehen. „Leider muss ich mich jetzt verabschieden, Mutter. Ich werde nach Hause laufen, es ist nicht weit.“

Lady Pelham gab sich überrascht. „Jetzt schon? Ach, wie schade, denn Lady Abermarle ist auf dem Weg zu uns. Vermutlich hat sie ihre Tochter im Schlepptau, allerdings kann man dies aufgrund von Lady Abermarles stattlicher Figur nicht mit Sicherheit sagen.“

Charles schauderte. „Dann sollte ich wohl besser nach Hause rennen.“

„Einen Rat noch, bevor du gehst, Charles.“

„Ja, Mutter?“, sagte er, verstohlen über die Schulter blickend, da sich die wohlbeleibte Lady Abermarle unerbittlich näherte.

Lady Pelham beugte sich vor und flüsterte ihm zu: „Beurteile ein Mädchen immer nach seiner Mutter, denn in zehn Jahren wird sie wie ihre Mutter sein.“

Charles nickte knapp und ging eilig zur Tür, inständig hoffend, dass keiner von Lucys Verehrern sie je nach ihrer Mutter beurteilen würde.

Liebevoll sah Lady Pelham ihrem Sohn nach, während Lucy schmunzelnd auf sie zukam.

„Wie ich sehe, bist du Charles losgeworden, Mutter“, bemerkte sie zufrieden.

„Ach, das war ganz leicht“, sagte Lady Pelham lachend. „Du hättest seinen Blick sehen sollen, Liebes, als ich ihm von dem Buch erzählte. Bloß weil Charles nicht geneigt ist, sich eine Gattin zu suchen, muss er dir nicht alle Chancen verderben, indem er deine Kavaliere mit finsteren Blicken zu erdolchen sucht.“ Sie betrachtete ihr jüngstes Kind. Einst war sie mit drei Kindern gesegnet gewesen, doch ihr Sohn Mark war bei einem Kutschunfall im Alter von dreizehn Jahren gestorben. Der Verlust schmerzte sie noch immer, umso mehr schwoll ihr beim Anblick ihrer beiden verbliebenen Kinder das Herz vor Glück und Liebe. Plötzlich verschleierte sich ihr Blick.

„Ist dir nicht wohl, Mutter?“, fragte Lucy besorgt.

„Mir geht es gut, Lucy. Ich musste nur daran denken, wie sehr ihr eurem Vater ähnelt. Besonders Charles.“ Sie sah ihre Tochter an. „Ich hoffe, deine Ehe wird einmal ebenso glücklich werden wie die meine. Und Charles wünsche ich das Gleiche.“

„Ich würde mir an deiner Stelle keine allzu großen Hoffnungen machen, dass Charles jemals in den Stand der Ehe tritt“, meinte Lucy.

Lady Pelham zuckte die Schultern. „Vielleicht überrascht er uns ja alle.“ Mit unschuldigem Lächeln ließ sie den Blick durch den Saal schweifen. Gewiss hatte Charles sie nicht aus Sorge um Lucy zu diesem Ball begleitet. Nein, gewiss gab es dafür einen anderen Grund. Nun musste sie nur noch herausfinden, wer ihm Grund genug war, hierher zu kommen, und ob die junge Dame sich für die Ehe eignete.

Es war beinahe zehn Uhr, als Beatrice, Eleanor und Ben vom Theater zurückkehrten. Beatrice wurde mit jeder Minute, die verging, nervöser. Sicher würde ihre Tante vor Wut schäumen, weil es so spät geworden war.

„Zeit, ins Bett zu gehen“, sagte Eleanor gähnend und stieg aus der Kutsche.

Beatrice lächelte. „Ja dann, Gute Nacht, Ellie.“ Während ihre Schwester ins Haus eilte, stupste Beatrice ihren Bruder an. „Ben?“

„Hm?“, murmelte er im Halbschlaf.

„Glaubst du, Tante Louisa wird sehr erzürnt über unsere Verspätung sein? Vor elf Uhr werden wir wohl kaum bei Lady Teasdale ankommen.“

Ihr Bruder brummte unwillig. „Sag Tante Louisa, sie soll sich zum Teufel scheren. Ich komme nicht mit.“

„Ben! Das kann ich ihr nicht sagen!“

„Doch, das kannst du. Was kann sie schon tun?“

„Den Überbringer der schlechten Nachricht töten.“

Er wandte sich seiner Schwester zu und grinste unbekümmert. „Das ist eine verflixt langweilige Veranstaltung, Beatrice, und ich habe dir bereits einen Gefallen getan. Niemand sollte gezwungen sein, mit dem Teasdale-Drachen in einem Raum zu weilen. Du würdest selbst nicht gehen, wenn du keine Angst vor Tante Louisa hättest.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Ich habe keine Angst vor ihr! Du hast Glück, du musst nicht bei ihr wohnen. Stell dir nur vor, wie es ist, mit ihr das Haus zu teilen, wenn sie vor Wut brodelt. Außerdem …“ Beatrice hielt einen Moment inne, auf der Suche nach den richtigen Worten. „Ich habe es ihr versprochen.“

„Nun, ich jedenfalls habe noch andere Pläne für den Abend und sollte allmählich aufbrechen. Ist es dir recht, wenn John mich in der Kutsche nach Hause fährt? Bis du dich umgezogen hast, wird er sicher zurück sein.“

Beatrice nickte. „Ja, das ist mir recht, Ben. Hab einen schönen Abend.“ Ich werde ihn nicht haben, fügte sie traurig in Gedanken hinzu, während sie aus der Kutsche stieg und zunächst zögernd auf das Haus zuging. Der Gedanke an den Zorn der Tante machte ihr indes Beine. Wie der Wind stürmte sie zur Eingangstür hinauf. Humphries, der Butler, erwartete sie bereits und hielt ihr lächelnd die Tür auf. „Guten Abend, Miss Sinclair.“

„Guten Abend, Humphries“, grüßte sie, während sie an ihm vorbeihastete und die Treppe hinauflief. Der Butler zuckte nicht einmal mit der Wimper. Inzwischen war er daran gewohnt, dass sie immer in Eile war.

In ihrem Zimmer klingelte Beatrice nach ihrer Zofe Meg und begann unverzüglich, sich auszukleiden, um keine Zeit mit Warten zu vergeuden. Dummerweise reichte sie nicht an die Knöpfe ihres Kleides heran, und so beschloss sie kurzerhand, sich einfach aus dem Kleid herauszuwinden. Ein Ding der Unmöglichkeit. Als Meg eintraf, hatte sie das Kleid halb über den Kopf gezogen und steckte mit hoch erhobenen Armen fest.

„Brauchen Sie Hilfe, Miss Beatrice?“, fragte die Zofe schmunzelnd.

„Das ist wohl offensichtlich. Zieh!“, befahl Beatrice mit erstickter Stimme und zappelte wie ein Fisch im Netz.

„Halten Sie einen Augenblick still. Wir versuchen es auf die althergebrachte Art.“ Meg zog das Kleid wieder herunter, lächelte die errötende Beatrice an und öffnete die Knöpfe.

„Meg, du hast mir das Leben gerettet. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte. Tante Louisa erwartet mich gewiss schon seit einer Stunde, und du weißt, wie ärgerlich sie wird, wenn sie …“

„Verärgert ist?“, fügte Meg hilfreich hinzu. Nur wenige Menschen wagten es, über Lady Sinclair zu spotten, doch Meg war inzwischen schon so lange bei der Familie angestellt, dass sie sich sehr vieles traute. Sie hatte als Beatrices Kindermädchen begonnen und war schließlich ihre Zofe und Vertraute geworden.

Beatrice lachte. „Ja, Meg. Ist das meine neue Robe auf dem Bett? Ich hoffe, sie wird mich kleiden.“

Meg lächelte. Beatrice hatte das Ballkleid noch nicht gesehen, da es erst am Abend von der Schneiderin angeliefert worden war. „Es ist wunderschön geworden, Miss Beatrice. Der Stoff hat dieselbe Farbe wie Ihre Augen.“

„Also braun. Na, ich weiß nicht“, sagte Beatrice.

„Es ist nicht einfach braun“, antwortete Meg und half ihr in das Kleid.

Beatrice riss überrascht die Augen auf, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Die Robe war tatsächlich nicht braun. Im Licht betrachtet schimmerte sie bernsteinfarben. Das Dekolleté hatte einen rechteckigen Ausschnitt, und die hohe Taille betonte ihre schlanke Figur vorzüglich.

Sie wandte sich zu ihrer Zofe. „Meg, das ist das schönste Kleid, das ich je besessen habe. Darf ich einen solch gedeckten Ton überhaupt tragen?“

„Sicher doch, Pastell haben Sie drei Jahre lang zur Genüge getragen.“

„Wie sehe ich aus?“

Meg musterte sie. „Atemberaubend. Hier sind Ihre Handschuhe.“

„Meg, du bist die Beste.“

„Und Sie, Miss Beatrice, sind zu spät dran, wie gewöhnlich. Hören Sie auf zu plappern, und nehmen Sie die Beine in die Hand.“

Winkend lief Beatrice aus der Tür. In der Halle konnte sie Humphries gerade noch ausweichen.

„Tut mir leid, Humphries, ich bin furchtbar in Eile.“

„Ich kann verstehen, dass Sie Ihre Tante nicht gern warten lassen, Miss Sinclair. John wird sicher gleich mit der Kutsche zurück sein.“

Beatrice schaute auf die Straße hinaus. „Ja, da vorne kommt er, glaube ich. Danke Humphries. Gute Nacht.“

Während der Butler die Tür hinter ihr schloss, hastete sie die Stufen hinunter und versuchte, sich im Laufen die Handschuhe überzustreifen. Unglücklicherweise übersah sie dadurch die letzte Stufe und stolperte. Die Handschuhe fielen zu Boden und sie selbst stürzte geradewegs auf einen nichts ahnenden Spaziergänger.

4. KAPITEL

Überlegend, wie er den restlichen Abend verbringen sollte, ging Charles raschen Schrittes durch die laue Nacht zur Park Lane. Üblicherweise hätte er sich mit Freunden in seinem Klub getroffen oder eine Gesellschaft besucht; eine, die nicht von solch feinen Damen wie Lady Teasdale gegeben wurde. An diesem Abend indes wusste er nichts mit sich anzufangen. Er fühlte sich zu rastlos, um den Abend zu Hause zu beenden. Allerdings sagte es ihm auch nicht zu, sich die Zeit bei White’s zu vertreiben.

Tief in Gedanken versunken, die Hände in den Taschen und den Kopf gebeugt, näherte er sich dem Haus seiner Mutter. Aus diesem Grund bemerkte er die junge Dame im nun nicht mehr gelben Kleid auch erst, als sie mit einem Aufschrei auf ihn stürzte und ihn mit sich zu Boden riss.

Überrascht lag Charles einen Augenblick reglos auf dem Rücken. Die junge Dame verharrte ebenso reglos auf seiner Brust.

„Oh, das tut mir furchtbar leid“, sagte sie schließlich und richtete sich auf. „Das ist ganz allein meine Schuld. Ich bin schrecklich tollpatschig, und wäre ich nicht so in Eile gewesen … Ach bitte, ich helfe Ihnen auf.“

Sie war ein ganzes Stück kleiner als er, und er war sich nicht sicher, wie sie ihm aufhelfen wollte. Als sie versuchte aufzustehen, stützte sie sich fest auf ihm ab. Er stöhnte auf vor Schmerz.

Sie hielt verlegen inne. „Oh, das tut mir leid.“

„Das sagten Sie bereits.“ Er legte die Hände an ihre Arme. „Sehen wir mal, wie wir uns aus dieser Lage befreien können.“

Behutsam schob er sie von sich und setzte sich auf. Dann streckte er die Hand aus, um ihr zu helfen, sich ebenfalls aufzusetzen.

Sie schaute ihn verblüfft an.

Auch Charles blickte sie an, und in der darauffolgenden Stille schwelgte er ganz in ihrem Anblick. Aus der Nähe konnte er nun im Licht, das aus dem Hauseingang fiel, all die Einzelheiten sehen, die ihm am Nachmittag verweigert worden waren: die helleren, von der Sonne bewirkten Tupfer in ihren blonden Haaren, die bernsteinfarbenen Pünktchen in ihren samtbraunen Augen und die leichte Spur von Sommersprossen auf ihrer Nase. Von diesen Sommersprossen abgesehen war ihre Haut makellos. Charles ließ den Blick zu ihrem Dekolleté schweifen, bis zu der Stelle, wo der goldbraune Stoff ihres Kleides die Haut verbarg, direkt über ihrer Brust … Er musste schlucken.

Junge Debütantinnen trugen fast immer Weiß. Unwillkürlich überlegte er, wie alt sie wohl sein mochte und ob sie noch ledig war. Sie sah kaum älter als zwanzig aus, dennoch konnte sie verheiratet sein. Allerdings – sie sah so unschuldig aus. Die schmalen Brauen über den wunderschönen braunen Augen hochgezogen, musterte sie ihn ebenso eindringlich wie er sie. Sein Blick fiel auf ihren Mund – ein hinreißender Mund mit vollen Lippen von zartrosa Farbe –, und er wusste sofort, dass er sie küssen würde.

Natürlich nicht jetzt, aber bald.

„Benötigen Sie Hilfe, Miss Sinclair?“, rief ihr Kutscher, der inzwischen vor dem Haus gehalten hatte.

Der Bann war gebrochen. Schwach lächelnd antwortete sie ihm: „Mir geht es gut, John. Ich war nur wieder mal ein wenig zu sehr in Eile.“

„Jawohl, Miss“, antwortete John, sich ein Lachen verkneifend.

Autor

Sarah Elliott
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