Romana Exklusiv Band 312

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EIN ITALIENISCHER LIEBESTRAUM von ANDREWS, AMY
So gern würde Kathryn für immer bei Ben Medici in seiner Villa an der Amalfiküste bleiben. Doch sie lebt nur dort, weil sie ein Kind von Ben erwartet. Erst als der kühle Adlige den Herzschlag seines Sohnes fühlt, taut er ein wenig auf. Darf Kathryn endlich auf seine Liebe hoffen?

IM BANN DES STOLZEN GRIECHEN von WINTERS, REBECCA
Unwillkürlich hält Gabi den Atem an, als sie Andreas Simonides gegenübersteht. Seine Ähnlichkeit mit den Zwillingen ihrer verstorbenen Schwester ist wirklich verblüffend. Gabi ist sicher, den Vater ihrer Neffen gefunden zu haben. Und verliert ihr Herz an diesen Mann, der unerreichbar für sie ist …

STÜRMISCHE KÜSSE AM MITTELMEER von MCMAHON, BARBARA
Auf den malerischen Klippen von St. Bartholomé schließt Matthieu sie in die Arme - und Jeanne-Marie fühlt sich bei ihm unendlich geborgen. Doch weitere leidenschaftliche Küsse wird es nicht geben. Die Vergangenheit macht es ihr unmöglich, sich ganz an den charmanten Franzosen zu verlieren …


  • Erscheinungstag 26.07.2019
  • Bandnummer 0312
  • ISBN / Artikelnummer 9783733744953
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Amy Andrews, Rebecca Winters, Barbara McMahon

ROMANA EXKLUSIV BAND 312

1. KAPITEL

Kathryn Peters legte die Hände schützend auf ihren Bauch, als das Flugzeug in ein Luftloch sackte. Ihr war etwas übel zumute, und als die Turbulenzen sich wieder gelegt hatten, spürte sie ein leichtes Flattern im Unterleib. Vielleicht das Baby? Sie ließ eine Hand auf dem Bauch liegen und wartete. Alle ihre Sinne waren darauf ausgerichtet, auch die winzigste Bewegung des Kindes zu spüren. Komm schon, Baby. Die Sekunden vergingen. Nichts. Sie wartete etwas länger. Immer noch nichts.

Wie dumm von ihr! Ungeduldig zog sie ihre Hand weg. Als ob sie schon jetzt etwas merken könnte. Sie war doch erst in der zwölften Woche und das Baby nicht einmal fünf Zentimeter groß! In den Büchern stand, dass es noch bis zu zehn Wochen dauern würde, bis sie die ersten Bewegungen fühlte. Sie nahm sich vor, keine Schwangerschaftsbücher mehr zu lesen. Sie musste aufhören, in diese Fantasiewelt abzudriften. Es hatte überhaupt keinen Sinn, das Baby noch mehr ins Herz zu schließen, denn sie konnte ihm niemals eine Mutter sein.

Auf keinen Fall. Schlimm genug, dass sie das Kleine schon jetzt mehr liebte als ihr eigenes Leben. Sie musste wirklich cooler werden und es in Gedanken nicht mehr „das Baby“ oder „ihn“ oder „sie“ nennen. Sie musste Abstand zu dem ungeborenen Leben in ihrem Bauch finden. Schließlich tat sie das Richtige. Denn wenn man jemanden liebte, wollte man sein Bestes, nicht wahr? Und sie war als Mutter ganz sicher nicht das Beste für dieses Kind. Deswegen saß sie schließlich in diesem Flugzeug und würde sich mit einem Mann treffen, den sie kaum kannte. Sie wollte herausfinden, ob der Vater das Beste für das Baby wäre.

Als sie eine Stunde später von Bord gegangen war und Passkontrolle und Zoll hinter sich gelassen hatte, hätte Kathryn vor lauter Müdigkeit und Unwohlsein am liebsten laut geschrien. Kurz vor dem Ende des ersten Schwangerschaftsdrittels hatte sich die tägliche Übelkeit zwar weitgehend gelegt, aber ihre große Nervosität schlug ihr auf den Magen. Vor drei Monaten hatte sie ihn zuletzt gesehen. Ja, es war drei Monate her, dass sie sich so unverantwortlich verhalten hatte wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Und sie waren nicht im Guten auseinandergegangen. Nun trug sie sein Baby in sich.

Der Blumenstrauß, den er ihr zur Begrüßung entgegenstreckte, hob ihre Laune keineswegs. Wütend funkelte sie ihn an und stemmte die Hände in die Hüften.

„Ich hatte doch gesagt, dass ich aus rein beruflichen Gründen hier bin.“

Der zarte Duft der Rosen umhüllte sie, sie musste sich zusammenreißen, um nicht in einem Reflex nach dem Strauß zu greifen. In der belebten Ankunftshalle des Leonardo-Da-Vinci-Flughafens drängten sich die Menschen; alle hatten es eilig, ihre Lieben zu begrüßen. Nur er und sie wahrten in diesem Gedränge Distanz. Weder umarmten sie sich, noch brachen sie in Tränen aus.

Conte Benedetto Medici lachte leise in sich hinein und versuchte, angesichts dieser Zurückweisung verletzt auszusehen. Sie war genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Geradeheraus und ohne Umschweife. Wer sie nicht kannte, würde sie vielleicht sogar als gefühllos bezeichnen. Aber er wusste aus eigener Erfahrung, dass Kathryn Peters entgegen dem äußerlichen Anschein eine ausgesprochen leidenschaftliche Frau war.

„Tesoro“, schmeichelte er.

„Nenn mich nicht Schatz“, sagte Kathryn sofort und ignorierte die Hitzewellen, die seine Stimme über ihre Haut jagte. Leider hatten weder die Zeit noch die Entfernung oder die wochenlange Übelkeit sie immun gegenüber seinem Charme gemacht, und auch ihre Reaktion auf den Sex-Appeal seiner sehr tiefen, ausgesprochen männlichen Stimme hatte sich kein bisschen abgeschwächt.

„Aber ich habe sie für dich gekauft – um dich in meinem Land willkommen zu heißen.“

Kathryn rümpfte die Nase, während sein verführerisches Lächeln sie aus dem Gleichgewicht brachte. „Ich bin zum Arbeiten hierhergekommen, Ben. Du musst mir nichts schenken.“

„Sie sind zu schön, um sie wegzuwerfen“, sagte er sanft und hielt ihr die Blumen noch einmal hin. Kathryn nahm den Duft der purpurroten Blüten wahr, und die Versuchung war schier unwiderstehlich. Aber hier ging es ums Prinzip. Blumen waren etwas für Liebende, und genau das waren sie nicht. Ein einziges Mal zählte nicht. Ben, ein reicher und attraktiver Mann – und außerdem ein Adliger –, war es gewöhnt, stets seinen Willen zu bekommen. Aber sie war nicht hier, um die Geliebte eines reichen Mannes zu werden. Das war eher etwas für ihre Mutter.

Sie war gekommen, um Fakten zu sammeln. Nur weil sie selbst nicht in der Lage sein würde, das Baby zu versorgen, würde sie diese Aufgabe noch längst nicht irgendjemandem überlassen. Ben war zwar der Vater, aber sie wusste nur wenig über ihn. Natürlich, was das Geld anging, wäre das Kind bei ihm bestens versorgt. Aber könnte er ihm auch geben, was es sonst noch brauchte?

Die weniger greifbaren Dinge. Seine Liebe. Seine Zeit und Zuwendung. Seine Erfahrungen und Hingabe. Kathryn wusste nur zu gut, wie es war, ohne all dies aufzuwachsen. Und obendrein hatte sie die Erfahrung gemacht, vaterlos aufzuwachsen. Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn sie einen Vater gehabt hätte. Womöglich aber auch nicht. Doch für dieses Kind wollte sie nur das Beste – und abgesehen von einer Mutter war das der Vater, oder? Um dies herauszufinden, war sie hier.

Sie schaute sich in der sich langsam zerstreuenden Menschenmenge um und bemerkte einen jungen Mann, der auf den Fußballen wippte und seinen Blick unruhig und suchend über die Ankommenden gleiten ließ. „Frag ihn, auf wen er wartet“, bat sie.

Ben lachte wieder leise. Aber er tat, worum sie ihn gebeten hatte. Die beiden Männer sprachen kurz miteinander, und Ben übersetzte: „Auf seine Verlobte.“

Kathryn lächelte: „Perfekt. Die Rosen werden ihr gefallen.“ Zielstrebig ging sie in Richtung der Ausgangsschilder und rollte ihren Koffer hinter sich her.

Ben warf Kathryns mittelgroßen Koffer, der aussah, als hätte er schon bessere Zeiten erlebt, in seinen Alfa Romeo. „Mehr Gepäck hast du nicht?“

„Nein. Warum?“

Ben zuckte mit den Schultern. „Die meisten Frauen, die ich kenne, brauchen schon für ihr Make-up einen Koffer dieser Größe.“

Kathryn merkte, dass seine offensichtliche Vertrautheit mit anderen Frauen und deren Gepäckgewohnheiten sie seltsam berührte. „Ich bin aber nicht wie die meisten Frauen.“

Wie wahr. Ben schloss den Kofferraumdeckel und klopfte liebevoll auf das Metall. Als er aufblickte, sah er, wie sie das Auto anstarrte. „Was ist?“, fragte er vorsichtig.

Nun zuckte sie mit den Schultern: „Ich hatte erwartet, dass du einen Ferrari oder einen Lamborghini fährst.“

Er lächelte: „Enttäuscht?“

„Nein, überrascht.“

Natürlich. Von allen Frauen, die er jemals kennengelernt hatte, war Kathryn wirklich die Einzige, die sich von seinem Titel und seinem Status nicht im Geringsten beeindrucken ließ. Ganz im Gegenteil: Sie hatte ihm von Anfang an gezeigt, dass sie seinen Reichtum ablehnte. Sie war ein Arbeiterkind und er in ihren Augen ein Playboy, wofür sie ihn verurteilte. Und es stimmte: Er hatte einmal jede Menge Statussymbole besessen, darunter einen schnittigen roten Ferrari. Aber das war in einem anderen Leben gewesen. Damals, als ein maßloser und verschwenderischer Lebensstil für ihn völlig normal war. Aber seitdem war viel passiert. Deshalb störte es ihn, dass sie seinen Kontostand zu seinem Nachteil auslegte.

„Vielleicht kennst du mich weniger gut, als du denkst“, sagte er und ging auf sie zu, um ihr die Wagentür zu öffnen.

Kathryn hob eine Augenbraue. Während seiner gesamten Zeit bei MedSurg hatte er sich wie ein reicher, verwöhnter Playboy benommen. Nur ein einziges Mal hatte sie ihn anders erlebt, und zwar in der Nacht, in der sie einander geliebt hatten. In der Nacht, in der er vom Tod seines Bruders erfahren hatte. In jenen Stunden hatte sie ihn als verwundbar erlebt und einen Blick auf den Menschen hinter der Fassade werfen können. Alle seine Masken waren durch die entsetzliche Nachricht heruntergerissen worden, und er war nackt gewesen, vollkommen unverstellt. Der Playboy war verschwunden und an seine Stelle ein Mann getreten. Ohne Zögern hatte sie sich ihm hingegeben. Und dieser Ben war es, den sie als Vater ihres Kindes brauchte.

„Vielleicht nicht“, gab sie zu.

Ben fühlte ihren warmen Atem an seiner Wange und wunderte sich über ihr Zugeständnis. Das war nicht die Kathryn, an die er sich erinnerte. Die respektlose Kathryn, die es ihm unentwegt schwer machte und niemals nachgab. Einmal hatte er sie so erlebt, und zwar in der Nacht, in der sie ihm Trost und Ermutigung schenkte.

Sie standen jetzt sehr dicht beieinander, und er wurde von Bildern jener Nacht überwältigt. Er roch ihren vertrauten Zimtduft, genau wie der Duft in seiner Erinnerung. Er spürte das plötzliche Verlangen, auszuprobieren, ob sie noch so schmeckte wie damals. Im weiten Ausschnitt ihrer Bluse konnte er ihre helle Haut sehen. Plötzlich wollte er nichts lieber, als sich zu ihr hinüberzulehnen und sie zu liebkosen.

Kathryn blickte in seine verträumten Augen und konnte sehen, wie darin die Leidenschaft erwachte. Sie konnte seine Gedanken genau lesen. Sie dachte ja selbst daran, spürte ihr eigenes Zittern und hörte, wie zuerst ihr Atem und dann seiner schneller ging.

Hinter ihnen hupte jemand, und das Echo hallte zwischen den Betonmauern des Parkplatzes wider, sodass beide erstarrten. Kathryns Herz klopfte heftig, während sie sich langsam aus seiner gefährlichen Nähe zurückzog. Sie war schließlich nicht hierhergekommen, um dort weiterzumachen, wo sie das letzte Mal aufgehört hatten! Sie wusste noch, wie beiläufig er sich am Morgen nach ihrer gemeinsamen Nacht verhalten und wie sehr sein wie zufällig hervorgebrachtes Jobangebot sie verwirrt hatte. Sie hatte sich gefühlt, als hätte er ihr Geld auf den Nachttisch gelegt, und war fest entschlossen gewesen, so zu tun, als ob ihr das alles nichts ausmachte.

„Wie lange werden wir bis Ravello brauchen?“, fragte sie und ließ sich mit zittrigen Knien auf den Beifahrersitz gleiten.

„Heute Nacht bleiben wir in Positano“, sagte er, als er ins Auto stieg. „In der Villa meiner Mutter.“ Er schnallte sich an und bemerkte, wie ihr ohnehin schon sehr angespannter Körper, der die Berührung mit den Ledersitzen krampfhaft zu meiden schien, sich noch mehr versteifte.

„Das war nicht Teil der Abmachung.“

„Meine Mutter möchte dich in Italien willkommen heißen. Sie bereitet dir zu Ehren ein Abendessen vor. Entspann dich also“, neckte er sie und legte ihr eine Hand aufs Knie.

Kathryn sah ihn wütend an, nahm seine Hand und legte sie zurück auf den Schaltknüppel. „Das ist nicht nötig.“

„Meine Mutter besteht darauf.“ Er zuckte mit den Schultern. „Sie wäre sehr enttäuscht, wenn wir nicht vorbeikommen. Morgen früh fahren wir nach Ravello. Wenn nicht zu viel Verkehr ist, brauchen wir nur eine halbe Stunde.“

Sie presste ihre Lippen fest zusammen, und ihm war klar, dass sie am liebsten etwas entgegnet hätte. Dieses Glitzern in ihren Augen hatte er schon früher gesehen und anschließend einen ätzenden Kommentar zu hören bekommen. Aber er merkte auch, dass sie seine Mutter nicht beleidigen wollte.

„Deine Mutter weiß, dass wir lediglich Kollegen sind, oder? Ich gehe davon aus, dass wir in getrennten Zimmern schlafen.“

Ben konnte sein Lachen nicht zurückhalten. Seine Mutter war eine altmodische Frau und hatte ihre Kinder nach traditionellen Wertvorstellungen erzogen. Für sie war Sex vor der Ehe eine Sünde. „In dieser Hinsicht brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“

„Gut.“ Kathryn wandte sich zum Seitenfenster und schaute hinaus.

Ben konzentrierte sich aufs Fahren und steuerte den Alfa sicher aus Rom heraus. Er hatte viele Jahre in der Hauptstadt verbracht und kannte sich hier bestens aus. Die Familie Medici besaß Häuser in Rom und Florenz, und er hatte seine Kindheit und Jugend an beiden Orten verlebt. Er nahm die autostrada Richtung Neapel. Seine Familie pflegte den Winter schon immer an der Amalfiküste zu verbringen, da seine Mutter das mildere Klima Süditaliens bevorzugte. Jetzt war die Villa in Positano bereits seit fünf Jahren ihr Hauptwohnsitz. Viele Jahre war dies sein liebster Ort in ganz Italien gewesen, aber dann war dort zu viel passiert, und als er vor zehn Jahren wegging, hatte er sich geschworen, niemals zurückzukehren. Aber die Lucia-Klinik und seine Pflicht hatten ihn genötigt, diesen Schwur zu brechen.

Er sah Kathryn von der Seite an. Sie schien ganz in die Betrachtung der Landschaft versunken, und er nutzte diese Gelegenheit, sie genauer anzuschauen. Sie trug eine tief auf den Hüften sitzende Jeans. Diese war eher bequem als eng geschnitten, was ihre schmalen Hüften noch betonte. Ihre weiße kurzärmelige Bluse sah angenehm kühl aus, die obersten Knöpfe waren geöffnet und gaben den Blick auf eine Andeutung von Dekolleté frei.

Seltsam – er hatte sie ein Jahr lang fast jeden Tag getroffen und dennoch selten in Freizeitkleidung gesehen. Wenn er an sie dachte, was ein bisschen zu häufig vorkam, dann sah er sie so vor sich wie in jener letzten Nacht. Herrlich nackt und mit schweißglänzendem Körper, ihre blauen Augen vor Leidenschaft weit geöffnet.

Es fiel ihm schwer, aus dieser Fantasie in die Realität zurückzukehren. Auch wenn sie jetzt dicht neben ihm war, konnte er kaum glauben, dass sie wirklich neben ihm saß. Es wäre untertrieben, zu behaupten, dass ihr Anruf vor ein paar Wochen ihn überrascht hatte. Sein Verhalten nach dieser unglaublichen Nacht und ihr darauffolgender Abschied waren keine Glanzleistung gewesen.

„Steht dein Jobangebot noch?“, hatte sie am Telefon gefragt.

Er war so froh gewesen, ihre Stimme zu hören, so erleichtert, dass sie nach seinem unsensiblen Verhalten noch mit ihm sprach, dass er ganz vergessen hatte, wie trotzig sie sein konnte.

„Natürlich“, hatte er erwidert. Er hatte sie wirklich vermisst. Ihre Direktheit hatte ihm gefehlt. Ihre süße Stimme und ihre Reserviertheit. Sie war die einzige Frau, die ihn durch bloße Gleichgültigkeit erregen konnte.

Wie es ihre Art war, hatte sie nichts Genaueres über ihre Gründe verraten. Sie hatte nicht erklärt, warum sie jetzt genau das tun wollte, was sie noch vor Kurzem als unmöglich bezeichnet hatte.

„Da würde ich lieber abgestandenen Tee trinken“, hatte sie an jenem letzten Morgen gesagt.

Anstelle von Erklärungen, die er sich gewünscht hätte, hatte sie am Telefon lediglich ausgeführt, was es bedeutete, wenn sie nach Italien kam – und was nicht.

„Nur zum Arbeiten! Wir werden nicht dort weitermachen, wo wir aufgehört haben.“

Warum hatte sie ihre Meinung geändert? Er musste zugeben, dass er ziemlich neugierig war. Vielleicht brauchte sie aus irgendeinem Grund Geld? Das Personal der Lucia-Klinik wurde sehr gut bezahlt. Bei MedSurg dagegen, der Wohltätigkeitsorganisation, bei der sie beide angestellt gewesen waren, verdiente man wenig. Aber es tat unglaublich gut, dort zu arbeiten. Und niemand war dabei, um reich zu werden. Bei MedSurg ging es um höhere Werte. Und Kathryn hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie dort bleiben wollte.

„Für immer“, hatte sie an dem schrecklichen Morgen gesagt.

Also war irgendetwas passiert, was sie ihre Meinung hatte ändern lassen.

Sie wolle sich beruflich verändern, hatte sie hinzugefügt. Aber er wusste, dass sie log. Wie hatte sie sich noch ausgedrückt, als sie begriff, dass seiner Familie die weltbekannte Lucia-Klinik gehörte? „Ein Ort für reiche und eitle Menschen, die sich verzweifelt an ihre Jugend klammern.“ Oder so ähnlich.

Er lächelte in sich hinein. Ob sie es ihm wohl sagen würde, wenn er sie fragte?

„Solltest du nicht auf die Straße achten?“, fragte Kathryn, die sich vom Fenster abgewandt hatte und ihn missbilligend musterte.

Hm. Vielleicht frage ich besser nicht.

Auch als sie die dichten Häuserzeilen Roms hinter sich gelassen hatten und nur noch die wunderschöne italienische Landschaft vorüberglitt, konnte Kathryn seine Blicke nicht länger ignorieren. Von dem Moment an, als sie ihn am Flughafen entdeckt hatte, als er halb verborgen hinter dem riesigen Blumenstrauß stand, war sie sich seiner Anwesenheit sehr bewusst. Sie hatte gehofft, dass die Zeit ihrer Trennung seine Attraktivität schmälern würde, aber eher das Gegenteil schien der Fall.

Es liegt an seiner Kleidung, entschied sie. In der OP-Kleidung sah er zwar großartig aus, aber als italienischer Adliger war er absolut umwerfend. Alles, was er trug, signalisierte Reichtum. Der Schnitt seiner Hosen. Die Art, wie der teure Stoff seines Hemdes seine breiten Schultern bedeckte, sich an seine Brust schmiegte und seinen Körper betonte. Das geschmeidige Leder seiner edlen Schuhe.

Wer auch immer gesagt hatte, dass Kleider Leute machten, hatte recht. Solange sie ihn nur in OP-Kleidung sah, hatte sie so tun können, als sei er lediglich Ben. Der hinreißende, flirtende, beharrliche und nervende Ben. Ben, der Chirurg. Ihn zu ignorieren war trotz seiner beeindruckenden Größe von über ein Meter achtzig nicht sonderlich schwer gewesen. Aber in seiner exklusiven Freizeitkleidung sah er … königlich aus. Aristokratisch. Wie Conte Benedetto Medici. Sündhaft reich. Ein aufstrebender plastischer Chirurg. Und … der Vater ihres Kindes.

Kathryn wusste, es würde ihr nicht leichtfallen, diesen Ben nicht ernst zu nehmen. Etwas, was sie sich ohnehin nicht erlauben konnte, weil sie ihn besser kennenlernen wollte. Sie musste hinter seine Maske schauen, sehen, was sich hinter den Äußerlichkeiten verbarg. Es ging darum, den Mann zu finden, mit dem sie vor drei Monaten eine Liebesnacht verbracht hatte – falls dieser tatsächlich existierte und nicht eine kurzlebige Erscheinung war, geboren aus ungewöhnlichen Umständen.

Ein Auto schwenkte kurz vor ihnen auf ihre Spur ein und raste dann in Schlangenlinien weiter, wobei sein Fahrer die Fahrbahnmarkierungen der autostrada komplett ignorierte. Kathryn fluchte und krallte sich am Armaturenbrett fest. Ihr Puls raste angesichts der Vorstellung, dass sie einem Unfall nur mit knapper Not entkommen waren. „Idiot!“, rief sie dem Wagen nach und drehte sich zu Ben um: „Hast du das gesehen?“

Er lachte: „Wenn du alle anschreien willst, die so fahren, bist du heute Abend heiser. Wir Italiener fahren nun mal so, wie wir leben. Leidenschaftlich.“

„Verdammt gefährlich“, murrte Kathryn und versuchte, jeden Gedanken an ihre persönliche Erfahrung mit Bens italienischer Leidenschaftlichkeit zu vermeiden.

Er hatte natürlich recht, und Kathryn verbrachte die nächsten zwei Stunden an ihren Sitz geklammert, während sein Alfa einen Kilometer nach dem anderen schluckte. Mit einem Blick auf den Tacho, der über 140 Stundenkilometer anzeigte, fragte sie: „Musst du so rasen?“

Er lächelte sie an: „Ich fahre doch nicht schnell.“ Wie um ihn zu bestätigen, zogen drei Autos an ihnen vorbei und ließen den Alfa in einer Wolke von Abgasen hinter sich zurück.

„Verrückt.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Das ist noch gar nichts.“ Er zwinkerte ihr zu. „Warte ab, bis wir die Küstenstraße erreichen.“

Kathryn hätte nie gedacht, dass die Fahrt noch Furcht einflößender werden könnte, aber sie irrte sich. Auf der Küstenstraße ging es genauso zu, wie Ben angedeutet hatte. Eine einzige adrenalingetränkte Achterbahnfahrt.

Die Landschaft sah an diesem sonnigen Herbstnachmittag atemberaubend aus: Auf der einen Seite ragten schroffe Felsen weit in die Höhe, auf der anderen leuchtete das Mittelmeer in strahlendem Blau. Allerdings konnte sie diese Pracht nur schlecht bewundern, da sie sich die Hände vor die Augen hielt.

Wegen überhöhter Geschwindigkeit musste sie sich hier zwar keine Sorgen mehr machen, denn die Automassen ließen niemanden schneller als 40 Stundenkilometer fahren, aber dafür benahmen sich alle vollkommen verrückt. Auf den schmalen, kurvigen Straßen, die sich eng an die Felswand schmiegten und diese gelegentlich mit einem Tunnel durchschnitten, kämpften Autos und Vespas, Laster und Touristenbusse um Platz. Dazu kamen die Fahrzeuge, die völlig unmöglich am Straßenrand abgestellt waren – manchmal parkten sogar auf beiden Seiten welche. Sie standen überall dort, wo sich auch nur die kleinste Parkmöglichkeit ergab, sodass es auf der ohnehin schon schmalen Straße noch beengter zuging. Kathryn hielt sich die Augen zu, während Ben den Wagen durch dieses Chaos steuerte.

„Wenn sonntags die Sonne so scheint wie heute, fährt man in Italien an den Strand“, meinte er und schaltete souverän einen Gang höher.

Sie bewunderte seine Gelassenheit. Ganze Schwärme von Vespas scherten vor ihnen ein und aus, Autos überholten direkt vor scharfen Kurven, und die Luft war erfüllt von wildem Gehupe. Außerdem hielten manche Fahrer einfach mitten auf der Straße an, wenn sie unter den Fußgängern einen Bekannten entdeckten.

Ein solches Chaos hatte sie noch nie erlebt. Sie fuhren durch enge Gassen und mussten immer wieder bremsen, wenn streunende Hunde ihren Weg kreuzten oder Dorfbewohner sich zu einem Schwatz auf der Straße zusammengefunden hatten. Sie kamen an unzähligen Restaurants und Hotels vorbei, die alle mit wunderschönen Bougainvilleen in leuchtenden Farben geschmückt waren. Straßenverkäufer boten auf kleinen Lieferwagen Früchte an; auf einem befand sich ein Metallständer, von dem massenweise rote Chilischoten in üppigen Bündeln herunterhingen.

„Ben!“ Kathryn schrie auf, als ihnen auf ihrer Seite der Fahrbahn ein Bus entgegenkam. Sie umklammerte seinen Oberschenkel und schloss instinktiv die Augen.

Ben lachte und wich dem anderen Fahrzeug aus. „Alles in Ordnung, du kannst die Augen wieder aufmachen“, neckte er sie.

„Oh Gott, wie weit ist es noch?“, fragte sie und hielt sich weiterhin an seinem Bein fest, dessen kräftige Muskeln sich seltsam beruhigend anfühlten. Für ein paar Kilometer hatten sie eine ganze Stunde gebraucht!

„Es ist nicht mehr weit.“ Er grinste sie an.

Kathryn fand sein Lächeln ansteckend, und die Zuversicht in seinen braunen Augen half ihr, sich zu entspannen. Im OP-Saal hatte sie diesen ruhigen, optimistischen Blick schon oft gesehen. Und gerade jetzt brauchte sie Aufmunterung, denn bei dieser schrecklichen Fahrt ging es umso viel: Sie waren zu dritt im Auto, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie einen Unfall hätten und das Baby dabei verletzt würde.

Sie lächelte ihn an; es tat gut, auf dieser wunderschönen Straße, die in die Felsen der Amalfiküste gehauen war, mit jemandem unterwegs zu sein, der alle Risiken im Griff hatte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass ihre Hand auf seinem Oberschenkel ruhte, und sie fühlte, wie sie rot wurde.

„Entschuldigung.“ Sie zog ihre Hand weg.

„Das ist in Ordnung“, sagte er und wandte sich wieder der Straße zu. „Es hat sich gut angefühlt.“

Kathryn schluckte und spürte in ihrer Handfläche noch immer die Wärme seines muskulösen Beins. Ja, das hatte es. Und genau darum hätte sie ihn nicht anfassen sollen.

„Wir sind da“, eröffnete er einige Minuten später und bog von der Küstenstraße auf die Via Pasitea, die Hauptstraße, die sich in Positano durch das Labyrinth von Villen mit Blick aufs Meer schlängelte.

Jetzt, wo sie Chaos und Geschwindigkeit hinter sich gelassen hatten, fiel es Kathryn wieder leichter, zu atmen. Zwar wurden sie noch immer gelegentlich von einer Vespa überholt, aber sie hatte nicht mehr das Gefühl, gleich sterben zu müssen. So konnte sie sogar die Landschaft genießen. Inzwischen war es später Nachmittag, und überall, wohin sie blickte, wurde das Licht der untergehenden Sonne von bunten Hausfassaden und malerischen Felsen gespiegelt. Gelb, Rosa, Weiß und Terrakotta waren die dominierenden Farben. Blühende Bougainvilleen überwucherten die Mauern und hingen von Rankgittern herab. Jedes Haus, jedes Restaurant und Hotel war mit Kübeln voller prächtig blühender Pflanzen geschmückt, und in der Ferne schimmerte das Mittelmeer. Positano war eine wunderschöne Stadt, und Kathryn fühlte sich sofort wie verzaubert.

Ben winkte im Vorbeifahren einigen Passanten zu. Diese riefen etwas, er lächelte und grüßte sie mit Namen. Er schien hier wirklich jeden zu kennen.

„Ein beliebter Mann“, sagte sie.

Er zuckte mit den Schultern: „Meine Familie lebt hier schon seit Generationen.“

Kathryn sah wieder aus dem Fenster. Wie mochte es sein, hier aufzuwachsen? Und wie wäre es für das Baby? Sie erinnerte sich an ihre eigene trostlose Kindheit und Jugend in einer beengten, schäbigen Wohnung in einem der Stadtteile Manchesters, die in der Presse gern als sozialer Brennpunkt bezeichnet wurden. Mehr als einmal war sie abends hungrig ins Bett gegangen, und wenn die Heizung wieder einmal ausfiel, hatte sie vor lauter Zittern nicht einschlafen können. Zu Hause herrschte ein Klima der Angst, das sie bedrückte. Es gab keine freundlichen Nachbarn, die einen herzlich grüßten – man achtete darauf, nicht aufzufallen und sich aus allem herauszuhalten, was Ärger machen konnte. Für ihr Baby wollte sie etwas Besseres.

„Hier ist es“, sagte Ben und bremste. Kathryn konnte durch das Drahtgeflecht eines sehr hohen Zaunes undeutlich eine weiß gekalkte Villa erkennen. Ben nahm eine Fernbedienung aus der Mittelkonsole, und sofort öffnete sich das moderne Sicherheitstor. Er fuhr durch die schmale Einfahrt und schaltete den Motor ab.

„Willkommen in Positano.“

Kathryn sah zu der eindrucksvollen Villa hinüber. Hatte man den Zaun hinter sich gelassen, wirkte sie sogar noch vornehmer und mächtiger, wie sie dort auf ihrem Felsen über dem Meer thronte. Die Pracht schüchterte sie ein. Plötzlich fühlte sie sich wie Aschenputtel auf dem Ball und hoffte nur, dass sie nicht hinfallen, etwas Dummes sagen oder mit der falschen Gabel essen würde. Sie stellte sich vor, wie Bens Mutter, eine rundliche alte Dame mit einem Leberfleck auf dem Kinn und glänzenden Augen, sich am Herd für sie abmühte. Für sie. Kathryn wollte sich auf keinen Fall anmerken lassen, was für eine schlechte Erziehung sie genossen hatte. Nicht, dass ihr so etwas im Allgemeinen wichtig gewesen wäre, aber einen gewissen Stolz hatte sie schließlich.

Sie stieg aus dem Wagen und ließ Ben gewähren, der ihren Koffer holte und sie zur Eingangstür führte. Das Haus war blendend weiß verputzt, seine Mauern wurden von zwei Reihen von Bogenfenstern durchbrochen. Auf den Fenstersimsen standen Blumenkästen aus Terrakotta, in denen rote Geranien üppig wucherten.

Sie gingen eine kleine Steintreppe hinauf. In die einzelnen Stufen waren hübsche Fliesen eingesetzt, was einen ausgesprochen dekorativen Effekt hatte. Eine imposante Holztür wies die Außenwelt in ihre Schranken.

Ben steckte seinen Schlüssel ins Schloss, öffnete die schwere Tür und ließ Kathryn den Vortritt. Sie ging nervös hinein – die weißen Wände, die mächtige Decke und die großen blauen Bodenfliesen, die in der Farbe des Meeres schimmerten, blendeten sie geradezu.

„Mamma!“, rief Ben und ging weiter, dicht gefolgt von Kathryn. Die teuer aussehenden Möbel, Teppiche und Kunstwerke, mit denen die Medici Villa ausgestattet war, verunsicherten sie. Sie kam sich ein wenig wie Alice im Wunderland vor und hätte am liebsten Zuflucht in Bens starken Armen gesucht. Nur ihr Stolz ermöglichte es ihr, ganz aufrecht zu gehen und nicht die Hand nach ihm auszustrecken.

Sie kamen in die Küche, in der es köstlich duftete. Eine Mischung aus Knoblauch, Basilikum und Zwiebelaroma stieg ihr in die Nase und erinnerte sie daran, wie viel Zeit seit ihrer letzten Mahlzeit vergangen war.

„Benedetto? Benedetto?“ Eine der elegantesten Frauen, die Kathryn je gesehen hatte, kam rechts von ihnen eine Treppe herauf. Sie war groß und majestätisch und trug ihr silbern glänzendes Haar zu einer schicken Hochfrisur aufgesteckt. Von wegen rundlich, weich und mit einem Leberfleck auf dem Kinn! Bens Mutter reckte ihre Arme in die Höhe, umarmte ihren Sohn und redete in einem begeisterten Schwall Italienisch auf ihn ein.

Kathryn hielt sich im Hintergrund und registrierte, wie unkompliziert und warmherzig die beiden miteinander umgingen. Es versetzte ihr einen neidvollen Stich, als Bens Mutter ihrem Sohn einen innigen Kuss auf jede Wange drückte. Diese enge Beziehung stand im krassen Gegensatz zu dem angespannten Verhältnis, das sie zu ihrer eigenen Mutter hatte. Kathryn fühlte sich jetzt noch unsicherer.

Die beiden sahen einander verblüffend ähnlich. Er hatte die hohen Wangenknochen seiner Mutter und ihre gerade Patriziernase. Und als die ältere Frau sie ansah, wurde Kathryn schlagartig bewusst, dass hier die Großmutter ihres Kindes stand. Diese gemütliche italienische Küche war von so viel Liebe erfüllt, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Sie blinzelte schnell, sah jedoch am Blick der Älteren, dass diese ihre Tränen bemerkt hatte.

„Mamma, das ist Kathryn Peters“, sagte Ben und löste sich aus der Umarmung. „Kathryn, das ist meine Mutter, Contessa Lucia Medici.“

Kathryn streckte zögernd ihre Hand aus, sie war sich nicht sicher, wie man eine Contessa angemessen begrüßte. „Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Contessa.“

Die Contessa trat mit einem Lächeln auf sie zu und streckte ihr ebenfalls die Hand entgegen, wobei sie in schnellem Italienisch auf Kathryn einredete.

„Englisch, Mamma“, unterbrach Ben sie freundlich.

„Natürlich, entschuldigen Sie bitte.“ Die Contessa lächelte Kathryn an und wechselte problemlos in nahezu perfektes Englisch. „Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Und nennen Sie mich bitte Lucia.“

Die Contessa umarmte Kathryn nun ebenso herzlich wie ihren eigenen Sohn. Kathryn fühlte sich in dieser Umarmung unbehaglich, denn solche mütterlichen Zuneigungsbekundungen war sie nicht gewohnt. Aber die Augen der Contessa waren gütig, und sie spürte, wie ihr schon wieder die Tränen kamen.

„Wollen wir uns nach draußen begeben?“, schlug Lucia vor und ließ Kathryn los. „Benedetto.“ Sie drehte sich zu ihrem Sohn um. „Nimm den Wein mit.“

Kathryn folgte Lucia die Treppe hinunter, über die diese zuvor die Küche betreten hatte. Sie traten auf eine prunkvolle Terrasse mit Panoramablick auf das unter ihnen liegende Meer und die majestätische, schroffe Küste.

Auf der Terrasse stand ein runder Tisch mit einer schönen Keramikplatte, die mit einem typisch mediterranen Zitronenhain bemalt war. Eine Schüssel mit leuchtend gelben Zitronen, die auf dem Tisch platziert war, verströmte einen köstlich herben Duft. Nun gesellte sich auch Ben zu ihnen; er stellte einige Gläser auf den Tisch und schenkte großzügig ein. Kathryn legte ihre Hand ablehnend über ihr Glas. Ben hob fragend die Augenbrauen.

„Von Wein bekomme ich Kopfschmerzen.“ Sie sagte das Erstbeste, was ihr in den Sinn kam.

Ben blickte sie erstaunt an. Seit wann denn das? „Und das soll ich einem Mädchen glauben, das schon das gesamte MedSurg-Team unter den Tisch getrunken hat?“

„Benedetto“, rief ihn seine Mutter zur Ordnung, „sei nicht so unhöflich. Lauf nach oben, und hol Wasser.“

Kathryn konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn ein wenig zu necken: „Genau, Benedetto. Nun lauf schon.“

Zu spät wurde ihr klar, dass Lucia diese informelle Anrede vielleicht missbilligen könnte. Was war, wenn sie fand, dass man Ben so behandeln musste, wie es einem Mann seiner Stellung zustand? Aber die Contessa klatschte fröhlich in die Hände, und ihre Augen blitzten vergnügt.

Kathryn atmete auf. Ihn mit seinem Titel anzureden wäre einfach zu seltsam, wenn man überlegte, was sie schon miteinander erlebt hatten. Wie oft hatten sie nebeneinander gestanden und um das Leben eines Menschen gekämpft, den sie nicht einmal kannten! Und dann war da noch jene Nacht, in der sie Trost beieinander gefunden hatten …

Es gab Beziehungen, die sich auf einer Ebene bewegten, auf der offizielle Titel nichts bedeuteten. Selbst wenn dies für ihre Arbeitsbeziehung nicht galt, im Moment ihrer größten Intimität hatten sie diesen Punkt ganz bestimmt erreicht.

Ben lachte leise vor sich hin und ging, um die Bitte seiner Mutter zu erfüllen. Er kam schnell mit einer Flasche Sprudelwasser zurück und schenkte Kathryn davon ein. Als er sich neben sie setzte, spürte sie die Hitze, die von seinem Körper ausging.

„Auf herrische englische Krankenschwestern!“, prostete er ihr zu.

„Benedetto!“ Lucia war entsetzt.

Aber Kathryn sah, wie seine Augen strahlten und seine schönen vollen Lippen sich zu einem Lächeln kräuselten.

„Auf aufdringliche italienische Grafen!“, konterte sie.

Lucia lachte und hob nun ebenfalls ihr Glas: „Touché.“

Sie tranken Wein und Wasser und aßen knusprige Bruschetta, während die Sonne im Meer versank und unter ihnen allmählich die Lichter des Städtchens angingen. Kathryn merkte, wie sie sich in der angenehmen Gesellschaft und vor dieser opulenten Kulisse entspannte. Ben brachte sie zum Lachen – so gelöst hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie vor mehr als einem Monat festgestellt hatte, dass ihr Ausrutscher nicht folgenlos geblieben war. Es fiel ihnen nicht schwer, das Geplänkel wieder aufzunehmen, für das sie beide bei MedSurg bekannt waren. Sie unterhielten die Contessa mit Geschichten über ihre Reisen, und Lucia schien Kathryns respektlose Haltung gegenüber ihrem Sohn zu genießen.

Als es dunkel war, servierte Lucia ein leckeres Pastagericht mit Meeresfrüchten. Es schmeckte so gut, dass sogar Kathryn eine zweite Portion nahm. Während sie an diesem warmen Abend unter dem Sternenzelt am Mittelmeer saß, fühlte sie sich als Teil einer Familie. Diese Empfindung war ihr neu, aber sie genoss sie und wollte, dass ihr Kind genau so aufwuchs.

Der Gedanke an das Baby rief ihr ihre Aufgabe ins Gedächtnis zurück. Dieser Abend war wunderschön, aber sie durfte nicht aus den Augen verlieren, warum sie hier war. Würde Ben ein guter Vater sein?

Sie hörte zu, wie er seine Mutter mit einer Erzählung amüsierte und dabei ganz der charmante Playboy war, den sie von MedSurg kannte. Aber wo war der Ben, den sie in jener besonderen Nacht gesehen hatte? Der echte Mann, der einen guten Vater abgeben würde? Gab es ihn wirklich, oder war er ein Produkt ihrer viel zu lebhaften Fantasie?

Ben lachte, und auf ihrer Haut bildete sich eine zarte Gänsehaut. Es wäre so leicht, sich ablenken zu lassen. So wie heute Abend, als sie sich von der Wärme und der Hoffnung auf eine echte Familie für ihr Baby hatte verlocken lassen. Und für einen kurzen Moment hatte sie sogar gedacht, selbst einen Platz in diesem Szenario zu haben. Schluss damit!

Kathryn erhob sich abrupt. Ben und seine Mutter blickten sie fragend an.

„Es tut mir leid, es war ein wirklich schöner Abend, aber ich bin sehr müde und erschöpft und würde mich jetzt gern hinlegen.“

„Aber natürlich“, sagte Lucia. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihre Suite.“

Kathryn musste sich an Ben vorbeischieben, um Lucia zu folgen, und obwohl sich ihre Körper kaum berührten, spürte sie überdeutlich die Hitze, die von ihm ausging, und roch seinen männlichen Duft. Mit belegter Stimme und zittrigen Knien wünschte sie ihm schnell eine gute Nacht.

„Gute Nacht, cara“, rief Ben ihr nach.

Sie konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie er sich lässig im Stuhl zurücklehnte, sein lang ausgestreckter Körper muskulös und schlank. Sie erinnerte sich noch genau, wie groß und stark er sich damals angefühlt hatte, als er sich an sie drängte.

„Hier entlang“, sagte Lucia.

Kathryn folgte ihr nur allzu gern. Der erregende Klang seines Lachens begleitete sie bis auf die Treppe.

„Hier ist Ihr Zimmer. Und bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie noch etwas brauchen, ja?“ Bens Mutter öffnete die Tür zu Kathryns Suite.

„Vielen Dank, Lucia. Das ist sehr freundlich.“

Die Contessa schüttelte den Kopf: „Nein, ich danke Ihnen. Wissen Sie, ich habe Benedetto seit Jahren nicht mehr so viel lachen hören wie heute. Er ist viel zu ernst geworden.“

Kathryn blickte Lucia nach und ließ sich aufs Bett fallen. Ben sollte zu ernst sein? Sie kannte ihn nur so, wie sie ihn heute Abend erlebt hatte. Ein Stimmungsmacher, der gern flirtete und immer eine Neckerei auf den Lippen hatte. Abgesehen von dieser einen Nacht natürlich, als die Trauer ihn aus heiterem Himmel überwältigt hatte und sie eine unglaublich tiefgründige, leidenschaftliche Seite an ihm entdeckte. Nun deutete Lucia an, dass es noch einen ganz anderen Ben gab. Welcher also war der echte? Der Playboy, der ernsthafte Sohn oder der Liebhaber? Dieses Rätsel musste sie lösen.

Und dann stellte sich die Frage, ob einer dieser Männer auch ein guter Vater wäre.

2. KAPITEL

Kathryn hatte tief und traumlos geschlafen. Nun rekelte sie sich genüsslich. Ja, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen. Der Abend mit Ben und Lucia hatte es bewiesen. Die Contessa war eine liebevolle und warmherzige Mutter. Sie war Ben sehr zugetan und offensichtlich besorgt um ihn. Die Mutterrolle war ihr auf den Leib geschrieben.

Und sie selbst? Wen konnte sie sich zum Vorbild nehmen, wenn sie versuchen wollte, das Baby großzuziehen? Niemanden. Schon mit acht Jahren hatte sie zu Hause Verantwortung übernehmen müssen. Hatte sich um vier jüngere Geschwister gekümmert, während ihre Mutter sich amüsierte. Und jeder, der sich auch nur ein bisschen für Psychologie interessierte, wusste, dass sich solche Verhaltensmuster oft über Generationen fortsetzten. Sie hatte Angst zu versagen, und dieser Gefahr konnte sie ihr Kind nicht aussetzen. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren hatte sie schon genug Verantwortung getragen.

Als es hell wurde und sie im Haus Geräusche hörte, stand sie auf und ging duschen. Dann zog sie sich schnell an, packte ihre Tasche und stellte sie unten neben der Haustür ab, bevor sie in die Küche ging.

Ben sah von seinem Kaffee auf, als sie hereinkam, und schenkte ihr ein elektrisierendes Lächeln. „Buongiorno, Kathryn.“

Sie blieb kurz stehen. Er sah an diesem Morgen sehr sexy aus. Seine Haare waren noch feucht, und sein Hemd stand am Hals offen. Sie sah, dass sein Oberkörper leicht gebräunt war. Seine braunen Augen leuchteten warm und sehr verführerisch.

„Du siehst nicht aus, als hättest du gut geschlafen.“

Diesem Mann entging nichts. „Wahrscheinlich hatte ich Angst davor, wieder zurück in einen Kürbis verwandelt zu werden.“

Ben warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Du findest es hier wie im Märchen?“ Er schob einen Teller mit süßem Gebäck zu ihr hin und schenkte ihr Espresso ein.

Nein. Märchen gingen gut aus, und Kathryn wusste, dass es in ihrem Fall kein Happy End geben würde. Aber wenn sie dafür sorgen konnte, dass ihr Kind glücklich wurde, dann hatte sie alles erreicht, was sie wollte.

„Ich finde, dass du ein traumhaftes Leben führst“, sagte sie, während sie sich setzte und dankbar in ein Croissant mit Zuckerguss biss.

Ben, der gerade die Kaffeetasse zum Mund führte, hielt in der Bewegung inne und versagte sich einen zynischen Kommentar. Für ihn war das Leben schon lange kein Traum mehr. Genau genommen seit damals, als sein älterer Bruder ihm die Verlobte ausgespannt hatte. Doch wenn Kathryn das nach allem, was sie in ihrer gemeinsam verbrachten Nacht von ihm erfahren hatte, noch immer glaubte, dann konnte er es auch nicht ändern.

„Und was ist daran falsch, Kathryn?“

Obwohl seine Stimme samtweich war, nahm sie seine Verärgerung wahr und blickte auf. Sein durchdringender Blick nahm ihr den Atem. Er schien auf den Grund ihrer Seele schauen zu wollen, so als könne er dort eine Antwort finden. Sie spürte, wie sich ihre Brüste unter seinem begehrlichen Blick aufrichteten.

Sie zuckte die Schultern. „Wenn du es normal findest, ein solches Luxusleben zu führen und der eitlen Schickeria zu ewiger Jugend zu verhelfen, dann ist nichts falsch daran.“

Ben ließ ihre Meinung unkommentiert. Sie würde sich selbst berichtigen müssen. „Komm schon, Kathryn, soll ich all das etwa aufgeben? Warum amüsieren wir uns nicht ein bisschen, während du hier bist? Wir könnten da weitermachen, wo wir aufgehört haben.“

Kathryn wusste nicht, wie sie das Gespräch in den Griff bekommen sollte. In Bens Augen glitzerte es gefährlich. Das war kein leichter Flirt mehr. Plötzlich war er durch und durch Aristokrat – kaltblütig und sehr, sehr männlich. So hatte sie ihn noch nie erlebt.

Sie schluckte. Seine Worte klangen trotz des kalten Untertons verführerisch. „Ich bin nur zum Arbeiten hier, Ben, so wie ich es gesagt habe.“ Sie zwang sich zu einer Gelassenheit, die sie nicht im Geringsten verspürte.

„Bist du sicher, cara?“, raunte er. „Es war gut.“

Seine tiefe, weiche Stimme hielt sie gefangen. Es war gut gewesen. Sehr, sehr gut. „Es war ein Fehler“, sagte sie, verärgert, weil sie plötzlich heiser klang.

Ben war überrascht, wie sehr ihre Worte ihn verletzten. Jene Nacht war das Einzige, was ihm in den vergangenen zehn Jahren etwas bedeutet hatte. Er blickte sie unverwandt an. „Wir könnten ein bisschen Spaß haben.“

Ihre Pupillen weiteten sich bei der Vorstellung. Was sprach dagegen? Warum sollte sie nicht zur Abwechslung einmal Spaß haben?

Hör auf damit, Kathryn. Es geht nur um das Baby. „Mir liegt nicht so viel an meinem Vergnügen“, erwiderte sie und kippte ihren Espresso in einem Zug hinunter. Dann stand sie auf. „Sollten wir uns nicht besser auf den Weg machen?“

Ben lachte leise und schüttelte die Begierde ab, die sie in ihm geweckt hatte. Sie hatte recht. Niemand konnte Kathryn nachsagen, dass sie hinter ihrem Vergnügen her war. Sie war geradlinig, zielstrebig, hatte einen scharfen Verstand und ein loses Mundwerk. Ihr Humor grenzte oft an Sarkasmus. Aber Spaß? Nein, das war nicht ihre Sache.

„Dann komm. Wenn wir jetzt fahren, sind wir rechtzeitig in Ravello, und ich kann dir alles zeigen, bevor ich mich um den ersten Patienten kümmern muss.“

Sie folgte ihm zur Haustür. „Sollen wir uns nicht von deiner Mutter verabschieden?“

„Mamma steht nie vor zehn auf“, antwortete er und nahm ihren Koffer.

Kathryn konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Seine Jeans saßen perfekt und brachten seine Figur sehr vorteilhaft zur Geltung. Wir könnten ein bisschen Spaß haben, spukte es ihr durch den Kopf, als sie die Haustür hinter sich ins Schloss zog.

Ben musste lächeln, als er bemerkte, wie Kathryns Knöchel weiß wurden, so sehr krallte sie sich an ihrem Sitz fest.

„Entspann dich“, neckte er sie.

„Du hast leicht reden.“

„Das ist noch gar nichts“, meinte er und schaltete herunter, als der Verkehr kurz vor Amalfi dichter wurde. „Warte, bis wir auf der Serpentinenstraße sind, die durch die Berge führt.“

„Jabadabadu“, antwortete sie mit dem Lieblingswort ihres ehemaligen Kollegen Dr. Guillaume Remy von MedSurg.

Ben lachte. „Wie geht es Gill und Harriet?“, erkundigte er sich. „Hat es inzwischen geklappt mit dem Baby?“

Kathryn nickte. „Ja. Die Therapie hat schließlich zum Erfolg geführt.“ Sie musste daran denken, wie das Paar, das sich so sehr ein Kind wünschte, durch den Stress kurz vor einer Scheidung gestanden hatte. Kathryn hatte regen Anteil genommen, denn die Kollegen waren fast so etwas wie eine Familie für sie gewesen.

„Das freut mich“, sagte Ben. Er erinnerte sich daran, wie gut ihm die Zeit bei der Hilfsorganisation getan hatte und wie freundlich Gill immer gewesen war. Als Chirurg mitten in einem Krisengebiet zu arbeiten war eine enorme Herausforderung für Ben gewesen, aber er hatte durchgehalten und viel dabei gelernt.

Es war ihm schwergefallen zu gehen. Besonders der Abschied von der reizvollen Kathryn Peters war nicht leicht gewesen. Hätte sein Bruder nicht diesen verhängnisvollen Unfall gehabt, Ben wäre noch immer dort. Doch so war er trotz seines Schwurs, nie wieder nach Italien zurückzukehren, nach Hause gefahren zu einem Job, den er nicht wollte, und zu einem Leben, an dem ihm nichts lag. Er spürte, wie die Anspannung in seine Nackenmuskeln kroch, und verstärkte den Griff um das Lenkrad.

Die Straße verlief nun wieder auf Meereshöhe, und er blickte nach rechts zum Hafen, wo die Sirena, sein leuchtend weißes Boot, auf dem ruhigen Wasser schaukelte. Er betrachtete ihre klaren Linien und spürte, wie seine Muskeln sich wieder entspannten.

„Da drüben liegt mein Boot.“ Er zeigte hinüber. „Wir können am Wochenende einen kleinen Ausflug hinaus aufs Meer machen.“

„Gib dir keine Mühe. Ich werde seekrank“, gab sie ohne Umschweife zurück.

Es belustigte Ben, dass sie sich so sehr bemühte, ihre Beziehung auf eine rein geschäftliche Basis zu stellen. Lachend schaltete er einen Gang herunter und betrachtete sie von der Seite. Ihre süße kleine Nase, die schönen blauen Augen, der weiche Mund mit den verführerischen vollen Lippen, ihre hohen Wangenknochen und der blonde Koboldschnitt. Sie war keck und sexy, und, bei Gott, er wollte sie haben!

Er erinnerte sich daran, was sie sonst noch mit ihrem Mund anstellen konnte, wenn sie ihm nicht gerade die Meinung sagte. Wie heiß und hingebungsvoll sie ihn geküsst hatte und wie ihm klar geworden war, dass sich hinter ihrer schroffen Fassade eine äußerst leidenschaftliche Frau verbarg.

Andere Beziehungen aus seiner Vergangenheit kamen ihm in den Sinn. Sie waren unverbindlich gewesen, bedeutungslos. Seit Biancas Betrug hatte er sich mit schönen Frauen umgeben und versucht zu vergessen. Es waren Frauen gewesen, die dasselbe wollten wie er, die sich gern mit einem reichen, großzügigen Playboy amüsiert hatten. Aber keine hatte ihn berührt wie diese energische und kratzbürstige britische Krankenschwester. Was, zum Teufel, musste man anstellen, um sie zu beeindrucken? Und warum machte er sich überhaupt Gedanken darum?

Kathryn schloss die Augen. Die Serpentinenstraße wurde immer schmaler. Doch jedes Mal, wenn sie die Lider schloss, sah sie das verdammte Boot vor sich. Groß und weiß und teuer. Eine Jacht, wie man sie aus Zeitschriften kannte. Sie hatte fast damit gerechnet, dass irgendein Filmstar auf einem der Decks auftauchte.

Eigentlich sollte sie froh sein. Es war schließlich ein weiterer Beweis für Bens Reichtum. Und das würde alles ihrem Kind zugutekommen. Doch seltsamerweise störte sie sich daran. Die Jacht war ein ebenso protziges Statussymbol wie ein Ferrari. Und jetzt hatte er sie auch noch eingeladen. Mit wie vielen anderen Frauen war er schon auf seinem Schiff gewesen? Wie viele Frauen würden vor ihrem Kind auf und ab flanieren?

Im Leben ihrer Mutter hatten die Partner ständig gewechselt. Olga hatte ihre Kinder vernachlässigt und sich mit Männern amüsiert. Würde es ihrem Kind bei Ben genauso ergehen? Würde er sein Leben als Playboy fortsetzen, ohne sich um es zu kümmern? Er war fünfunddreißig, ein Italiener aus einer alten Adelsfamilie. Konnte er sich überhaupt noch ändern?

Um Viertel nach acht kamen sie in Ravello an, und Ben steuerte den Alfa durch den Torbogen einer mit Weinreben überwachsenen Mauer. Dahinter lag ein kopfsteingepflasterter Innenhof, in dessen Mitte ein prächtiger Springbrunnen Fontänen in die Luft schickte. Es gab Platz für mehrere Wagen, und Ben fuhr rückwärts in einen reservierten Parkplatz.

„Willkommen in der Lucia-Klinik“, sagte er. „Auch bekannt unter dem Namen Palast für eitle Reiche.“

Kathryn bedachte ihn mit einem abschätzigen Lächeln. „Wenn du keine Kritik verträgst, bist du bei mir an der falschen Adresse.“ Damit öffnete sie die Wagentür und stieg aus, gefolgt von Bens Lachen.

Das Gebäude war beeindruckend. U-förmig umstand es den Innenhof. Das ganze Anwesen wurde von einer hohen Mauer begrenzt, welche die Klinik und den Innenhof vor neugierigen Blicken abschirmte. Die verputzten Wände waren blassorange, von Wind und Wetter mitgenommen und gaben dem Bauwerk einen altehrwürdigen Anschein.

Ben öffnete den Kofferraum und hob ihr Gepäck heraus. „Direkt vor dir“, sagte er und deutete auf den lang gestreckten Teil des Gebäudes, „befinden sich die Zimmer für die Patienten. Wir haben zwanzig Betten. Zwölf Suiten und vier Zweibettzimmer. Im Westflügel sind der OP-Saal und die Röntgenabteilung. Und im Ostflügel Küche und Wohnbereich für die Angestellten.“

„Wohnen viele der Angestellten hier?“, fragte sie, als sie zum Eingang gingen.

„Wir haben zwanzig Apartments, aber nur die Hälfte davon ist dauerhaft bewohnt. Die meisten Mitarbeiter leben in der Umgebung. Die übrigen Zimmer werden hin und wieder benutzt. Ich schlafe unter der Woche hier. Und eines der Apartments ist natürlich für dich.“

Kathryn spürte seinen Blick, doch sie wollte ihn nicht ansehen. Der Gedanke, dass sie so dicht nebeneinander schlafen würden, ließ ihr Herz schneller schlagen. Bei MedSurg war es ebenso gewesen. Wie oft hatte sie ihn dort spätabends noch gesehen und gleich morgens nach dem Aufwachen wieder.

„Komm, ich führe dich herum. Das Kollegium ist sehr nett, und die meisten können Englisch.“

Kathryn folgte ihm durch die hohe halbrunde Eingangstür, und die kühle Eleganz des Empfangsbereichs nahm ihr beinahe den Atem. Es war Luxus pur. Von den Bildern an den Wänden über den Marmorboden bis zum Kronleuchter über der imposanten Freitreppe.

Zuerst brachte Ben sie zu ihrem Apartment. Kathryn legte ihren Koffer aufs Bett, während Ben im Flur wartete. Sie blickte sich um, sah den kühlen Fliesenboden, einen in die Wand eingelassenen Spiegel, umrahmt von hübschen Keramikkacheln. Alles war wunderschön, doch sie war nicht bei der Sache. Sie musste daran denken, wie es damals weitergegangen war, als Ben vor zwei Monaten in ihrem Türrahmen gelehnt hatte. Wo lag wohl hier sein Zimmer? Dann riss sie sich zusammen. Es ging sie nichts an.

„Komm“, sagte er, „ich stelle dich den anderen vor.“

Das musste er nicht zweimal sagen.

Ben machte sie mit so vielen Leuten bekannt, dass ihr der Kopf dröhnte. Es würde ein paar Tage dauern, bis sie sich alle Namen merken konnte. Dann zeigte er ihr die medizinischen Einrichtungen und die beiden Operationssäle.

„Ist das die OP-Liste?“, fragte sie und blickte auf eine Tabelle an der Tür von Operationssaal zwei.

Er nickte. „Ja, von diesem OP hier.“

Kathryn ging die angesetzten Operationen durch, froh, dass die Liste auf Italienisch und Englisch geschrieben war: Bauchstraffung, Nasenkorrektur, Brustvergrößerung. Ihre Stimmung sank.

Sie hatte gewusst, dass sie in eine exklusive Klinik für Schönheitsoperationen kommen würde. Aber erst jetzt, während sie es schwarz auf weiß las, schien es ihr richtig klar zu werden. Sie konnte kaum glauben, dass jemand, der in einem Krisengebiet gearbeitet hatte, sich jemals mit so etwas abgeben würde.

Ben las in ihr wie in einem offenen Buch und erinnerte sich daran, wie er am ersten Tag nach seiner Rückkehr von MedSurg ebenso ungläubig den Kopf geschüttelt hatte. „Möchtest du dir den Garten ansehen?“, fragte er.

„Ja, natürlich“, antwortete sie abwesend.

Sie gingen durch das Klinikgebäude, und Kathryn war überwältigt von dem allgegenwärtigen Luxus. Hier war an nichts gespart worden. Von der Einrichtung bis zu den medizinischen Geräten war alles von bester Qualität und auf dem neuesten Stand. Wie vielen Menschen könnte MedSurg oder eine andere Hilfsorganisation helfen, wenn sie solche Summen zur Verfügung hätte, ging es ihr durch den Sinn.

Ben führte sie durch eines der leer stehenden Privatzimmer und öffnete die Tür zu einem kleinen Balkon. Kathryn blieb atemlos stehen. Der Blick war unbeschreiblich. Der Garten war terrassenförmig in dem felsigen Gelände angelegt. Springbrunnen und Wasserspiele wechselten sich ab mit farbenfrohen Blumenrabatten und üppigem Grün.

Tief unter ihnen erstreckte sich das endlose Blau des Mittelmeers. Wie ein kostbarer Saphir leuchtete es in der Septembersonne. Hohe zerklüftete Felsen beherrschten die Küste und fielen schroff ins Meer ab.

Kathryn blickte nach links und rechts. Jedes der Zimmer hatte einen Balkon. Konnte es einen schöneren Ort geben, um sich nach einer Operation zu erholen? Was für ein Kontrast zu den Verhältnissen, unter denen sich die Patienten bei MedSurg erholen mussten.

„Die Villa ist viele hundert Jahre alt“, erklärte Ben. „In Ravello gibt es zahlreiche solcher Anwesen mit wunderschönen Gärten. Viele Hollywoodfilme sind hier gedreht worden, und heute finden das ganze Jahr über Kammermusikkonzerte statt.“

„Es ist unglaublich.“ Sie fühlte sich klein angesichts dieser Schönheit. Gleichzeitig fand sie die Dekadenz beunruhigend.

Ben vernahm das Zögern in ihrer Stimme. „Du scheinst nicht sehr überzeugt zu sein.“

„Doch, es ist … wow.“

„Klingt, als käme jetzt ein Aber.“ Er lächelte, weil er genau wusste, was in ihr vorging.

Kathryn zuckte die Schultern. Das Arbeiterviertel, in dem sie aufgewachsen war, und einige der Schrecken, die sie bei MedSurg erlebt hatte, machten es ihr schwer, das alles vorbehaltlos zu genießen. „Ich musste nur daran denken, wie anders es hier ist als an vielen Orten, wo ich für MedSurg gearbeitet habe.“

Er nickte. „Das stimmt.“

Sie konnte es nicht glauben, wie leicht er darüber hinwegging. Er wusste doch ebenso gut wie sie, dass es viele Menschen gab, die sich überhaupt keine ärztliche Behandlung leisten konnten.

„Findest du das nicht alles ein bisschen pervers?“ Sie spürte, wie ihr übel wurde, und fragte sich, ob sie ihr Baby wirklich von jemandem großziehen lassen konnte, der diese Unterschiede nicht wahrnahm.

Wut stieg in Ben auf. Sie tat es schon wieder. Sie verurteilte ihn. Bei MedSurg war es ihm nicht wichtig gewesen, dass sie seinen Reichtum nicht akzeptierte. Er hatte sie sogar noch damit provoziert, weil sie ihm gefiel, wenn sie wütend war. Aber inzwischen hatten sich die Verhältnisse geändert, und ihre Unterstellungen ärgerten ihn. „Dir gefällt es nicht? Was hast du gegen Eitelkeit?“

„Ich finde, dass das Elend in der Welt wichtiger ist als eine zu große Nase oder ein zu dicker Bauch.“ Sie versuchte, ruhig zu bleiben. Aber bei diesem Thema verstand sie keinen Spaß.

Ben war völlig ihrer Meinung. „Und warum hast du mich dann angerufen und gefragt, ob du hier arbeiten kannst? Du wusstest, was wir hier machen. Warum bist du gekommen, wenn du es nicht erträgst?“

Auf diese Frage war sie nicht vorbereitet. Sie konnte ihm doch nicht sagen: „Weil ich ein Baby von dir kriege und herausfinden muss, ob es bei dir gut aufgehoben ist, denn bei mir ist es das ganz sicher nicht.“

„Wie ich gesagt habe, ich möchte neu anfangen.“

„Das glaube ich einfach nicht.“

Und er hatte recht. Sobald das alles vorbei war, würde sie zu ihrer Arbeit zurückkehren. Aber bis dahin musste sie sich ihrem Baby zuliebe mit den Launen der Reichen arrangieren.

„Wenn du mich nicht hier haben willst, hättest du mir keinen Job anbieten sollen!“ Kathryn wusste aus Erfahrung, dass Angriff die beste Verteidigung war. „Oder war das Angebot nicht ernst gemeint? War es nur eine Floskel nach unserer gemeinsamen Nacht?“

Die Anschuldigung saß, und Bens Schuldgefühle meldeten sich sofort. Er hatte sich wirklich schlecht benommen. Es war ihm damals schon bewusst gewesen. Doch seine Entschuldigung war ihm im Hals stecken geblieben, als er ihre beißende Erwiderung auf sein Jobangebot gehört hatte.

Nun stand sie mit dem Rücken zu ihm. Die Hände fest auf dem Geländer. So hatte sie auch an dem Morgen dagestanden – aufrecht und distanziert. Er wollte sie berühren, hatte aber Angst davor, dass sie zurückzucken würde, so wie damals. „An jenem Morgen …“, begann er.

Kathryn umfasste das Geländer noch fester und hielt den Atem an. Seit Monaten versuchte sie, den Zwischenfall zu vergessen. Sie wollte nicht, dass er alles wieder aufwärmte.

„Benedetto!“

Sie erschraken beide über die unerwartete Störung. Als sie sich umdrehten, sahen sie Gabriella, eine der Schwestern, die Kathryn gerade vorgestellt worden war, mit einem Kind auf dem Arm auf sie zueilen.

„Lupi hat nach Ihnen gefragt.“

Ben streckte seine Arme nach dem kleinen Mädchen aus und lächelte es an. Das Kind war etwa drei Jahre alt und hatte eine bilaterale Lippenspalte. Daher konnte es sein Lächeln nicht erwidern. Aber er sah, wie die Augen des Mädchens vor Freude, ihn zu sehen, leuchteten. „Du hast mich gesucht?“ Er nahm sie Gabriella ab. „Und jetzt, kleine Lupi“, er gab ihr einen Kuss auf die tiefschwarzen Haare, „hast du mich gefunden.“

Kathryn sah, wie das Mädchen auf Bens Arm auf und ab hüpfte, und musste schlucken. Was machte das Kind hier in der Lucia-Klinik? Es war unterernährt und offenbar auch sonst vernachlässigt, wenn die Lippenspalte erst jetzt operiert wurde. Niemand, der über ausreichend finanzielle Mittel verfügte, würde mit der Operation so lange warten. Mit ihren großen mandelförmigen Augen sah die Kleine auch nicht aus wie eine Italienerin. Verwirrt blickte Kathryn Ben an.

„Kathryn, darf ich dir Lupi vorstellen?“, sagte Ben. „Lupi, das ist Kathryn. Sie wird mir heute bei deiner Operation helfen. Danach wirst du ein wunderschönes Lächeln haben.“

Das kleine Mädchen sah sie mit ernsten braunen Augen an, und es dauerte einen Moment, bis Kathryn ihre Fassung zurückgewonnen hatte. Dann sagte sie: „Hallo, Lupi.“

„Sie kann kein Englisch“, erklärte Ben und schaukelte Lupi weiter auf seinem Arm. „Italienisch versteht sie übrigens auch nicht.“

„Du operierst sie?“

Ben nickte. „Lupi ist eine von vier Patienten, die ich heute in Operationssaal eins für die Lucia-Stiftung operiere.“

Kathryn war noch immer verwirrt. „Die Lucia-Stiftung?“

„Eine Wohltätigkeitsorganisation, die ich nach meiner Rückkehr gegründet habe. Wir operieren hauptsächlich Kinder mit Entstellungen, die sich aufgrund ihrer Lebensumstände keine Operation leisten können.“

Kathryn glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Und als sie langsam die Zusammenhänge verstand, war sie beschämt. Was hatte sie ihm nicht alles an den Kopf geworfen. Und er hatte sie einfach reden lassen, war ihr nie ins Wort gefallen.

Ben lachte leise. „Was ist los, Kathryn? Fühlst du dich nicht wohl?“

Sein Lachen war verdammt sexy, was ihre Situation nicht einfacher machte. Gedankenverloren fuhr er mit dem Kinn über Lupis Haare, während er sie auf seinem Arm hin und her schaukelte. Er hatte eine sehr maskuline Ausstrahlung, und sie spürte, wie ihre Brüste sich aufrichteten, obwohl sie wütend auf ihn war. „Du hättest etwas sagen können“, sagte sie leise mit vorwurfsvollem Unterton.

Er lachte erneut. „Dann hätten sich ja deine ganzen Vorurteile mir gegenüber in Luft aufgelöst. Dein Problem, meine süße Kathryn, ist, dass du ein Snob bist. Nur unter anderen Vorzeichen. Du glaubst, es sei verwerflich und frivol, Geld zu haben. Und weil ich wohlhabend bin, verurteilst du mich und hältst mich für einen reichen Playboy.“

Sie wollte schon widersprechen, doch die Erwiderung blieb ihr im Hals stecken. Er hatte recht. Aber er hatte auch nichts getan, um ihre Vorurteile abzubauen. Im Gegenteil, er hatte sie noch genährt.

Er kam ganz nahe an sie heran und sagte mit tiefer Stimme: „Sieh nicht auf mich herab, Kathryn.“

Die Worte waren wie eine sanfte Berührung, und sie musste schlucken. Sein Mund, die Art, wie er sie unter halb geschlossenen Lidern ansah, seine langen, dichten Wimpern, alles an ihm erregte sie. Sie sah, wie er ihre Lippen betrachtete, und bot sie ihm instinktiv dar. Doch er machte einen Schritt zurück, drehte sich um und ging mit Lupi auf dem Arm davon.

Sie atmete tief durch und sah ihm nach. Ihre Beine fühlten sich zittrig an, und ihre Gedanken wirbelten durcheinander. So blieb sie stehen und versuchte, alles, was sie soeben erfahren hatte, zu einem Bild zusammenzufügen.

Sie wusste nicht mehr, was sie von Ben halten sollte. Dabei war sie so sicher gewesen, ihn richtig eingeordnet zu haben. Bei MedSurg hatte er den aristokratischen Playboy gespielt. Hatte geflirtet, Sex-Appeal versprüht und seinen diamantenbesetzten Siegelring zur Schau gestellt. Und wenn die Vorräte einmal knapp zu werden drohten, hatte er teure Schokolade oder eine Dose Kaviar aus dem Nichts hervorgezaubert.

Und hier war er das genaue Gegenteil. Er gab nicht an, hatte sich nicht mit der Lucia-Stiftung gebrüstet. Und wenn man ihn mit Lupi auf dem Arm sah, konnte man glauben, sie sei sein eigenes Kind.

Kathryn war nach Italien gekommen, um herauszufinden, ob Ben ein guter Vater sein würde. Sie hatte gedacht, dass das recht einfach wäre. Doch sie war verwirrter denn je.

Die Arbeit begann. Und von der ersten Minute an war Kathryn der ernorme Unterschied zu ihrem Job bei MedSurg bewusst. Dort wurden schwere, lebensbedrohliche Verletzungen operiert. Hier war alles ganz anders. Es gab keine Eile. Im Operationssaal ging es ruhig und geordnet zu. Erst jetzt bemerkte sie, wie wohltuend diese Art zu arbeiten war.

Maria, die den Dienstplan aufstellte, hatte sie für zwei Tage als Hilfsschwester eingeteilt, damit sie sich mit allem vertraut machen konnte, bevor sie ab Mittwoch regulär als OP-Schwester arbeiten würde.

Ben blinzelte ihr über seine Maske hinweg zu, und sie spürte, wie sie unter der Schutzmaske errötete, so peinlich war es ihr inzwischen, dass sie ihn so vehement kritisiert hatte. Fühlte er sich nun ihr gegenüber wieder überlegen? Damit konnte sie umgehen, denn an den flirtenden Ben war sie gewöhnt. Es war der ernste, wohltätige Ben, der Lupi in den Armen schaukelte, der ihr zu schaffen machte.

„Willst du es dir genauer ansehen, Kathryn?“

Bens Worte unterbrachen ihre Gedanken, und sie sah ihm in die Augen. Deshalb bin ich hier, Ben, um mir alles genauer anzusehen.

„Kathryn?“

Sie blinzelte. „Natürlich.“ Sie ging näher heran. Diese Operation hatte ihr Interesse geweckt. Zum einen, weil das kleine Mädchen mit der entstellenden Lippenspalte so viel durchgemacht haben musste, aber auch, weil sie froh und erleichtert war, dass es sich bei ihrer ersten Operation nicht um jemanden handelte, der sich freiwillig unters Messer begab, um einem unsinnigen Schönheitsideal nachzujagen.

„Wie ist ihr Hintergrund?“, fragte sie.

„Sie kommt aus einem kleinen Dorf, in dem es keine medizinische Versorgung gibt. Als sie auf die Welt kam, glaubten ihre Eltern, sie würde nicht überleben. Doch als sie nicht starb, wurde im Dorf behauptet, sie sei verhext. Lupis Mutter hielt sie all die Jahre versteckt.“

„Arme Lupi“, sagte Kathryn voller Mitleid. Sie musste daran denken, wie sehr Sophia, ihre eigene Schwester, unter ihrer Entstellung litt und wie schlimm es jedes Mal gewesen war, wenn ein Kind aus der Schule sie gehänselt hatte. Kathryn war voller Mitgefühl für die kleine Patientin. Kein Wunder, dass sie hier in der freundlichen Atmosphäre aufblühte.

Ben sah kurz von seiner Arbeit auf. Er hatte das tiefe Mitgefühl in ihrer Stimme gehört, und ihm wurde klar, wie sehr Kathryn ihm gefehlt hatte. Wie viel es ihm bedeutete, mit ihr zusammenzuarbeiten. Er hatte MedSurg erst vor wenigen Monaten verlassen, aber er freute sich darauf, dass sie in ein paar Tagen wieder als OP-Schwester mit ihm zusammenarbeiten würde.

Seine Rückkehr nach Italien hatte ihre Beziehung, die gerade erst begonnen hatte, abrupt beendet. Es hatte sofort zwischen ihnen gefunkt, auch wenn Kathryn das sicher bestreiten würde. Vermutlich war sie deshalb ihm gegenüber oft so abweisend. Weil sie es tief in ihrem Inneren ebenso spürte wie er. Und es flößte ihr Angst ein.

„Fast fertig“, sagte Ben und ließ sich das Nahtmaterial geben.

Die Operation hatte eine Stunde gedauert, und Kathryn war wieder einmal überrascht, wie schnell die Zeit verging, wenn man von einer Aufgabe völlig in Anspruch genommen war. Ben hatte gute Arbeit geleistet. Die Naht auf Lupis Lippe war sehr auffallend, aber Kathryn wusste, dass sie nach und nach zu einer feinen weißen Linie verblassen würde. Lupi, die von allen geächtet worden war, würde ein ganz normales Leben führen können.

Und das hatte Ben ihr geschenkt. Ohne Gegenleistung. War das nicht Beweis genug, dass er ein guter Vater sein würde?

3. KAPITEL

Am Freitagmorgen beendete Kathryn ihr Frühstück etwas früher, sodass sie noch genug Zeit hatte, um auf dem Weg zur Arbeit bei Lupi vorbeizusehen. Es war Lupis letzter Tag, und Kathryn wollte sich von dem kleinen Mädchen verabschieden, das mit seinen großen braunen Augen und dem wunderbaren Lächeln alle Herzen erobert hatte. Doch als sie bemerkte, dass sie nicht die erste Besucherin war, blieb sie in der Tür stehen.

Ben saß auf dem Bett des kleinen Mädchens und sprach mit ihr auf Italienisch. Ihre Köpfe berührten sich fast über einem Malbuch. Kathryn konnte seine Worte nicht verstehen – ebenso wenig wie Lupi –, aber die Kleine kicherte und strahlte Ben an, der beim Malen Grimassen schnitt.

Seine volltönende Stimme klang so gut, dass Kathryn fast geseufzt hätte. Sie hörte ihn gern in seiner Muttersprache reden und lehnte den Kopf entspannt an den Türrahmen.

Lupi lachte und sah Ben so vertrauensvoll an, dass Kathryns Herz einen kleinen Satz machte. In diesem Augenblick wusste sie, dass es richtig gewesen war, nach Italien zu kommen. Ben würde ein guter Vater sein. Wenn er einem fremden Mädchen so viel Zuneigung schenken konnte, dann würde sein eigenes Kind es sehr gut bei ihm haben.

„Du wärst ein prima Vater.“

Ben drehte sich um und sah Kathryn in der Tür stehen. Er blickte wieder zu Lupi, die so schutzlos und voller Vertrauen neben ihm saß. Er hatte seit langer Zeit keine Liebe mehr verspürt. Weder für eine Frau noch für sein Land oder seine Arbeit. Nicht seit Bianca und Mario. Wie sollte er einem Kind Liebe geben, wenn er sich selbst innerlich so leer fühlte?

„Nein, das wäre ich nicht.“

Seine Antwort war so entschieden, dass Angst in Kathryn aufstieg. „Willst du nicht eines Tages Vater werden?“

Ben beschäftigte sich wieder mit dem Malbuch. Wollte er? Er hatte vorgehabt, mit Bianca zusammen eine ganze Horde von Kindern zu haben. Aber inzwischen war er älter und klüger geworden. Und er wusste, dass er noch nicht so weit war.

„Ich bin zu egoistisch“, sagte er abschließend.

Bevor sie nach Italien gekommen war, hätte Kathryn ihm sofort zugestimmt. Doch wie er nun in OP-Kleidung neben Lupi saß und sich die letzten Minuten vor Dienstbeginn um sie kümmerte, das zeichnete ein anderes Bild von ihm.

„Ein egoistischer Mann würde sich jetzt die Zeit für einen zweiten Espresso nehmen oder noch ein paar Minuten länger die Zeitung lesen“, sagte Kathryn leise.

Ben hörte auf zu malen und sah sie ernst an. „Interpretiere nicht zu viel in mich hinein.“

Er musste Vater sein wollen. Er musste einfach! „Manchmal wissen wir nicht, wozu wir fähig sind, bis wir es versuchen.“ Sie merkte nicht, dass dies ebenso für sie galt.

Ben legte den Stift weg und lächelte Lupi an: „Ich komme später noch mal vorbei, meine Kleine.“ Diesmal sprach er englisch. Lupi lachte zurück, und Ben erhob sich von ihrem Bett und ging auf Kathryn zu.

In der Tür blieb er stehen. Er stand so dicht vor ihr, dass er den leichten Zimtduft, der sie umgab, wahrnahm. Sie trug OP-Kleidung, und ihn durchzuckte der Wunsch, sie ohne alle Kleidung zu sehen. Doch das, was sie über Kinder gesagt hatte, ernüchterte ihn.

Er stützte sich über ihrem Kopf am Türrahmen ab und beugte sich zu ihrem Ohr hinunter. Noch ein bisschen näher, und er könnte mit seiner Zunge in ihrer Ohrmuschel spielen. Für einen kurzen Moment war er versucht, es zu tun. „Kinder sind nichts, was man einfach so ausprobiert, cara. Und mein Leben ist völlig in Ordnung, so wie es ist.“ Er lehnte sich etwas zurück und sah in ihre fragenden blauen Augen.

Kathryn erwiderte seinen Blick. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. In Ordnung? Nicht mehr als in Ordnung? Nicht glücklich, erfüllt, zufrieden? Sie sah eine beängstigende Trostlosigkeit in dem festen Blick seiner Augen. Da war er wieder, der Ben, um den die Contessa sich Sorgen machte.

Ben bemerkte Kathryns prüfenden Blick und wandte sich ab, unwillig, seine tiefsten und dunkelsten Gedanken mit ihr zu teilen. Sie war viel zu klug, und er blieb dabei, sein Leben war in Ordnung. Sein Arm streifte sie leicht, als er sich entfernte. Alles in Ordnung, verdammt noch mal! Wenn er nur aufhören könnte, sie sich ohne OP-Kleidung vorzustellen.

Kathryn verspürte einen Stich in der Brust und bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Dann lächelte sie Lupi zu und machte sich auf den Weg zu Operationssaal eins. Sie durfte jetzt nicht sentimental werden, sondern musste einen kühlen Kopf bewahren. Zum Glück, und das war ihrer Mutter zu verdanken, war sie ein äußerst vernünftiger Mensch.

Als die letzte Operation des Tages beendet und Ben schon dabei war, die OP-Kleidung abzulegen, klingelte das Telefon an der Wand. Da er am nächsten stand, ging er dran.

„Lucia-Klinik, Dr. Medici am Apparat“, meldete er sich auf Italienisch.

Ein Frau antwortete auf Englisch: „Kann ich bitte Kathryn Peters sprechen? Ich bin ihre Mutter.“

Kathryns Mutter? „Natürlich“, fuhr er auf Englisch fort. „Sie ist hier. Augenblick bitte.“

Er sah auf und bemerkte, dass Kathryn gerade den Operationssaal verließ. „Kathryn!“, rief er ihr nach.

Sie blieb stehen und drehte ich um. Was ist jetzt los? Beinahe hätte sie unbemerkt entwischen können.

Ben hielt ihr den Hörer entgegen. „Es ist für dich. Deine Mutter.“

Oh Gott! War einem ihrer Geschwister etwas zugestoßen, oder war es nur das Übliche? Mit wenigen Schritten war sie neben Ben und riss ihm förmlich den Hörer aus der Hand.

„Hallo?“

„Ich bin’s“, sagte ihre Mutter.

„Was ist passiert?“ Sie umklammerte den Hörer und machte sich auf das Schlimmste gefasst.

„Kann ich nicht einfach meine Tochter anrufen, ohne dass gleich etwas passiert sein muss?“

Seit wann rief Olga einfach nur an, um sich mit ihrer Ältesten zu unterhalten? „Dann geht es also allen gut?“, erkundigte sich Kathryn.

„Aber sicher doch“, sagte Olga geringschätzig.

Erleichtert atmete sie auf und lockerte den Griff um den Telefonhörer. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Ben auf dem Platz des Anästhesisten saß und so tat, als interessiere er sich für eine Statistik.

Wenn nichts passiert war, dann wusste sie, wie das Gespräch weiter verlaufen würde, und sie wollte nicht, dass Ben etwas davon mitbekam. Sie drehte ihm den Rücken zu und lehnte sich gegen die Wand. Unbewusst fuhr sie mit den Füßen über den Boden und rieb sich mit gesenktem Kopf die Stirn.

„Um was geht es dann?“ Ihre Stimme klang angespannt.

„Kathryn, wie kannst du nur so mit deiner Mutter reden!“

Sie ignorierte den beleidigten Ton und schwieg.

„Ich brauche zweitausend Pfund. Ich konnte eine Weile die Miete nicht zahlen und habe gerade die zweite Mahnung für die Stromrechnung gekriegt.“

Kathryn seufzte.

„Bitte, Kathryn. Das Leben ist teuer für mich und deine Geschwister. Wenn du ab und zu mal nach Hause kämst, statt immer nur in der Weltgeschichte herumzureisen, wüsstest du das.“

Kathryn biss sich auf die Zunge. Die unfaire Bemerkung ihrer Mutter schmerzte. Als hätte sie eine Vergnügungsreise gemacht! Sie hatte Tag und Nacht in gefährlichen Krisengebieten gearbeitet, um ihre Mutter und die Geschwister unterstützen zu können. Sie wusste sehr gut, wie teuer das Leben war. Seit sie arbeitete, hatte sie praktisch die ganze Familie ernährt.

„Wenn du nicht genug hast, kannst du dir ja vielleicht was von deinem reichen Chef leihen.“

„Mama!“ Sie schnappte nach Luft.

Meinte ihre Mutter das im Ernst? Sie hatte sofort gespürt, dass es ein Fehler gewesen war, als sie ihrer Mutter davon erzählte, dass sie nach Italien gehen und dort in der weltberühmten Lucia-Klinik arbeiten würde. Aber ihre Mutter hatte nicht lockergelassen und unbedingt wissen wollen, warum sie bei MedSurg aufhörte. Und Kathryn hatte ihr auf keinen Fall sagen wollen, dass sie schwanger war.

Sie hatte ihre Mutter wenigstens einmal beeindrucken wollen und gehofft, dass sie stolz auf sie sein würde. Aber wie üblich hatte Olga sie enttäuscht.

„Typisch Kathryn, du hast dich immer für etwas Besseres gehalten.“

„Eine von uns musste das auch sein.“

Sobald sie es gesagt hatte, bereute sie es. Sie wusste genau, was als Nächstes kommen würde. Sie hielt den Hörer in der Hand und hörte sich die übliche Leidensgeschichte ihrer Mutter an. Wie schwer ihr Leben mit fünf Kindern und ohne Mann im Haus gewesen war. Wie sie immer versucht hatte, mit dem Wenigen auszukommen. Was für eine undankbare Tochter Kathryn doch war. Und dann zum Schluss: „Und vergiss nicht, wenn du damals besser aufgepasst hättest, dann wäre die arme Sophia heute nicht so entstellt.“

Auch wenn sie darauf vorbereitet war, der Vorwurf traf sie jedes Mal wieder bis ins Mark. Das zornige kleine Mädchen in ihr, das wegen des unverantwortlichen Lebensstils seiner Mutter keine Kindheit gehabt hatte, wollte schreien, toben und sich zur Wehr setzen. Aber die Schuldgefühle, die ihre Mutter so gekonnt in ihr weckte, verhinderten es – jedes Mal.

Sie sah auf und bemerkte, dass Ben sie beobachtete. „Ich leite es in die Wege“, sagte sie mit zitternder Stimme und blickte wieder zu Boden.

„Braves Mädchen.“

Kein Danke, keine Entschuldigung dafür, dass sie nie mit dem Geld auskam.

„Weißt du, Kathryn, wenn du es geschickt anstellst und deinen Boss ein bisschen umgarnst … Ich weiß aus den Zeitschriften, dass er ein großer Playboy ist, aber vielleicht gefällt ihm ja eine kleine Engländerin. Dann hätten wir nie mehr Geldsorgen.“

Olga sprach die Unverschämtheit so gelassen aus, dass Kathryn richtiggehend übel wurde. Zum ersten Mal wurde ihr klar, wie sehr sie ihre Mutter hasste.

„Du bist es Sophia schuldig, es zumindest zu versuchen.“

Es verschlug ihr die Sprache. Die Ungerechtigkeit hinter diesen Worten machte sie noch wütender. Doch wie üblich behielt die Hilflosigkeit, die sie seit ihrer Kindheit verspürte, die Oberhand. Es schien keine Rolle zu spielen, wie weit sie von England weg war. Die Fähigkeit ihrer Mutter, sie zu manipulieren, nahm nicht ab.

„Auf Wiederhören“, sagte Kathryn und schluckte. Dann legte sie den Hörer auf, bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte. Zum Teufel mit ihr!

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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