Romana Exklusiv Band 317

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RUF DER WILDNIS - RUF DER LIEBE von CARA COLTER
Anstatt in einem Luxushotel landet die erfolgreiche Anwältin Lacey auf der Ranch von Ethan Black. Wider Erwarten findet sie Gefallen am Leben in den Weiten der kanadischen Natur … und an ihrem aufregenden Gastgeber. Bis sie unversehens ihr altes Leben wieder einholt und das Liebesglück gefährdet!

SO WEIT DAS LAND - SO GROSS DIE LIEBE von JESSICA HART
Rinderfarm statt Cityleben: Sechs Monate soll Meredith in Australien dem Rinderzüchter Hal den Haushalt führen. Schon bald hat sie ihn mit ihrer natürlichen Art verzaubert. Nach einer zärtlichen Nacht will er ihr die alles entscheidende Frage stellen; da bekommt Meredith einen Anruf aus London ...

INSEL DER ERFÜLLUNG von ELLEN JAMES
Auf einer malerischen kleinen Insel vor der Pazifikküste begibt Jamie sich auf die Suche nach ihrem Verlobten Shawn, der sie vor dem Altar stehen ließ - und trifft seinen Bruder Eric. Ein faszinierender Mann. Schnell knistert es zwischen ihnen - da kommt Shawn plötzlich zurück …


  • Erscheinungstag 13.12.2019
  • Bandnummer 317
  • ISBN / Artikelnummer 9783733745004
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cara Colter, Jessica Hart, Ellen James

ROMANA EXKLUSIV BAND 317

1. KAPITEL

Ethan sah aus dem Küchenfenster über dem Waschbecken. Seine Arme steckten bis zu den Ellenbogen in Spülwasser. Draußen ging gerade die Sonne unter; die schwarzen Silhouetten kahler Bäume und schneebedeckter Sträucher zeichneten sich deutlich vor dem orange und rosa eingefärbten Abendhimmel ab.

Auf den sanft geschwungenen Hügeln, die sich bis zum Horizont zogen, waren noch vereinzelte Lichter zu sehen. Ethan konnte zwar nicht mehr die Straße erkennen, die sich durch das Tal bis nach oben zu seinem Haus in Black’s Bluff emporschlängelte, aber an klaren Abenden wie diesem konnte er die Scheinwerfer jedes Fahrzeugs ausmachen, das sich bis auf mehrere Kilometer näherte.

Doch im Augenblick waren keine Lichter zu sehen.

Er runzelte die Stirn. Gumpy, sein ältlicher Hilfsarbeiter, hätte schon längst aus Calgary zurück sein sollen. Mit der angeforderten Verstärkung.

Verstärkung in Person von Mrs. Betty-Anne Bishop.

Widerwillig löste Ethan seinen Blick von der Stelle des Gebirgskamms, an der die Scheinwerfer als Erstes sichtbar sein würden, und wandte sich wieder dem schmutzigen Geschirr zu. Dem Berg von schmutzigem Geschirr, um genau zu sein. Es war noch gar nicht allzu lange her, da hatte Geschirrspülen bedeutet, dass Ethan einen einzigen Teller unter heißes Wasser hielt. Zwei Teller, wenn Gumpy zum Essen herübergekommen war.

Nein, das war noch nicht allzu lange her. Zwei Wochen. Wie konnten sich zwei Wochen nur so in die Länge ziehen?

Lautes Gelächter drang aus der Diele, und Ethan schloss die Augen. Das war der Grund.

Seufzend lehnte er sich zurück und blickte den Flur hinunter, wobei er sich bemühte, nicht den Boden nass zu tropfen. In seinem Schlafzimmer am anderen Ende des Ganges brannte Licht.

Die beiden Kinder sprangen auf seinem Bett auf und ab und kreischten vor Vergnügen.

Es waren Zwillinge, und obwohl sie keine eineiigen waren, war die Ähnlichkeit doch ausgeprägt. Beide hatten dichtes schwarzes Haar, wenn auch nicht ganz so dicht und schwarz wie sein eigenes. Doreens Augen waren blau, Dannys schiefergrau. Ihre Wangenknochen verrieten nur demjenigen, der davon wusste, das Erbe ihrer indianischen Großmutter, der Mutter seiner Mutter. Gumpy wäre entsetzt, wenn er wüsste, dass Ethan insgeheim erleichtert war, dass sein Neffe und seine Nichte in der Schule nicht beschimpft werden würden, so wie es ihm in seiner Jugend widerfahren war. Diese Erfahrung hatte ihn geprägt und immer wieder dazu getrieben, sich anderen gegenüber zu beweisen. Zu beweisen, dass er genauso gut war. Nein, besser. Stärker, härter, wilder. Furchtloser.

Er betrachtete die Kinder und dachte, dass eines der beiden mit Sicherheit gleich vom Bett fallen würde. Er sollte sie ermahnen, nicht so wild zu sein.

Auf der anderen Seite stritten sie sich ausnahmsweise einmal nicht.

Ethan wandte sich wieder dem Waschbecken zu. Nachdem er das Geschirr vom Frühstück und vom Mittagessen gespült hatte, sprach er sich selbst Mut zu, dass das Ende bereits in Sicht sei, und räumte die Überreste des Abendessens vom Tisch.

„Ich mag das nicht essen“, hatte die fünf Jahre alte Doreen ihm vor einer halben Stunde erklärt.

„Iss es trotzdem“, hatte er geantwortet.

Ihre großen blauen Augen hatten sich auf der Stelle mit Tränen gefüllt, wie ein Goldfisch-Glas, in dem der Wasserpegel steigt. Ethan wusste nicht, ob es bei allen Menschen so aussah, wenn ihnen die Tränen in die Augen stiegen, denn er hatte noch nicht allzu oft Gelegenheit gehabt, anderen beim Weinen zuzusehen. Gott sei Dank.

Natürlich hatte das Mädchen daraufhin keinen Bissen von seinem Steak essen müssen. Oder von den Kartoffeln, die zugegebenermaßen noch nicht ganz gar gewesen waren. Stattdessen hatte Doreen ein einziges Salatblatt gegessen. Wenn man allerdings bedachte, mit welcher Energie sie im Augenblick auf seinem Bett herumtobte, war das anscheinend vollkommen ausreichend.

Er ließ die Teller ins Wasser gleiten. Das Spülen verlangte, dass er sich die ganze Zeit leicht vorbeugte, und mittlerweile tat ihm der Rücken davon weh. Möglicherweise waren die Schmerzen aber auch auf den Sturz von einem Stier zurückzuführen, der nun schon einige Jahre zurücklag. Für seine gerade einmal dreißig Jahre hatte Ethan eine ganze Menge Narben und Verletzungen.

Doch im Laufe seiner siebenjährigen Karriere als professioneller Rodeoreiter hatte er nichts so Furchteinflößendes erlebt wie den Moment, als er seinen Neffen und seine Nichte am Flughafen abgeholt hatte. Mit ängstlichem Blick und einem Namensschild an ihrer Kleidung hatten die beiden vor ihm gestanden und ihn ängstlich angesehen.

Hinter Ethan erklang ein dumpfes Geräusch, als eines der Kinder vom Bett fiel. Er wartete auf das unvermeidliche Aufheulen, doch zu seiner Überraschung blieb es ruhig. Seine Nackenmuskeln entspannten sich merklich. Kurz darauf war wieder das Quietschen der Bettfedern zu hören.

Ängstlich waren sie nicht mehr. Vielleicht waren sie das auch nie gewesen. Möglicherweise war das nur seine eigene Panik gewesen, die sich in ihren Augen widergespiegelt hatte. Für einen Mann, der sein halbes Leben damit verbracht hatte, tonnenschwere wütende Stiere zu bändigen, war es eine äußerst unrühmliche Erfahrung, angesichts von zwei Kleinkindern einen Schweißausbruch zu bekommen.

Seine Schwester Nancy und ihr Mann Andrew arbeiteten als Ärzte in einem Land namens Rotanbonga. Ethan konnte den Namen immer noch nicht richtig aussprechen. Die Zwillinge waren dort geboren worden, und er hatte nichts dagegen gehabt, ihre Kindheit nur aus der Ferne mitzuerleben. Seine einzigen Aufgaben als Onkel hatten darin bestanden, jedes Jahr bis Ende September ein Paket mit Weihnachtsgeschenken zur Post zu bringen.

Doch vor ein paar Wochen hatte er einen völlig verängstigten Anruf von seiner Schwester bekommen, die sich normalerweise durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Die Verbindung war sehr schlecht gewesen. Aber was er verstand, war, dass irgendeine Epidemie das Land erfasst hatte und dass es für die Kinder dort nicht sicher war. Nancy und Andrew fühlten sich jedoch verpflichtet zu bleiben, jetzt wo ihre medizinische Ausbildung stärker benötigt wurde denn je.

Was hätte er in dieser Situation sagen sollen? Ich muss mich um meine Ranch kümmern?

Natürlich hatte er damals keine Ahnung gehabt, dass zwei Fünfjährige ihn so sehr in Anspruch nehmen würden, dass keine Zeit mehr für die Ranch blieb. Dass zwei kleine Kinder ihn so strapazieren würden, dass er abends völlig erschöpft auf sein Bett sank.

„Komm schon, Gumpy“, murmelte er mit Blick auf die Straße, die immer noch in vollkommener Dunkelheit lag.

Er hoffte, dass der altersschwache Truck nicht den Geist aufgegeben hatte. Gumpy führte zwar immer Werkzeug und ein paar kleinere Ersatzteile mit sich und konnte wahre Wunderwerke an dem alten Kasten vollbringen, doch ein solcher Zwischenfall würde mit Sicherheit keinen guten Eindruck auf Mrs. Bishop machen.

Gewiss würde es ihr nicht gefallen, in der Dunkelheit am Straßenrand zu stehen und frierend zuzusehen, wie Gumpy das rostige Gefährt zusammenflickte, das sein ganzer Stolz war.

Und Ethan wollte Mrs. Bishop auf keinen Fall verärgern, bevor sie überhaupt angekommen war.

Betty-Anne Bishop war die Cousine seines Nachbarn. Sie war Ethan empfohlen worden, als dieser seine Freunde und Bekannte mit panischen Anrufen bestürmt hatte.

Das war drei Tage gewesen, nachdem die Zwillinge angekommen waren. Jedes Mal, wenn Ethan die Waschküche betrat, schien sich die schmutzige Wäsche auf dem Boden verdoppelt zu haben, das Vieh musste entwurmt werden, und Danny und Doreen hatten ihm immer noch nicht zu verstehen gegeben, ob sie Englisch verstanden.

Er hatte Mrs. Bishop am Telefon nach ihren Qualifikationen befragt. Sie war siebenundfünfzig Jahre alt und hatte vier Kinder großgezogen. Keines davon befand sich im Gefängnis.

Mehr hatte Ethan nicht wissen wollen.

Es hatte ihn auch nicht weiter gestört, dass sie in Ottawa lebte, mehr als zweitausend Kilometer entfernt. Ohne zu zögern, hatte er das völlig überteuerte Flugticket nach Calgary gezahlt.

„Das ist meiner!“, kreischte Doreen.

„Ist es nicht!“, schrie Danny.

Ethan seufzte und schloss die Augen.

Jetzt stritten sie sich also doch. In mancher Hinsicht war es einfacher gewesen, als sie noch nicht beschlossen hatten, ihn wissen zu lassen, dass sie Englisch sprachen.

Wieder lehnte er sich zurück und sah in sein Schlafzimmer hinüber. Die Zwillinge standen immer noch auf seinem Bett und zerrten beide an seinem Cowboyhut. Wussten sie denn nicht, dass der Hut eines Mannes heilig war?

„Hey!“, rief er.

Doreen fuhr zusammen und ließ vor Schreck den Hut los. Daraufhin fiel sie auf ihr Hinterteil und blickte vorwurfsvoll zu Ethan hinüber. Selbst von der Küche aus konnte er sehen, wie sich ihre blauen Augen mit Tränen füllten.

Mit etwas mehr Kraft, als dazu notwendig war, wrang er das Spültuch aus und murmelte einen Fluch, der seine Schwester vermutlich hätte in Ohnmacht fallen lassen. Dann steuerte er sein Schlafzimmer an.

Ein paar Minuten später saßen sie zu dritt auf dem Sofa, Doreen zu Ethans rechter Seite und Danny zu seiner linken. Die Kinder kuschelten sich an ihn, während der Vorspann von „Toy Story“ begann.

„Wie oft haben wir den Film jetzt schon gesehen?“, fragte Doreen ihren Onkel strahlend.

„Siebenundzwanzig Mal“, antwortete dieser mürrisch.

Das Mädchen seufzte wohlig. Danny sang aus vollem Hals die Titelmelodie mit. Ethan spürte, wie seine Augenlider schwerer und schwerer wurden.

Es schien ihm, als seien nur wenige Minuten vergangen, als er aus seinem Schlaf aufschreckte, doch es mussten wohl ein paar mehr gewesen sein, denn der Bildschirm zeigte nur noch eine blaue Fläche, und Danny und Doreen schliefen tief und fest. Beide hatten ihren Kopf auf seine Brust gebettet, und während Danny leise schnarchte, hatte Doreen einen kleinen Speichelfleck auf Ethans Hemd hinterlassen.

Wenn dieser Fleck nicht gewesen wäre, hätte Ethan wohl geglaubt, dass er träumte.

Denn als er aufsah, erblickte er einen Engel in seinem Schlafzimmer.

Sie war wunderschön. Ihr langes Haar hatte die Farbe flüssigen Goldes, ihre sanften Augen waren dunkelbraun, sie hatte hohe Wangenknochen, eine zierliche Nase und einen vollen Mund, der trotz der Lippenstift-Spuren reichlich verlockend aussah.

Lippenstift? Seit wann benutzten Engel denn Lippenstift?

Ethan blinzelte.

Seit wann trugen Engel rosafarbene Seidenkostüme? Und kurze Röcke? Beim Anblick der langen, wohlgeformten Beine wurde Ethans Mund ganz trocken.

„Da sind wir“, verkündete eine vertraute Stimme aus dem Hintergrund.

Ethan wandte sich seinem Angestellten zu, dessen dichtes weißes Haar zu beiden Seiten des dunklen, faltigen Gesichts herabfiel. Gumpy strahlte, aus irgendeinem Grund schien er besonders zufrieden mit sich zu sein.

Ethan war jedoch nicht nach Scherzen zumute. Behutsam hob er die Köpfe der beiden Kinder an und bettete sie auf das Sofa, sodass er aufstehen konnte. Dann stieg er über den niedrigen Couchtisch und baute sich vor der schönen Fremden auf.

„Wer zum Teufel sind Sie?“

Lacey McCade starrte den Cowboy eingeschüchtert an. Er war einen halben Kopf größer als sie, und sie war mit ihren ein Meter neunundsiebzig schon nicht gerade klein. Alles an ihm strahlte Kraft und Entschlossenheit aus: die energischen Gesichtszüge, die hohen Wangenknochen, die Kerbe in seinem Kinn, die gerade Nase. Sein Haar war dicht und schwarz und sehr kurz geschnitten. Seine Lippen waren voll und leicht geöffnet, die Wimpern lang und seidig. Seine Haut hatte einen leichten Kupferton, er war also zumindest teilweise indianischer Abstammung.

Der Körperbau des Mannes war schlank und athletisch. Er hatte die Hemdsärmel aufgerollt, sodass Lacey die sehnigen Unterarme und kraftvollen Handgelenke sehen konnte. Dann fiel ihr Blick auf eine Narbe, die sich um seinen Daumen schlängelte.

Der Mann trug ein Jeanshemd, unter dem breite Schultern und ein muskulöser Oberkörper erkennbar waren. Seine Beine waren lang und steckten in alten Jeans, die sich um starke Oberschenkel spannten. Am erstaunlichsten aber waren seine Augen, die sie immer noch wütend anstarrten. Sie waren grau und klar wie ein kalter Gebirgsbach. Nicht dass Lacey in Los Angeles viele Gebirgsbäche zu Gesicht bekommen hätte.

„Hi“, sagte sie nervös.

„Wer zum Teufel sind Sie?“, wiederholte er.

Es war nicht verwunderlich, dass er verärgert war. Lacey warf ihrem Retter Gumpy einen Blick zu. Oder hatte sie ihn gerettet? Am Flughafen war alles noch so einfach erschienen.

Sie hatte gerade ihr Telefongespräch mit Keith beendet, der die Nachricht, dass sie die Hochzeit absagte, nicht besonders gut aufgenommen hatte. Er hatte sogar angekündigt, sich in den nächsten Flieger zu setzen, damit sie die Angelegenheit in aller Ruhe besprechen könnten.

Aber Lacey wollte nichts besprechen und hatte beschlossen, sich in einem Hotelzimmer zu verstecken. Aber nach zweiunddreißig Telefonaten hatte sie erkennen müssen, dass jedes einzelne Zimmer in der Stadt ausgebucht war. Anscheinend fand gerade ein internationaler Klempner-Kongress in Calgary statt. Wer hätte gedacht, dass es so etwas überhaupt gab?

Und dann hatte dieser wundervolle alte Mann auf einmal vor ihr gestanden und nervös seinen Hut in den Händen gedreht. Er war offensichtlich indianischer Abstammung, hatte rotbraune, wettergegerbte Haut, kohlrabenschwarze Augen und langes weißes Haar.

Lacey hatte gleich Vertrauen zu ihm gefasst, denn seine Augen waren vollkommen ruhig und friedlich gewesen. Ein Ausdruck tiefer Weisheit hatte darin gelegen.

Sie hatte das Gefühl gehabt, dass er über alles Bescheid wisse. Die Geheimnisse des Lebens und des gesamten Universums. Und damit auch ihre, Laceys, Geheimnisse.

„Sind Sie das Kindermädchen?“, hatte er gefragt und sie dabei angelächelt.

Lacey dachte einen Augenblick über die Frage nach. Sie war kein Kindermädchen, sondern Anwältin. Eine Anwältin, die bis vor wenigen Stunden noch nie in ihrem Leben etwas Spontanes getan hatte. Doch heute Mittag war sie nach einem Termin mit einem besonders anstrengenden Klienten kurz entschlossen nicht zurück in ihr Büro in der Innenstadt von Los Angeles gefahren, sondern geradewegs zum Flughafen. Dort hatte sie die Tafel mit den Abflügen studiert und ein Flugticket nach Calgary gekauft.

Einfach so. Sie hätte auch nicht sagen können, warum sie sich ausgerechnet für dieses Ziel entschieden hatte.

Der einzige Grund, der ihr in den Sinn kam, war die Tatsache, dass sie als kleines Mädchen immer davon geträumt hatte, dort das Calgary Stampede, eine weltberühmte Rodeo-Veranstaltung, zu besuchen.

Und dann hatte ein fremder Mann mit freundlichen Augen sie gefragt, ob sie das Kindermädchen sei, und ein warmes Gefühl hatte sich in ihrem Bauch ausgebreitet. Natürlich hätte sie Nein gesagt, wenn er nicht als Nächstes gesagt hätte: „Wenn Sie nämlich nicht das Kindermädchen sind, stecke ich ganz schön in der Patsche.“

Seine Stimme hatte betrübt geklungen, doch seine Augen waren ganz und gar nicht traurig gewesen. Sie hatten gefunkelt, so als ob ihr Besitzer und Lacey ein wundervolles Geheimnis teilten. Seine Augen hatten sie aufgefordert, Ja zu sagen. War es möglich, dass der Mann wusste, dass sie kein Kindermädchen war?

Lacey steckte zwar selbst in der Patsche, aber eine Stimme in ihrem Kopf, die sie als die Stimme der Vernunft erkannte, ermahnte sie sogleich, nichts Unüberlegtes zu tun. Beziehungsweise nicht schon wieder etwas Unüberlegtes zu tun. Lacey ignorierte sie.

Denn in ihr regte sich auf einmal der Wunsch, wenigstens einmal in ihrem Leben etwas Verrücktes zu tun. Sie wollte impulsiv und spontan handeln, wollte das Gefühl genießen, dass es, wenn schon nicht wahrscheinlich, so doch immerhin möglich war, dass sich in ihrem Leben etwas Wundervolles und Unvorhergesehenes ereignete.

Und nachdem sie diese Erfahrung gemacht hatte, nachdem sie für einen kurzen Augenblick so etwas wie Freiheit geatmet hatte, würde sie wahrscheinlich zufrieden nach Hause zurückkehren und Keith heiraten. Vollkommen zufrieden.

„Ja, ich bin das Kindermädchen“, sagte sie und streckte ihrem Schutzengel die Hand entgegen.

Er ergriff sie, und auch der letzte Zweifel schwand dahin. Sein Handgriff war warm und beruhigend. „Ich habe den Zettel mit Ihrem Namen verloren, Miss.“

Sie zögerte. Wenn sie ihm jetzt ihren Namen sagte, würde er doch sofort wissen, dass sie nicht diejenige war, die er suchte. Das Abenteuer würde vorbei sein, noch bevor es begonnen hatte. Und Lacey würde nichts anderes übrig bleiben, als wieder nach Hause zu fliegen. Aber hatte sie nicht von Anfang an den Eindruck gehabt, dass der Fremde sie überhaupt nicht für ein Kindermädchen hielt?

Sie atmete tief durch und sagte: „Lacey. Mein Name ist Lacey McCade.“

Das Lächeln des Mannes wurde noch breiter, wenn das überhaupt möglich war. „Nelson“, stellte er sich vor, „Nelson Der-auf-den-Gipfel-steigt.“ Als sie ihm sagte, dass das der schönste Name war, den sie jemals gehört hatte, senkte er verlegen den Kopf.

„Ach was! Nennen Sie mich ruhig Gumpy. Wo ist ihr Gepäck?“

„Verloren“, erklärte sie und fühlte sich furchtbar, weil sie ihn anlog. Dann aber sagte sie sich, dass ihre Antwort nicht vollständig gelogen war. Sie hatte tatsächlich etwas verloren, und auf einmal hatte sie das Gefühl, dass ihr spontaner Entschluss, zum Flughafen zu fahren, etwas damit zu tun hatte, dass sie etwas wiederfinden wollte, was sie verloren hatte. Einen Teil von sich selbst.

„Das findet sich schon wieder“, hatte er geantwortet.

Sie hatte einen Blick auf seine zuversichtliche Miene geworfen und ihm geglaubt. Und sie hatte gewusst, dass er ebenso wenig von verloren gegangenem Gepäck sprach wie sie.

Jetzt, wo sie dem finster dreinblickenden Cowboy gegenüberstand, erschien ihr die Idee, sich als Kindermädchen auszugeben, nicht mehr aufregend, sondern nur noch albern.

Sogar im Schlaf, mit diesen beiden bezaubernden Kindern an seiner Seite, hatte der Mann nicht wie jemand gewirkt, mit dem zu scherzen war. Er hatte kraftstrotzend und sehr männlich ausgesehen.

„Vergiss jetzt nicht deine guten Manieren, Ethan“, ermahnte Gumpy ihn und erntete dafür einen Blick, der einen weniger furchtlosen Mann in die Flucht gejagt hätte. „Das ist unser neues Kindermädchen.“

„Erzähl mir nicht einen solchen Unsinn!“

Unwillkürlich sah Lacey sich nach einem Platz um, an dem sie sich verstecken konnte.

Ethan warf ihr einen weiteren missbilligenden Blick zu und drehte sich dann zu Gumpy um. „Was hast du jetzt schon wieder angerichtet?“

„Genau das, was du mir gesagt hast“, erwiderte Gumpy, „ich bin zum Flughafen gefahren und habe das Kindermädchen abgeholt.“

„Siebenundfünfzig. Ich habe dir gesagt, dass Mrs. Bishop siebenundfünfzig Jahre alt ist. Und was tust du? Schleppst mir ein Mädchen an, das keinen Tag älter ist als …“ Er musterte sie mit seinen grauen Augen. „Fünfundzwanzig.“

„Dreißig“, korrigierte Lacey ihn.

Doch Ethan hatte sich schon wieder Gumpy zugewandt. „Nun rede schon.“ Seine Stimme war tief und drohend. So wie in seiner ganzen Erscheinung lag eine Ahnung von nur mühsam im Zaum gehaltener Stärke darin. „Wo ist Mrs. Bishop?“

Hinter ihnen regten sich die Kinder auf der Couch. Lacey beobachtete, wie sie sich im Schlaf aneinanderkuschelten, und vor Rührung versetzte es ihr einen Stich in der Brust.

„Das ist das einzige Kindermädchen, das ich am Flughafen finden konnte“, erklärte Gumpy, der nicht im Mindesten eingeschüchtert wirkte. „Und glaub mir, ich habe überall nachgesehen.“

„Man sieht doch sofort, dass das kein Kindermädchen ist“, polterte Ethan. „Wir brauchen jemand, der kochen kann und putzen und sich um die Kinder kümmern. Und keine Expertin für Nagellack.“

Damit drehte er sich wieder zu Lacey um, die es vorzog, auf ihre Fingernägel zu blicken. Sie waren lang, perfekt manikürt und hatten tatsächlich dieselbe Farbe wie ihr Kostüm, eine Tatsache, die ihr heute Morgen eine gewisse Befriedigung bereitet hatte.

Allerdings war sie heute Morgen auch noch ein ganz anderer Mensch gewesen.

„Doreen und Danny werden sie mögen“, sagte Gumpy.

„Du willst doch wohl nicht etwa vorschlagen, dass sie hierbleibt?“

Lacey blickte nun von ihren Fingernägeln auf und sah, dass Gumpy mit ernster Miene nickte.

Ethan schnaubte verächtlich und so laut, dass die Kinder davon erwachten. Müde rieben sie sich die Augen und richteten sich dann auf, um die fremde Frau mit mäßiger Neugier zu begutachten. Dann sprangen sie von der Couch und liefen aus dem Zimmer.

„Rührt meinen Hut nicht an!“, rief Ethan ihnen hinterher.

Die Kinder kicherten und liefen nur noch umso schneller, sodass Lacey sich fragte, ob Ethan sie mit seiner Warnung nicht überhaupt erst an die Existenz des Hutes erinnert hatte. Auf der anderen Seite konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen, wie jemand, dem sein Leben lieb war, sich den Worten dieses gebieterischen Cowboys widersetzen konnte.

Doch Gumpy wagte es. „Ich finde, sie sollte hierbleiben“, sagte er.

„Du alter Narr! Sie wird unter keinen Umständen hierbleiben! Du steckst sie sofort wieder in den Truck und bringst sie dahin zurück, wo du sie herhast!“

„Jetzt bin ich also ein alter Narr“, antwortete Gumpy ruhig, „aber wenn du etwas von mir willst, bin ich dein Großvater.“

„Sie sind sein Großvater?“, fragte Lacey ungläubig.

„Für unser Volk ist Großvater einfach eine respektvolle Bezeichnung für einen älteren Mann“, erklärte Gumpy sanft, wobei er sein Gegenüber nicht aus den Augen ließ.

Zu ihrer Überraschung senkte Ethan den Blick als Erster. Ein Muskel unterhalb seines Auges zuckte verdächtig, doch als er wieder aufsah, war der zornige Ausdruck aus seinen Augen verschwunden, und sie sahen wieder kühl und unbeugsam aus wie immer.

„Sie kann nicht hierbleiben“, sagte er ruhig.

„Er hat recht“, sagte Lacey und legte Gumpy eine Hand auf die Schulter. „Natürlich kann ich nicht bleiben. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich werde einfach verschwinden.“

Gumpy musterte sie, erkannte die Entschlossenheit in ihrer Miene und seufzte.

Das kleine Mädchen kam ins Zimmer gelaufen. „Gumpy, ich habe deine Schlüssel in die Toilette geworfen.“

Ethan zischte dasselbe Wort wie vorhin, allerdings diesmal so leise, dass nur Lacey es hören konnte. Kein sehr hübsches Wort, wie sie fand.

Das Mädchen sah zu ihr auf. „Magst du Toiletten mit Wasserspülung?“

Sie hatte wunderschöne blaue Augen und ein ebenmäßiges Gesicht, das dem des Cowboys sehr ähnlich war. Ihre Pausbacken wurden von kurzem dunklen Haar umrahmt.

Aus dem Augenwinkel heraus sah Lacey, wie Gumpy nur mit Mühe sein Lachen unterdrücken konnte. Seine schmalen Schultern zitterten.

„Oh ja“, antwortete Lacey, obwohl sie zugeben musste, dass sie über diese Frage in ihrem ganzen Leben noch nie nachgedacht hatte. „Ich liebe Toiletten mir Wasserspülung.“

Der kleine Junge erschien und blickte zu ihr auf. Seine Augen waren denen von Ethan erstaunlich ähnlich. „Ich bin Danny.“

„Hallo“, sagte sie, „ich heiße Lacey.“

„Und ich bin Doreen“, verkündete das Mädchen.

Ethan ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen. „Du kannst meinen Truck nehmen“, bot er Gumpy an. „Auf diese Weise kannst du rechtzeitig zurück sein, um morgen mit mir das Vieh zu füttern.“

Lacey sah Gumpy besorgt an. Der alte Mann sollte doch nicht etwa die ganze Nacht durchfahren und dann am nächsten Morgen noch helfen, das Vieh zu füttern?

„Ach, lass nur“, sagte Ethan, der offensichtlich zu derselben Schlussfolgerung gekommen war. Einen Augenblick lang konnte sie sehen, wie seine Miene sich entspannte und seine Verärgerung der Sorge um den älteren Mann wich. „Ich werde sie fahren.“

Er verließ mit großen Schritten das Zimmer.

Danny und Doreen jagten sich gegenseitig einmal durch den Raum und liefen dann in den Flur.

Lacey sah sich im Wohnzimmer um. Es war nur wenig wohnlicher als die Küche, durch die sie zuvor eingetreten war. Das Sofa sah alt aus, aber bequem. Auf dem Couchtisch, einer schönen alten Holztruhe, befanden sich eine halb volle Tasse Kaffee und ein Buch, das ein medizinischer Ratgeber für Nutztiere zu sein schien. Es gab keine Bilder an den Wänden.

Keith würde diesen Raum hassen, dachte sie. Er bevorzugte wertvolle persische Teppiche und antike orientalische Vasen. Aber Lacey fühlte sich von der Einfachheit des Raumes und der Sparsamkeit der Einrichtung angezogen.

Sie betrachtete unauffällig die zwei Videokassetten, die unter dem Fernseher standen, und fragte sich, was sie ihr über den Mann, der hier lebte, verraten würden. Es handelte sich um „Toy Story“ und „Der mit dem Wolf tanzt“.

Gumpy ließ sich auf der Couch nieder. Er sah ganz zufrieden aus, aber Lacey hatte trotzdem das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen.

„Es tut mir leid, Gumpy“, sagte sie leise, „ich hätte es niemals so weit kommen lassen dürfen.“

Er lächelte nur, dieses gütige und weise Lächeln, das sie von Anfang an so gemocht hatte.

Sie hörten, wie in der Küche eine Schublade lautstark geschlossen wurde.

„Wo zum Teufel sind meine Schlüssel?“

Aus einem anderen Teil des Hauses konnte Lacey leises Kichern vernehmen.

Ethan musste es auch gehört haben. Denn es wurde auf einmal ganz still in der Küche. So still, dass Lacey das Brummen des Kühlschranks hören konnte.

„Doreen?“, rief er. „Danny?“

Stille.

„Wo sind meine Schlüssel?“

Glucksendes Gelächter.

Lacey sah Gumpy mit großen Augen an. „Sie haben die Schlüssel … die Toilette runtergespült?“, flüsterte sie.

Er nickte, und sie erwartete einen Wutausbruch, doch es blieb ruhig.

Ethan kam ins Wohnzimmer zurück. Er setzte sich neben Gumpy auf das Sofa und schloss die Augen. Er wirkte erschöpft und mutlos. Lacey dachte, dass sie selbst vorhin auf dem Flughafen genauso ausgesehen haben musste.

„Sie können wahrscheinlich nicht einmal kochen“, sagte er in ihre Richtung.

„Von wegen“, antwortete sie stolz. „Mein vegetarisches Chili ist eine stadtbekannte Delikatesse.“

„Vegetarisch?“, fragte er missbilligend.

Sogar der treue Gumpy sah sie mit großen Augen an. „Vegetarisch?“

Sie hörten, wie die Spülung der Toilette betätigt wurde, einmal und dann noch einmal. Anschließend erklang kindliches Gelächter.

„Mein Leben“, stellte Ethan trostlos fest, „kann unmöglich noch schlimmer werden, als es in diesem Augenblick ist.“

Sie hielt es für besser, nichts zu sagen. Gumpy war offenbar zu demselben Schluss gekommen.

„Miss?“, fragte Ethan leise und blickte sie erschöpft an.

„Warum gehen Sie davon aus, dass ich nicht verheiratet bin?“, empörte Lacey sich.

Er seufzte, als ob sein Leben gerade allen Erwartungen zum Trotz doch noch ein wenig schlimmer geworden sei. „Sie befinden sich auf einer Viehfarm“, informierte er sie und schloss die Augen wieder. „Wir leben davon, dass die Menschen Fleisch essen.“

„Oh.“

Das Telefon klingelte, und eine Zeit lang schien es, als wollten beide Männer das Läuten ignorieren.

„Du weißt doch, wer das ist?“, fragte Ethan.

„Nein, ich habe keine Ahnung“, erwiderte Gumpy.

„Das wird eine siebenundfünfzigjährige Frau sein, die wahrscheinlich gerade vor Wut tobt, weil sie mutterseelenallein am Flughafen in Calgary steht.“ Widerwillig erhob Ethan sich und verließ das Zimmer, um den Anruf entgegenzunehmen.

2. KAPITEL

Das Telefon war im Flur an der Wand angebracht. Ethan nahm den Hörer ab und drehte sich zu der Frau im rosafarbenen Kostüm um, die es sich jetzt neben Gumpy auf der Couch bequem gemacht hatte. Sie schlug ein langes, schlankes Bein über das andere. Dieses Kostüm sagte doch wirklich alles.

Seine Besitzerin war alles andere als ein Kindermädchen.

So eine Frau brachte nichts als Ärger.

Er wandte ihr demonstrativ den Rücken zu, musste aber feststellen, dass sich ihr Bild nicht so einfach aus seinem Kopf vertreiben ließ. Mühsam versuchte er, sich auf das zu konzentrieren, was Derrick Bishop ihm mitzuteilen versuchte.

Seine Mutter, Mrs. Bishop, lag im Krankenhaus in Ottawa. Offensichtlich war sie auf einer Eisschicht vor dem Flughafengebäude ausgerutscht und hatte sich die Hüfte gebrochen.

Ethan wusste, dass er Mitleid mit der alten Dame empfinden sollte, aber alles, woran er denken konnte, war seine eigene verzweifelte Lage. Die Verstärkung, die er seit Tagen sehnlich erwartet hatte, würde nicht kommen.

Stattdessen musste er sich jetzt auch noch um die Frau in Rosa kümmern. Er beendete das Gespräch und trat einen Schritt zurück, um die unbekannte Besucherin von der Dunkelheit des Flurs aus ungestört beobachten zu können.

Ihre Haut hatte einen leichten Goldton, und ihr Kostüm war aus dünnem Material. Ethan vermutete, dass sie aus südlicheren Gefilden stammte. Dieses Kostüm war überhaupt ein erstaunliches Kleidungsstück. Es sah geschäftsmäßig aus und betonte gleichzeitig die Kurven seiner Trägerin.

Ethan hatte angenommen, dass Betty-Anne Bishop in ungefähr die Ausmaße eines Kühlschranks haben würde. Nichts hatte ihn auf diesen Anblick vorbereitet.

Unwillig registrierte er eine schon längst vergessene Regung, die sich in seinem Unterleib ausbreitete. Ethan wurde dadurch in seinem Beschluss bestärkt, dass er die Frau unbedingt loswerden musste. So schnell wie möglich.

Er hatte ausreichend Erfahrung mit schönen Frauen gemacht. Jeder Rodeoreiter, der nicht übermäßig hässlich war, konnte sich vor Verehrerinnen kaum retten. Ethan hatten die puppenhaften Schönheiten damals nicht beeindruckt, und sie übten auch heute keine Wirkung auf ihn aus. Oder zumindest nicht auf den Teil seines Körpers, auf den er hörte.

Was ihn bei einer Frau beeindruckte, war Intelligenz.

Und die Frau im rosa Kostüm war offensichtlich nicht besonders helle. Wie sonst war es zu erklären, dass sie zu einem weißhaarigen Alten, den sie überhaupt nicht kannte, ins Auto gestiegen war?

Er hoffte nur, dass sie keine Prostituierte war.

Mit zusammengekniffenen Augen musterte er seine Besucherin noch einmal genauer. Ihr Kostüm sah sehr teuer aus und war in tadellosem Zustand. Wenn die Farbe nicht gewesen wäre, hätte er es für die Berufskleidung einer erfolgreichen Geschäftsfrau halten können. Ethan runzelte die Stirn. In diesem Augenblick lächelte die Frau über etwas, was Gumpy gesagt hatte. Ihr Lächeln war warm und offen.

Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass sie eine Betrügerin war. Sie hatte Gumpy angelogen!

Teuer gekleidet. Schön. Unvorsichtig. Die Frau steckte offensichtlich in Schwierigkeiten.

Und Ethan konnte keine weiteren Probleme gebrauchen. Er hatte genug davon, seit die Zwillinge vor zwei Wochen in sein Leben geplatzt waren, und Danny und Doreen waren wirklich das Äußerste, was seine Nerven ertragen konnten. Sie musste verschwinden. Schließlich war er immer noch der Boss hier, nicht Gumpy.

Das einzige Problem waren die Schlüssel. Wenn er sich heute Nacht der Toilette widmete, eine Vorstellung, die seine ohnehin üble Laune noch deutlich verschlechterte, könnte Gumpy die Frau morgen früh zurück nach Calgary bringen. Er selbst würde dann das Vieh allein füttern. Ethan verfluchte erneut den frühen Schneefall, der die Fütterung notwendig machte und seinen Arbeitstag damit um ganze vier Stunden in die Länge zog. Sechs, wenn Gumpy ihm nicht half.

Was sollte er nur so lange mit den Kindern machen? Die Vorstellung, sie mitzunehmen, wenn er das Vieh fütterte, ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. Er überlegte, sie mit Gumpy fahren zu lassen, aber es gab nicht genügend Sicherheitsgurte für vier Personen in dem alten Truck, und dann würde Gumpy sich wahrscheinlich ohnehin weigern. Der alte Starrkopf ließ sich von seinem Arbeitgeber nur dann etwas sagen, wenn es ihm gefiel. Aber Gumpy war ja auch mehr als nur ein Angestellter.

Er war sogar mehr als ein Freund. Gumpy war ein Mittelsmann zwischen der Gegenwart und einer längst vergessenen Lebensweise.

Ethan kehrte ins Wohnzimmer zurück. Danny und Doreen flitzten an ihm vorbei, Doreen hatte den Cowboyhut um den Hals hängen, während Danny auf einem Besenstiel galoppierte.

„Wie heißen Sie?“, fragte Ethan seine Besucherin.

Er wusste schon, bevor sie den Mund öffnete, dass er ihren Namen hassen würde. Bestimmt würde sie so einen albernen Namen wie Tiffany, Jade oder Charity haben.

„Lacey“, sagte sie. „Lacey McCade.“

Bingo. Kein vernünftiger Name wie Mary oder Betty.

„Mrs. Bishop hat sich die Hüfte gebrochen“, teilte er Gumpy mit. „Sie wird nicht kommen.“

Gumpy strahlte, als habe er gerade im Lotto gewonnen. Die Kinder kamen kreischend zurück ins Zimmer gelaufen und quetschten sich zwischen Couchtisch und Sofa hindurch.

Lacey streckte den Arm aus und brachte die Zwillinge zum Stehen. „Ihr könnte mir morgen beim Keksbacken helfen, wenn ihr jetzt ruhig in euer Zimmer geht und eure Schlafanzüge anzieht.“

Morgen?

„Was für Kekse?“, wollte Danny wissen.

„Was sind denn deine Lieblingskekse?“

Ethan starrte sie immer noch fassungslos an. Morgen?

„Mit Schokoladenstücken“, sagten die Zwillinge wie aus einem Mund.

„Wir haben keine Schokolade“, stellte Ethan fest. Nicht dass sie lange genug in seinem Haus bleiben würde, um hier irgendwelche Kekse zu backen.

„Ich kann morgen backen, bevor ich gehe“, erklärte Lacey ihm ruhig, als habe sie seine Gedanken gelesen. „Es dauert nur eine halbe Stunde.“ Dann, als sei die Angelegenheit damit geklärt, wandte sie sich mit einem strahlenden Lächeln den Kindern zu. So strahlend, dass er beinahe vergaß, dass er die Frau so schnell wie möglich loswerden musste. Aber auch nur beinahe. „Mögt ihr Haferflocken-Kekse?“, fragte sie die Zwillinge.

Die beiden jubelten lautstark, als ob sie allen Ernstes vorhätten, ruhig ins Bett zu gehen und sich die Kekse damit als Belohnung zu verdienen.

„Haben Sie Haferflocken?“, fragte das falsche Kindermädchen.

Ethan nickte knapp. Zu seiner grenzenlosen Überraschung verschwanden Danny und Doreen wortlos in Richtung Schlafzimmer.

Gumpy grinste.

„Sie kann nicht hierbleiben“, erklärte Ethan bestimmt.

„Aber sie muss wohl heute Nacht hierbleiben, es sei denn, du hast einen Ersatzschlüssel anfertigen lassen, nachdem der letzte in die Heupresse gefallen ist.“ Das hatte er nicht, und Gumpy wusste das auch.

„Ich werde jetzt gleich die Toilette auseinandernehmen“, kündigte Ethan an. „Die Schlüssel sind wahrscheinlich im Siphon.“

„Nun, ich werde nicht so lange aufbleiben, um dir dabei zuzusehen.“

Ethan wusste, dass er unvernünftig war. Er hatte sich schon damit abgefunden, dass sie Miss McCade erst morgen zurückbringen konnten. Selbst wenn es ihm gelang, die Schlüssel innerhalb der nächsten Stunden aus den Tiefen des Abflussrohrs zu befördern, würde es zu spät sein, die lange Fahrt nach Calgary anzutreten. Und außerdem musste er auch noch die Kinder ins Bett bringen.

Aber noch während er mit Grauen an diese allabendliche Schwerstarbeit dachte, erschienen die Zwillinge in ihren Schlafanzügen, stellten Lacey ein paar fachmännische Fragen zum Thema Keksbacken und fragten sie dann, ob sie sie ins Bett bringen würde.

Nicht ihn, der seit zwei Wochen für sie kochte und ihr schmutziges Geschirr abwusch und siebenundzwanzig Mal „Toy Story“ mit ihnen angeguckt hatte und sie mit seinem Cowboyhut spielen ließ.

Nichts da. Sie fragten die Betrügerin.

„Jetzt muss sie hierbleiben und morgen Kekse backen“, stellte Gumpy zufrieden fest, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, ein Kind an jeder Hand. „Die Zwillinge müssen lernen, dass man Versprechen halten muss.“

Im Grunde genommen passte das Ethan ganz gut, obwohl er sich hüten würde, das vor Gumpy zuzugeben. Er und der alte Verräter könnten morgen in aller Frühe aufstehen und das Vieh füttern, und sie würde sich in der Zeit um die Kinder kümmern und Kekse mit ihnen backen. Es war keine perfekte Lösung, aber auch keine Katastrophe.

Diese Lacey schien ihm auch nicht der Typ zu sein, der in seiner Abwesenheit das Haus nach Wertsachen durchsuchen würde, um sich anschließend mit dem Tafelsilber aus dem Staub zu machen.

Nicht dass es irgendetwas gegeben hätte, was sich zu stehlen lohnte. Höchstens das „Toy Story“-Video. Der Videorekorder gehörte Gumpy.

„Es muss Jahre her sein, seit ich das letzte Mal selbst gebackene Kekse gegessen habe.“ Gumpy stand auf und streckte sich. „Ich verschwinde dann mal. Glaubst du, sie macht uns morgen Frühstück? Ich kann keinen Haferbrei mehr sehen.“

Ethan konnte auch keinen Haferbrei mehr sehen, besonders nicht den, den Gumpy mit heißem Wasser aus der Leitung zubereitete. Aber er wagte nicht, sich zu beklagen, sonst würde er selbst in Zukunft das Frühstück machen müssen, und dabei hatte er auch so schon alle Hände voll zu tun. Also sagte er nur: „Du träumst wohl. Sieht sie etwa so aus, als würde sie morgens auch nur eine Sekunde früher aufstehen als unbedingt notwendig?“

„Warum nicht?“, erwiderte Gumpy stur. „Immerhin backt sie morgen doch auch Kekse, oder etwa nicht?“

Ethan folgte dem Älteren in den Flur und sah zu, wie dieser seine Schuhe anzog. Dabei murmelte Gumpy etwas vor sich hin.

„Ich wette, die Kekse werden sowieso nichts taugen“, sagte Ethan.

Wieder murmelte Gumpy etwas.

„Was hast du gesagt?“, fragte Ethan widerwillig.

Der Weißhaarige richtete sich auf. „Ich finde, wir sollten eine Wette abschließen. Wenn sie uns morgen das Frühstück macht, darf sie bleiben.“

„Gumpy, ich weiß nicht einmal, wo du diese Frau aufgelesen hast.“

„Auf dem Flughafen, das habe ich doch gesagt.“

„Wir wissen doch überhaupt nichts über sie.“

„Man muss ihr doch nur in die Augen schauen, um zu wissen, was für ein Mensch sie ist.“

„Auf jeden Fall ist sie kein Kindermädchen“, beharrte Ethan.

„Ich bin mir sicher, dass sie ihre Aufgabe großartig machen wird.“

„Und ich bin mir sicher, dass sie keine Ahnung hat, worin ihre Aufgabe überhaupt besteht.“

„Sie gehört hierher.“ Gumpy öffnete die Tür, und ein eiskalter Luftzug wehte ins Haus.

Gumpy hielt sich für eine Art Wahrsager, und er hatte mit seinen Voraussagen so häufig recht, dass Ethan aufgehört hatte, sich über ihn lustig zu machen. Er betrachtete den alten Mann argwöhnisch.

„Wenn sie morgen das Frühstück macht, solltest du sie bitten zu bleiben“, beharrte Gumpy.

„Nur wenn es gut ist“, antwortete Ethan trocken. Was wohl kaum der Fall sein würde, dachte er; doch Gumpy sah äußerst zufrieden aus. „Willst du heute Nacht nicht lieber hier im Haus schlafen?“

Gumpy schüttelte den Kopf und zog die Tür hinter sich zu.

Ethan wandte sich um und stellte fest, wie unglaublich ruhig es im Haus war. Wenn er ganz still war, konnte er das gedämpfte Murmeln ihrer Stimme hören. Er schaltete das Radio ein, um den sanften Klang zu übertönen. Dann drehte er widerwillig den Haupthahn für die Wasserversorgung zu und begann, Wasser aus der Toilette zu schöpfen.

„Die Kinder schlafen. Ich gehe jetzt ins Bett.“

Mittlerweile hatte er einen Schraubenschlüssel hervorgeholt und begonnen, die Schrauben zu lösen, mit denen die Toilettenschüssel am Boden befestigt war. Lacey stand in der Badezimmertür und sah ihn an, als würde er eine Operation am offenen Herzen durchführen. „In Ordnung“, brummte er. „Die erste Tür rechts.“

„Das hatte ich mir schon gedacht. Das Spitzendeckchen auf der Kommode war ein sicherer Hinweis.“

Ethan musterte sie erneut. War sie doch nicht so dumm, wie er dachte? Er hatte den merkwürdigen Fetzen dort hingelegt, um den Raum ein bisschen wohnlicher für Mrs. Bishop zu machen. Es war das einzige Stück im ganzen Haus, das im weitesten Sinne die Bezeichnung „dekorativ“ verdiente.

„Schlafen Sie sich ruhig aus“, schlug er vor. Immerhin hatte er eine Wette zu gewinnen. Nicht, dass er überhaupt etwas im Haus gehabt hätte, woraus sich ein anständiges Frühstück machen ließ. Er hatte in den letzten Wochen einfach keine Zeit zum Einkaufen gehabt. Es gab ein paar Eier und Haferflocken, das war alles. Unmöglich, daraus eine Mahlzeit zu bereiten.

Gumpy würde es doch wohl nicht als Frühstück zählen, wenn sie das Wasser für den Haferbrei kochte, anstatt aus der Leitung zu nehmen? Stirnrunzelnd machte Ethan sich wieder an die Arbeit.

Eine Stunde später hatte er die Schlüssel geborgen und die Toilettenschüssel wieder festgeschraubt. Anschließend duschte er, warf einen Blick ins Zimmer seiner Nichte und seines Neffen und ging dann an dem Gästezimmer vorbei, um in sein eigenes Schlafzimmer zu gelangen.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass Lacey McCade kein einziges Gepäckstück bei sich gehabt hatte. Kopfschüttelnd schloss er die Tür hinter sich. Woher stammte die Fremde bloß, und was hatte sie hierher geführt? Und während Ethan sich bettfertig machte, ließ ihn ein weiterer Gedanke ließ mehr los: In was sie wohl gerade schlief?

Lacey lag wach in der Dunkelheit ihres Zimmers. Das Bett war schmal und ungemütlich. Sie fragte sich, was Ethan wohl im Bett anhatte. Boxershorts?

Sie spürte, wie sie bis an die Haarwurzeln errötete.

Sie befand sich im Haus eines fremden Mannes, noch dazu unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, und gab sich unzüchtigen Gedanken hin. Was war nur in sie gefahren? Was war aus der Frau geworden, die heute Morgen aufgestanden war, in aller Ruhe ein Toastbrot mit Marmelade gegessen hatte und dann zur Arbeit gefahren war?

Noch vor einigen Stunden war sie eine aufstrebende Anwältin gewesen, die mit den Vorbereitungen für ihre eigene pompöse Hochzeit beschäftigt war und sich abends mit ihrem Verlobten darüber unterhielt, welches Ferienhaus sie kaufen sollten und welchen Sportwagen.

Lacey wurde mit einem Mal bewusst, dass sie nie über Kinder gesprochen hatten.

Wie töricht, eine solche Frage nicht mit dem Mann zu diskutieren, den man heiraten wollte. Lacey ging im Geist noch einmal das Telefongespräch durch, das sie mit Keith am Flughafen von Calgary geführt hatte. Das war immerhin besser, als sich darüber Gedanken zu machen, ob der Cowboy im Nebenzimmer Boxershorts trug. Oder vielleicht gar nichts.

„Keith“, hatte sie begonnen und zugesehen, wie eine Boeing 747 über das Rollfeld schnellte. Dabei hatte sie überlegt, dass es so aussah, als könnte sich die schwere Maschine niemals vom Boden lösen. „Du musst die Hochzeit absagen.“

Im gleichen Moment war das Flugzeug plötzlich in der Luft und stieg in einem erstaunlich steilen Winkel immer höher.

Schweigen. Dann: „Lacey?“

„Du musst die Hochzeit absagen“, sagte sie noch einmal, diesmal mit noch mehr Nachdruck.

Sie stellte sich vor, wie er hinter seinem Schreibtisch saß, die Krawatte gelockert, den blonden Kopf über irgendwelche Unterlagen gebeugt. Obwohl sie sich sicher war, dass sie in diesem Augenblick seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte.

„Ich kann die Hochzeit nicht absagen“, antwortete er. „Es sind nur noch drei Wochen!“ Dabei fuhr er sich wahrscheinlich mit der Hand durch das Haar, die Stirn seines attraktiven Gesichts in tiefe Falten gelegt.

Lacey wandte sich von der Fensterfront ab. Das Flugzeug war nur noch ein kleiner Fleck am Horizont. Sie atmete tief durch. Auf der anderen Seite der Telefonzelle war ein Schaukasten mit einer Bronze-Statue. Sie stellte einen Cowboy dar, der neben seinem trinkenden Pferd stand. Irgendetwas an dem Standbild berührte sie auf eine Weise, die sie nicht verstand.

„Wo bist du?“, wollte Keith wissen.

„Das spielt keine Rolle.“

„Vorwahl 403“, las er von der Anzeige seines Telefons ab.

Laceys Blick ruhte erneut auf dem Bronze-Standbild. Als kleines Mädchen hatte sie ihren Vater angebettelt, in den Ferien mit ihr nach Calgary zu fliegen, damit sie sich dort das Stampede ansehen konnte. Für solche kostspieligen Urlaube war jedoch nie Geld da gewesen.

Am anderen Ende der Leitung konnte sie hören, wie Keith mit irgendwelchen Papieren raschelte. Wahrscheinlich blätterte er in einem Telefonbuch.

„Kanada“, rief er nach einer Weile überrascht. „Alberta. Lacey, was um Himmels willen machst du in Alberta?“

„Ich weiß nicht“, antwortete sie, und das war die reine Wahrheit.

Sie wusste nur, dass sie in dem Augenblick, als sie das Schild zum Flughafen gesehen hatte, einer inneren Eingebung gefolgt war, einer Warnung zu verschwinden, bevor es zu spät war.

Zu spät wofür? Sie war sich nicht sicher.

Keith sah gut aus, sehr gut sogar. Und seinen beruflichen Erfolg hatte er einzig und allein seiner Arbeit zu verdanken und nicht der Herkunft aus einer Familie, die seit Generationen zu den reichsten Kaliforniens gehörte. „Ein junger Mann, der es noch sehr weit bringen wird“, hatte Laceys Vater mit feierlicher Miene erklärt, nachdem er ihn das erste Mal getroffen hatte.

Ihre eigene Karriere war ebenfalls recht beeindruckend, wenn auch nicht ganz so erfolgreich wie die ihres Verlobten. Im Großen und Ganzen waren sie also ein echtes Traumpaar.

Wieder wanderte ihr Blick zu dem Bronze-Cowboy. So ruhig stand er da.

Natürlich stand er ruhig da, ermahnte sie sich selbst. Er war ja schließlich auch aus Bronze.

„Lacey, was ist los?“

Keith bemühte sich nach Kräften um einen verständnisvollen Tonfall, doch Lacey konnte geradezu sehen, wie er auf seine Uhr blickte. Sie konnte die Ungeduld in seiner Stimme hören. Die Hochzeit sollte aufgrund von einer bloßen Laune abgesagt werden – einer Laune seiner Verlobten. Keith hatte nichts für Launen übrig.

Er bevorzugte eine straffe Organisation. Alles in seinem Leben war vorhersehbar. Perfekt.

„Ich kann dich nicht heiraten“, flüsterte sie. „Ich habe plötzlich Zweifel.“

Die Details der Bronze-Statue ließen sie sehr lebensecht erscheinen. Der Cowboy hatte Lacey den Rücken zugekehrt, doch nach dem Telefongespräch würde sie einmal um die Glasvitrine herumgehen, um herauszufinden, wie er von vorne aussah. Aber auch von hinten konnte man einiges von der Haltung des Mannes erkennen. Seine Schultern drückten Wachsamkeit aus, Stolz.

„Was für Zweifel? Und warum gerade jetzt? Das hättest du dir vor einem halben Jahr überlegen sollen. Oder besser noch vor einem Jahr.“

„Keith, ich bin einfach verwirrt.“

„Oh“, sagte er erleichtert, „verwirrt. Lacey, das ist ganz normal, viele Menschen bekommen kurz vor ihrer Hochzeit kalte Füße.“

Auch wenn er der bestbezahlte Anwalt in ganz Los Angeles war, seine Überzeugungskunst würde ihr nicht weismachen können, dass es ganz normal war, wenn eine Frau drei Wochen vor ihrer Hochzeit in ein Flugzeug stieg und Richtung Kanada flüchtete.

„Du hast sehr viel Stress gehabt“, fuhr er beruhigend fort. Seine Stimme war die eines Mannes, der auf alles eine Antwort hat. In jeder Lebenslage. „Meine Mutter hätte dir bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen können. Oder deine Mutter.“

Sie konnte nicht umhin zu bemerken, dass er seine eigene Hilfe nicht anbot. Aber er hatte vermutlich recht. Der ganze Trubel, die ständigen Anproben für das Hochzeitskleid, die endlosen Treffen mit Lieferanten, die allgegenwärtige Erwartungshaltung, dass ihre Eheschließung die perfekte Märchenhochzeit werden würde.

„Außerdem“, fügte er hinzu, „hast du zu viele Scheidungsklagen bearbeitet.“

Auch das war richtig. Sie hatte schon zu häufig gesehen, welches Ende all die perfekten Ehen nehmen konnten.

„Komm schon“, drängte Keith, „steig in den nächsten Flieger, und komm zurück. Ich kann doch hören, dass du noch am Flughafen bist. Komm nach Hause. Alles wird gut werden.“

Sie atmete tief durch. Natürlich hatte er recht. Sie hatte einfach nur kalte Füße bekommen, so wie Millionen andere Frauen in ihrer Situation auch. Nur dass ihre Kreditkarte ihr ermöglicht hatte, weiter zu fliehen als die meisten anderen Frauen.

Doch dann erblickte sie ihr eigenes Spiegelbild in der Glasvitrine, die den Cowboy umgab. In ihrem rosafarbenen Kostüm sah Lacey sehr geschäftsmäßig aus. Das blonde Haar war zu einem strengen Knoten gebunden. Nun ja, unbändig, wie ihr Haar nun einmal war, löste es sich bereits an einigen Stellen aus dem Knoten.

Dennoch sah sie wie eine zielbewusste und beherrschte Geschäftsfrau aus, nicht wie eine Frau, die Hals über Kopf die Flucht ergriff oder etwas vollkommen Unüberlegtes tat. Nicht wie eine Frau, die ihren Verlobten im Stich ließ, ihre Eltern und zweihundert geladene Gäste.

Lacey hatte das merkwürdige Gefühl, eine Fremde vor sich zu haben. Diese elegante und selbstbewusste Erscheinung, die ihr aus der Glasscheibe entgegenblickte, das war nicht sie.

„Hör zu, Keith, ich …“

„Calgary!“, rief er. „Du bist auf dem Flughafen von Calgary! Die Nummer, von der aus du anrufst, hat die Vorwahl von Calgary. Wenn du also nicht zu mir kommen willst, komme ich eben zu dir. Setz dich an die Bar, und warte auf mich, ich bin in … Wie lange brauche ich bis nach Calgary?“

„Tu das bitte nicht.“

„Ich bin schon auf dem Weg.“

Sie legte auf und begann sofort, sämtliche Hotels der Stadt anzurufen. Nur um herauszufinden, dass alle Zimmer belegt waren. Aufgrund des Klempner-Kongresses.

Lacey sank in einen Sessel und überlegte sich, was sie tun sollte. Sie könnte woanders hinfliegen.

Ihr war bewusst, dass das verrückt war, aber eine rebellische Stimme in ihrem Kopf forderte sie auf, endlich einmal etwas Verrücktes zu tun. Immerhin war es nicht normal, dreißig Jahre alt zu sein und noch nie im Leben etwas Spontanes oder Unvernünftiges getan zu haben.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich Ziele gesetzt und hart daran gearbeitet, sie zu erreichen. Mit achtzehn hatte sie angefangen zu studieren, hatte mehrere Stipendien erhalten und immer nur die besten Noten. Schließlich war es ihr gelungen, unter die besten Absolventen ihres Jahrgangs zu kommen und einen Job bei einer weltweit anerkannten Kanzlei zu ergattern. Nicht schlecht für ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen, dessen Vater Polizist war.

Die Hochzeit mit Keith wäre der letzte Streich auf ihrem Weg nach oben gewesen, sozusagen das Sahnehäubchen.

Niemand hätte überraschter sein können als Lacey selbst, als sie auf dem Weg zur Arbeit plötzlich von einem unerklärlichen Gefühl überwältigt wurde. Was genau war es, was sie empfunden hatte? Sie versuchte, das Gefühl zu analysieren.

Leere.

Leere? In einem Leben, das so voll von Terminen war, dass manchmal Monate vergingen, bis sie einmal eine halbe Stunde nur für sich hatte?

In Ordnung, lenkte ihre innere Stimme ein, vielleicht gab es eine bessere Umschreibung für das, was sie empfunden hatte. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass etwas in ihrem Leben fehlte.

Aber was nur? Sie hatte doch alles. Eine Karriere wie aus dem Bilderbuch, einen Traumtypen als Verlobten. Sie planten, ein wunderschönes Haus mit eigenem Pool zu kaufen. Ihr Vater würde vor Freude platzen, wenn er es sehen würde.

Flieg zurück nach Hause, riet ihr die vernünftige Stimme in ihrem Inneren.

In Ordnung, antwortete Lacey. Aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und fühlte sich auf einmal vollkommen erschöpft. Ihr fehlte sogar die Kraft aufzustehen und nachzuschauen, wie die Cowboy-Statue von vorne aussah.

Sie war ein erfolgreiche Anwältin. Sie hatte es geschafft. In drei Wochen würde sie Keith Wilcox heiraten, einen der begehrtesten Junggesellen von Los Angeles.

Ihre Eltern waren überglücklich. Alle Menschen, die sie kannte, freuten sich für sie.

Zurück nach Hause fliegen. Lacey griff nach ihrer Handtasche. Das war das einzig Richtige. Sie konnte spüren, wie ihr Verstand wieder zu arbeiten begann. Als sie diese Kurzschlusshandlung begangen hatte, war sie nicht ganz bei Sinnen gewesen. Ein vorübergehender Anfall von Wahnsinn, der auf zu viel Stress zurückzuführen war, auf zu viel …

„Entschuldigen Sie?“

Als Lacey aufgeblickt hatte, hatte Gumpy vor ihr gestanden. Und sein Anblick hatte ausgereicht, um den Wahnsinn zurückkehren zu lassen. Sie hatte beschlossen, sich von dem Leuchten in den Augen des alten Mannes führen zu lassen, ihm in eine ungewisse Zukunft zu folgen.

Und hier war sie nun, in einem unbequemen Bett in einem fremden Haus. Und trotz allem wünschte sie sich, dass ein Wunder geschehen möge und es ihr erlauben würde, eine Weile hier Zuflucht zu finden. Auf diese beiden bezaubernden Kinder aufzupassen und gleichzeitig etwas Ordnung in ihr eigenes aus den Fugen geratenes Leben zu bringen.

Sie kam zu dem Schluss, nicht zum ersten Mal, dass sie ihre Frisur hasste. Und dass ihr Gastgeber vermutlich Slips trug, keine Boxershorts.

Die Frage, was Lacey im Bett trug, ließ Ethan bis zum Morgengrauen keine Ruhe. Irgendwann schlief er dann doch ein und erwachte erst, als helles Sonnenlicht und der Duft von Essen in sein Zimmer drangen. Ein Duft, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Es war das erste Mal seit zwei Wochen, dass er nicht aufwachte und zwei kleine Kinder an seinem Bett vorfand, die ihn mit großen Augen anstarrten. Zu seiner eigenen Überraschung stellte er fest, dass ihm etwas fehlte.

Er stand eilig auf und zog sich an, in der Hoffnung, Gumpy dabei zu erwischen, wie er auf unrechtmäßige Weise versuchte, seine Wette zu gewinnen.

Aber als er die Küche betrat, war es Lacey McCade, die am Herd stand und zugegebenermaßen ziemlich professionell mit einer Pfanne hantierte. Sie hatte ihr Haar zu einem Zopf gebunden und trug dasselbe rosa Kostüm wie am Vortag. Es war vollkommen zerknittert.

Ethan wurde bewusst, dass sie darin geschlafen hatte.

„Guten Morgen“, rief sie fröhlich.

Er nahm einen Schluck von dem Kaffee, den sie ihm in die Hand drückte. Wirklich gut. Gumpy und die beiden Kinder machten sich bereits über das her, was auf ihren Tellern lag.

Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass es sich um eine undefinierbare Pampe handelte.

„Bauern-Omelett“, verkündete sie und stellte einen Teller vor ihn auf den Tisch, während er sich setzte.

„Du bist ja nicht besonders redselig heute Morgen“, bemerkte Gumpy grinsend. „Wie findest du den Kaffee?“

„Ganz in Ordnung.“

Gumpy grinste noch breiter.

Wieder stieg Ethan ein verlockender Duft in die Nase – Eier, Zwiebeln und Kräuter. Vorsichtig nahm er einen Bissen von dem Omelett. Es war köstlich. Widerwillig begegnete er Gumpys abwartendem Blick.

„Sie kann nicht hierbleiben“, flüsterte er.

„Versprochen ist versprochen“, stellte Gumpy laut fest.

Ethan versuchte, sich zu erinnern, was genau sie gestern Abend vereinbart hatten. Es war kein Versprechen gewesen, nur eine Wette. Und sie hatten sie nicht einmal mit einem Handschlag besiegelt.

Gumpy hielt nichts von Handschlägen. Er glaubte an Ehre. Ein Mann musste zu dem stehen, was er sagte! Ethan wurde bewusst, dass er seinem Freund auf den Leim gegangen war.

„Wie lange können Sie bleiben?“, fragte Gumpy in Laceys Richtung, nachdem Ethan in Schweigen verfallen war.

Sie drehte sich um und sah die beiden Männer hoffnungsvoll an.

Warum war sie überhaupt so scharf darauf hierzubleiben, fragte Ethan sich. Hunderte Kilometer vom nächsten Einkaufszentrum entfernt, mit zwei schlecht erzogenen Kindern, einem alten Mann und einem Griesgram. Was auch immer es war, wovor sie auf der Flucht war, es musste ziemlich schlimm sein. Vielleicht ein Freund, der sie schlug? Wut stieg in ihm auf, während er ihr Gesicht und ihren Hals nach möglichen Spuren von Gewalt absuchte. Doch es waren keine zu sehen, nur unversehrte, makellose Haut.

Lacey sah ihn erwartungsvoll an. Ethan versuchte, ihren Blick zu ignorieren, und tat so, als würde er Danny zuhören, der wortreich von seinem Traum erzählte. Es ging darin um einen Hund, der Frösche aß.

„Ich könnte so lange bleiben, bis Sie jemand anderen gefunden haben“, sagte sie. „Aber nicht länger als zwei Wochen.“

Alle sahen ihn an. Auch Danny war plötzlich verstummt.

Doreen legte die Hand auf Ethans Arm und hinterließ einen Fettfleck auf seinem Hemd, das noch so gut wie neu war. „Bitte, Onkel“, sagte sie.

Wenn er jetzt Nein sagte, würde sie auf der Stelle in Tränen ausbrechen. Und Gumpy wäre beleidigt und würde sich womöglich tagelang in die Berge zurückziehen.

Was zur Folge hätte, dass er sich in einer noch schwierigeren Lage befinden würde als vor vierundzwanzig Stunden.

Ethan schob sich den letzten Bissen Omelett in den Mund, erhob sich dann von seinem Stuhl und ging zur Tür. Dort zog er seine Stiefel, seine Jacke und den Cowboyhut an und wartete, bis er einen Fuß nach draußen gesetzt hatte. „In Ordnung. Meinetwegen.“

Er wandte sich hastig ab und schloss die Tür hinter sich. Er wollte nicht sehen, wie Lacey McCade auf seine Worte reagierte, denn er befürchtete, dass sie ihr strahlendes Lächeln komplett auf ihn richten würde. Und in diesem Fall wäre er verloren.

Vollkommen und unwiderruflich verloren.

Also zog er seinen Hut tiefer in die Stirn und beschleunigte seinen Schritt.

3. KAPITEL

Sie durfte bleiben!

Lacey konnte kaum glauben, wie erleichtert sie war. Wie wundervoll es sich anfühlte, Tausende von Kilometern von allem Vertrauten entfernt zu sein. Als sie heute Morgen aus dem Fenster gesehen hatte, war ihr das angesichts der ländlichen Winterlandschaft klar geworden.

Auch jetzt sah sie wieder nach draußen und genoss den Anblick der alten Scheune, der eingezäunten Weiden mit Pferden und Rindern. In diesem Augenblick tauchte Ethan in ihrem Blickfeld auf, der mit großen Schritten auf die Stallungen zuging. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und trat nach einem Schneeball, der in hohem Bogen davonflog.

Offensichtlich teilte er ihre Begeisterung nicht. Im Gegenteil.

Immerhin freuten sich Danny und Doreen, dass sie blieb. Die beiden saßen am Tisch, während Lacey die Teller abräumte, und zählten atemlos die vielen Dinge auf, die sie ihr in den nächsten Tagen zeigen wollten.

Gumpy betrat die Küche und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. „Danke für das gute Frühstück.“ Er sah aus dem Fenster nach draußen, wo Ethan gerade einen weiteren Schneeball in die Luft kickte. „Er wird sich schon wieder beruhigen.“

„Es ist ja nur für zwei Wochen.“ Sie stellte einen Stapel Teller in die Spüle und dachte an den Zeitplan, den sie sich selbst gesteckt hatte. Zwei Wochen. Danach würde sie nach Hause fliegen, die Hochzeit komplett absagen und versuchen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Oder das, was davon übrig war.

Wenn sie schon heute zurückflog, jetzt gleich, würde sie in der Lage sein, noch einiges zu retten. Doch sie schob den Gedanken sofort wieder beiseite. Sie hatte gesagt, sie würde bleiben, und sie wurde hier gebraucht. Ob der Griesgram da draußen das wahrhaben wollte oder nicht.

Und was den Griesgram selbst anging … sie war fest entschlossen, nicht an ihn zu denken. Oder an das merkwürdige Gefühl, das sie überkam, wenn sie in seiner Nähe war. Sie fühlte sich dann nicht wie eine erfahrene Anwältin, sondern wie ein Schulmädchen, das sich in den Kapitän des Football-Teams verliebt hat. Um ein Haar hätte sie vorhin das Omelett auf seinen Schoß fallen lassen, als sie beim Servieren zufällig seine Hand berührte.

Wenn sie zu lange hierblieb, würde sie sich dem pochenden Gefühl in ihrem Unterleib stellen müssen, das in dem Moment begonnen hatte, als sie den schlafenden Cowboy auf der Couch gesehen hatte. Es war eine Mischung aus Schmerz und Verlangen. Aber was konnte in zwei Wochen schon passieren?

Nein, sie würde einfach nur helfen, ihm die beiden Kinder vom Leib zu halten, die den harten Cowboy offensichtlich mühelos um ihre kleinen Finger wickeln konnten. Und er würde ihr helfen, indem er ihr Zuflucht vor ihrem eigenen Leben gewährte, lange genug, bis sie herausfinden konnte, welcher unbekannte Instinkt sie dazu gebracht hatte, alle Verantwortung über Bord zu werfen und kurz entschlossen an Bord eines Flugzeugs nach Kanada zu steigen.

„Backen wir jetzt Kekse?“, erkundigte sich Doreen.

„Zuerst müssen wir das Geschirr spülen“, erklärte Lacey. „Schiebt euch zwei Stühle hierher, dann könnt ihr mir dabei helfen.“

„Wirklich?“, fragten die beiden mit großen Augen.

Mit einem Schmunzeln auf den Lippen verließ Gumpy den Raum. „Bis später“, sagte er und fügte dann nach kurzem Überlegen hinzu: „Machen Sie zum Mittagessen am besten etwas mit Fleisch, dann wird seine Laune gleich steigen.“

Sie nickte. „Und sein Cholesterinspiegel. Aber trotzdem danke für den Tipp.“

Danny und Doreen standen auf zwei Stühlen und trockneten gewissenhaft jeden Tropfen von den Tellern, die Lacey ihnen reichte, als Ethan wieder erschien. Lacey hatte bereits einen Blick in sämtliche Schränke geworfen und eine Einkaufsliste mit den wichtigsten Zutaten zusammengestellt, die sie zum Kochen brauchen würde.

Der Cowboy hatte sie angestellt, und sie wollte, dass er zufrieden mit ihrer Arbeit war. Außerdem wollte sie ihm beweisen, dass sie zu mehr in der Lage war, als den passenden Nagellack zu ihrem Outfit zu wählen.

Er putzte sich die Stiefel an der Tür ab, bevor er in die Küche trat.

„Sie können die Schuhe anbehalten, ich habe den Boden noch nicht gewischt“, sagte sie mit dem Rücken zu ihm, während sie einen weiteren Schrank nach Lebensmitteln durchsuchte.

Ethan runzelte die Stirn. Er konnte in seinem eigenen Haus doch wohl die Stiefel anbehalten, solange es ihm gefiel. Oder etwa nicht?

„Schau mal, Onkel“, rief Doreen und hielt stolz ihren Teller hoch. „Danny und ich helfen.“

Überrascht strich er seiner Nichte mit einer behandschuhten Hand über den Kopf. „Das macht ihr großartig, Schätzchen.“

Damit drehte er sich um und konnte daher nicht das strahlende Lächeln sehen, welches das Gesicht des kleinen Mädchens zum Leuchten brachte. Er öffnete den Kühlschrank und zog einen seiner Handschuhe mit den Zähnen aus.

Dann entnahm er dem Kühlschrank eine kleine Flasche mit einer weißen Flüssigkeit, zog den zweiten Handschuh aus und steckte beide in die hinteren Taschen seiner Jeans.

Das war auch der einzige Grund, aus dem Lacey auf die Rückseite seiner Jeans aufmerksam wurde. Zumindest redete sie sich das ein. Sie starrte so lange auf das Hinterteil des Cowboys, bis sie das Gefühl hatte, er müsse ihren Blick spüren.

Also wandte sie ihre Aufmerksamkeit seinen Händen zu, mit denen er eine große Spritze aus seiner Hemdtasche nahm. Er entfernte die Schutzkappe mit den Zähnen, schüttelte die Flasche und drehte sie dann auf den Kopf, bevor er mit der Nadel in den Verschluss stach. Langsam zog er die Spritze auf.

„Ich hoffe, die ist nicht für uns“, scherzte Lacey, die insgeheim beeindruckt war, mit welchem Geschick er die Spritze benutzte. Gestern noch ein Klempner, heute ein Arzt.

Er sah auf. „Nun, mir war so, als hätte ich Sie heute Morgen husten hören.“ Sein Gesicht blieb dabei regungslos, doch sie konnte ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen ausmachen.

Auf einmal war er ein ganz anderer Mensch. Einen erstaunlichen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, ihn so zu sehen, wie er wirklich war. Ein Mann mit Tiefsinn, voller Humor und Lebensfreude.

Sie wandte sich wieder dem Inhalt des Schrankes zu und studierte die Aufschrift auf den Konserven, als würde ihr Leben davon abhängen. Die Kinder kreischten währenddessen vor Vergnügen.

„Lacey bekommt eine Spritze! Lacey bekommt eine Spritze!“

„Nein, Lacey bekommt keine Spritze“, informierte sie die Kinder leichthin.

Sie dachte daran, wie er sie angesehen hatte. Hatte er seiner Stimme mit Absicht einen so sinnlichen Tonfall gegeben, oder war das einfach die Art, wie ein Cowboy sprach?

Gott sei Dank war das Lächeln nur ganz kurz in seinen Augen aufgeflackert und hatte nicht seine Lippen erreicht. Denn Lacey ahnte: Wenn er sie einmal anlächeln sollte, war es um sie geschehen. Für immer.

Sie schloss die Schranktür und fügte ihrer Einkaufsliste einen weiteren Posten hinzu. Dabei drehte sie dem sexy Cowboy den Rücken zu, um zu verhindern, dass ihre Blicke sich ein weiteres Mal trafen. Dann ging sie ans andere Ende der Küche, öffnete die Tiefkühltruhe und inspizierte den Inhalt.

„Bekommt Lacey eine Spritze?“, wandte Danny sich an seinen Onkel.

„Nein“, sagte Ethan, der die Flasche zurück in den Kühlschrank stellte und die Tür schloss. „Eine der Kühe ist krank.“

„Welche denn?“, fragte Doreen.

„Nummer 131. Ich glaube nicht, dass ihr sie kennt.“

Lacey, die den Inhalt der Tiefkühltruhe so gewissenhaft untersuchte, dass sie befürchtete, ihre Finger müssten bald erfrieren, war beeindruckt von der Geduld, mit der Ethan die Fragen der Kinder beantwortete.

„Ist sie braun?“, wollte Danny wissen.

„Ja. Braun und weiß.“

Als Lacey aus dem Fenster gesehen hatte, war ihr aufgefallen, dass die gesamte Herde braun-weiß gemustert war.

„Ist sie groß?“, fragte Doreen.

„Ja.“

„Ist sie dick?“, erkundigte sich Danny.

„Ja, das ist sie.“

„Wird sie sterben?“ Doreen sah ihren Onkel mit großen Augen an.

„Ich werde alles tun, damit sie nicht stirbt.“

„Wird sie weinen, wenn du ihr die Spritze gibst?“

„Sie wird es kaum spüren. Das verspreche ich euch.“

Ethan bewegte sich langsam auf die Tür zu, um dem Kreuzfeuer der Zwillinge zu entkommen.

„Ist die Kuh …“

„Doreen“, unterbrach Lacey die Kleine, „dein Onkel muss sich jetzt um das kranke Tier kümmern. Du kannst ihm deine restlichen Fragen später beim Mittagessen stellen.“

Auf einmal wurde ihr bewusst, dass Ethan hinter ihr stand. Er war nicht zur Tür hinausgegangen, sondern hatte sich ihr von hinten genähert. Lacey wirbelte herum. Er war gerade dabei, sich in aller Ruhe einen seiner Handschuhe anzuziehen.

„Ich werde Gumpy bitten, Ihnen ein paar seiner Hemden und Hosen zu bringen. Meine würden Ihnen wohl kaum passen.“ Sein Blick wanderte gemächlich über ihren Körper, und Lacey bereute es auf einmal, sich in seiner Anwesenheit über die Tiefkühltruhe gebeugt zu haben.

Umständlich glättete sie den Saum ihres Rockes und verschränkte dann die Arme vor der Brust.

„Apropos Fragen, ich habe auch eine an Sie: Was hat sie dazu gebracht, zu Gumpy ins Auto zu steigen?“ Seine Stimme war tief und sanft. „Hat Ihre Mutter Ihnen nicht beigebracht, dass man nicht mit Fremden mitfahren darf?“

Er trat einen weiteren Schritt auf sie zu. Seine Augen studierten ihr Gesicht, ihre Haare und schließlich ihren Mund.

Dannys und Doreens Stimmen schienen immer leiser zu werden. Die ganze Welt trat in den Hintergrund, und es gab nur noch ihn. Seinen Cowboyhut, die breiten Schultern unter der abgewetzten Jacke, die langen, muskulösen Beine in der abgetragenen Jeans.

Seine Augen. Seine Lippen. Sein Duft. Ethan war ihr so nahe, dass sie ihn riechen konnte, und er roch wunderbar. Nach Leder und frischer Landluft. Nicht nach Rasierwasser, sondern nur nach Mann.

Unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück und stieß an die Kühltruhe.

„Was haben Sie?“, fragte er amüsiert. „Sie haben doch keine Angst vor mir, oder? Sie sind doch ein großes Mädchen.“

Er kam noch näher, und seine Augen funkelten.

Lacey reckte angriffslustig ihr Kinn. „Wollen Sie mir etwa Angst machen?“ Ihr Herz klopfte wie wild und pochte sogar noch schneller, als seine grauen Augen erneut auf ihren Lippen ruhten.

Gleich wird er mich küssen, dachte sie.

Im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich Angst haben müsste.

Aber sie hatte keine Angst.

Im Gegenteil.

Sie fragte sich, wie seine Lippen wohl schmecken würden. Wie sie sich anfühlen würden.

Ethan beugte sich zu ihr vor. „Wenn ich Ihnen Angst machen wollte …“

Lacey schloss die Augen und hielt den Atem an.

„… dann müsste ich nur diese Tür dort öffnen.“

Sie öffnete die Augen und sah, wie er mit seinem Kopf auf eine Tür zu ihrer Linken wies. Ratlos blickte Lacey von der Tür zu ihm. Er war wieder zurückgetreten und zog sich gerade den anderen Handschuh an.

„Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet“, erinnerte er sie. „Was wollen Sie hier? Wovor laufen Sie davon?“

Natürlich war ihm klar, dass sie vor etwas davongelaufen war. Eine Frau, die sich am Flughafen von einem Fremden mitnehmen ließ und die nicht ein einziges Gepäckstück bei sich hatte – da konnte doch etwas nicht stimmen.

„Mir ist auf einmal alles in meinem Leben zu viel geworden. Ich musste dringend weg und Abstand bekommen. Um über alles nachzudenken.“

Er betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen.

Offensichtlich war er ein Mann, der noch nie vor etwas davongelaufen war, doch er nickte nachdenklich, und sie hatte das Gefühl, dass er ihr glaubte. Wenn auch widerwillig.

„Ein Mann“, stellte er nüchtern fest.

„Zum Teil“, antwortete sie und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass das stimmte. Es wäre einfacher gewesen, wenn sie Keith allein für die Situation hätte verantwortlich machen können. Aber das Problem lag nur zu zehn Prozent bei Keith und zu neunzig Prozent bei Lacey.

„Hat er Sie geschlagen?“ Sein Tonfall war beiläufig, doch in seinen Augen stand ein Ausdruck, bei dem es ihr kalt den Rücken herunterlief.

Warum interessierte ihn das überhaupt? Er kannte sie doch gar nicht, da konnte es ihm doch egal sein, was für Probleme sie hatte.

Aber es war ihm nicht egal. Obwohl es vermutlich gar nichts mit ihr zu tun hatte. Wahrscheinlich verstieß Gewalt gegen Frauen einfach nur gegen seine Cowboy-Moral.

„Nein, er hat mich nicht geschlagen.“

„Gut.“ Seine Miene entspannte sich wieder. „Woher kommen Sie?“

„Los Angeles.“

Sein attraktives Gesicht zeigte keine Spur von Überraschung, als er sagte: „Da sind Sie ja ganz schön weit davongelaufen. Was machen Sie beruflich?“

„Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich kein Kindermädchen bin?“

„Ach, hören Sie doch auf.“

Lacey lief ein weiterer Schauer über den Rücken. „Ich arbeite in einer Anwaltskanzlei.“

„Sie bleiben nur so lange, bis ich jemand anders gefunden habe. Und das auch nur, weil Gumpy sonst keine Ruhe gibt.“ Damit drehte er sich um.

„Onkel?“, rief Doreen.

„Ja, Schätzchen?“ Mit einer Hand berührte er bereits die Türklinke.

„Ich mag Lacey. Du auch?“

„Na ja. Keine Ahnung.“ Damit schloss er die Tür hinter sich, ein wenig fester als unbedingt notwendig.

„Ich glaube, Onkel Ethan mag dich nicht“, stellte das Mädchen mit besorgter Miene fest.

„Vielleicht braucht dein Onkel einfach etwas länger, um jemanden zu mögen.“

„Oh nein! Mich und Danny hat er von Anfang an gemocht!“

Lacey lächelte. Kinder hatten die Fähigkeit, anderen Menschen direkt ins Herz zu sehen. Sie blickten unter die vielen Schichten, hinter denen Erwachsene ihre Gefühle verbargen. Wahrscheinlich hatten Doreen und Danny von Anfang an gewusst, was für ein Mensch ihr Onkel Ethan war, während Lacey nur ab und zu einen kurzen Einblick in seine Persönlichkeit erhielt, so wie vorhin, als sie das Lächeln in seinen Augen erblickt hatte. Eines war in jedem Fall sicher: Die Zwillinge ließen sich von ihrem griesgrämigen Onkel in keiner Weise einschüchtern.

„Vielleicht mag dein Onkel manche Menschen von Anfang an, und andere müssen ihm erst langsam ans Herz wachsen.“

„Ihm ans Herz wachsen?“, wiederholte Danny verständnislos. „Wie geht das denn?“

„Sie legt sich auf ihn, wir schütten Erde auf die beiden und gießen sie dann mit Wasser“, erklärte seine Schwester ihm.

Bei dem Gedanken, sich auf Ethan zu legen, wurde Laceys Mund ganz trocken, und ihre Wangen begannen zu brennen. Als ob sie auch nur die geringste Ahnung von solchen Dingen hätte! Manchmal fragte sie sich, ob sie mit ihren dreißig Jahren die älteste Jungfrau der Welt war.

Es war nicht unbedingt ihr Ehrgeiz, es auf diese Weise ins Guinnessbuch der Rekorde zu bringen.

„Ich meine damit, dass er sich erst an mich gewöhnen muss“, erklärte sie den Kindern.

Doreen musterte sie kritisch. „Vielleicht mag er einfach nur kein Rosa.“

„Da hast du ganz bestimmt recht“, stimmte Lacey ihr zu. Und obwohl sie sich ermahnte, es nicht zu tun, lotste der rebellische Geist, der sie dazu gebracht hatte, an Bord dieses Flugzeugs zu gehen, sie zur Hintertür, um durch das kleine Fenster, das in ihr eingelassen war, hinauszusehen.

Zur Strafe trat sie mit ihren Socken in eine kleine Pfütze, die Ethans Stiefel hinterlassen hatten.

Draußen stand ein Pferd, das gezäumt und gesattelt am Ende des Weges wartete. Schweif und Mähne waren schwarz, doch sein Fell war dunkelbraun und glänzend wie das eines Bibers.

Ethan stand vor dem Pferd, mit dem Rücken zum Haus. Das Pferd kaute etwas, und Lacey erkannte, dass er einen Apfel aus der Küche mitgenommen haben musste. Er hatte ihn wahrscheinlich in eine seiner Hemdtaschen gesteckt. Weil seine Hände voll waren? Oder damit sie, Lacey, es nicht sehen konnte?

Und auf die Idee kommen könnte, dass sich unter seiner rauen Schale ein weicher Kern verbarg.

In diesem Augenblick drehte er sich um, sah sie am Fenster stehen und erstarrte.

Eine Weile blickten sie sich stumm an.

Dann schwang er sich auf das Pferd und galoppierte davon.

Lacey blieb so lange am Fenster stehen, bis er außer Sichtweite war.

Ihn auf dem Rücken des Pferdes zu sehen, verriet so viel über ihn. Über seine Stärke. Über seinen freien Geist. Sie seufzte und kam sich wie eine Närrin vor. Der Mann war wahrlich kein romantischer Held.

Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er angewidert das Gesicht verziehen würde, wenn er das Wort „Romantik“ auch nur hörte.

Entschlossen, sich die ganze Angelegenheit aus dem Kopf zu schlagen, ging sie wieder in die Küche.

„Backen wir jetzt Kekse?“

„Ja. Sofort. Ich muss nur noch einen kurzen Blick hier hineinwerfen.“ Lacey atmete tief durch und trat dann auf die Tür zu, vor der er sie gewarnt hatte. Was auch immer sich dahinter verbarg, sollte ihr offensichtlich Angst machen. Was konnte es nur sein?

Sie hatte fast gehofft, dass die Tür verschlossen sein würde, doch sie ließ sich mit einem leisen Knarren öffnen.

Ein Skelett?

Ein totes Tier?

Ängstlich warf sie einen Blick durch den Türschlitz und lachte dann laut auf.

Der gesamte Boden des Raums war mit schmutziger Wäsche bedeckt. Unter einem besonders hohen Berg von Decken und Handtüchern konnte Lacey gerade noch die Umrisse einer Waschmaschine ausmachen.

Ethan wusste, dass Lacey ihm vom Haus aus zusah, und gab seinem Pferd die Sporen, obwohl der Boden dafür eigentlich zu glatt war.

Nun, es war nicht das erste Mal, dass ein Mann etwas Unvernünftiges tat, weil er von einer schönen Frau beobachtet wurde.

Nur dass es sich bei diesem Mann normalerweise nicht um Ethan handelte.

Wahrscheinlich hatte er es in den letzten Jahren wirklich mit seinem zurückgezogenen Leben übertrieben. Gumpy hatte ihn immer wieder ermahnt, ab und zu einmal die Ranch zu verlassen und sich unter Menschen zu begeben.

Aber Ethan hatte sich auf der Ranch am wohlsten gefühlt. Die harte Arbeit, die frische Luft. Die Pferde, das Rindvieh. Dieses Stück Land und das Leben, das er hier führte, gaben ihm ein Gefühl der Sicherheit und bekämpften seine innere Ruhelosigkeit, die sich zuvor durch nichts hatte im Zaum halten lassen.

Eine Zeit lang hatte er nur für den Nervenkitzel gelebt. Sein Ehrgeiz und die Anerkennung, die er beim Rodeo erhielt, hatten ihn zu immer neuen Herausforderungen ermuntert. Bis er seinen besten Freund hatte beerdigen müssen und gezwungen gewesen war, einen Blick in seine eigene Seele zu werfen. Unzufrieden mit dem, was er dort gesehen hatte, war er zu seiner Ranch zurückgekehrt und hatte sich hier vor dem Rest der Welt abgeschottet.

Wenn er sich heute anschaute, wovon andere Männer träumten, konnte er sie nicht verstehen. Schnelle Autos. Geld. Häuser und Reisen. Dieser kleine Fleck Erde, den Ethan bewirtschaftete, bot ihm alles, was er brauchte. Und alles, was er sich wünschte.

Bis gestern Nacht.

Autor

Ellen James
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Cara Colter

Cara Colter hat Journalismus studiert und lebt in Britisch Columbia, im Westen Kanadas. Sie und ihr Ehemann Rob teilen ihr ausgedehntes Grundstück mit elf Pferden. Sie haben drei erwachsene Kinder und einen Enkel.
Cara Colter liest und gärtnert gern, aber am liebsten erkundet die begeisterte Reiterin auf ihrer gescheckten Stute...

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Jessica Hart

Bisher hat die britische Autorin Jessica Hart insgesamt 60 Romances veröffentlicht. Mit ihren romantischen Romanen gewann sie bereits den US-amerikanischen RITA Award sowie in Großbritannien den RoNa Award.

Ihren Abschluss in Französisch machte sie an der University of Edinburgh in Schottland. Seitdem reiste sie durch zahlreiche Länder, da...

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