Romana Exklusiv Band 333

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  • Erscheinungstag 05.03.2021
  • Bandnummer 333
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503167
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Helen Brooks, Jessica Steele, Marion Lennox

ROMANA EXKLUSIV BAND 333

1. KAPITEL

„Guten Tag, Miss Kerri. Zu Beginn unseres Gesprächs möchte ich Ihnen dieselbe Frage stellen wie den anderen sechs Bewerberinnen vor Ihnen auch. Wieso glauben Sie, für die Stellung, die ich zu vergeben habe, besonders geeignet zu sein?“

Trotz ihrer Nervosität blieb Liza überrascht mitten in dem großen Hotelzimmer stehen und sah auf den Mann, der in einem Drehsessel saß und ihr den Rücken zuwandte.

„Nun?“ Die tiefe, sonore Stimme klang auf arrogante Weise geduldig, doch Liza hatte ein feines Gehör. Der leichte Anflug von Gereiztheit entging ihr nicht. Zornesröte stieg ihr in die Wangen.

Was für ein unverschämter Kerl! Konnte er sich nicht umdrehen und sie ansehen, wenn er mit ihr sprach? Während sie im Unterbewusstsein die elegante Ausstattung des Zimmers registrierte, suchte Liza nach einer passenden Antwort. Sie brauchte diesen Job zwar, aber so dringend nun auch wieder nicht. „Ich käme nie auf die Idee, Ihr Urteil über mich durch eine eigene Beschreibung meiner Fähigkeiten beeinflussen zu wollen, Señor de Rojas“, erwiderte sie kühl und beherrscht. „Ich denke, meine Unterlagen liegen Ihnen vor. Wenn Sie alles Weitere bitte daraus entnehmen wollen. Es reicht mir völlig aus, meine Zeugnisse für mich sprechen zu lassen.“

Eine Weile herrschte Stille im Raum. Dann drehte sich der Mann so um, dass Liza sein Profil sehen konnte. „Und wenn mir das nicht ausreicht?“

Sie hob den Kopf. „Ich bin natürlich gern bereit, Ihre Fragen zu den Punkten zu beantworten, über die Sie sich nicht ganz im Klaren sind.“ Das war ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass sie nicht gewillt war, sich von ihm einschüchtern zu lassen.

Liza sah, wie er die breiten Schultern straffte. Das war es dann wohl, sie hatte die Sache endgültig verpatzt. Nun, daran war sie selbst schuld. Die Agentur hatte sie vorgewarnt, er sei ein äußerst schwieriger Kunde, bei dem Vorstellungsgespräche eher Ähnlichkeit mit einem Verhör hatten. Die Agentur Swifte hatte einen ausgezeichneten Ruf. Sie vermittelte nur hoch qualifizierte Nachhilfelehrer und Gesellschafter. Es war noch nie vorgekommen, dass eine ihrer Lehrkräfte abgelehnt worden war. Dieser Mann hingegen hatte bereits sechs Bewerberinnen abgelehnt.

„Ich verstehe.“ Seiner dunklen Stimme war keinerlei Emotion anzumerken, und noch immer sah er Liza nicht direkt an. „Der Ball ist also wieder bei mir gelandet.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Mit solch einer Antwort hatte sie nicht gerechnet. Sie wusste nicht genau, was sie darauf sagen sollte. Abgesehen davon, war es nicht gerade angenehm, dass er an einem großen Schreibtisch im Halbschatten saß, während sie im hellen Schein der Deckenlampe stand. Sie hätte nach dem Eintreten ins Zimmer sofort geradewegs zum Schreibtisch gehen sollen, dann wäre sie wenigstens in der Lage gewesen, den Mann zu sehen, mit dem sie sprach. In ihrer jetzigen Position befand sie sich eindeutig im Nachteil.

„Würden Sie bitte Platz nehmen?“ Es war, als habe er ihre Gedanken gelesen.

Liza nickte und ließ sich ihm gegenüber im Sessel nieder. Aus der Nähe musste sie feststellen, dass sein Profil faszinierend war. Er hatte eine kühne, markante Nase, seine Haut war gebräunt und sein Haar pechschwarz.

„Also gut.“ Er wandte ihr ganz langsam das Gesicht zu, und Liza bemerkte erschrocken die lange helle Narbe, die sich von seinem linken Auge bis hinab zu seinem Kinn zog. Bei jedem anderen hätte sie entstellend wirken können, doch diesem dunklen attraktiven Gesicht verlieh sie einen verwegenen, beinahe piratenhaften Touch, der unbestreitbar sinnlich wirkte. Liza stockte der Atem. Sie sah den Mann aus großen grauen Augen verwirrt an.

„Stört es Sie, Miss Kerri?“ Flüchtig berührte er die Narbe, ohne den Blick von Liza zu wenden. Sie begriff, dass sein bisheriges Verhalten nur auf diesen Moment ausgerichtet gewesen und dass seine Geste nicht instinktiv, sondern durchaus kalkuliert war. Er musste einen furchtbaren Unfall gehabt haben, und aus Gründen, die nur ihm bekannt waren, wollte er jetzt ihre Reaktion auf seine Verletzung testen.

Liza atmete tief durch und hielt seinem Blick unbeirrt stand. „Nein, Señor de Rojas, es stört mich nicht. Meiner Meinung nach sind es im Allgemeinen die unsichtbaren Narben, die wesentlich schlimmer sind. Körperliche Verletzungen sind etwas, wogegen wir alle nicht gefeit sind. Sie gehören leider zum Leben, und dementsprechend muss man sich damit abfinden.“

Er musterte ihr klares, offenes Gesicht nachdenklich. Hoffentlich hatte sie nicht zu gleichgültig geklungen; das war nicht ihre Absicht gewesen. Die natürliche Reaktion auf seine Narbe hätte Mitleid sein müssen, aber irgendwie war das das Letzte, woran sie gedacht hätte. Das war kein Mann, der Mitleid in einem auslöste, eher …

Die tiefe Stimme riss sie aus ihren Grübeleien. „Was wissen Sie über die Stellung, um die Sie sich bewerben?“ Sein Englisch war sehr korrekt, beinahe zu korrekt, dennoch ahnte Liza, dass sie den ersten Test bestanden hatte.

Sie versuchte, sich ganz auf das Gespräch zu konzentrieren. Wenn sie diesen Job wollte, worüber sie sich plötzlich gar nicht mehr so sicher war, musste sie sehr beherrscht wirken und sich klar und gewählt ausdrücken. Sie wusste instinktiv, dass dieser Mann Unbeholfenheit und Dummheit nicht ertragen konnte. „Nur sehr wenig.“ Sie räusperte sich. „Ich war … im Urlaub und bin erst gestern nach London zurückgekehrt. Die Agentur rief mich heute Morgen um zehn an und informierte mich nur über das Nötigste.“ Falls ihm ihr kurzes Zögern aufgefallen war, so ließ er sich zumindest nichts anmerken. „Man teilte mir mit, Sie suchten für die nächsten zwölf Monate einen Nachhilfelehrer und Gesellschafter für Ihren Neffen, bis er so weit ist, hier eine Privatschule besuchen zu können. Ich weiß, dass ich dazu in Mexiko werde leben müssen. Man sagte mir aber auch, ich könnte jederzeit, wenn die Umstände es erforderlich machen sollten, nach England zurückkehren.“

„Sí.“ Er schien sich seine nächsten Worte sorgfältig zu überlegen. „Aber natürlich ist das längst nicht alles, wie Sie sich denken können. Möchten Sie das Gespräch fortsetzen?“

Liza hob überrascht den Kopf. Um de Rojas’ Mund spielte ein flüchtiges Lächeln. „Natürlich“, erwiderte sie ruhig.

„Ich habe den Eindruck, Sie sind etwas … besorgt, Miss Kerri?“

„Es wäre unklug von mir, mich Hals über Kopf in eine neue Situation zu stürzen“, erwiderte sie. „Ich möchte gern erst Aufschluss darüber gewinnen, was genau von mir erwartet wird.“

„Gut.“ Beiden war klar, dass Liza seine hintersinnige Frage geschickt umgangen hatte. „Ich schätze Unüberlegtheit nicht, aber meiner Erfahrung nach neigen Engländer generell nicht so leicht dazu.“ Sein Blick streifte ihr hellblondes Haar und ihr zartes Gesicht, und mit einmal glaubte Liza, in seinen grünen Augen einen beunruhigenden, fast Unheil verkündenden Ausdruck wahrzunehmen. Doch sie verdrängte den Gedanken, als er sich in seinem Sessel zurücklehnte und weitersprach.

„Mein Neffe ist neun Jahre alt, Miss Kerri, und er leidet unter einer gewissen … seelischen Erregtheit. Seine Eltern kamen vor knapp zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Er war damals dabei. Eine äußerst unangenehme Geschichte.“ Seine Stimme klang so kühl und gefühllos, als habe er zu alldem gar keinen Bezug. „Wir dachten, dies würde sich mit der Zeit geben, aber dem scheint nicht so zu sein. Da er in etwa einem Jahr in England zur Schule gehen soll, halte ich einen Nachhilfelehrer in Englisch für unbedingt nötig. Nach dem Unfall war er einige Zeit im Krankenhaus. Bei seiner Rückkehr hatte er Schwierigkeiten, sich an die veränderten Umstände zu gewöhnen. Sein Benehmen lässt manchmal stark zu wünschen übrig.“

Zorn flammte in Liza auf. Wie konnte der Mann nur so herzlos sein! Er sprach von seinem Neffen, als sei der ein Möbelstück, für das er sündhaft viel Geld ausgegeben und das sich dann als fehlerhaft herausgestellt hatte. „Wie bedauerlich.“ Bei dem sarkastischen Unterton in ihrer sanften Stimme hob er abrupt den Kopf. Sie hielt seinem prüfenden Blick unschuldsvoll stand, bis er wieder auf die Papiere auf dem Schreibtisch sah. Offenbar war er sich nicht ganz im Klaren, ob sie ihn hatte kritisieren wollen oder nicht.

„Ja.“ Er nahm einen maschinebeschriebenen Bogen zur Hand, und Liza erkannte, dass es sich dabei um die Aufzählung ihrer bisherigen Tätigkeiten handelte. „Wie ich sehe, war das letzte Kind, das Sie über einen längeren Zeitraum hinweg unterrichtet haben, behindert?“

„Ja.“ Liza versuchte, ganz ruhig und sachlich zu sprechen, obwohl ihre Kehle plötzlich wie zugeschnürt war. Sie schaffte es noch nicht, Fragen über Samantha zu ertragen. Die Wunde war noch zu frisch.

„Sie haben die Stellung dort aufgegeben, weil …?“ Er verstummte, um sie antworten zu lassen.

Liza befeuchtete nervös die trockenen Lippen und merkte, dass ihm auch diese kleine Geste nicht entging. „Das kleine Mädchen starb.“ Sie war froh, dass sie den Satz mit fester Stimme hervorbringen konnte.

„Das hätte hier doch vermerkt werden müssen.“ Er schüttelte den Kopf. „Bitte verzeihen Sie vielmals, Miss Kerri, darüber hat man mich nicht informiert. Ich möchte Sie nicht mit schmerzlichen Fragen quälen, aber …?“

„Schon gut.“ Sie senkte den Kopf und stellte erst jetzt fest, dass sie die Fäuste in ihrem Schoß krampfhaft geballt hielt. Sie zwang sich, sich zu entspannen, streckte die Finger, atmete tief durch und sah auf. „Sie war unheilbar krank. Es war unvermeidlich.“

„Das ist kein Trost, wenn es dann tatsächlich zum Schlimmsten kommt.“ Er drehte sich mit seinem Sessel herum und wandte ihr wieder den Rücken zu. Eine Weile herrschte angespanntes Schweigen. Im Zimmer war es unerträglich heiß. Liza fühlte sich plötzlich etwas schwindelig. Sie hätte etwas zu Mittag essen sollen, sich notfalls dazu zwingen müssen. Aber sie hatte kaum etwas heruntergebracht in jenen letzten neun Wochen nach Samanthas Tod. „Haben Sie Erfahrung mit schwierigen Kindern?“

„Entschuldigung, wie bitte?“ Sie sah benommen auf und merkte, dass er sich wieder zu ihr umgedreht hatte.

„Ich meine, Ihre letzte Stellung war doch bestimmt nicht immer ganz einfach. Sicher war das Kind auch ab und zu schwierig?“

„Samantha war wunderbar.“ Liza hatte das Gefühl, Señor de Rojas jetzt aus großer Entfernung zu sehen. Sein dunkles Gesicht verschwamm leicht vor ihren Augen. „Aber vorher hatte ich einen kleinen Jungen mit Lernschwierigkeiten, der konnte bisweilen sehr anstrengend sein.“

„Miss Kerri, fühlen Sie sich nicht wohl?“ Das Dröhnen in ihren Ohren schien seine Stimme zu übertönen, und als sie ihm antworten wollte, brachte sie kein Wort heraus. Liza nahm gerade noch eine rasche Bewegung hinter dem Schreibtisch wahr, dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Als Liza wieder zu sich kam, lag sie auf einem Sofa. Irgendetwas vor ihrer Nase roch widerlich. Sie drehte ruckartig den Kopf zur Seite und streckte abwehrend die Hand aus. Der Geruch verschwand, und allmählich konnte sie wieder klar sehen. Señor de Rojas kniete neben ihr und stützte ihren Kopf, während ein Zimmermädchen sich mit einer kleinen Flasche in der Hand über sie beugte. „Das ist nur Riechsalz, Miss“, erklärte das junge Mädchen. „Señor de Rojas hat geläutet, als Sie ohnmächtig wurden.“

„Es tut mir so leid.“ Brennende Röte stieg ihr in die blassen Wangen. Liza versuchte, sich aufzusetzen. Ihr war noch immer leicht schwindelig, und ihre Beine fühlten sich seltsam schwach an. „So etwas ist mir noch nie passiert.“

Er stand auf. Seine Miene war kühl und distanziert. „Haben Sie heute schon etwas gegessen?“

„Wie bitte?“ Liza sah ihn verwirrt an.

„Sie sind entsetzlich dünn. Ich hatte das Gefühl, ein Kind auf meinen Armen zu tragen.“

Als ihr die ganze Bedeutung seiner ruhig gesprochenen Worte aufging, wurde Liza sehr verlegen. Er hatte sie getragen, als sie ohnmächtig gewesen war! Diese Vorstellung hatte etwas fast … Anstößiges, obwohl sie nicht sagen konnte, weshalb.

„Nun? Haben Sie schon gegessen?“, wiederholte er.

Liza schüttelte den Kopf. „Ich hatte keinen Hunger und außerdem keine Zeit.“

„Unsinn. Geraldine, bringen Sie den Tee heute bitte früher. Und zwei Gedecke, ja? Gracias.

Das Zimmermädchen zog sich zurück. Liza strich sich kurz übers Haar und glättend über das hellgraue Kostüm. „Señor de Rojas, bemühen Sie sich nicht. Das ist wirklich nicht nötig. Sie waren sehr freundlich und …“

„Sie sind hier zu einem Vorstellungsgespräch, oder?“ Das gut aussehende Gesicht war auf einmal ganz nahe. Liza hielt den Atem an, als sie ihm in die Augen sah. Trotz der Narbe war er in der Tat der faszinierendste, bestaussehende Mann, dem sie je begegnet war. Durch den dunklen Teint wirkten die grünen Augen noch heller, als sie von Natur aus waren. Sein glattes schwarzes Haar war relativ lang und reichte ihm bis in den Nacken. Obwohl er sehr schlank war, zeugten seine breiten Schultern von beträchtlicher Kraft. Er war groß. Liza schätzte ihn auf mindestens einsfünfundachtzig. Plötzlich nahm sie den amüsierten Ausdruck in seinen grünen Augen wahr. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn ziemlich unverhohlen gemustert hatte.

„Entschuldigung.“

„Mir ist bereits aufgefallen, dass Engländer sich ständig entschuldigen, auch wenn gar kein Grund dazu besteht.“

„Sehen Sie, Señor de Rojas, ich …“

„Jay.“

„Verzeihung?“ Das Wort rutschte ihr einfach so heraus, und leicht verärgert registrierte Liza sein spöttisches Lächeln.

„Ich heiße Jay“, sagte er ruhig. „Wenn wir gleich Tee miteinander trinken, halte ich es für wesentlich angenehmer, wenn wir uns nicht ganz so förmlich geben.“ Seine Stimme klang kühl, als habe er eine Anordnung erteilt, der sie sich gefälligst zu fügen hatte. „Ihr Name ist Liza?“ Sie hatte ihren Namen immer für langweilig gehalten. Doch so wie er ihn aussprach, mit seinem harten Akzent, fand sie ihn plötzlich sehr interessant.

„Ja, aber …“

Es klopfte an der Tür, und das Zimmermädchen trat strahlend ein. Sie rollte den Teewagen zum Couchtisch und deckte auf. „Soll ich den Tee einschenken, Sir?“

„Nein, vielen Dank, Geraldine.“ Er entließ das Mädchen mit einem Lächeln, woraufhin es prompt errötete und verschwand.

Der Tisch bog sich förmlich unter all den vielen Köstlichkeiten. Es gab appetitlich aussehende Canapés, Cremeschnittchen, Weißbrot, mehrere Sorten Marmelade und Obstkuchen, dazu eine Kanne mit Kaffee und eine mit Tee.

„Kaffee oder Tee?“ Jay de Rojas kniete sich neben den niedrigen Tisch, und plötzlich konnte Liza nicht den Blick von seinen Oberschenkeln wenden, über deren Muskeln sich bei dieser Bewegung der Stoff der Hose spannte.

„Lassen Sie, das kann ich doch …“

Er fiel ihr kühl und bestimmt ins Wort. „Setzen Sie sich bitte ganz ruhig hin, Liza. Mir wäre es lieber, wenn Sie versuchten, sich etwas zu entspannen. Also, Kaffee oder Tee? Und was möchten Sie essen?“

Sie antwortete leise. Beherrschende Männer hatte sie noch nie gemocht. Sie fand, diese Eigenschaft sei für gewöhnlich ein Zeichen von mangelndem Feingefühl und von Grobheit. Allerdings war sie aber auch so ehrlich, zuzugeben, dass ihr Vater sicherlich ihre Ansichten über Männer geprägt hatte. Er war sehr brutal gewesen, und als er starb, hatte sie in erster Linie grenzenlose Erleichterung empfunden. Sie hatte nie verstanden, warum ihre Mutter es bis zum bitteren Ende bei ihm ausgehalten hatte.

Während Liza zu essen begann, spürte sie, wie Jay de Rojas sie ab und zu prüfend beobachtete, obwohl er den Blick meist auf die Papiere auf seinen Knien gerichtet hielt. Hier und da machte er sich einige Notizen. Liza stellte fest, dass er nur eine Tasse schwarzen ungesüßten Kaffee trank und nichts dazu aß. Das ganze Essen hatte er eindeutig nur für sie bestellt.

„Also, Liza.“ Er sah auf, als sie den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte. Sie musste zugeben, dass es ihr wirklich erheblich besser ging. „Ich möchte nicht in Ihrem Privatleben herumstöbern. Aber da Sie sich um eine Stelle in meinem Haus bewerben, werden Sie einsehen, dass ich Sie fragen muss, warum Sie ganz augenscheinlich Sorgen haben. Schließlich hat mein Neffe selbst Probleme, Sie verstehen, sí?

„Selbstverständlich, Señor de Rojas.“ Sie brachte es nicht über sich, ihn bei seinem Vornamen anzureden. „Wäre es Ihnen vielleicht lieber, wenn ich jetzt ginge?“

„Es wäre mir lieber, wenn Sie sich mir anvertrauten. Ich versichere Ihnen, alles, was Sie mir sagen, bleibt strikt in diesen vier Wänden. Wenn Sie sich jedoch nicht in der Lage fühlen …“ Er machte eine lässige Handbewegung zur Tür hin. „Mein Hauptinteresse gilt natürlich Mateo, wie Sie sich denken können.“ Seine Miene war ausdruckslos, und das machte es Liza irgendwie leichter.

Sie sah ihn fest an. „Ich muss mich für mein Verhalten entschuldigen, Señor de Rojas, und ich verspreche Ihnen, dass so etwas nicht mehr vorkommt, für den Fall, dass Sie sich für mich entscheiden.“ Was das betraf, hegte sie nicht mehr die geringsten Hoffnungen, aber sie fand, dass sie ihm zumindest eine Erklärung für den seltsamen Verlauf dieses Vorstellungsgesprächs schuldete. „Wie Sie schon vermuteten, hatte ich heute noch nichts gegessen. Ich habe innerhalb kurzer Zeit gleich zwei schwere Verluste hinnehmen müssen und fürchte, dass ich eine Zeit lang seelisch nicht ganz auf der Höhe war.“ Er zog die dunklen Augenbrauen hoch und wartete darauf, dass Liza fortfuhr.

„Meine Mutter starb vor drei Monaten nach kurzer, schwerer Krankheit, und vier Wochen darauf verstarb auch mein kleines Pflegekind Samantha. Ich nahm längere Zeit Urlaub, um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden, aber offenbar war es das Schlimmste, was ich tun konnte. Ich hätte sofort wieder versuchen müssen, mich den Anforderungen des täglichen Lebens zu stellen.“

Jay de Rojas nickte. „Ich verstehe.“

„Nun fühle ich mich jedoch wieder imstande, zu arbeiten. Ich möchte es sogar gern. Ich glaube, ich könnte Ihrem Neffen vieles geben. Meine Zeugnisse …“

„Sí, sí.“ Er hob abwehrend die Hand. „Ihre Fähigkeiten in dieser Hinsicht stehen gar nicht zur Debatte, sonst wären Sie schließlich nicht hier.“ Er verstummte und betrachtete sie eingehend. „Was ist mit Ihrer restlichen Familie? Wie steht sie dazu, dass Sie nach diesen traumatischen Ereignissen eventuell das Land verlassen wollen?“

„Ich habe keine weiteren Angehörigen mehr, Señor.“ Liza wusste selbst nicht, woher sie die Kraft nahm, so ruhig sprechen zu können, aber sie war außerordentlich froh darüber. „Ich bin Einzelkind, und mein Vater starb vor zwei Jahren.“

„Sie haben zweifelsohne schon viel Schweres durchgemacht im Leben.“ Nachdenklich sah er sie an. „Sie sind fünfundzwanzig?“

„Ja.“

„Ich bin der Ansicht, dass man erst durch viele Erfahrungen wirklich weise wird. Stimmen Sie mir da zu?“

„Ich denke schon“, meinte Liza mit einem leicht zweifelnden Unterton. Jay lächelte unvermittelt, und Lizas Herz zog sich zusammen. Dieses Lächeln auf dem verschlossenen Gesicht wirkte wie plötzlicher Sonnenschein an einem grauen Wintertag.

„Die anderen Bewerber, die ich gesehen habe, waren außerordentlich fähig“, meinte er trocken. „Allerdings vermisste ich das Verständnis, das Mateo meiner Meinung nach momentan dringend braucht. Ihm fehlt ein mitfühlender Mensch, der gleichzeitig wirklich versteht, was er gerade durchmacht. Er ist ein sehr sensibles Kind, das einerseits nicht durch zu viel Nachsicht verweichlicht werden darf, andererseits soll seine Empfindsamkeit nicht abgestumpft werden. Er braucht gleichzeitig Mitgefühl und Disziplin, Liebe und, wenn nötig, auch Strenge. Ihre Arbeit wird schwierig, zeitraubend und manchmal auch sehr bedrückend sein. Glauben Sie, damit fertig werden zu können?“

„Ja, ich bin mir ganz sicher.“ Dieses Mal klang Lizas Stimme entschieden, und Jay lächelte erneut.

„Er braucht die Nähe einer Frau, verstehen Sie, ohne dabei verhätschelt zu werden. Mateo wird eines Tages die Ranch und die Ländereien seines Vaters übernehmen, und er braucht Härte und Intelligenz, um solch einen Besitz erfolgreich halten zu können. Seine Mutter …“ Sein Blick wurde auf einmal wieder eisig. „Sie hat ihn nach Strich und Faden verwöhnt. Das werde ich nicht dulden.“

„Ja, ich verstehe, Señor de Rojas.“

„Jay, por favor.“ Es war keine Bitte.

„Ich möchte bitte eins wissen …“ Liza verstummte, weil sie plötzlich Angst hatte, er würde sie für zu neugierig halten, in Anbetracht der Tatsache, dass er ihr ja noch gar keine Zusage gegeben hatte.

„Sí?“

„Dieser Unfall … Was hat Mateo gesehen? Ich meine, hat er bewusst …“

Schlimmer konnte es gar nicht kommen. Jay wandte sich ab, sodass sie die Gesichtshälfte mit der Narbe nicht mehr sehen konnte. „Karen, seine Mutter, saß am Steuer und …“

„Karen?“, unterbrach Liza ihn überrascht, sie hatte eher mit einem spanisch klingenden Namen gerechnet.

„Sie war Engländerin.“ Seine Miene zeigte keinerlei Regung, trotzdem ahnte Liza sofort, dass Mateos Mutter und ihr Schwager sich nicht gemocht hatten. „Alfredo, mein Bruder, saß neben ihr, und Mateo war auf dem Rücksitz angeschnallt. Ungefähr eine Meile von ihrem Haus entfernt überschlug sich der Wagen. Karen war zu dem Zeitpunkt etwas … erregt und unterschätzte eine Kurve. Ich fuhr direkt hinter ihnen.“ Liza spürte, dass er ihr nicht alles sagte. „Bis ich zu ihnen laufen konnte, stand der Wagen schon in Flammen.“ Jay schwieg einen Moment, doch als er weitersprach, klang seine Stimme ganz ruhig. „Karen war auf der Stelle tot. Alfredos Beine waren eingeklemmt, er schrie mir zu, ich solle Mateo retten. Die Türen ließen sich nicht öffnen, und die Windschutzscheibe war gesplittert. Natürlich passte ich in der Situation nicht besonders auf, deshalb …“ Er berührte flüchtig die Narbe. „Eine scharfe Metallkante, die ich nicht bemerkt hatte. Ich holte den Jungen heraus und wollte zurück, um meinen Bruder zu befreien. Ich war nur noch wenige Meter entfernt, da explodierte der Wagen. Mateo musste alles mit ansehen.“

„Oh, nein“, murmelte Liza entsetzt. „Das ist ja grauenvoll.“

„Nun, Miss Kerri, das gehört der Vergangenheit an.“ Jay sah sie durchdringend an. „Mein Neffe muss lernen, seine natürlichen Emotionen diesbezüglich zu überwinden. Er muss lernen, sich wie ein Vogel über all das zu erheben, was ihn zerstören könnte. Ich kann mich nicht ständig gleichzeitig um seine und um meine Interessen kümmern. Er muss lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.“

„Er ist doch noch ein kleiner Junge!“, protestierte Liza unwillkürlich.

„Eines Tages wird er ein Mann sein.“ Der Blick seiner grünen Augen war unnachgiebig. „In der Welt, in der er lebt, ist kein Platz für Schwächen.“

„Wohnen Sie auf der Ranch?“, erkundigte sie sich.

„Ich besitze eine eigene Ranch, die unmittelbar an Mateos Besitz angrenzt. Zurzeit lebt er bei mir, bis er in das Internat in England kommt, in dem seine Mutter ihn noch angemeldet hat.“

„Ich verstehe.“

„Noch eine Tasse Tee?“, fragte Jay de Rojas höflich.

Liza sah ihn fassungslos an. Da sprachen sie über Leben und Tod unter den tragischsten Umständen, und er konnte mühelos umschalten und fragen, ob sie noch Tee wollte! Er war der kälteste, härteste Mann, den sie je erlebt hatte. Sie empfand tiefstes Mitleid mit dem kleinen Mateo, der nur noch diesen einen Menschen hatte. Bestimmt machte er seinem Neffen das Leben furchtbar schwer. Sie schüttelte den Kopf auf seine Frage hin und wandte den Blick von ihm ab. Seine nächsten Worte verrieten ihr jedoch, dass es ihr nicht gelungen war, ihre Empfindungen vor ihm zu verbergen.

„Sie halten mich für hart?“, erkundigte er sich grimmig. „Nun, Sie haben vollkommen recht. Und ich möchte, dass Mateo genauso wird. Er hat einen kleinen Teil eines wunderschönen Landes geerbt, das ihn vernichten wird, wenn er es nicht beherrschen kann.“

Liza antwortete nicht. Jay de Rojas verkörperte alles, was sie an einem Mann verabscheute – Arroganz, Hochmut, Grausamkeit und Gefühllosigkeit. Er war in der Tat genau wie ihr Vater.

„Glauben Sie, ich übertreibe? Das macht nichts.“ Seine weißen Zähne blitzten auf, als er spöttisch lachte. „Ihre Meinung ist nicht wichtig. Ich führe mein Haus und das meines Neffen so, wie ich es für richtig halte. Eine Einmischung in meine Angelegenheit dulde ich ebenso wenig wie Widerspruch.“

Liza saß da, blass, mit großen grauen Augen. Sie konnte seine Gedanken buchstäblich lesen. Er hielt sie für zerbrechlich und formbar, für eine Frau, die ihm keine Schwierigkeiten machen und seinem Neffen ein freundlicher, verständnisvoller Mutterersatz sein würde. Unbewusst hob sie das Kinn. Und doch … wenn er ihr diesen Job anbot, was sie stark bezweifelte, würde sie mit beiden Händen zugreifen.

Ihr Hauptgrund, sich um diese Stelle zu bewerben, war gewesen, dass sie das Land verlassen wollte, das momentan noch zu viele schmerzliche Erinnerungen für sie barg. Aber dieses Leid schien ihr plötzlich unbedeutend im Vergleich zu der Tragödie, die dem kleinen Mateo widerfahren war. Trotzdem täuschte sich sein Onkel, wenn er glaubte, sie würde sich allem demütig und widerspruchslos beugen. Sie würde mit Mateo so umgehen, wie es ihr richtig erschien. Und sie ahnte, dass sie damit direkt auf einen Konflikt mit diesem herrischen Mann zusteuerte, der mit anderen Menschen spielte, als seien sie Figuren auf einem Schachbrett.

„Fühlen Sie sich der Aufgabe gewachsen?“, fragte er nüchtern.

Liza sah ihm ruhig in die Augen und nickte. „Ja, Señor. Wie ich schon sagte, die unsichtbaren Narben sind die schlimmsten. Aber gerade um sie muss man sich besonders kümmern.“

„Richtig. Dieser Ausdruck gefiel mir vorhin bereits sehr gut. Sie sind die Erste, der ich meinen Neffen anvertrauen würde. Er braucht keine nichtssagenden Phrasen und Gefühlsduseleien.“

Liza senkte hastig den Blick und betrachtete ihre Hände. „Möchten Sie sonst noch etwas wissen, Señor de Rojas?“

„Nur eins.“ Sie sah auf und merkte, dass er erneut spöttisch lächelte. „Wenn ich Ihnen die Stelle anbiete und Sie nehmen sie an, werden Sie mich dann weiterhin Señor de Rojas nennen?“

„Nein, sicher nicht. Ich bin es nur nicht gewöhnt, schon während eines Vorstellungsgesprächs Formalitäten fallen zu lassen. Ich meine …“

„Möchten Sie die Stelle, Miss Kerri?“ Er betonte ihren Namen übertrieben, aber nicht unfreundlich.

Liza hielt seinem Blick atemlos stand. Jetzt, wo der Moment gekommen war, wurde ihr erst richtig klar, wie sehr sie sich den Job wünschte. Sie hatte allerdings nicht geglaubt, dass sie ihn bekommen würde. „Ja, sehr gern.“

Ein Ausdruck, den sie nicht recht deuten konnte, huschte flüchtig über seine Züge, dann lächelte er, ohne dass dieses Lächeln jedoch seine katzenhaften grünen Augen erreichte. „Dann sollen Sie sie auch haben.“ Jay wandte sich halb ab, und Liza merkte, dass er wieder die Gesichtshälfte mit der Narbe vor ihr verbarg. Sie wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass er das nicht tat, weil er sich wegen der Narbe schämte, sondern weil er ihr Zeit lassen wollte, sich daran zu gewöhnen.

Er war ein ungeheuer vielschichtiger Mann. Dennoch würde sie nicht einmal ansatzweise versuchen wollen, ihn zu verstehen. Er kam ihr vor wie ein gefährlicher schwarzer Panther, den man zur Beutejagd aus dem Käfig gelassen hatte.

„Wann können Sie England verlassen?“

Liza zuckte zusammen und bemühte sich, sich auf die Formalitäten zu konzentrieren. Sie sprachen noch eine Weile über die notwendigen Einzelheiten, dann sah er plötzlich auf seine Uhr und schlug sich gereizt gegen die Stirn.

„Es tut mir leid, ich habe ganz vergessen, dass ich eine Verabredung habe. Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen?“

„Selbstverständlich.“ Sie erhob sich rasch. Nun, da sie etwas im Magen hatte, wurde ihr nicht mehr schwindelig dabei. Seine Fürsorge war wirklich anerkennenswert, meldete sich eine innere Stimme, aber Liza verdrängte den Gedanken schnell. Auch damit hatte Jay de Rojas sicher nur einen Zweck verfolgt.

„Rufen Sie bitte morgen im Hotel an und vereinbaren Sie alles Weitere mit meiner Sekretärin. Sie arbeitet nur vormittags, also setzen Sie sich bitte bis Mittag mit ihr in Verbindung.“ Er wollte eindeutig, dass sie sich verabschiedete, und Liza ging zielstrebig zur Tür. Sie zuckte zusammen, als von draußen jemand anklopfte.

„Sí?“

Eine große schlanke Frau trat freudestrahlend ein. „Jay!“

„Felicia, ich weiß, ich habe mich verspätet. Ich war …“

Die Frau ließ ihn nicht zu Ende reden und umarmte ihn. Ihr langes Haar schwang bei der Bewegung weich mit und schimmerte wie schwarze Seide.

„Verzeihung.“ Er legte der Unbekannten den Arm um die zierliche Taille und wandte sich Liza zu. „Ich möchte Ihnen eine liebe Freundin von mir vorstellen, Felicia. Felicia, das ist Liza, Mateos neue Nachhilfelehrerin und Gesellschafterin.“

„Ich … freue … mich, Sie … kennenzulernen!“ Felicia sprach bei Weitem nicht so gut Englisch wie Jay. Die Worte kamen stockend und mit hartem Akzent.

„Ich mich auch.“ Liza lächelte und verließ das Zimmer. Mit raschen Schritten ging sie zum Fahrstuhl. Und was für eine Art Freundin ist das? fragte sie sich. Doch was spielte das schon für eine Rolle? Sie zuckte die Schultern. Jay de Rojas war eindeutig ein Frauentyp. Bestimmt hielten viele seine kühle, einschüchternde Ausstrahlung für unwiderstehlich. Nun, sie jedenfalls nicht. Liza wusste nicht, wie verbittert ihre Züge plötzlich wirkten und wie dunkel ihre grauen Augen mit einmal geworden waren.

Aggressiv auftretende, gut aussehende Männer lagen ihr nicht. Sie hatte zu lange die Tyrannei ihres Vaters über sich ergehen lassen müssen. Nun hatte sie für solche Männer nur noch Verachtung übrig. Ihre Mutter war vor ihrer Zeit gealtert. Die vielen Frauengeschichten und der Egoismus ihres Manns hatten sie aufgerieben und gebrochen. Zum Schluss war sie für ihn wohl nur noch ein kleines bequemes Anhängsel gewesen. Liza konnte sich noch erinnern, wie ihr Vater diverse „gute Freundinnen“ mit nach Hause gebracht hatte, vor den Augen ihrer Mutter. Manchmal waren die Frauen von ihren Ehemännern begleitet worden, manchmal nicht. Liza hatte frühzeitig gelernt, sich bei diesen fröhlichen Zusammenkünften ruhig zu verhalten und sich so bald wie möglich in ihr Bett zurückzuziehen.

Sie schüttelte den Kopf, als der Fahrstuhl im Erdgeschoss ankam. Das alles gehörte der Vergangenheit an, und sie hatte vieles daraus gelernt. Sie wollte ihre Karriere weiter ausbauen, sich die Welt ansehen und nur das tun, was ihr guttat. Nachdenklich verließ sie das große luxuriöse Hotelgebäude. Eines Tages wollte sie sich in einem eigenen Häuschen zur Ruhe setzen, vielleicht mit Katzen und einem Hund. Ihre Vorstellung von Glück sah keinerlei feste Bindung vor und schon gar keinen arroganten Mann, der ihr ein X für ein U vormachte.

Liza lief durch die belebten Londoner Straßen, inmitten der vielen Berufstätigen, die endlich Feierabend hatten und nach Hause wollten. Sie merkte nicht, dass nicht wenige Männer bewundernd ihre zierliche Figur und ihr hübsches Gesicht musterten und ihr sehnsüchtig nachblickten.

Nein, spann sie ihre Gedanken fort, sie würde ihr eigener Herr bleiben, ganz gleich, was auch geschah. Und wenn ein dunkelhaariger grünäugiger Fremder mit herrischem Auftreten glaubte, er könne sie mit versteckten Drohungen in eine gefügige, willenlose und von ihm abhängige Angestellte verwandeln, dann konnte er sich auf etwas gefasst machen. Unwillkürlich lächelte sie vor sich hin.

Plötzlich fühlte Liza sich besser als seit Wochen, aber sie fragte nicht, woran das liegen mochte. Wenn sie es getan hätte, wäre ihr Gang vielleicht nicht mehr so zuversichtlich und zielstrebig gewesen. Und als sie später in ihren Träumen das Bild eines bedrohlichen dunklen Schattens verfolgte, bis sie zitternd und schweißgebadet aufwachte, weigerte sich ihr Verstand noch immer, die stumme Warnung ihres Instinkts anzuerkennen.

Sie war erfolgreich und unabhängig. Sie war allein verantwortlich für ihr Leben gewesen, seit sie mit siebzehn von zu Hause geflohen war. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sich an diesem glücklichen Zustand in absehbarer Zukunft etwas ändern würde. Oder etwa doch?

2. KAPITEL

„Wünschen Sie noch etwas Kaffee?“ Die höfliche, unpersönliche Stimme der blonden Stewardess riss Liza aus ihren Grübeleien. Sie wandte sich vom Fenster ab.

„Nein, vielen Dank.“

„Wir werden in etwa einer Stunde landen.“

Liza nickte, und die Stewardess schob den Getränkewagen weiter durch den Mittelgang der ersten Klasse.

Señor de Rojas – nicht einmal in Gedanken brachte Liza es über sich, ihn Jay zu nennen – hatte sich wirklich als sehr großzügig erwiesen. Er hatte ihr einen Platz in der ersten Klasse reserviert, als sei sie ein Familienmitglied und nicht nur eine Angestellte. Sie war von England nach Los Angeles geflogen, was zwar sehr aufregend, aber auch anstrengend gewesen war, dann hatte sie in ein kleineres Flugzeug umsteigen müssen, das sie direkt nach Guadalajara im zentralen Hochland von Mexiko bringen sollte.

Dort wurde sie von einem gewissen Luis Casteneda erwartet. Wie sie den Mann erkennen sollte, hatte man ihr nicht mitgeteilt, aber das war Liza momentan auch gleichgültig. Sie befand sich in einem leicht benommenen Zustand, teils wegen der Strapazen des langen Fluges, teils wegen des Gefühls gespannter Erwartung, und sie sehnte sich nach einem ausgiebigen heißen Bad.

„Miss Kerri? Ich bin Luis Casteneda.“

Die Prozedur am Zoll war umständlich und zeitraubend gewesen, und so hatte sie für den kleinen braunhaarigen Mann, der sie in der Ankunftshalle erwartete, nur ein schwaches Lächeln übrig. „Wie haben Sie mich erkannt?“

„Mit diesem Flug kommen meist nicht allzu viele blonde hübsche Engländerinnen. Außerdem hat Señor de Rojas Sie mir sehr genau beschrieben.“ Er nahm ihr die beiden schweren Koffer ab. „Bitte folgen Sie mir.“

Die Hitze draußen war nicht so unerträglich, wie sie befürchtet hatte. Luis bemerkte, dass Liza überrascht zum blauen Himmel hinaufsah.

„Sie hatten wohl mit sengender Hitze gerechnet?“ Sie nickte lächelnd, und er schüttelte den Kopf. „Ich sehe, Sie müssen noch viel über dieses Land lernen, Señorita. Es ist so riesig.“ Er stellte die Koffer ab und beschrieb mit den Armen einen weiten Kreis. „Es ist das Land von Cortés und den Azteken, das Land reicher Silber- und Kupferminen und weiter Ebenen.“ Sein Blick fiel flüchtig auf ihre bloßen Arme, die im Gegensatz zu den vielen braunhäutigen Menschen auffallend weiß wirkten. „Im Norden gibt es die großen Viehweiden, und dort ist die Sonne so gnadenlos, dass sie Ihre zarte Haut verbrennen würde. Hier jedoch herrscht ewiger Frühling. Das Klima ist mild genug, um Sie zu wärmen und Ihrer Haut den sanften Goldton zu verleihen, den Männer unwiderstehlich finden.“ Liza errötete, und Luis warf laut lachend den Kopf zurück. „Perdóneme, Señorita. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Schließlich habe ich eine Tochter in Ihrem Alter.“

„Das ist schon in Ordnung.“ Liza schmunzelte. Auf einmal empfand sie die offene, freundliche Art des Mannes mit dem sonnengebräunten Gesicht als entspannend und wohltuend.

Luis führte sie über einen großen Parkplatz, dann weiter an einer Reihe niedriger Gebäude vorbei. Trotz seiner Bemerkung über den „ewigen Frühling“ merkte Liza schon bald, dass die Sonne auf ihrer Haut zu brennen anfing, und sie zog rasch die dünne Baumwolljacke über, um sich zu schützen. Es muss um die dreißig Grad heiß sein, dachte Liza. Offenbar lagen Welten zwischen dem, was die Mexikaner Frühling nannten und dem feuchten, kühlen englischen Frühjahr.

„So, wir sind da, Señorita.“ Luis lief auf einen blinkenden rot-weißen Hubschrauber zu und verstaute ihr Gepäck darin.

„Was ist denn das?“ Liza war stehen geblieben und sah den kleinen Mann verwundert an.

„Einige der Huasteca-Indianer, die im Süden des Landes leben, würden es wohl als großen silbernen Vogel bezeichnen. Ich nenne es Hubschrauber!“ Luis’ braune Augen funkelten vor Belustigung.

„Gehört er Señor de Rojas?“

„Sí, Señorita.“ Er sah sie nachdenklich an. „Sind Sie so weit?“

„Oh, ja, natürlich.“ Luis half ihr beim Einsteigen, und sie ließ sich auf den glühend heißen Ledersitz fallen. „Ach, Verzeihung …“ Zögernd berührte sie Luis’ Arm, als er den Motor starten wollte. „Darf ich Sie vorher noch etwas fragen?“

„Sí?“

„Ist Señor de Rojas … sehr reich?“ Sie bemerkte, dass Luis sie nun wirklich verblüfft ansah. „Wissen Sie, in England hatte ich nicht viel Gelegenheit, etwas über ihn zu erfahren. Am Tag nach dem Vorstellungsgespräch musste er überraschend zurückfliegen, und alles Weitere sprach ich dann mit seiner Hotelsekretärin ab. Sie war nicht gerade redselig … Soweit ich verstanden habe, besitzt der Señor eine Ranch gleich neben der seines Neffen. Ich nehme an, er züchtet Vieh oder so etwas?“

„Vieh?“, wiederholte Luis entrüstet. „Señorita, der Name de Rojas ist weltweit bekannt als der des wahrscheinlich edelsten Gestüts, das es gibt!“, verteidigte er seinen Arbeitgeber leidenschaftlich. „Der Señor kann seine Vorfahren zurückverfolgen bis zu einer vornehmen spanischen Familie mit Verbindungen zum Königshaus! Sein Großvater und sein Vater züchteten schon Rassepferde, die überall ihresgleichen suchten. Nach dem Tod seines Vaters wurde der Besitz auf Señor Jays Wunsch hin zwischen ihm und seinem Bruder aufgeteilt. Dabei ist er der Ältere gewesen, Sie verstehen, Señorita? Alles gehörte von Rechts wegen ihm, er hatte den ganzen Besitz geerbt!“

Liza spürte, dass er die Großzügigkeit seines Herrn zutiefst missbilligte. „Ja, ich weiß, was Sie meinen.“ Sie hatte leichte Kopfschmerzen bekommen, teils wegen der Hitze, aber auch wegen der imposanten Fakten, die Luis eben aufgezählt hatte. „Er muss sehr an seinem Bruder gehangen haben, dass er alles mit ihm geteilt hat.“

„Sí, Señorita.“ Luis’ Miene wurde verschlossen, und als nun auch der Motor des Hubschraubers zu dröhnen begann, gab Liza jeden weiteren Versuch einer Unterhaltung auf.

Sie hoben in einer weiten Schleife vom Boden ab und flogen über stattliche, reich verzierte Häuser, kleine blühende Vorgärten und einen Markt, auf dem fremdartig fröhliches Treiben herrschte. Über allem erhob sich eine mächtige Kathedrale, deren eigenartig anmutende byzantinische Glockentürme hoch in den blauen mexikanischen Himmel ragten. Gleich hinter der Stadt entdeckte Liza eine beeindruckende tiefe Schlucht. Die üppig grüne Landschaft versetzte sie in Erstaunen. Sie hatte eher Dürre und Trockenheit erwartet und nicht all die kleinen Farmen mit ihren vielen Obstgärten.

„Schön, nicht?“, rief Luis ihr über die Sprechanlage zu, und sie nickte stumm. „Sie sind genau zur richtigen Zeit gekommen, Señorita, die Zeit der Regenfälle ist zu Ende.“ Während er sprach, ging er abrupt mit dem Hubschrauber nach unten, und Liza bekam ein flaues Gefühl im Magen. „Die Rojas-Ranch“, erklärte Luis stolz und zeigte auf die weite grüne Ebene unter ihnen.

Zunächst konnte Liza kein Anzeichen von menschlichem Leben entdecken. Erst nach und nach begannen sich undeutliche Punkte in der Ferne abzuzeichnen. Dann sah Liza die Hazienda. Sie bestand aus einem gewaltigen Haupthaus und vielen kleineren Nebengebäuden, die zum Teil wie Stallungen aussahen. Alles wirkte sehr gepflegt, auch die lange Rennbahn, die sich neben den Ställen befand.

Als der Hubschrauber auf dem weichen grünen Rasen vor dem beeindruckenden Wohnhaus aufsetzte, fühlte Liza sich sehr nervös. Sie erkannte die große dunkle Gestalt sofort, die ihnen zur Begrüßung entgegenkam.

Buenas tardes, Liza! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise?“ Die tiefe, wohlklingende Stimme wirkte nicht gerade beruhigend auf ihre angespannten Nerven. Liza musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um zu lächeln, während sie höflich antwortete.

In England war Jay de Rojas ihr schon kühl, arrogant und stolz vorgekommen. Hier, in seiner vertrauten Umgebung, verstärkte sich dieser Eindruck noch. Liza spürte die bemerkenswerte Anziehungskraft, die unverhohlen sinnlich war und eine Wirkung auf sie ausübte, die sie selbst schockierte. Er verfügte über alle Eigenschaften, die sie an einem Mann nicht mochte, und doch … Sie glaubte förmlich zu spüren, wie er sie in seinen Bann zog. Das ist lächerlich, schalt sie sich, während Jay ihren Arm nahm und Luis Anweisung gab, ihr Gepäck ins Haus zu tragen. Schließlich war er nur ihr Arbeitgeber. Es bestand kein Anlass zu solchen absurden Anwandlungen, selbst wenn sie noch so müde von der Reise war.

Wieder schien er ihre Gedanken lesen zu können. „Sie müssen vollkommen erschöpft sein.“ Jay blieb stehen und betrachtete sie mit undefinierbarer Miene, doch Liza merkte es nicht. Wie verzaubert sah sie auf das Haupthaus. Erst jetzt erkannte sie die ganze Schönheit der Hazienda.

Die alte Steinfassade des verwinkelt angelegten Hauses leuchtete warm in der Nachmittagssonne. Süß duftender Jasmin, rote und violette Bougainvillea und dunkelgrüner Efeu rankten an den Mauern empor. In großen Tongefäßen blühten Geranien und andere bunte Blumen.

In ihrem übermüdeten Zustand kam Liza das recht niedrige Haus unendlich lang gestreckt vor. Es wurde rundum von einer geräumigen Veranda umgeben, auf der bequeme Sessel und mehrere kleine Tische standen. Obstbäume umstanden das Gebäude. Liza erkannte Orangen, Zitronen, Aprikosen, Feigen und noch eine ganze Reihe anderer Bäume, die sie noch nie gesehen hatte. Alle spendeten wohltuenden Schatten und erfüllten die Luft mit betörendem Duft.

„Es ist unbeschreiblich. So einen schönen Besitz habe ich nie zuvor gesehen“, sagte sie leise, und der große Mann an ihrer Seite nickte.

„Es ist gut für Mateo, dass er eine Zeit lang hier wohnen kann. Sein Elternhaus ist sehr modern, recht geschmackvoll zwar, aber dennoch …“ Sein Blick schweifte über die alten Steinmauern, als sähe auch er sie zum ersten Mal. „Das hier ist eben – la casa. Ein Zuhause“, fügte er ruhig hinzu, und Liza musste ihm recht geben.

„Kann ich Mateo jetzt sehen?“, erkundigte sie sich eifrig.

„Er ist zurzeit bei Felicias Familie in Guadalajara und kommt erst morgen zurück“, erklärte Jay geistesabwesend und ließ Liza durch die massive Holztür in den kühlen Raum dahinter eintreten.

Das einstöckige Haus war herrlich eingerichtet. Dunkles schimmerndes Holz bildete einen reizvollen Kontrast zu den weiß gestrichenen Wänden. Geschmackvolle Lampen, goldgerahmte Gemälde, schlichte, aber sehr elegante Möbel und ein weicher, flauschiger Teppichboden vervollständigten den Eindruck von diskretem Luxus. Etwas verlegen sah Liza auf ihre beiden abgewetzten Koffer, die Luis mitten im Zimmer abgestellt hatte.

„Ich habe veranlasst, dass Ihnen eine leichte Mahlzeit aufs Zimmer gebracht wird, nachdem Sie ein Bad genommen haben“, teilte Jay ihr gelassen mit. „Danach schlage ich vor, dass Sie sich erst einmal so lange wie möglich ausschlafen. Es wird einige Tage dauern, bis Sie sich restlos von den Strapazen der Reise erholt haben. Ich empfehle Ihnen dringend, in dieser Zeit möglichst viel Flüssigkeit zu sich zu nehmen.“ Sie nickte unsicher. Er hob lächelnd die Koffer auf, als wögen sie gar nichts, und forderte Liza auf, ihm zu folgen. „Juana, meine Haushälterin, wird dafür sorgen, dass es Ihnen an nichts fehlt, und Ihnen gern alles erklären, was Sie wissen müssen.“

„Ich danke Ihnen.“ Ihr Kopf schmerzte jetzt wirklich heftig. Ohne richtig etwas wahrzunehmen, folgte sie Jay durch das Labyrinth von Fluren, bis er plötzlich den schweren Messinggriff einer Tür herunterdrückte und sie in ein Zimmer eintreten ließ.

Es war schlicht, aber sehr erlesen eingerichtet. Die zarten Pastelltöne waren eine Wohltat für die Augen. Hinter den sich im Wind leicht aufblähenden Gardinen führten mit Blenden versehene Glastüren hinaus in einen gepflasterten Hof mit Bäumen und blühenden Sträuchern. „Hier ist das Bad“, erklärte Jay und öffnete eine weitere Tür neben dem Kleiderschrank. Der kleine Raum war geschmackvoll gekachelt und blinkte vor Sauberkeit.

„Alles ist wunderschön, vielen Dank“, sagte Liza matt. Jays Macht und Reichtum kamen ihr immer deutlicher zu Bewusstsein. Er stand da, die gebräunten Hände halb in die Taschen seiner Jeans geschoben und betrachtete sie. Hastig wandte sie den Blick ab, weil sie befürchtete, er könne erneut ihre Gedanken lesen. Fast hasste sie ihn für seine stolze, ganz natürliche Selbstsicherheit.

„Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Liza.“ Seine tiefe, weiche Stimme ließ sie erschauern. Doch dann straffte sie sich ärgerlich.

„Angst?“ Sie hob energisch den Kopf. „Ich habe keine Angst vor Ihnen, Señor de Rojas.“

„Nein?“ Seine Augen funkelten belustigt. „Vielleicht verunsichere ich Sie eher?“

„Ganz und gar nicht“, behauptete sie fest und ignorierte die Tatsache, dass ihre Beine zu zittern anfingen, als sie ihm fest in die Augen sah.

Bueno. Das ist gut. Vielleicht bringen Sie es ja dann jetzt über sich, mich Jay zu nennen?“ Er hatte ganz freundlich gesprochen, trotzdem war es eine eindeutige Herausforderung.

„Werden Sie von allen Ihren Angestellten mit Vornamen angeredet?“

Seine Augen nahmen einen harten Ausdruck an. Alle Freundlichkeit war plötzlich von seinen Zügen gewichen. „Ich dachte, ich hätte mich in England klar ausgedrückt, Liza.“ Er tat einen Schritt auf sie zu, und sie war sich nur allzu deutlich bewusst, wie groß und dunkel er war. „Hier auf dieser Ranch geschieht alles so, wie ich es wünsche. Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig, und alle haben meine Anweisungen zu befolgen.“ Seine Arroganz weckte ihren Zorn. „Wie Sie mich anreden, geht nur uns beide etwas an. Haben Sie mich verstanden?“

„Durchaus.“ Liza hatte sich vollkommen unter Kontrolle, ihrer Stimme war nichts von der ohnmächtigen Wut anzuhören, die in ihr aufloderte. „Ist das nicht ein wenig … gefährlich? Ich meine, wenn man sich so von gar niemandem beraten lässt?“

Jay betrachtete sie schweigend, bis die Spannung in der Luft so unerträglich wurde, dass Liza gegen ihren Willen doch den Blick von ihm abwenden musste. „Sie sind müde, pequeña, es war eine anstrengende Reise.“ Zu ihrem Ärger merkte sie, dass sie erleichtert war, weil er ihre unverhohlene Auflehnung nur für ein Anzeichen von Erschöpfung gehalten hatte. „Sie werden jetzt ein Bad nehmen, etwas essen und anschließend ruhen.“ Es war nicht als Vorschlag gemeint, und Liza nickte nur stumm. „Juana wird gleich zu Ihnen kommen. Und Rosa, das Mädchen, packt dann Ihre Koffer aus.“

„Oh, das ist wirklich nicht nötig“, protestierte sie hastig. „Ich kann das sehr gut allein …“

„Dios!“ Jay schüttelte den Kopf und warf ihr einen warnenden Blick zu. „Rosa wird Ihnen das abnehmen!“ Liza war klar, dass sie seine Geduld bis an die Grenzen ausgereizt hatte, und war so klug, ihm nicht mehr zu widersprechen. Verärgert verließ er das Zimmer und schloss die Tür nicht gerade sanft hinter sich.

„Nun, das war ja ein großartiger Anfang“, murmelte Liza vor sich hin und ließ sich müde auf das große weiche Bett fallen. Hätte sie nicht wenigstens in der ersten Stunde noch ihren Mund halten können? Sie unterdrückte die Tränen der Erschöpfung und sah sich verloren in dem eleganten Zimmer um. Plötzlich kam sie sich sehr klein und verlassen vor. Sie zuckte heftig zusammen, als es laut an der Tür klopfte. „Herein?“

„Ich Juana, Señorita, por favor?“

„Ja?“ Doch die Tür blieb geschlossen. Liza stand auf, um zu öffnen. Draußen sah sie die kleine rundliche Haushälterin, die den Arm voller Blumen hatte und sich bückte, um einige Zeitschriften aufzuheben, die sie fallen gelassen hatte.

Perdóneme, Señorita. Der Señor schickt das!“

„Für mich?“ Liza ging in die Hocke und hob den Packen englischsprachiger Zeitschriften und Taschenbücher auf.

„Zum Willkommen, Sie verstehen?“ Juana strahlte, als Liza verwirrt nickte.

„Würden Sie Señor de Rojas bitte meinen Dank ausrichten?“

Sí, sí! Und nun Sie wollen duschen? Und ich bringe Ihnen comida – das Essen?“

„Vielen Dank.“ Diese Gastfreundschaft überwältigte Liza, und die Tränen saßen schon wieder verdächtig locker. Jays Geste war so umsichtig. Er hatte anscheinend geahnt, dass sie sich in dem fremden Land, in dem sie niemanden kannte, verloren und fremd fühlen würde. Doch darüber wollte sie jetzt nicht weiter nachdenken. Es war einfacher, ihn weiterhin für einen Tyrannen zu halten. Um ihren Mund trat ein harter Zug. Außerdem wusste er ganz bestimmt, wie man eine Frau dazu brachte, das zu tun, was man wollte.

Nach der ausgiebigen Dusche war Liza zwar entspannter, aber auch wesentlich müder als zuvor. Sie zog einen dünnen Frottierbademantel über, ehe sie sich das dichte blonde Haar trocken rieb. Sie hatte einfach keine Lust, sich wieder ganz anzuziehen. Jetzt spürte sie doch, dass sie die letzten achtundvierzig Stunden kaum geschlafen hatte, ihre Glieder waren bleischwer. Das breite Bett sah unglaublich einladend aus.

„Der Señor sagt, Sie müssen alles aufessen, alles!“ Juana kam wieder ins Zimmer, dicht gefolgt von einem jungen braunhaarigen Mädchen, das ein voll beladenes Tablett trug. Liza stellte zufrieden fest, dass es wirklich nur eine leichte, aber dafür um so appetitlicher aussehende Mahlzeit war – ein Fruchtsalat aus frischen Grapefruits, Orangen und Aprikosen, ein Omelett und kaltes Fleisch. Eine halbe Flasche Wein war bereits offen, und Juana schenkte das Glas randvoll ein. „Alles, Señorita!“, wiederholte sie mit liebevoller Strenge und ging.

Liza wusste später nicht mehr, wie sie gegessen hatte und ins Bett gekommen war. Als sie von hellem Kinderlachen geweckt wurde, war es jedenfalls bereits Morgen. Schuldbewusst registrierte sie, dass sie mindestens sechzehn Stunden geschlafen haben musste. Was würde man bloß von ihr denken?

„Ich möchte sie sehen, Gran Jay!“ Die hohe Kinderstimme klang flehend und so nah, als stünde das Kind bei ihr im Zimmer. Liza merkte jedoch, dass sie aus dem Hof vor ihrer offenen Tür kam. Die Holzblenden vor der Tür waren zwar noch geschlossen, trotzdem waren die Stimmen deutlich vernehmbar.

„Wenn sie wach ist, Mateo. Sie hat eine lange Reise hinter sich, du musst Geduld haben“, hörte sie Jay antworten. Das Kind brach in einen Wortschwall auf Spanisch aus, dem jedoch sofort Einhalt geboten wurde. „Englisch, Mateo!“, verlangte Jay streng. „Du musst sogar auf Englisch denken können, sonst wirst du dich dort drüben sehr verloren fühlen.“

„Das werde ich ohnehin.“ Die Kinderstimme klang niedergeschlagen. „Ich will nicht von der Ranch fort, Gran Jay! Ich will nicht nach …“

„Schluss.“ Liza konnte sich Jays strenge Miene genau vorstellen. „Das haben wir bereits mehrfach besprochen. Es war der Wunsch deiner Eltern, dass du von deinem zehnten Lebensjahr an in England zur Schule gehst. Das weißt du.“ Jays Stimme klang kalt, und Liza verzog das Gesicht.

Sie konnte den Rest der Unterhaltung nicht mehr mit anhören, weil die Schritte ihr verrieten, dass die beiden gingen. Aber sie hatte genug erfahren. Mutlosigkeit beschlich sie. Wenn Mateo nicht nach England wollte, sie aber aus genau dem Grund hier war, um ihn darauf vorzubereiten, dann stand ihre künftige Beziehung wohl unter keinem besonders guten Stern. Wie konnte Jay nur so hart und grausam zu dem Kind sein?

Sie duschte und zog sich ein schlichtes weißes T-Shirt und weiße Jeans an. Dann bürstete sie ihr halblanges glattes Haar, bis es glänzte, und verließ das Zimmer. Draußen im Flur blieb sie unsicher stehen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, in welche Richtung sie gehen sollte.

„Buenas dias, Señorita.“ Das junge Mädchen vom Vortag kam mit einem Arm voller Wäsche aus einem der Zimmer und wollte an ihr vorbeilaufen.

„Ach, bitte …“, rief Liza ihr nach. „Könnten Sie mir sagen, wo der Señor ist?“

„Nicht verstehen, Señorita.“ Das Mädchen sprach eindeutig kein Englisch. Liza sah sie hilflos an, als sie plötzlich unmittelbar hinter sich die tiefe, samtige Stimme vernahm.

„Ist Dornröschen endlich aufgewacht?“

Sie drehte sich so hastig um, dass sie beinahe gegen Jay geprallt wäre. Unwillkürlich streckte er die Arme aus, ließ sie aber gleich darauf wieder sinken. „Es tut mir leid. Ich habe gar nicht gemerkt, wie lange ich geschlafen habe, und jetzt weiß ich gar nicht, wohin …“ Sie verstummte erschrocken. Was plapperte sie da nur so unzusammenhängend vor sich hin? Er musste sie ja für ziemlich einfältig halten! Sein unerwarteter Anblick hatte sie etwas aus der Fassung gebracht. Von Nahem wirkte er noch größer als ohnehin; ein frischer Duft nach Limonen ging von ihm aus. Die oberen Knöpfe seines Hemdes standen offen, sodass Liza die braune Haut seiner Brust sehen konnte. Er wirkte ungeheuer männlich.

„Das ist gut so, Liza.“ Seine Stimme klang ganz ruhig, aber um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig, als wüsste er genau, welche Wirkung er auf sie hatte. „Ich wollte, dass Sie sich ausschlafen. Es ist sehr wichtig, dass Sie entspannt und ausgeruht sind, wenn Sie Mateo kennenlernen.“

Nun, ausgeruht war sie, doch von Entspannung konnte keine Rede sein, solange er sie so durchdringend ansah. „Darf ich ihn jetzt sehen?“

Jay nickte. „Natürlich. Möchten Sie zuerst etwas essen? Ich habe das Frühstück für Sie zurückstellen lassen.“

Es scheint eine Manie von ihm zu sein, mich zum Essen zu bringen, dachte Liza gereizt. Doch dann fiel ihr wieder ein, unter welchen Umständen sie sich kennengelernt hatten, und so war das Ganze vielleicht gar nicht so abwegig. Wahrscheinlich hielt er sie für eine dieser Frauen, die eine Diät nach der anderen ausprobierten. Sie hob trotzig das Kinn. „Ich möchte bis zum Mittagessen warten, falls es Ihnen recht ist. Ich habe keinen Hunger. Werde ich mit Juana zusammen essen?“

Prüfend betrachtete er ihr schmales Gesicht, die großen grauen Augen mit den langen Wimpern, die gut geschwungenen Lippen, den zarten hellen Teint. „Wollen Sie, dass ich ärgerlich werde, Liza?“, fragte er ganz ruhig, beinahe im Plauderton.

„Nein, selbstverständlich nicht.“ Liza errötete.

„Essen Sie für gewöhnlich mit der Familie, bei der Sie angestellt sind?“, erkundigte er sich weiter im selben sanften Tonfall.

„Nun, ja …“, entgegnete sie widerstrebend. „Aber, ehrlich gesagt, ich habe mich noch nie in solch einer Situation befunden, Señor …“ Sie verstummte, als ihr sein warnender Blick auffiel. „Jay“, verbesserte sie sich zögernd. „Die Familien, bei denen ich bisher beschäftigt war, waren eher …“ Sie suchte angestrengt nach dem richtigen Wort. „Ungezwungen und natürlich“, schloss sie unsicher.

„Sie sind keine Hausangestellte, Liza.“ Jays Züge wirkten hart, und obwohl er die Stimme nicht gehoben hatte, wusste Liza, dass sie ihn nun doch verärgert hatte. „Sie sind Mateos Lehrerin, seine Freundin, und als solche gehören Sie zu unserer Familie. Es ist wichtig, dass Mateo das auch von Anfang an so sieht. Sie werden ihm keine Flausen durchgehen lassen. Er und alle anderen im Haus haben Ihnen mit Respekt zu begegnen. Falls Schwierigkeiten auftreten, wenden Sie sich ausschließlich an mich. Ich möchte, dass Sie sich ganz auf Mateo konzentrieren können, ohne sich mit zweitrangigen Alltagssorgen abgeben zu müssen. Ist das klar?“

„Ja, natürlich.“ Sie sah ihn aufmerksam an. Sonnenlicht fiel durch eins der schmalen hohen Fenster im Flur, sodass die weiße Narbe in seinem gebräunten Gesicht noch deutlicher zu sehen war als sonst. „Heißt das, ich habe völlig freie Hand, was Ihren Neffen betrifft?“

Er lächelte leicht. „Über alles, was den Jungen angeht, werden Sie nur mir allein Rechenschaft ablegen.“

„Ich verstehe.“ Liza betrachtete ihn eine Weile eindringlich. „Nun, Señor … Jay, ich werde versuchen, Letzteres zu tun, aber wenn …“

„Nein, Liza“, fiel er ihr ganz ruhig ins Wort. „Sie werden es nicht versuchen, Sie werden es wirklich tun.“

Sein Befehlston reizte sie bis zur Weißglut, doch ehe sie noch etwas erwidern konnte, hatte Jay sie beim Arm genommen und führte sie den langen Flur hinunter. Sie traten durch eine Tür am anderen Ende und befanden sich wieder in dem hübschen Raum, den Liza schon vom Vortag kannte. Ein kleiner dunkelhaariger Junge saß auf einem Stuhl und schwenkte ungeduldig die Beine hin und her. Als Liza eintrat, sah er sie aus großen braunen Augen neugierig an und sprang auf.

„Wie geht es Ihnen, Miss Kerri?“, fragte er höflich und wohlerzogen. „Ich bin sehr froh, Sie kennenzulernen.“

„Ich freue mich auch sehr, Mateo.“ Liza lächelte ihn an. „Wenn wir Freunde werden wollen, solltest du mich aber lieber Liza nennen, findest du nicht auch?“ Nur mit Mühe unterdrückte sie das Bedürfnis, das Kind in die Arme zu nehmen. Es wirkte so … verloren.

Sofort blickte Mateo fragend auf zu seinem Onkel, und als der kaum merklich zustimmend nickte, ging ein Leuchten über das kleine Gesicht. „Sí! Ich meine, ja, gern!“ Wieder dieser unsichere Blick zu Jay. Das arme Kind machte einen völlig eingeschüchterten Eindruck.

„Ich denke, Liza würde es Spaß machen, wenn wir sie heute ein wenig auf der Ranch herumführen und ihr alles zeigen“, meinte Jay und nahm Mateos Hand. „Morgen kann sie sich ja dann ein Bild davon machen, wie viel du über so langweilige Dinge wie Mathematik weißt oder, besser gesagt, nicht weißt, ja?“

Mateo nickte bedrückt, und Liza empfand großes Mitgefühl für ihn.

Nach dem Rundgang wusste Liza bereits etwas mehr über ihren kleinen Schützling. Es war nicht zu übersehen, dass Mateo die Ranch und die Pferde von ganzem Herzen liebte. Als sie die großzügigen Stallungen betraten, die in einwandfreiem Zustand und makellos sauber waren, leuchtete Mateos Gesicht. Ohne dass sein Onkel ihn dazu auffordern musste, zeigte er Liza jedes einzelne Pferd, nannte ihr die jeweilige Abstammung und zählte stolz alle möglichen Daten und Fakten auf.

„Das hier ist Tabasco.“ Mateo zeigte auf eine wunderhübsche braune Stute, die hochtragend war. „Sie gehört mir!“

„Was für ein schönes Tier, Mateo!“ Liza lächelte das Kind liebevoll an.

„Wir haben sie von einem ausgezeichneten Hengst decken lassen. Nicht wahr, Gran Jay? Und ich darf das Fohlen vielleicht behalten!“

„Daran sind aber gewisse Bedingungen geknüpft.“ Jays Stimme klang ruhig, enthielt jedoch eine unüberhörbare Warnung.

„Ich will mir wirklich Mühe geben, bestimmt!“ Auf dem kleinen Gesicht, das dem des großen Mannes neben Liza tatsächlich entfernt ähnelte, zeichnete sich großer Eifer ab. Liza hoffte inständig, Jay möge ein freundliches Wort für den Jungen finden, um ihm etwas von seiner Unsicherheit zu nehmen.

„Mag sein“, erwiderte er hart. „Doch wird das ausreichen?“

Die Stute stupste mit ihrem weichen Maul nach Mateos Hand und lenkte den Jungen ab. Jay und Liza gingen einige Schritte weiter. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. „Was hatte das zu bedeuten?“

Einen Moment lang glaubte sie, er würde ihr keine Antwort geben, doch dann sah er sie mit düsterer Miene an. „Bis vor Kurzem hatte Mateo einen Spanischlehrer hier auf der Ranch. Señor Cupido war mit den Leistungen und auch mit seinem Benehmen ganz und gar nicht zufrieden. Ich habe Mateo klipp und klar gesagt, dass ich ihm das Fohlen nicht überlassen werde, wenn er sich bei Ihnen nicht mehr zusammenreißt.“

Zornesröte stieg Liza in die Wangen. „Das ist Erpressung!“, entfuhr es ihr. Jay musterte sie sekundenlang. Seine Augen wurden ganz schmal.

„Nein, Liza, das ist keine Erpressung. Ich habe niemals jemanden erpresst, und schon gar nicht ein Kind“, antwortete er kühl. „Mateo ist sehr wohlhabend, und in späteren Jahren wird sehr viel von ihm verlangt werden. Im Moment ähnelt er für meinen Geschmack noch zu sehr seiner Mutter. Er ist nicht zu jung, um mit unangenehmen Pflichten konfrontiert zu werden und um zu lernen, dass man sich ihnen nicht entziehen kann. Das Leben ist kein Spiel und auch keine Obstschale, aus der man sich nur die Früchte herausnehmen darf, die einem schmecken.“

„Aber er ist doch erst neun Jahre alt!“, wandte Liza ein.

„Trotzdem. Solange ich ihm nicht vertrauen kann, dass er sich wie ein echter, verantwortungsbewusster de Rojas benimmt, muss er sich gewisse Privilegien erst verdienen. Mein Bruder und ich sind nie verwöhnt worden, und bei Mateo wird das nicht anders sein.“

„Ihr Bruder und Sie hatten einander und darüber hinaus auch eine Mutter und einen Vater!“, konterte Liza scharf. Jays Ungerechtigkeit empörte sie. „Wie können Sie nur so hart und unfair dem Jungen gegenüber sein?“

Es dauerte einige Sekunden, bis er antwortete, doch dann klang Jays Stimme so leise und bedrohlich, dass Liza das schlimmer fand, als wenn er sie angeschrien hätte. „Heute ist Ihr erster Tag hier, daher werde ich diese Unverschämtheit ignorieren. Sie können noch gar nicht wissen, wovon Sie reden. Wenn Sie sich hier jedoch wohlfühlen wollen, Miss Kerri, dann rate ich Ihnen, diesen Fehler nicht noch einmal zu machen. Ein zweites Mal werde ich eine derartige Unhöflichkeit nicht dulden.“ Während er sprach, trat er einen Schritt zurück und musterte sie abschätzend von oben bis unten. „In meinen Adern fließt rein spanisches Blut, ganz im Gegensatz zu Mateo. Seine Mutter war Engländerin, und ihr Charakter ließ einiges zu wünschen übrig.“

Seine Worte waren eine Beleidigung, und Liza wusste, dass das auch seine Absicht war. Sie schwieg und hielt seinem Blick stand, weil sie nicht bereit war, sich von seiner Härte einschüchtern zu lassen.

Jay wandte sich zum Gehen, wobei er kurz nach den beiden riesigen Wachhunden pfiff, die gehorsam in der Sonne vor dem Stall sitzen geblieben waren. In den Stallungen waren sie eindeutig nicht erwünscht, und sie kannten ihre Grenzen genau. Dasselbe erwartet er wohl auch von mir, dachte sie grimmig, als sie ihm nachsah. Er ging, ohne sich noch einmal umzusehen, zum Wohnhaus zurück. Die beiden Hunde folgten ihm in gebührendem Abstand.

Liza lehnte sich an das Stalltor und wartete auf Mateo. Nun, das eben war wohl die Kriegserklärung gewesen. Jay glaubte anscheinend, er sei etwas Besseres als die anderen Sterblichen. Sie sah nachdenklich hinauf in den wolkenlosen Himmel. Gut, dann konnte sich der Herr dieser Ranch in den kommenden Monaten auf einige Überraschungen gefasst machen. Sie würde ganz vorsichtig vorgehen, oh ja, das würde sie. Sie hatte keine Lust, Mateo schon wieder zu verlassen. Soweit Liza es beurteilen konnte, brauchte er dringend menschliche Wärme und Freundschaft. Ihr Herz war diesem Kind sofort zugeflogen, das so eindeutig ungeliebt und unerwünscht war von seinem nächsten Angehörigen.

Liza schaute hinüber zu dem niedrigen lang gestreckten Gebäude, das halb versteckt hinter den vielen Obstbäumen lag. Jay war ins Haus gegangen, die beiden Hunde saßen wie Skulpturen draußen vor der Eingangstür.

Er wollte also Krieg, ja? Schön, den konnte er haben. Als sie mit siebzehn ihr Elternhaus verlassen hatte, hatte sie sich geschworen, sich nie wieder von einem Mann herumkommandieren zu lassen. Und das galt auch für den arroganten Besitzer dieser Ranch. Im Moment mochte er sie verachten, zum Teil wegen ihrer englischen Abstammung, wie sie vermutete. Trotzig hob Liza das Kinn. Der Fehdehandschuh war geworfen worden, sie hatte ihn aufgehoben. Der Kampf konnte beginnen.

3. KAPITEL

In den folgenden Wochen musste Liza ihre anfängliche Meinung über das jüngste Mitglied der Familie de Rojas korrigieren. Eine Reihe kleiner, aber ärgerlicher Zwischenfälle ließen sie erkennen, dass Mateo in der Tat sehr schwierig und oftmals ganz bewusst ungezogen war.

Nach außen hin blieb er so brav und freundlich wie am ersten Tag. Doch er neigte zu unerklärlichem Trotz. Dennoch versuchte er nie, sich vor den unausbleiblichen Folgen für sein Benehmen zu drücken. Im Gegenteil. Es schien fast, als fordere er die Strafen geradezu heraus.

Wie Liza erwartet hatte, war Jay zu selten anwesend, um Interesse an seinem kleinen Neffen zeigen zu können. Widerwillig musste sie zugeben, dass er tatsächlich extrem viel zu tun hatte. Er musste sich nicht nur um seine eigene riesige Ranch kümmern, sondern auch um die seines verstorbenen Bruders, und so saß er oft nächtelang in seinem großen Arbeitszimmer. Trotzdem, so redete sie sich trotzig ein, hätte er sich durchaus Zeit für Mateo nehmen können, wenn er es gewollt hätte. Sie überhörte die leise innere Stimme, die ihr sagte, dass der Mann vom Morgengrauen bis zum Abend auf den Beinen war und meist todmüde zum Abendessen erschien.

Liza war aufgefallen, dass Jay jeden Morgen mit Mateo ausritt und ihm fast allabendlich vor dem Schlafengehen noch etwas vorlas, mit Ausnahme der wenigen Male, wenn er dienstlich verreist war. Dennoch blieb das wochenlang der einzige Kontakt, der zwischen Onkel und Neffen zu bestehen schien.

Obwohl Mateo häufig aufsässig war, fühlte Liza sich mehr und mehr zu dem Kind hingezogen. Immer wieder nahm sie den Jungen in Schutz, auch wenn er das eigentlich gar nicht verdient hatte.

„Warum nennst du deinen Onkel Gran Jay?“, fragte sie Mateo eines Abends. Sie hatte ihn gerade zu Bett gebracht und deckte ihn nun fürsorglich zu, damit er fertig war, wenn Jay zu ihm kam. Im Moment sah er aus wie ein kleiner Engel, mit seinen vom Baden noch feuchten dunklen Locken und den großen schwermütigen Augen, die ihm vor lauter Müdigkeit fast zufallen wollten. Liza setzte sich zu ihm und streichelte ihn sanft.

„Ich weiß nicht.“ Er sah sie so erstaunt an, wie Kinder das tun, wenn Erwachsene ihnen eine nicht zu beantwortende Frage stellen, mit der sie nicht gerechnet haben. „Warum?“

„Ach, nur so.“ Liza strich ihm eine Locke aus der Stirn. Es war ein besonders anstrengender Tag gewesen, an dem Mateo ihre Geduld immer wieder hart auf die Probe gestellt hatte. Manchmal hatte es den Anschein, als versuche er absichtlich, den Zorn der Erwachsenen auf sich zu ziehen, aber das war natürlich lächerlich. Und doch … Sie betrachtete ihn, wie er so brav im Bett lag, in seinem blauen Pyjama und mit seinem alten heiß geliebten Teddy im Arm. Er hatte sich doch denken können, dass sie die Bücher und Zeitungen, die er am Morgen versteckt hatte, finden und wissen würde, wer der Verantwortliche für diesen Streich war. Warum machte er so etwas? Sie konnte verstehen, dass er seinen früheren Lehrer und seinen Onkel häufig bis zur Weißglut gereizt haben musste. Trotzdem empfand sie tiefes Mitleid mit ihm. „Es heißt so viel wie ‚Großer Jay‘, nicht wahr?“ Mateo nickte und gähnte. „Es wunderte mich nur, dass du ihn nicht Onkel nennst.“

„Seine Mutter wollte es so.“

Beim Klang der tiefen Stimme zuckte Liza zusammen und drehte sich um. Jay lehnte lässig in der offenen Tür. Durch das schneeweiße Hemd wirkte er noch dunkler als sonst, und seine grünen Augen blitzten hell in dem tief gebräunten Gesicht. Er sah verwegen, gefährlich und überwältigend gut aus. Und wie immer, wenn Liza ihm gegenüberstand, machte ihr Herz einen kleinen Satz. „Verzeihung, ich wollte nicht spionieren“, sagte sie ruhig. Er schaffte es wirklich immer, dass sie sich im Unrecht fühlte.

„Ach, nein?“ Jay hatte ihren Schwindel sofort durchschaut. „Nun, es ist nicht wichtig. Sie können fragen, was Sie wollen, Liza, solange Sie nur auf die Antworten vorbereitet sind“, meinte er spöttisch.

„Dann lasse ich euch beide jetzt allein“, wandte Liza sich an Mateo und küsste den Jungen liebevoll.

„Bis zum Abendessen.“ Jay nickte kurz und griff zu einem Buch.

Liza ging in ihr Zimmer. Sie wollte noch duschen, ehe sie sich zum Abendessen umzog. Diesen Teil des Tages fürchtete sie. Es war nicht so schlimm, wenn Jay Gäste hatte, was häufig der Fall war – meist eventuelle Käufer für eines der Pferde. Doch wenn sie mit ihm allein an dem großen Esstisch saß, wurde sie automatisch nervös und befangen. Irgendetwas an ihm irritierte sie, nicht nur sein unglaublich gutes Aussehen, sondern vor allem diese düstere, verschlossene und hochmütige Art, die sie stets in Alarm versetzte. Liza wehrte sich dagegen, kämpfte dagegen an, aber manchmal fühlte sie sich trotzdem wie gerädert, wenn sie das Zimmer verließ. Sie war sich sicher, dass Jay genau wusste, was in ihr vorging, und das war das Demütigendste an der ganzen Sache.

Liza stand lange Zeit unter der Dusche, um etwas von der inneren Anspannung und dem Gefühl der Selbstverachtung loszuwerden, das sie in der letzten Zeit quälte. „Ich mag ihn nicht, und ich fühle mich auch nicht von ihm angezogen“, murmelte sie vor sich hin.

Ihre zarte Haut hatte in der mexikanischen Sonne einen warmen Goldton angenommen. Liza verteilte großzügig Bodylotion auf Armen und Beinen, ehe sie das apricotfarbene ärmellose Seidenkleid anzog, das sie an diesem Abend tragen wollte und das ihre Figur so gut zur Geltung brachte. Sie hatte dank Juanas Kochkünsten wieder etwas zugenommen, und rein körperlich fühlte sie sich wohler und gesünder als seit Monaten.

Liza stand am Fenster und sah in die samtschwarze Nacht hinaus, als Jay das Esszimmer betrat. Deshalb merkte sie auch nicht, mit welchem Blick er ihre schlanke Gestalt und das glänzende silberblonde Haar musterte. Als sie sich zu ihm umdrehte, war seine Miene verschlossen wie immer. Und wenn seine Stimme ein wenig belegt klang, so fiel es ihr zumindest nicht auf.

„Ich vermute, Sie hatten heute Probleme mit Mateo?“

Liza sah ihn wachsam an. Sie hatte ihm kein Wort davon gesagt und Mateo bestimmt auch nicht.

„Juana hörte zufällig, wie Sie mit ihm schimpften“, beantwortete Jay ihre unausgesprochene Frage. „Sie hatten vor, mir nichts davon zu sagen?“

„Dazu bestand kein Anlass.“ Sie versuchte, so gelassen wie möglich zu klingen. „Ich bekam das Ganze schließlich selbst in den Griff und habe es deshalb schon fast vergessen.“

„In Zukunft möchte ich über solche Zwischenfälle unterrichtet werden“, erwiderte er, als habe er ihre Bemerkung gar nicht registriert. „Ist es nicht so, dass das heute gar kein Ausnahmefall war?“

„Das habe ich nicht gesagt“, protestierte Liza rasch. Zu rasch.

Jay zog die Brauen hoch. „Sie sagen überhaupt sehr wenig, Liza. Haben Sie generell etwas gegen Männer oder nur gegen mich?“

Er konnte es wohl nicht ertragen, wenn eine Frau kein Interesse an ihm zeigte! „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen“, erwiderte sie kühl. Zum ersten Mal hatte er sie auf persönlicher Ebene angegriffen. Plötzlich erschien Liza die sexuelle Spannung zwischen Jay und ihr fast greifbar.

Er betrachtete sie schweigend. Die dünne Seide seines Hemds spannte sich leicht über seinen breiten Schultern. Er erinnerte an eine geschmeidige, gefährliche Raubkatze, die bereit zum Sprung nach der Beute war. Erneut bereute Liza ihren Entschluss, die Sicherheit Englands verlassen zu haben und in dieses fremde Land gereist zu sein. „Ach, nein?“ Jay lächelte rätselhaft. „Ich glaube, das wissen Sie sogar ganz genau.“ Unvermittelt wandte er ihr den Rücken zu. „Möchten Sie Wein oder ein Glas Sherry vor dem Essen?“

„Einen Sherry, bitte.“ Sie beobachtete ihn, während er die Drinks einschenkte. Nein, sie durfte auf seine Herausforderungen nicht eingehen. Sie musste unbedingt distanziert bleiben und durfte nur so wenig wie möglich von sich preisgeben. In den letzten Wochen hatte sie sich dazu verleiten lassen, sich in Sicherheit zu wähnen. Sie hatte gedacht, er würde sie in Ruhe lassen. Sie hätte es besser wissen müssen.

„Ich denke, es würde für uns beide und vor allem für Mateo vorteilhaft sein, wenn Sie sich dazu aufraffen könnten, sich mit mir zu verständigen, Liza.“ Ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden, reichte Jay ihr das Glas. „Bereits in England kamen Sie mir etwas … angespannt vor. Ich dachte, das würde sich geben. Mir ist klar, dass wir nicht in allem einer Meinung sind. Doch schließlich sind wir beide vernünftige Erwachsene, die eigentlich eine Einigung erzielen müssten. Ich bin kein Ungeheuer, auch wenn Sie das vielleicht annehmen.“

Liza hob trotzig das Kinn. „Sie sagten, Ihr Wort sei hier Gesetz, und Sie wünschten keine Konflikte.“

„Dios!“ Jay stellte sein Glas so heftig auf den Tisch, dass der Rotwein auf das weiße Damasttuch spritzte. „Sie sind wirklich die unmöglichste Frau, die ich je …“ Es kostete ihn offenbar beträchtliche Mühe, sich zu beherrschen. „Liza, ich schätze ganz normale Unterhaltungen. Es kann dabei ruhig etwas kontrovers zugehen, wenn die Umstände es erfordern. Was ich nicht mag, ist, wenn Sie auf der Hazienda herumschleichen und mir dabei eindeutig aus dem Weg gehen. Ich möchte eine fröhliche, lebhafte Gefährtin für meinen Neffen, keine scheue, unsichere …“

„Wie können Sie sich unterstehen!“, rief Liza wütend. „Wie können Sie mir unterstellen, dass ich hier herumschleiche? So etwas habe ich gar nicht nötig, damit Sie ein für allemal Bescheid wissen! Sie sind mit Abstand der eingebildetste, arroganteste …“

Es dauerte einige Sekunden, bis sie in ihrer Rage merkte, dass Jay sich vor unterdrücktem Lachen beinahe schüttelte. Zu spät erkannte sie, dass sie genauso reagiert hatte, wie er sich das wohl gewünscht hatte.

„Na also, ich glaube, jetzt kommt die wirkliche Liza zum Vorschein.“ Er kam langsam auf sie zu und berührte mit dem Finger sanft ihre Wange. „Ich ahnte doch, dass Sie sich nur verstecken hinter dieser so kühlen Fassade.“ Er hob eine Strähne ihres Haars an, und Liza machte eine heftige Kopfbewegung nach hinten. Jay trat einen Schritt zurück, blickte aber unverwandt auf ihren Mund. „Wer hat Sie so verletzt, Liza?“ Seine Stimme klang so samtig, dass Lizas Puls zu rasen anfing. „Ein Freund? Ein Geliebter?“ Sie konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten, aber er machte sie vollkommen nervös.

„Niemand. Ich …“ Sie verstummte. Nein, sie durfte ihm nichts von sich verraten.

„Ich glaube Ihnen nicht.“ Sein Unterton war verführerisch. „Eine so schöne Frau wie Sie verschanzt sich nicht hinter einer uneinnehmbaren Mauer, wenn es da nicht irgendetwas in ihrer Vergangenheit gibt, das sie lieber vergessen möchte.“

Mit einmal fiel ihr die Geschichte ein, die Mateo ihr am Nachmittag über el tigre erzählt hatte. Der Tiger war sehr geduldig beim Auflauern seiner Beute, geduldig und verschlagen. Erst dann, wenn seine Macht am größten war, schlug er zu. Gnadenlos und ohne Furcht. Sie traute diesem Mann nicht, vor allem nicht in diesem Moment, wo er sich so teilnahmsvoll und sanft gab. El tigre …

Da Rosa in diesem Augenblick mit einem riesigen Silbertablett eintrat, blieb Liza eine Antwort erspart, und sie ging hastig zu Tisch. Jay blieb noch eine Weile stehen, dann gesellte er sich langsam zu ihr.

Gracias, Rosa.“ Er nickte dem jungen Mädchen freundlich zu. „Möchten Sie Weißwein zum Essen, Liza?“ Ihr war schon aufgefallen – ihm entging nichts. Er hatte eindeutig gemerkt, dass sie ein Glas Rotwein selten austrank und den leichten Weißen bevorzugte. Doch sie ließ sich von solcher Umsicht nicht blenden.

Das Essen war köstlich wie immer. Als Vorspeise gab es kleine Tortillas, danach Lizas Lieblingsgericht, seit sie nach Mexiko gekommen war – huachinango à la veracruzana, einen pikant gewürzten Fisch in einer roten Soße mit Knoblauch, Kräutern und milden Chilischoten. Juana war zu Recht sehr stolz auf ihre Kochkünste. Sie verstand es stets, die einzelnen Gänge eines Menüs aufeinander abzustimmen.

Zum Nachtisch gab es frische Papayafrüchte und anschließend den Kaffee, der mit dem dünnen englischen Gebräu kaum etwas gemeinsam hatte. Hier wurde der Kaffee lange gekocht und dann mit Zimt und Zucker abgeschmeckt. Liza hatte sich erst daran gewöhnen müssen, doch inzwischen wollte sie nicht mehr darauf verzichten.

„Ich möchte mit Ihnen reden, Liza.“

Sie hatten die Mahlzeit schweigend eingenommen, und nun wollte Liza wie immer aufstehen und sich in ihr Zimmer zurückziehen. „Ja?“ Sie blieb stehen und sah Jay wachsam an, der sich seufzend auf seinem Stuhl zurücklehnte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte.

„Sie haben meine Frage von vorhin noch nicht beantwortet, pequeña“, sagte er ruhig und stand auf. Er ging zum Wohnzimmer hinüber und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.

Liza gehorchte zögernd. Drei Wochen lang hatte sie versucht, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Sie hätte sich denken können, dass sie auf Dauer nicht damit durchkommen würde.

Jay wartete, bis sie auf einem der weich gepolsterten Sofas Platz genommen hatte. Und setzte sich dann auf die gegenüberstehende Couch. Wie schon zuvor, verschränkte er die Hände wieder hinter dem Kopf. „Sie sind nun drei Wochen hier, und ich habe Ihnen Zeit gelassen, sich einzugewöhnen. Fühlen Sie sich wohl bei uns?“

„Ja, vielen Dank“, erwiderte sie ruhig. Er hatte sie doch nicht um ihre Gesellschaft gebeten, um sie zu fragen, ob sie sich wohlfühlte!

„Und glauben Sie, dass die Stellung Ihnen zusagt?“

Liza hielt seinem Blick gelassen stand, obwohl ihr seine Art nicht gefiel. „Ich denke, ich kann Mateo helfen. Er ist leicht verhaltensgestört, Jay“, fügte sie hinzu, als er schwieg. „Irgendetwas quält ihn.“

„Sie sind also der Meinung, dass er nicht einfach nur bockig ist?“ Seine Miene war ernst geworden.

„Richtig“, gab sie ehrlich zurück. „Sind Sie anderer Meinung?“

Er sah sie eine Weile schweigend an und strich sich dann mit einer für ihn untypischen Geste der Hilflosigkeit übers Gesicht. „Ich bin mir nicht sicher, Liza. Ich verstehe meinen kleinen Neffen nicht. Manchmal denke ich, ich sehe Alfredo vor mir, dann wieder kommt er mir wie ein Abklatsch seiner Mutter vor. Sie war keine sehr freundliche Frau, Liza, und sie war auch kein guter Mensch.“ Ein harter Zug trat um seinen Mund.

„Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn Sie Mateo einmal als Mateo sehen würden“, schlug sie mutig vor.

„Vielleicht.“ Jays Tonfall und sein Gesichtsausdruck blieben ausdruckslos. Trotzdem spürte Liza, dass ihre Bemerkung ihn getroffen hatte.

„Er liebt Sie über alles, nicht wahr? War das immer schon so oder erst seit …?“

„Immer“, unterbrach Jay sie schroff. „Karen passte das nicht. Doch sie konnte nicht viel dagegen tun, außer dass sie ihn dazu brachte, mich mit ‚Gran Jay‘ anzureden – die Anrede ‚Onkel‘ war ihr zu vertraulich. Nach außen hin war das angeblich Mateos Einfall. Er hatte einen Spielgefährten, der ebenfalls Jay hieß. Der große Jay und der kleine Jay, verstehen Sie?“

„Nun, das klingt doch ganz einleuchtend“, wandte sie vorsichtig ein. „Vielleicht haben Sie sie falsch verstanden?“

„Nein“, erwiderte er hart. „Sie genoss es stets, solche kleinen banalen Siege über mich davonzutragen. Möchten Sie noch einen Kaffee?“

Sein abrupter Themawechsel ärgerte sie. „Nein, danke.“

„Dann einen Cognac?“

„Auch nicht, danke. Ich bin, ehrlich gesagt, sehr müde und würde gern zu Bett …“

„Noch nicht“, unterbrach er sie energisch, und sie setzte sich wieder. „Ich warte nach wie vor darauf, dass Sie mir höflicherweise meine frühere Frage beantworten.“

Autor

Jessica Steele
Jessica Steele stammt aus der eleganten Stadt Royal Leamington Spa in England. Sie war ein zerbrechliches Kind und verließ die Schule bereits mit 14 Jahren als man Tuberkulose bei ihr diagnostizierte. 1967 zog sie mit ihrem Mann Peter auf jenen bezaubernden Flecken Erde, wo sie bis heute mit ihrer Hündin...
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