Romana Extra Band 127

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Emma White

Im Bann des portugiesischen Milliardärs

Wie ein Engel steht die hinreißende Jessica in Lissabon plötzlich vor ihm: schön und unerreichbar! Auch wenn Alvaro sie beauftragt, seine Villa zu gestalten, darf er an einen Kuss nicht mal denken. Denn die Schwester seiner verstorbenen Verlobten ist für den Milliardär tabu …

Louisa Heaton

Eine neue Chance für die Liebe?

Nach einer Tragödie wagt Bex auf ihrem idyllischen Reiterhof einen Neuanfang – ohne ihren Mann Ethan. Das ändert sich auch nicht, als der attraktive Tierarzt unerwartet auftaucht, um eines ihrer Pferde zu retten. Doch dann zeigt sich Ethan plötzlich von einer völlig neuen Seite…

Lynne Graham

Kalter Schnee, heiße Leidenschaft

Schneesturm an Heiligabend: Als die unschuldige, junge Holly mit dem Auto liegen bleibt, rettet sie sich zu einem nahen Cottage. Aber ist sie bei dem so anziehenden wie geheimnisvollen Vito aus Florenz wirklich in Sicherheit? Nicht nur das Feuer im Kamin brennt bald immer heißer …

Ann McIntosh

Prickelnde Affäre in der Karibik

Mit Männern hat Chirurgin Genevieve abgeschlossen! Nur um ihrer Mutter zu zeigen, dass ihr neues Leben in der Karibik perfekt ist, täuscht sie eine Beziehung mit ihrem Kollegen Zach vor – doch der prickelnde Flirt verwandelt sich plötzlich in etwas gefährlich anderes …


  • Erscheinungstag 22.11.2022
  • Bandnummer 127
  • ISBN / Artikelnummer 0801220127
  • Seitenanzahl 448

Leseprobe

Emma White, Louisa Heaton, Lynne Graham, Ann McIntosh

ROMANA EXTRA BAND 127

EMMA WHITE

Im Bann des portugiesischen Milliardärs

Im Bann des portugiesischen MilliardärsSie soll für Alvaro arbeiten? Für Kunstexpertin Jessica ein Tanz auf dem Vulkan – denn auch wenn es zwischen ihnen knistert, weiß Jessica genau, dass Alvaros Herz für immer ihrer Schwester gehört …

LOUISA HEATON

Eine neue Chance für die Liebe?

Ethan hat nur ein Ziel: Die Versöhnung mit seiner geliebten Ehefrau. Auf ihrem Reiterhof wird ihm klar: Bex sehnt sich genauso nach heißen Küssen wie er. Aber dann macht Ethan einen fatalen Fehler …

LYNNE GRAHAM

Kalter Schnee, heiße Leidenschaft

Holly sieht so verführerisch aus in ihrem sexy Santa-Kostüm! Als sie Heiligabend vor seiner Tür steht, wird selbst ein Weihnachtshasser wie der italienische Tycoon Vito Zaffari schwach ...

ANN MCINTOSH

Prickelnde Affäre in der Karibik

Nie wieder will Zach zum Spielball einer schönen Frau werden! Also geht er sofort auf Distanz, als die aufregende Ärztin Gen ihn bittet, ihr falsches Date zu sein. Doch dann küsst Gen ihn …

1. KAPITEL

Alvaro Braganza rieb sich die Augen, bis die Zahlen auf dem Arbeitspapier vor ihm wieder klar zu sehen waren. Nur noch wenige Minuten bis Mitternacht, dann wäre dieser Tag endlich vorbei.

Auch drei Jahre nach Zoes Tod fand er kaum Schlaf. An diesem Junitag hätte eigentlich ihr dritter Hochzeitstag sein sollen. Stattdessen war es der Tag geworden, an dem Zoe Williams starb.

Hätte seine Verlobte damals nicht aufgelöst die Villa verlassen, würden sie heute gemeinsam feiern. Der eigentlich glücklichste Tag in seinem Leben hielt nun nur Höllenqualen und die ewige Frage nach dem Warum für ihn bereit. Noch heute verstand er nicht, was in Zoe gefahren war. Sie hatte sich nicht mal die Zeit genommen, ihm zu sagen, warum sie von der einen zur nächsten Minute so aufgelöst war oder wohin sie so eilig wollte, dass sie Hals über Kopf aus der Villa floh.

Alvaro hatte das Anwesen am Meer kurz zuvor erworben, um mit Zoe nach ihrer Hochzeit dort zu leben. Aber das würde niemals ein Zuhause für ihn werden.

Die Villa lag in Sagres, im Westen der Algarve. Die Räume waren hell und eine große Terrasse führte in den Garten mit Außenpool. Folgte man den weißen Steinplatten durch den Garten nur hundert Meter weiter, gelangte man über einen leichten Abhang an den Privatstrand mit eigener Bootsanlegestelle.

Allein der Meerblick war überwältigend. Besonders, wenn die Sonne unterging und die ockergelben Felsformationen in schillerndes Licht getaucht wurden. Er schaffte es jedoch nicht, die Sonnenuntergänge an seinem Privatstrand zu genießen. Die Schönheit der Landschaft erinnerte ihn nur an seinen Verlust, denn wäre es anders gekommen, würde er jetzt nicht alleine hier sein. Vielleicht hätten Zoe und er sogar schon eine Familie gegründet.

Alvaro schüttelte die traurigen Gedanken ab und wagte endlich einen Blick auf die Zeitanzeige auf dem Computer. Zehn Minuten nach Mitternacht. Seine breiten Schultern entspannten ein wenig. Erschöpft von der Anspannung des Tages, stand er von seinem Bürostuhl auf und sah sich in seinem weitläufigen Büro um. Dieser Raum hätte eigentlich ein Kinderzimmer werden sollen. In seiner Fantasie hörte er Kinderlachen und die helle Melodie einer Spieluhr. Eine kleine Nachtmusik, sein Lieblingswerk von Mozart. Ein Gefühl der Enge entstand in seiner Brust. In Momenten wie diesen bereute er es, nach Portugal zurückgekommen zu sein.

Nicht lange nach Zoes Beerdigung war er nach Frankreich geflohen und hatte sich in die Arbeit gestürzt. Als einer der Ersten, der in großem Format mit Bitcoins gehandelt hatte und durch gewagte Investitionen in Zukunftsfirmen war er mit nur dreißig Jahren zum jüngsten Selfmade-Milliardär geworden. Der Erfolg befriedigte ihn jedoch nicht, und immer öfter sehnte er sich nach dem gemächlichen Takt Portugals – dem Takt seines Herzens.

Also war er vor ein paar Monaten zurückgekehrt. Die Einsamkeit machte ihm zunächst nichts aus, aber seit ein paar Wochen lastete die Stille schwer auf ihm. Alvaro wünschte sich Veränderung, doch er konnte die Vergangenheit nicht einfach abschütteln und ein neues Leben beginnen.

Sein Blick glitt zum Anrufbeantworter, der ihn blinkend daran erinnerte, dass seine Eltern und seine Schwester Alicia ihn noch nicht aufgegeben hatten. Nach kurzem Zögern hörte er die Nachrichten ab. Die ersten drei waren von seiner Mutter, die sich wie immer um ihn sorgte. Die vierte war von seinem Vater, der ihn wütend aufforderte, sich endlich bei seiner Mutter zu melden. Die letzte Nachricht war von seiner kleinen Schwester Alicia.

„Hallo, du grummeliger Grizzly, hier ist Lia“, flötete sie mit leichtem Sarkasmus in den Hörer. „Vielleicht erinnerst du dich ja an mich. Wie auch immer. Ich wollte dich nur an meine Geburtstagsfeier in zwei Monaten erinnern. Wage es also nicht, einen Geschäftstermin in Australien vorzuschieben, wie letztes Jahr. Oder in Japan oder Südafrika wie die Jahre davor. Dieses Mal wirst du einem Zusammentreffen mit deiner Familie nicht entgehen, mein lieber Bruder. Ja, genau, du hast richtig gehört. Omas, Opas, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins inklusive unserer Nichten und Neffen. Und kein Entkommen für dich. Ich bringe dich um, wenn du meinen einundzwanzigsten Geburtstag schwänzt, merk dir das. Abgesehen davon brichst du Mama und Papa das Herz, wenn du so weitermachst.“

Lia hatte aufgelegt, ohne sich zu verabschieden. Alvaro seufzte.

Er hatte bisher jeden Versuch seiner Familie abgeschmettert, ihm zu helfen. Dieses Jahr würde er einer großen Familienzusammenkunft wohl nicht entgehen können, dabei schmerzte ihn der Anblick seiner kleinen Neffen und Nichten, die ihn an seinen eigenen, unerfüllten Familienwunsch erinnerten. Aber um das zu ändern, müsste er mit der Vergangenheit abschließen. Und genau darin lag das Problem. Für ihn gab es keine Frau mehr nach Zoe. Keine Kraft dieser Welt konnte ihn aus seiner selbstgewählten Enthaltsamkeit locken.

Nein, es müsste schon ein Wunder geschehen, um ihm die frühere Leichtigkeit, sein Lachen und seine Lebensfreude zurückzugeben. Und an Wunder glaubte er nicht.

Alvaro entledigte sich seiner Jeans und des Sweatshirts und schlüpfte trotz der späten Stunde in Sportkleidung. In der verspiegelten Schranktür sah ihm ein ernst dreinblickender, eins neunundachtzig großer Mann mit gestählten Muskeln entgegen. Sein dunkles, leicht gewelltes Haar hatte er von seinem Vater geerbt, ebenso wie auch die leicht gebräunte Haut und die dunklen, glutvollen Augen. In letzter Zeit hatte er viel trainiert, sodass er sich neue Maßhemden und – anzüge hatte schneidern lassen müssen.

Im Hintergrund standen seine Sportgeräte im spärlichen Licht der Schreibtischlampe wie Soldaten. Alvaro flüchtete sich zu jeder freien Minute in sein Training. Oft auch, wenn er nicht schlafen konnte, so wie heute.

Er wandte sich von seinem ernst dreinblickenden Spiegelbild ab und durchschritt das Büro, bis er die breite Fensterfront mit der Terrassentür erreichte. Er öffnete die Glastür, hinter der sich eine großzügige Terrasse erstreckte, die schmeichelnd vom Mond beleuchtet wurde. Tief atmete er die salzige Seeluft ein und lauschte dem leisen Rauschen des Meeres, das nur hundert Meter entfernt lag. Ein Pfad mit weißen Ziersteinen führte durch den Garten und einen sanften Hang hinab direkt zu seinem Privatstrand. Alvaro betrachtete den sternenbedeckten Himmel über dem tiefschwarzen Meer.

„Alles Liebe zum Hochzeitstag, Zoe“, flüsterte er.

„Senhora Williams!“, begrüßte Senhora Castelo sie. Jessica folgte der Sekretärin des Galeriebesitzers ins Vorzimmer.

„Guten Morgen, Senhora Castelo. Wie geht es Ihnen?“, erkundigte sie sich höflich.

„Danke der Nachfrage, wundervoll. Theo ist leider noch nicht da. Er hat vor zwei Minuten angerufen und bittet Sie um Entschuldigung. Sein alter Käfer ist liegengeblieben.“

Jessica hatte den Galeriebesitzer Theo Nucci schon jetzt ins Herz geschlossen. Der exzentrische Galerist war Anfang sechzig und besaß einen knallgrünen VW Käfer. Es wunderte sie nicht, dass der Wagen liegengeblieben war, denn Theo hatte ihn seit zwanzig Jahren, wie er ihr beim Vorstellungsgespräch vor einem Monat erzählt hatte.

„Ich hoffe, ihm geht es gut“, sagte sie, um sicherzugehen, dass kein ernster Grund vorlag. Autounfälle waren etwas, vor dem sie sich fürchtete, denn sie hatte einen geliebten Menschen auf diese Weise verloren.

„Oh ja, keine Sorge, die alte Kiste bleibt mindestens einmal die Woche liegen.“ Senhora Castelo tat ihre Bedenken mit einem Wink ab. „Ich zeige Ihnen an Theos Stelle Ihren neuen Arbeitsplatz, bitte hier entlang.“

„Das ist sehr nett von Ihnen.“ Jessica folgte der Sekretärin einen hellen Gang hinunter, der sie an den Waschräumen des Personals vorbei und in ein großzügig bemessenes Büro mit Aussicht auf den Hinterhof führte. Große Zimmerpflanzen teilten den lichtdurchfluteten Raum in mehrere Arbeitsbereiche auf. An einer Wand hing ein Ausstellungsplan und gegenüber befand sich eine Küchennische.

„Sie sind früh dran, die anderen treffen erst in einer Dreiviertelstunde ein“, sagte Senhora Castelo nach einer kleinen Einführung in die Benutzung der Kaffeemaschine. „Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich wieder ins Sekretariat gehe, ich erwarte einen wichtigen Anruf von einem Auktionshaus.“

„Natürlich nicht. Vielen Dank, ich komme gut alleine zurecht.“

„Dann wünsche ich Ihnen viel Freude an Ihrem ersten Arbeitstag“, sagte die Sekretärin und ging.

Sobald Senhora Castelo fort war, nestelte Jessica an ihrer weißen Chiffonbluse herum. Der seidig glänzende Stoff ergänzte ihr elegantes Geschäftsoutfit, das aus dunkler Stoffhose und schmalem Gürtel mit ovaler Schnalle bestand. Dunkle Wildlederpumps und ein dezentes Make-up machten ihr Outfit perfekt. Sie strich nervös immer wieder eine hellblonde Strähne ihres Haars zurück und wartete auf ihre neuen Kollegen.

Jessica wusste genau, dass ihre Nervosität nicht ihrem ersten Arbeitstag als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Theo Nuccis Galerie geschuldet war. Vielmehr lagen ihre Nerven blank, weil sie nach Lissabon zurückgekehrt war – in die Stadt, in der sie erst ihr Herz und dann ihre Schwester verloren hatte. Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen loszuwerden. Vor ihrer Rückkehr hatte sie sich fest vorgenommen, nicht mehr an früher zu denken, schließlich brauchte sie ihre Kraft, um sich eine berufliche Zukunft aufzubauen. Sie plante sogar, ihre Doktorarbeit der portugiesischen Kunst zu widmen. Portugal war nicht nur die Heimat ihrer Mutter, sondern die ihres Herzens, ganz gleich, wie schwer die Vergangenheit auf ihr lastete.

Trotz ihrer Selbstbeherrschung, die sie sich über die Jahre angeeignet hatte, brannten Jessicas Augen plötzlich, und sie musste mehrmals blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten. Mit aufbrechenden Gefühlen hatte sie gerechnet und es wäre ihr sicher besser gelungen, diese zu kontrollieren, wenn sich gestern nicht der schlimmste Tag in ihrem Leben zum dritten Mal gejährt hätte. Der Todestag ihrer Zwillingsschwester. Sie vermisste Zoe jeden Tag, auch wenn sie sich mittlerweile lieber an die schöne Zeit mit ihr erinnerte.

„Guten Morgen“, unterbrach die freundliche Stimme einer Frau ihre Gedanken.

Jessica drehte sich um und setzte ein Lächeln auf, obwohl ihr gerade nicht danach zumute war. „Guten Morgen, ich bin Jessica Williams, die neue wissenschaftliche Mitarbeiterin“, stellte sie sich in fließendem Portugiesisch vor. Ihre Mutter hatte zum Glück darauf geachtet, dass sie und Zoe Portugiesisch lernten – ein Pluspunkt, der ihr bei ihrer Bewerbung zugutegekommen war.

„Willkommen, ich bin Maria Silva und werde dich in den nächsten Tagen einarbeiten.“ Die Frau mittleren Alters legte ihre Handtasche auf dem Schreibtisch gegenüber ab.

Jessica war froh, nicht mehr allein zu sein. Die Erinnerungen glitten in ihr Unterbewusstsein zurück, während sie sich mit Maria Silva bekannt machte.

„Bevor die anderen kommen, zeige ich dir noch schnell die Ausstellungsräume. Ich weiß, du hast sie schon gesehen, aber es gibt ein paar interessante Hintergrundinformationen, die du zu den Künstlern wissen solltest, mit denen wir zusammenarbeiten.“

Jessica folgte Maria durch die verschiedenen Räume der Galerie und sog die Informationen zu den Ausstellungsstücken und Künstlern auf.

„Jetzt fehlt nur noch der Raum mit dem Engel des Milliardärs“, sagte Maria, als sie den Rundgang fast beendet hatten.

„Der Engel des Milliardärs? Meinst du den kleinen Raum mit den Engelsfiguren?“, hakte Jessica nach. Sie hatte diesen Teil der Galerie, der etwas verwinkelt war, nur kurz gesehen und freute sich schon darauf, die filigranen Engelsfiguren bei Gelegenheit in Ruhe zu betrachten.

„Ja, wir nennen ihn so, weil ein wohlhabender Freund von Theo regelmäßig dort zu Besuch ist. Theo macht ein riesiges Geheimnis um ihn. Alles, was wir wissen, ist, dass er die Ausstellung mit den Engeln finanziert hat und selbst ihr bester Besucher ist.“ Maria sprach mit gesenkter Stimme, während sie den Gang zu dem kleinen Raum nahmen, in dem die Engelsfiguren standen. „Im Übrigen ist der Mann wahnsinnig attraktiv“, fügte sie mit einem vielsagenden Lächeln hinzu.

Alvaro sah sehnsüchtig zu der grazilen Figur auf dem Sockel hinauf. Der glatte Marmor und Einzelheiten wie Augenlider, Nasenflügel und Lippen waren fein gearbeitet. Die Figur trug ein schlichtes Kleid mit einer Kordel um die schmale Taille. Eine der feingliedrigen Hände streckte sie einladend nach vorne, den schlanken Oberkörper leicht vorgebeugt, sodass sie ihren Betrachter ihrerseits direkt ansah.

Die steinernen Engelsflügel erschienen zu groß und zu schwer für diese feine Statue, doch ihr fester Stand ließ auf einen starken Willen schließen. Ihr ebenmäßiges Gesicht wirkte friedlich. Wie sehr wünschte Alvaro sich, den gleichen Frieden mit seinem Schicksal zu finden. Solange er im Ausstellungsraum mit den Engelsfiguren verweilte, konnte er diesen seelischen Frieden beinahe greifen. Senhora Castelo sorgte stets dafür, dass er vor den Öffnungszeiten vom Personal eingelassen wurde, das hatte er Theo zu verdanken.

Alvaro wurde durch das Geklapper hochhackiger Schuhe auf dem harten Steinboden aus seinen Gedanken gerissen. Das helle Klack-Klack im Hintergrund störte ihn zusehends, und er wandte sich ärgerlich der Quelle des Lärms zu. Zwei Frauen erschienen im Gang.

Ein Schock durchfuhr ihn.

Die dunkelhaarige Frau blieb überrascht stehen, aber die jüngere, hellblonde ging noch ein paar Schritte auf ihn zu, ehe ihr offenbar bewusst wurde, dass ihre Begleitung nicht mehr neben ihr war. Ihre dunkelblauen Augen richteten sich direkt auf ihn und weiteten sich erschrocken bei seinem Anblick. Ihre zartroten Lippen zitterten und öffneten sich leicht. Er konnte spüren, wie sie innerlich erbebte.

„Zoe“, raunte er. Sie war es – seine Verlobte stand leibhaftig und mit großen, verängstigt dreinblickenden Augen keine fünf Meter vor ihm! Seine Muskeln zogen sich Faser für Faser zusammen. Das Blut rauschte durch seine Adern und Erregung erfasste ihn. Nein, das war nicht Zoe, wurde ihm bewusst. Vor ihm stand ihre Zwillingsschwester.

Jessica.

Alvaros Herz raste. Etwas an der Art, wie Jessica ihn ansah, wühlte ihn auf, und er wollte plötzlich die Wärme ihres Körpers an seiner Haut spüren. Mit aller Macht stemmte er sich gegen den Wunsch, näher zu treten, ihre schlanke Taille zu umfassen und sie besitzergreifend an sich zu ziehen.

Vor drei Jahren hatte er diese unmoralische Grenze schon einmal überschritten und sich geschworen, diesen Fehler nie wieder zu begehen.

Er ballte die Hände zu Fäusten und riss sich mit aller Macht zusammen. Sie ist nicht Zoe, mahnte er sich in Gedanken, drehte sich hastig um und schritt in die entgegengesetzte Richtung durch die Tür und auf den Seitenausgang zu, durch den er gekommen war.

Das konnte doch nicht sein! Jessica verharrte noch immer in Schockstarre, nachdem Alvaro den Ausstellungsraum verlassen hatte.

Nein, sie hatte sich sein Erscheinen nicht eingebildet. Wer konnte eine solche imposante Männergestalt wie Alvaro Braganza auch nur erträumen? Er trug einen dunklen Maßanzug, überragte sie um mehr als einen Kopf und hatte einen athletischen Körper mit breiten Schultern – breiter und muskulöser, als sie ihn in Erinnerung hatte.

Sein Blick aus mokkabraunen Augen hatte sie durchdrungen und heißes Prickeln auf ihrer Haut verursacht.

Sofort wurde die Erinnerung an ihre letzte Begegnung wach. Jene verbotenen Gedanken an Alvaros Arme um sie, an seine Lippen, die sich hart und verlangend auf ihre pressten! Wie hatte sie jemals glauben können, ihre Gefühle für ihn unter Kontrolle zu haben?

Noch immer standen ihr die feinen Nackenhaare zu Berge, so intensiv hatte er sie betrachtet. Sie hatte allerdings auch den Schock in seinem markanten Gesicht bemerkt und die darauffolgende Hoffnung, die sich schnell in Enttäuschung verwandelte.

Hatte er im ersten Moment gedacht, Zoe stünde vor ihm? Jessica meinte, er hätte sogar den Namen ihrer Schwester geflüstert. Der Gedanke schmerzte sie, wie ihr bitter bewusst wurde. Sie hatte vermutlich nie aufgehört, Alvaro zu lieben, obwohl er sie drei Jahre zuvor aus seinem Leben verbannt hatte.

Atemlos starrte sie den Gang hinunter, den er genommen hatte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Maria.

„Was?“ Jessica drehte sich verwirrt zu ihrer Kollegin um. „Entschuldige … ja, alles bestens.“

„Du bist ganz blass geworden.“

„Ich … bin nur etwas müde vom Umzug“, tat sie hastig ab und setzte ein Lächeln auf. „Danke für die Führung.“

„Gerne. Die anderen dürften mittlerweile da sein, dann lernst du gleich das gesamte Team kennen.“ Ihre Kollegin lehnte sich vertraulich zu ihr. „Das war er übrigens, der geheimnisvolle Freund von Theo“, sagte sie. „Ist er nicht wahnsinnig attraktiv?“

„Ja“, sagte Jessica tonlos. Innerlich zerbrach sie jedoch in tausend Scherben. Alvaro hatte sich einfach umgedreht und war fortgegangen, und das traf sie, obwohl sie selbst völlig erschüttert wegen der überraschenden Begegnung war. Sie musste sich erst mal beruhigen und dankte ihrem Talent, nach außen hin die Fassung wahren zu können – etwas, das sie einst gelernt hatte, um das Glück ihrer Schwester nicht zu zerstören.

Aber was nutzten ihr dieser Schutzmantel und ihre Maske der Gleichgültigkeit, wenn die Liebe ihres Lebens in derselben Stadt lebte wie sie? Alvaro war offenbar nicht mehr in Frankreich, wie sie bisher angenommen hatte. Wenn sie das nur gewusst hätte – sie wäre unter diesen Umständen niemals nach Lissabon gezogen.

Was sollte sie jetzt nur tun?

2. KAPITEL

„Ich dachte, Alvaro lebt in Frankreich“, war das Erste, was Jessica hervorbrachte, als sie am Abend mit dem Handy am Ohr ihr Apartment betrat.

„Wie bitte? Wovon redest du, Schatz?“, fragte ihre Mutter verwirrt.

„Alvaro Braganza. Ich habe ihn heute zufällig getroffen. Sagtest du nicht, er hätte Portugal für immer verlassen?“ Es entstand eine kurze Pause, ehe Ester Williams antwortete.

„Das ist fast drei Jahre her, Jessica. Tiziana erzählte mir vor einigen Monaten, dass Alvaro im Begriff sei, zurückzukommen. Wenn du nicht jede Information über die Braganzas abgeblockt hättest, wüsstest du es.“

„Und ihr seid nicht auf die Idee gekommen, mich zu warnen, als ich euch von der Stelle in Lissabon erzählte, für die ich eine Zusage erhalten habe?“

„Ehrlich gesagt dachten wir, es sei eine gute Gelegenheit für eine Aussprache zwischen euch. Wir haben sowieso nie verstanden, warum ihr nach Zoes Beerdigung nicht mehr miteinander gesprochen habt.“

Jessica schloss für einen Moment die Augen, als die Erinnerung an die Beerdigung über sie hereinbrach. Sie war Alvaro in einen Nebenraum gefolgt, um ihn zu trösten, da zog er sie plötzlich in seine Arme und küsste sie verzweifelt. Nachdem er zur Besinnung gekommen war, war es zu spät. Sie hatte seinen Kuss erwidert und sehnte sich nach weiteren.

Die Reue und Selbstverachtung war ihm deutlich anzusehen gewesen.

Sie selbst hatte sich zutiefst geschämt, aber ein Teil von ihr sehnte sich danach, die sündige Tat zu wiederholen. Auch drei Jahre später hatte sich nichts an ihren Gefühlen für Alvaro geändert. Die überraschende Begegnung in der Galerie hatte alles wieder aufgewühlt. Dabei wollte sie die Vergangenheit hinter sich lassen und ihr Leben endlich in den Griff bekommen.

„Es ist allein meine Angelegenheit, ob ich mich mit ihm ausspreche“, versetzte sie schärfer als gewollt. Sie wusste ja, dass ihre Eltern nichts für das unterkühlte Verhältnis zwischen ihr und Alvaro konnten. Sie hatte ihnen nie erzählt, was sich im Nebenraum der Kirche abgespielt hatte.

Nach dem Wiedersehen mit Alvaro lagen ihre Nerven nun jedoch blank. Jessica ließ sich erschöpft auf die Couch fallen. „Tut mir leid, Mama, ich wollte dich nicht anfahren. Es ist nur der Schock.“

„Vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn ihr euch aussprecht. Warum machst du nicht den ersten Schritt?“, schlug Ester Williams vorsichtig vor.

Darüber konnte Jessica nur bitter lachen. Alvaro ertrug es nicht mal, mit ihr im selben Raum zu sein. Er hatte sie erst eine geschlagene Minute lang angestarrt, dann hat er sich einfach umgedreht und war gegangen. Eine Aussprache war unter diesen Umständen wohl kaum möglich. Abgesehen davon wollte sie sich lieber von ihm fernhalten.

„Danke für deine Fürsorge, Mama, aber das ist keine gute Idee.“ Die Entschlossenheit in ihrer Stimme, ließ keine weitere Diskussion zu, und ihre Mutter wechselte daraufhin taktvoll das Thema.

Nach dem Telefonat bereitete Jessica einen Salat zu und notierte sich zwischendurch die Dinge, die ihr in dem kleinen Einzimmerapartment fehlten. Mittendrin ließ sie den Stift plötzlich fallen und begann zu weinen. Es war ja niemand anders da, da konnte sie es sich erlauben, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Zugleich ärgerte sie sich über ihre unmögliche Situation. Sie hatte nicht damit gerechnet, Alvaro in Lissabon zu begegnen. Sie hatte sich so sehr auf den Neuanfang gefreut. Nirgendwo fühlte sie sich mehr zu Hause als hier. Genau deshalb durfte sie sich durch die Begegnung mit Alvaro nicht verunsichern lassen.

Sie sollte es als Prüfung betrachten, die sie bestehen musste, um sich von der Vergangenheit loszureißen. Alvaro hatte immerhin deutlich gemacht, dass er sie nicht sehen wollte, sonst wäre er nicht einfach gegangen. Jessica wusste, woran er gedacht hatte, denn die gleiche Schuld wie damals hatte ihm im Gesicht gestanden: der verzweifelte, leidenschaftliche Kuss in der Kirche auf Zoes Beerdigung – an jenem Tag, der eigentlich der Hochzeitstag ihrer geliebten Schwester hätte sein sollen. Noch heute plagten sie schwere Schuldgefühle. Sie hatte zwar nicht den ersten Schritt getan, aber sie hatte Alvaro auch nicht aufgehalten.

Seine Worte hallten in ihrer Erinnerung wider.

Tja, dafür ist es wohl zu spät, dachte sie bitter.

Jessica wischte sich die Tränen von den Wangen und nahm den Stift zur Hand. Die Vergangenheit konnte sie nicht ändern, aber sie war fest entschlossen, sich in Lissabon eine Zukunft aufzubauen. Es gab da nur ein Problem, Alvaro war der geheimnisvolle Freund ihres Chefs, und wenn sie Maria richtig verstanden hatte, kam er regelmäßig in die Ausstellung. Jessica war sicher, dass er dies auch in Zukunft tun würde, denn sie kannte nun den Grund dafür: Der Engel auf dem Sockel sah aus wie Zoe.

Es war fünf Uhr in der Frühe und Alvaro lag schlaflos in seinem Lissabonner Apartment. Die Bettdecke verbarg seinen nackten Körper halbwegs, während er, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, an die Decke starrte. Er war nach Portugal zurückgekehrt und offenbar hatte Jessica die gleiche Idee gehabt. Er war ein Realist, aber ein Teil von ihm sehnte sich nach Antworten – Antworten, die ihm weder Wissenschaft noch Logik liefern konnten.

So sicher, wie er sich auf den ersten Blick in Zoe verliebt hatte, so sicher gab es unerklärliche Dinge in dieser Welt, die man nur mit dem Herzen verstand. Die Begegnung mit Jessica Williams musste ein solches Ereignis sein, anders war nicht zu erklären, dass sie beide fast zur gleichen Zeit nach Portugal zurückgekehrt waren. Er hatte gestern von seinem Freund Theo erfahren, dass Jessica Williams dessen neue wissenschaftliche Mitarbeiterin war.

Von allen Galerien in Lissabon war sie ausgerechnet in Theos eingestellt worden.

Womöglich war die Begegnung mit Jessica das Zeichen, auf das er gewartet hatte. Das Zeichen, dass er endlich mit der Vergangenheit abschließen und ein neues Leben beginnen musste.

Hatte er sich nicht genau danach gesehnt? Ein Neuanfang! Wer käme besser infrage, ihm dabei zu helfen, als Jessica Williams?

Entschlossen setzte er sich auf und schob die Decke weg. Nackt ging er zum Laufgerät und schnappte sich auf dem Weg die Trainingshose aus Baumwolle von einem Stuhl.

Seine Familie lebte fünf Kilometer entfernt in der Nähe des Hafens, aber er bevorzugte sein Apartment in der Innenstadt, da er manchmal an Schlaflosigkeit litt und sich für seine nächtlichen sportlichen Aktivitäten nicht ständig rechtfertigen wollte. Abgesehen davon ertrug er die mitleidigen Blicke seiner Familie nicht.

Er schaltete das Laufgerät an und gab ein einstündiges Programm ein. Langsam nahm eine Idee in seinem Kopf Gestalt an, während er die Übungen durchführte. Er hatte Zoe zuletzt in der Villa lebend gesehen. Sie hatten über ihre Einrichtungsideen gesprochen, ehe seine Verlobte das Thema wechselte und wenige Minuten später völlig aufgelöst davonfuhr. Alvaro hatte sich bisher nicht überwinden können, die Villa selbst einzurichten. Zu sehr erinnerte es ihn an die letzten Minuten mit Zoe.

Genau dort musste er ansetzen.

Jessica kannte Zoes Vorlieben, ihren Stil, einfach alles. Sie könnte die Casa Vista so einrichten, als hätte Zoe selbst es getan. Die Festung würde sich in ein Zuhause verwandeln, wie er es sich wünschte.

Die Begegnung mit Jessica war seine Chance, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. So schwer ihm diese Aufgabe auch erschien, er durfte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.

„Guten Morgen, Theo“, begrüßte Alvaro den älteren Herrn hinter dem antiken Schreibtisch. Der Galeriebesitzer sah von seinem Arbeitspapier auf, und ein Lächeln breitete sich über sein faltiges Gesicht aus.

„Alvaro Braganza, welche Freude“, rief er aus und wollte aufstehen.

„Bleib bitte sitzen. Vater sagte mir, dass du dir beim Golfen kürzlich leicht den Rücken gezerrt hast.“

„Ach, Unsinn! Nino ist nur ein schlechter Verlierer“, wetterte der Freund seines Vaters mit einem noch breiteren Grinsen, das sich jedoch kurz verzog, als er sich zurücklehnte. „Der alte Junge hat bereits die fünfte Partie hintereinander verloren, und ich bin fest entschlossen, meine Glückssträhne fortzuführen“, sagte Theo kampflustig und rieb sich unbewusst die offenbar schmerzende Seite. „Was führt dich zu mir, Junge? Senhora Castelo sagte mir, dass es dringend ist, weshalb ich dich zwischen zwei Termine geschoben habe. Ich habe deshalb leider nur fünf Minuten, aber wir können später gerne gemeinsam essen gehen, wenn du Zeit hast.“

„Vielen Dank, ich bin mit Vater zum Lunch verabredet. Wir würden uns freuen, wenn du dazukommst.“

„Im Albatros?“

„Ja, um eins.“

„Gut, gut.“ Theo betrachtete ihn für einen Moment. „Aber das ist nicht der Grund deines dringenden Besuchs bei mir, nehme ich an?“

„Nein.“ Alvaro bemühte sich, die Fassung zu wahren, obwohl die verschiedensten Gefühle in ihm tobten. „Es geht um deine neue Mitarbeiterin, Jessica Williams.“

„Ah, die junge Frau aus Amerika, wegen der du mich gestern anriefst. Sie hat mich gleich in der ersten Minute überzeugt. Ein kluger Kopf, und sie spricht fließend Portugiesisch. Was ist mit ihr?“

„Sie sie ist die Schwester meiner verstorbenen Verlobten.“

Theo wurde ungewohnt blass bei diesen Worten, und Alvaro beeilte sich, ihn zu beruhigen. „Du konntest es nicht ahnen, ich mache dir keinen Vorwurf daraus“, warf er schnell ein. Außerdem hatte Jessica vermutlich angenommen, er würde noch im Ausland leben, sonst wäre sie niemals nach Portugal zurückgekehrt.

Er hatte die ganze Nacht über ihr unerwartetes Wiedersehen gegrübelt, und jedes Mal war er zum selben Schluss gekommen: Um mit Zoes Tod abzuschließen, brauchte er einen richtigen Abschied. Erst dann konnte er in die Zukunft blicken und seinem Leben einen neuen Sinn geben. Und dafür brauchte er Jessica.

Er hatte nur den Vormittag über Zeit, ehe er sich mit seinem Vater zu einem Geschäftsessen treffen und im Anschluss einen längeren Termin bei der Bank wahrnehmen musste. Außerdem fürchtete er, dass er es sich anders überlegen und sich wieder in seine Festung verkriechen würde, wenn er die Aussprache mit Jessica auch nur um einen Tag verschob. Nein, er musste ihr heute noch gegenübertreten.

„Ich habe ein paar dringende Angelegenheiten mit Jessica zu besprechen. Würde es dir etwas ausmachen, ihr den Vormittag freizugeben? Ich komme selbstverständlich für die Unkosten auf.“

„Ich hatte keine Ahnung von ihrer Verbindung zu eurer Familie, Alvaro. Ich kenne dich nun seit zwei Jahren und wusste, dass du mal verlobt warst, aber nicht, mit wem“, begann Theo und sprach sodann sein Bedauern über die unglückliche Situation aus. „Wenn dies dein einziger Wunsch ist, erfülle ich ihn dir gerne. Ich kann Jessica allerdings nicht zwingen, sich darauf einzulassen“, äußerte er seine Bedenken.

„Du wirst es schon schaffen“, sagte Alvaro unnachgiebig. Ihm war klar, dass er Theo in Schwierigkeiten brachte, aber der Galerist schuldete ihm einen Gefallen, nachdem er ihn in der Wirtschaftskrise ein paar Jahre zuvor vor dem Bankrott gerettet hatte.

Theo nickte als Zeichen dafür, dass er verstanden hatte. Er wusste um seine Schuldigkeit, und der Gefallen, um den Alvaro ihn bat, erschien ihm im Grunde harmlos.

„Ich hoffe, zwischen dir und Jessica Williams herrscht kein Unfrieden?“, fragte er sicherheitshalber. „Du willst hoffentlich nicht, dass ich eine qualifizierte Kraft entlasse?“

„Auf keinen Fall, ich brauche Jessica.“ Seine Worte wurden Alvaro erst bewusst, als er sie ausgesprochen hatte. Theo musterte ihn für einen Moment interessiert, dann erhob er sich vorsichtig von seinem Stuhl.

„Ich muss leider los. Es war schön, dich zu sehen, und ich freue mich auf den gemeinsamen Lunch nachher. Lass mich kurz im Sekretariat Bescheid geben. Jessica und du könnt eure Unterredung hier im Büro führen, da seid ihr ungestört.“

Theo zwinkerte ihm freundschaftlich zu, ehe er ging.

Jessica fragte sich, was Theo so Dringendes mit ihr besprechen wollte, als sie den Anruf von Senhora Castelo erhielt.

„Ich beeile mich“, entschuldigte sie sich bei ihren Kollegen, mit denen sie gerade eine neue Ausstellung für den Herbst besprach.

Sie machte einen Abstecher in den Waschraum, der auf halbem Weg zu Theos Büro lag. Dort strich sie ihr hellblondes Haar ordentlich zurück und überlegte, ob irgendetwas vorgefallen war. Sie hatte jedoch erst gestern in der Galerie angefangen und bisher lief alles bestens – von der unerwarteten Begegnung mit Alvaro mal abgesehen. Sie zupfte ihr hellgraues Kleid zurecht, ehe sie den Waschraum verließ und den Gang hinunter zu Theos Büro nahm. Hoffentlich wird es nicht allzu lange dauern, dachte sie, als sie Senhora Castelo im Vorzimmer begrüßte.

„Sie werden bereits erwartet.“ Die Sekretärin nickte in Richtung Chefzimmer.

Jessica spürte deren neugierigen Blick auf dem Rücken, als sie kurz anklopfte und hineinging. Je eher sie zur Projektbesprechung zurückkam, desto besser.

„Guten Morgen“, setzte sie zu einer Begrüßung an, dann stockte ihr der Atem und sie blieb wie erstarrt stehen.

Theo war nicht in seinem Büro.

Dafür stand keinen halben Meter von ihr entfernt niemand Geringeres als Alvaro Braganza!

Der Portugiese mit den markanten Gesichtszügen sah sie mit seinen glutvollen dunklen Augen an wie eine Beute, die ihm in die Falle gegangen war.

Jessica machte den Fehler zu atmen, und sein maskuliner Duft, der sie an sonnenverwöhntes Holz, Minze und Moschus erinnerte, benebelte sofort ihr Gehirn. Sie schämte sich sogleich, weil allein dieses Aroma genügte, damit sie schwach wurde.

Trotz ihrer hochhackigen Schuhe überragte Alvaro sie um mehr als einen Kopf. Seine breiten Schultern überschatteten sie und ließen ihre Statur noch zierlicher wirken. Jessicas Knie waren plötzlich wie Pudding. Sie starrte zu ihm hinauf und schluckte trocken. Instinktiv wollte sie ihre Hände auf seine breite Brust legen und sich an seinen festen Körper schmiegen.

Das darfst du nicht, du würdest Zoe unglücklich machen!

Dieser Gedanke, der sie schon so viele Jahre begleitete, schoss ihr sofort durch den Kopf. Dann aber fiel ihr ein, dass ihre Schwester nicht mehr lebte und sie ihre wahren Gefühle nicht weiter verbergen musste – hätte sie nicht den schändlichen Kuss erwidert, dessentwegen Alvaro sie vor drei Jahren aus seinem Leben verbannt hatte.

Wie sehr musste dieser Mann ihren Anblick verabscheuen. Immerhin hatte sie ihn dazu gebracht, sie auf der Beerdigung seiner eigenen Verlobten zu küssen. Die verbotenen Minuten in seinen Armen hatten nicht nur die Freundschaft mit Alvaro zerstört, sondern ihr Selbstbild so stark verzerrt, dass es ihr unmöglich war, sich auf eine tiefergehende Beziehung einzulassen. Ihre Schuldgefühle verwehrten ihr jedes Recht auf Liebe.

Ihr Herz sank immer tiefer und sie entfernte sich rückwärts von Alvaro, bis sie nicht mehr mit jedem Atemzug den Duft seines Aftershaves inhalierte. Endlich konnte sie wieder klar denken – zumindest so weit, dass sie ihn nicht mehr verängstigt wie ein Reh anstarrte.

„Was willst du?“, fragte sie so gefasst wie möglich. Alvaro sah sie einen langen Moment an, und die Intensität, mit der er dies tat, jagte eine heiße Welle durch ihre Mitte. Jessica spürte, wie ihr Körper nach dem ersten Schock sogar noch stärker auf ihn reagierte. Ziehende Lust machte sich zwischen ihren Beinen bemerkbar, und ihre Brustwarzen zogen sich zusammen.

Alvaro senkte leicht den Blick, als könnte er durch ihr Kleid und den Stoff ihres BHs ihre hart gewordenen Brustspitzen begutachten. Seine Lider flatterten kurz, und er schien leise nach Luft zu schnappen, ehe er sich mit düsterer Miene abwandte.

„Wir sollten einander nicht länger aus dem Weg gehen, Jessica“, sagte er mit samtig-dunkler Stimme.

Für einen Moment war Jessica sprachlos, ehe die Wut ihr in die Knochen fuhr und jede Lust übertünchte.

„Du warst derjenige, der mir gesagt hat, dass ich aus deinem Leben verschwinden soll!“

Aufgebracht funkelte sie Alvaro an, der auch nach ihrem Umzug in die USA jeden ihrer Gedanken beherrscht hatte. Wie oft hatte sie versucht, einen Mann kennenzulernen, und war ein ums andere Mal zu dem Schluss gekommen, dass keiner Alvaro Braganza das Wasser reichen konnte. Und jedes Mal, wenn sie jemanden küsste, erinnerte es sie an den sündigen Kuss auf Zoes Beerdigung und verdarb ihr jeden Versuch, ihre Jungfräulichkeit abzulegen.

Sie hatte allen Grund, Alvaro dafür zu hassen, dass er ihr Liebesleben beherrschte und sie wegen seines Kusses mit vierundzwanzig Jahren noch immer Jungfrau war. Stattdessen machte sein Anblick sie atemlos. Ihr Brustkorb hob und senkte sich vor Aufregung, weil er ihr so nahe war. Jessica spürte Hitze in ihre Wangen steigen, doch sie wusste nicht, ob es an der Scham wegen ihrer nach wie vor vorhandenen Schwäche für ihn lag oder vielmehr an der neu entfachten Sehnsucht, die heftig in ihr pochte.

„Ich … möchte dich um einen Gefallen bitten“, begann Alvaro zögernd.

„Wenn du glaubst, dass ich meine Stelle aufgebe und Lissabon verlasse, nur weil du auch drei Jahre nach Zoes Tod meinen Anblick nicht erträgst, hast du dich geschnitten, Alvaro Braganza!“ Er schien für einen Moment amüsiert über ihre feurige Abwehrreaktion, was Jessica nur noch mehr auf die Palme brachte. Dann aber kehrte der Ernst in seine Gesichtszüge zurück und die Traurigkeit, die von ihm ausging, weckte sofort zärtliche Gefühle bei ihr, die sie mit aller Macht unterdrücken musste. Sie hatte ihm damals auch Trost spenden wollen und das hatte mit einem Desaster geendet, das ihre Freundschaft für immer zerstören sollte.

„Ich bin froh, dass du hier bist“, sagte er leise.

Misstrauisch musterte Jessica ihn. Alvaro Braganza war froh, sie zu sehen? Das konnte sie sich kaum vorstellen.

„Ich weiß immer noch nicht, was du von mir willst.“ Herausfordernd hob sie das Kinn.

„Vielleicht setzen wir uns kurz“, schlug er vor und deutete auf die Sitzecke in Theos Büro.

„Nein, danke.“

„Verdammt, Jessica. Ich will doch nur mit dir reden.“ Alvaro kam mit düsterer Miene auf sie zu.

Jessica wich zurück, bis sie die Tür in ihrem Rücken spürte. „Bedaure, ich habe keine Zeit“, sagte sie so gefasst wie möglich.

„Doch, die hast du. Theo gibt dir den Vormittag frei.“

„Das hast du nicht gewagt“, zischte sie.

„Ich kann mir alles erlauben, mein Engel“, zischte er zurück und kam noch näher. „Ohne mich hätte Theo seine Galerie nicht mehr, deshalb wird er mir jeden Wunsch erfüllen, den ich vorbringe.“

Er blieb dicht vor ihr stehen und stützte seine Hände links und rechts neben ihrem Kopf ab. Dieses Mal konnte sie ihm nicht ausweichen, also sah sie kampfbereit zu ihm auf.

„Jetzt sieh mich nicht an wie eine Katze, die mir jeden Moment die Augen auskratzen will“, sagte er mit dunkler Stimme.

„Keine schlechte Idee“, entgegnete sie und entlockte ihm ein kleines schiefes Lächeln. Ihr Blick verfing sich an seinen Lippen und dem stoppeligen, markanten Kinn.

„Es tut mir leid, dass ich gestern einfach gegangen bin“, sagte Alvaro in versöhnlicherem Ton.

„Du dachtest im ersten Moment, ich wäre Zoe, nicht wahr?“ Jessica spürte, wie er leicht zusammenzuckte.

„Ja“, gab er leise zu.

Ein kleines Wort, das sich wie ein Schnitt ins Herz anfühlte.

Die Sehnsucht in seinem Gesicht gestern hatte nur ihrer Schwester gegolten. Niemals würde sich ihr heimlicher Traum erfüllen – niemals würde Alvaro Braganza sie so ansehen.

„Jessica, ich brauche dich“, raunte er in diesem Moment.

Er hatte kaum ausgesprochen, als schon eine neue Flut aus Verlangen und Hoffnung durch ihr Herz schwappte. „Alvaro …“, flüsterte sie sehnsüchtig.

Sein Blick flackerte über ihr Gesicht, und als er den Kopf senkte und seine Lippen ihre einnahmen, seufzte Jessica leise auf. Sie spürte, wie er sie leicht anhob und sie an seinen festen, warmen Körper presste. Seine Erektion war mehr als deutlich an ihrem Unterbauch zu spüren. Alvaros Zunge forderte Einlass, und Jessica öffnete instinktiv ihre Lippen und schlang die Arme um seinen Nacken, um den Kuss zu vertiefen. Alvaro stöhnte in ihren Mund und küsste sie verheißungsvoll langsam. Seine Zunge umspielte ihre geschickt und fachte Jessicas Verlangen noch mehr an.

Wie lange hatte sie sich danach gesehnt, wieder in dieser Weise von ihm berührt zu werden!

Jessica legte ein Bein um seine Taille und konnte ein Aufkeuchen nicht unterdrücken, als Alvaro mit einer Hand ihren Oberschenkel unter dem Kleid streichelte, immer höher, bis er ihren Po umfasste und sich auch ihr anderes Bein um seine Taille schlang. Sie spürte nun seine volle Härte zwischen ihren Beinen.

Er war so erregt und sie war absolut bereit für ihn. Verführerisch ließ sie ihre Hüften kreisen, was Alvaro ein Stöhnen entlockte.

Sie wollte ihn, hier und jetzt.

Viel zu lange schon hatte sie auf ihn warten müssen.

Wäre er damals nur nicht mit Zoe ausgegangen, dann …

Wie eine kalte Dusche überschwemmte sie die Erinnerung an ihre Schwester und mit ihr die Schuldgefühle. Jessica löste sich aus dem Kuss. Scham und Sehnsucht rangen in ihrem Herzen miteinander.

„Nicht“, bat sie kaum hörbar.

Alvaro hielt schwer atmend inne und sah sie mit fiebrigem Blick an.

„Stopp“, sagte Jessica.

Er ließ sie runter und taumelte einen Schritt zurück. Sein vom Verlangen benebelter Blick wurde klarer und ein Ausdruck des Entsetzens trat auf sein Gesicht.

Genau wie damals in der Kirche, dachte Jessica bitter. Sie hatten Zoe schon wieder verraten.

Bevor Alvaro auch diesmal vorbringen konnte, wie sehr er den Kuss bereute, riss Jessica die Tür auf und lief hinaus. Nein, sie wollte nicht erneut von seinen Worten verletzt werden.

Das Vorzimmer war zum Glück in diesem Moment nicht besetzt. Erleichtert, dass sie sich für ihre Flucht nicht erklären musste, nahm sie den kürzesten Weg zu den Waschräumen und schloss sich in eine der Kabinen ein.

Nach zehn Minuten, die sie in der Toilettenkabine verbrachte, beruhigte sich ihr Atem, und auch die Tränen versiegten endlich. Ihre Nerven lagen noch immer blank, aber wenigstens konnte sie wieder klar denken. Alvaro kannte also ihren Chef und hatte sich hinter ihrem Rücken in ihr Leben eingemischt. Und obendrein hatte er sie erneut geküsst und die alten Schuldgefühle bei ihr geweckt.

Wut stieg in ihr auf.

Mit welchem Recht tauchte er einfach hier auf und durchkreuzte ihre Zukunftspläne? Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und straffte die Schultern. Nein, sie würde sich nicht vom Schmerz überwältigen lassen, der sie die letzten Jahre beherrscht hatte, nur weil Alvaro Braganza sich herabließ, sie zu kontaktieren.

Ich brauche dich, Jessica.

Das waren seine Worte gewesen. Selbst jetzt noch bekam sie eine Gänsehaut beim Gedanken daran. Wozu brauchte Alvaro sie, nachdem er sie drei Jahre zuvor aus seinem Leben verbannt hatte?

Aber nein, sie sollte sich keine weiteren Gedanken mehr um ihn machen. Es ging hier nicht um Alvaro, sondern um ihre Zukunft. Sie war nach Lissabon zurückgekehrt, weil sie sich hier zu Hause fühlte. Zum ersten Mal war sie ihrem Herzen gefolgt, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen. Es sollte ein Neuanfang sein. Was auch immer Alvaro von ihr wollte, sie würde sich nicht darauf einlassen.

Entschlossen verließ sie die Kabine und wusch sich das Gesicht am Waschbecken. Danach sah sie einigermaßen annehmbar aus, schließlich war sie eine Meisterin darin, ihre wahren Gefühle vor anderen zu verbergen.

Vorsichtig strich sie mit den Fingerspitzen über ihre Lippen. Sie brannten noch immer von Alvaros Küssen. Seine Bartstoppeln hatten eine leichte Röte auf ihrer Haut hinterlassen, genau wie damals. Aber es fiel nicht weiter auf.

„Vergiss nicht, dass er Zoe gemeint hat“, erinnerte sie sich und sah sich dabei fest im Spiegel in die Augen. „Nur deshalb hat Alvaro dich geküsst. Es geht ihm nicht um dich, er sieht nur deine Schwester in dir.“

Er hatte schließlich zugegeben, dass er bei ihrer unerwarteten Begegnung in der Galerie geglaubt hatte, sie wäre Zoe. Vorhin in Theos Büro war es nicht anders gewesen. Er würde Zoe immer lieben, da blieb kein Platz für sie.

Tapfer schluckte Jessica das Kloßgefühl runter und setzte ein Lächeln auf.

Sie musste aufhören, in der schmerzvollen Vergangenheit zu leben, und endlich an ihre Zukunft denken – eine glückliche Zukunft ohne Alvaro Braganza.

3. KAPITEL

Alvaro saß mit seinem Vater Nino und mit Theo im Albatros, einem noblen Restaurant, das sie regelmäßig besuchten. Nino Braganza zückte sein vibrierendes Handy aus der Sakkotasche.

„Das ist Lorenzo, vermutlich wegen des Kaufvertrags“, sagte er. „Entschuldigt mich bitte.“

Theo und er nickten ihm zu, als er den Stuhl zurückschob und diskret ins Telefon sprach. Alvaro nutzte die Gelegenheit, um Theo seinen Plan zu eröffnen, den er eigentlich mit Jessica persönlich hatte besprechen wollen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er sich genauso stark zu ihr hingezogen fühlen würde wie damals auf Zoes Beerdigung, und war mit dem Vorhaben in die Galerie gegangen, sie um Hilfe zu bitten. Aber dann war die Lust mit solcher Plötzlichkeit über ihn hergefallen, dass er Jessica beinahe an Ort und Stelle vernascht hätte.

Was auch immer ihn zu ihr hinzog, er musste dieses Verlangen überwinden, denn für seinen Plan brauchte er einen klaren Kopf. Jessica Williams war die einzige Person, die ihm dabei helfen konnte, seine Vergangenheit zu verarbeiten. Sie war der einzig passende Schlüssel zu seiner inneren Freiheit.

Er hatte es sich nach dem Desaster in Theos Büro gründlich überlegt und wollte an seinem Plan festhalten. Seine Villa in Sagres war der letzte Ort, an dem er Zoe glücklich erlebt hatte. Er hatte es satt, sich dort zu verkriechen und sein Schicksal zu bedauern. Er brauchte einen Neuanfang. Aber ohne Jessicas Hilfe würde er nie ein Zuhause aus der Villa machen können.

„Ich möchte, dass du Jessica Williams für ein halbes Jahr freistellst, damit sie in meinem Auftrag die Casa Vista einrichtet“, erklärte er Theo unumwunden. Der Galerist wurde blass angesichts dieser Forderung.

„War es das, was du heute Vormittag mit ihr besprochen hast?“, fragte er in der offensichtlichen Hoffnung, dass er lediglich eine Formalie erfüllen und sie freistellen musste.

„Nein. Wir … sind nicht dazu gekommen, etwas zu besprechen.“ Alvaro nahm sein Rotweinglas und schwenkte die purpurne Flüssigkeit darin. Die unauffällige Geste half ihm dabei, die Kontrolle über sich zu wahren, denn allein die Erinnerung an Jessicas geschmeidigen Körper, brachte Leben in jede seiner Zellen. „Falls du dir Sorgen wegen der Stelle machst, kann ich dich beruhigen. Ich lasse bereits auf meine Kosten einen Ersatz suchen.“

„Aber wie stellst du dir das vor?“, fragte Theo sichtlich unglücklich über seine Forderung. „Jessica Williams ist keine Innendesignerin, die ich in deinem Namen beauftragen kann.“

Natürlich war er auf Theos Einwand vorbereitet, er hatte Jessicas Lebenslauf auf der Webseite der Galerie gelesen.

„Sie hat ein halbes Semester Innendesign studiert, bevor sie zu Kunst wechselte, das genügt mir. Wie du sie überredest, ist mir egal. Sie soll sich morgen in meiner Villa einfinden, Punkt elf Uhr.“ Alvaro stellte sein Weinglas ab und sah Theo an. „Ich verlange nur diesen einen Gefallen von dir. Danach wäre alle Schuld zwischen uns getilgt.“

Seine letzten Worte erhellten Theos Gesicht etwas – genau wie er vorhergesehen hatte. Geschäftlicher Instinkt und der unbedingte Wille, zu bekommen, was er wollte, hatten ihn bisher an jedes Ziel gebracht.

Jessica würde er auch noch überreden, ihm trotz seines erneuten Fehlverhaltens zu helfen. Natürlich würde er in Zukunft Abstand wahren, um nicht wieder in Versuchung zu geraten. Er hatte von nun an alles unter Kontrolle und sein Plan würde wie vorgesehen aufgehen.

„Ich werde sehen, was ich tun kann“, sagte Theo.

Jessica schaute vorsichtig in Theos Büro. Tatsächlich saß dieses Mal ihr Chef hinter dem Schreibtisch. Heute Vormittag erst hatte Alvaro Braganza sie mit seinem kraftvollen Körper gegen die Tür gedrückt und sie leidenschaftlich geküsst. Der Gedanke ließ sie erröten. Sie atmete tief durch und betrat das Büro ihres Vorgesetzten.

„Sie wollten mich sprechen?“, fragte sie und hoffte, dass Theo das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte. Sie musste unbedingt aufhören, an Alvaro zu denken, ihr Gesicht glühte bereits vor Scham und verbotener Lust.

„Jessica, bitte setzen Sie sich doch.“ Theo stand auf und rückte ihr den Besucherstuhl zurecht.

Argwöhnisch folgte Jessica seiner Aufforderung. Theo war nett, aber dieses zuvorkommende Verhalten in Verbindung mit dem übertriebenen Lächeln war merkwürdig.

„Möchten Sie einen Kaffee?“

„Nein, danke. Können wir gleich zum Punkt kommen? Ich habe noch einiges zu tun, die Fotoausstellung eröffnet morgen, wie Sie wissen.“

„Darüber müssen Sie sich keine Gedanken mehr machen, ich habe nämlich einen wichtigen Sonderauftrag für Sie“, verkündete Theo fröhlich und setzte sich ihr gegenüber. Sein Lächeln wurde noch breiter, erreichte aber seine Augen nicht. „Was halten Sie davon, die Villa eines Kunden einzurichten, von den Möbeln bis hin zu den Kunstwerken?“

„Ich soll was?“

„Es ist ein exklusiver Auftrag, Sie bekommen das dreifache Gehalt“, erklärte Theo.

Für einen Moment herrschte Stille. Dann holte Jessica tief Luft. „Die Villa eines Kunden, ja?“, sagte sie und kniff die Augen leicht zusammen. „Ein guter Freund von Ihnen, nehme ich an?“

„Schon möglich, aber das ist doch nicht wichtig“, tat Theo ab. „Denken Sie an das Geld, Jessica! So viel könnte ich Ihnen hier nie zahlen. Der Auftrag ist auf sechs Monate begrenzt und Sie bekommen Ihre Stelle danach selbstverständlich wieder.“

Wut stieg in Jessica hoch. Sie wusste genau, wer hinter diesem Angebot steckte. Was Alvaro damit erreichen wollte, war ihr nicht klar, doch sie würde den Teufel tun, darauf einzugehen.

„Vielen Dank, dass Sie hierbei an mich gedacht haben, Theo“, sagte sie beherrscht. „Aber diese Aufgabe sollte ein Innendesigner übernehmen. Kann ich jetzt gehen?“

Theo öffnete den Mund, schloss ihn wieder und bedeckte verzweifelt sein Gesicht mit den Händen.

„Also gut, ich erzähle Ihnen alles. Aber bitte überlegen Sie es sich wenigstens. Wenn Sie ablehnen, dann …“ Er zuckte mit den Schultern und seufzte müde. „Das Angebot kommt von Alvaro Braganza“, gestand er endlich.

„Alvaro mag Ihre Galerie gerettet haben, Theo, doch das gibt ihm nicht das Recht, über Sie und Ihre Mitarbeiter zu bestimmen“, versetzte Jessica.

„Wenn es nur so einfach wäre, aber es geht nicht nur um die Galerie.“ Theo lehnte sich mit hängenden Schultern zurück. „Vor ein paar Jahren habe ich den dümmsten Fehler meines Lebens gemacht. Ich fiel auf eine kriminelle Machenschaft herein, eine Investmentfirma, die versprach, mein Vermögen zu verdoppeln. Ich gab ihnen alles, was ich liquidieren konnte. Es wäre vermutlich nur halb so schlimm geworden, wenn nicht die Wirtschaftskrise aufgetreten wäre. Ich war nicht nur ruiniert, sondern kurz davor, auch meinem Leben ein Ende zu setzen.“

„Das ist ja schrecklich“, rief Jessica erschrocken aus.

„Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich für meinen Fehler verachtet habe. Meine Frau verließ mich, meine Kinder warfen mir Verantwortungslosigkeit vor und verlangten Erklärungen. Nun ja, um es kurz zu machen, ich ging ein letztes Mal zum Golfclub, dem ich bereits meinen Mitgliedsbeitrag schuldig war. Ein letzter Schlag, dann wollte ich den Löffel abgeben. Nino hatte gerade erst in den Club gewechselt und Alvaro war auf einem seiner seltenen Besuche da. Es war pures Glück, dass ich so wunderbare Freunde fand, als ich sie am meisten brauchte. Alvaro merkte schnell, dass etwas mit mir nicht stimmte, und wollte wissen, was los ist. Ich erzählte ihm alles, auch von dem, was ich vorhatte. Er hat mir, ohne zu zögern, geholfen und dafür gesorgt, dass ich zur Besinnung kam. Sie sehen also, ich schulde Alvaro nicht einfach nur einen Gefallen, sondern mein Leben.“ Theo beugte sich vor und sah sie flehend an. „Würden Sie wenigstens darüber nachdenken, das Angebot anzunehmen, Jessica? Es soll nicht Ihr Schaden sein. Sie bekommen Ihre Anstellung in der Galerie nach sechs Monaten wieder, versprochen.“

„Die Casa Vista? Alvaro möchte, dass ich seine Villa in Sagres einrichte?“, fragte Jessica atemlos. Sie hatten es damals zusammen ausgesucht. Alvaro hatte sie um Rat gefragt, nachdem sie für die Hochzeit aus den USA eingeflogen war. Sie hatte sich auf der Stelle in die Villa am Meer verliebt und gewusst, dass Zoe ähnlich empfinden würde. Ihre Schwester war leidenschaftliche Seglerin gewesen und am Privatstrand war ein Bootssteg, von dem aus man direkt ablegen konnte. Zoe starb kurz vor der Hochzeit und zog nie in die Casa Vista ein.

Offenbar lebte Alvaro seit seiner Rückkehr alleine dort. Jessica erinnerte sich nicht, dass die Villa damals eingerichtet worden wäre, und offensichtlich war sie es auch drei Jahre nach Zoes Tod noch nicht. Warum aber sollte sie diese Aufgabe nun übernehmen?

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Alvaro wollte, dass sie an Zoes Stelle die Villa einrichtete. Er betrachtete sie als eine Art Ersatz!

„Es tut mir leid, Theo, doch ich kann nicht.“ Sie schluckte das Kloßgefühl in ihrem Hals hinunter.

„Ich verstehe.“ Theo rieb sich resigniert die Stirn. „Dann werde ich Alvaro absagen.“

„Nein, das mache ich lieber selbst.“ Jessica wunderte sich über ihre eigenen Worte. Aber sie spürte, dass eine persönliche Aussprache unumgänglich war. Wenn sie mit ihrer Annahme richtiglag, war dies der Grund für Alvaros Auftauchen am Morgen gewesen. Hätten sie nicht … Wäre es nicht zu dem Zwischenfall gekommen, hätte er ihr das Angebot vermutlich direkt gemacht.

Es ging hier nicht nur um die Einrichtung der Villa, sonst hätte er einen Innenarchitekten beauftragt. Das ausgerechnet sie die Casa Vista einrichten sollte, hatte einen tieferen Grund. Wollte er mit der Vergangenheit abschließen? Oder sah er Zoe in ihr und bildete sich ein, ihre Schwester durch sie ersetzen zu können?

Ein Schauer überlief sie. Was auch immer Alvaro sich dabei gedacht hatte, als er Theo erpresste, sie musste ihm Einhalt gebieten. Wenn sie es jetzt nicht tat, wäre sie niemals in der Lage, mit ihrer Vergangenheit abzuschließen. Alvaro würde sich ständig in ihr Leben einmischen und ihr einen Neuanfang unmöglich machen. Sie musste ihm klarmachen, dass er eine Grenze überschritten hatte und sie das nicht akzeptierte.

„Also gut, ich schreibe Ihnen seine Telefonnummer auf, dann können Sie ihm gleich absagen“, sagte Theo. „Es gibt da allerdings ein Problem.“ Er schluckte merklich. „Alvaro hat ohne mein Wissen einen Ersatz für Sie organisiert.“

„Bin ich etwa gefeuert?“, fragte Jessica entsetzt.

„Nein, natürlich nicht. Ich brauche aber ein paar Wochen, um die neue Kraft anderweitig unterzubringen. In irgendeiner befreundeten Galerie wird sich schon eine geeignete Stelle finden lassen, und Geld ist nicht das Problem, Alvaro hat Ihre Bezahlung und die der Ersatzkraft umgehend in die Wege geleitet.“

„Er scheint sich seiner Sache ja sehr sicher zu sein“, bemerkte Jessica und kam nicht umhin, seine Hartnäckigkeit zu bewundern.

„Wenn man die Mittel und Wege hat, sind solche Dinge in wenigen Stunden organisiert.“ Theo hob entschuldigend die Hände. „Ich habe selbst erst heute Mittag davon erfahren.“

Jessica schüttelte den Kopf über ihren Chef. „Gehört diese Galerie nun Ihnen oder Alvaro Braganza?“

„Bis auf die Engelausstellung gehört mir alles. Mein Vermögen und mein Leben habe ich jedoch Alvaro Braganza zu verdanken.“

Jessica stand auf und straffte die Schultern. „Aber mein Leben gehört mir, Theo. Und das werde ich Alvaro persönlich klarmachen. Ich fahre morgen früh nach Sagres.“ Sie setzte ein kampflustiges Lächeln auf. „Sie geben mir den Tag doch sicher frei, nicht wahr?“

„Nun ja …“ Theo zögerte, aber ein Blick in ihr entschlossenes Gesicht belehrte ihn schnell eines Besseren. „In Ordnung, Sie bekommen den Tag frei.“

4. KAPITEL

Am nächsten Morgen buchte Jessica einen Mietwagen und erreichte über die Autobahn dreieinhalb Stunden später die malerische Küstenlandschaft von Sagres. Hier tickten die Uhren gemächlicher als in Lissabon und sie genoss zu ihrer Überraschung die letzte Strecke der Tour, während der sie freien Blick auf den tiefblauen Atlantik hatte.

Vor drei Jahren war sie schon einmal mit Alvaro hier entlanggefahren, um die Villa zu besichtigen. Die Casa Vista lag gut geschützt vor neugierigen Blicken hinter einem Eisenzaun. Als Jessica das Tor erreichte, stellte sie fest, dass sich nicht viel geändert hatte. Nur das leise Surren der Kameras war neu. Sie stieg aus und ging auf die Gegensprechanlage zu.

Auf Außenstehende würde der blickdichte Zaun mit den Überwachungskameras einschüchternd wirken, aber sie ließ sich davon nicht beeindrucken. Es gab Dinge, die man auch mit Geld nicht kaufen konnte, und Alvaro war das beste Beispiel dafür. Nichts brachte ihm Zoe zurück und nun fixierte er sich offensichtlich auf sie.

Jessica war sich nicht sicher, doch ihrer Vermutung nach projizierte er ihre Schwester auf sie. Das dürfte zumindest seine leidenschaftlichen Küsse erklären.

Bevor sie den Knopf drücken konnte, der sie wahrscheinlich mit einem Sicherheitsdienst verband, hörte sie ein leises Klicken. Das schwere Eisentor öffnete sich schneller als erwartet und gab den Blick auf die Casa Vista frei.

Der malerische Anblick zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Sie ging durch das Tor und sog die pittoreske Landschaft auf. Die weiß getünchte Villa war viel schöner, als sie es in Erinnerung hatte. Alvaro hatte damals keine Kosten und Mühen gescheut und drum herum einen natürlich wirkenden Garten anlegen lassen.

Wunderschöne Bougainvilleen zierten die Vorderseite, davor reihten sich knorrige Olivenbäume die breite Einfahrt entlang. Zu einer Seite der Villa standen tiefgrüne Orangen- und Zitronenbäume und auf dem in Richtung Meer sanft abfallenden Hügel verteilten sich mehrere Dattelpalmen. Jessica erinnerte sich, dass hinter dem gepflegten Grün ein leichter Abhang zu einem Sandstrand führte, der zu beiden Seiten von Felsen begrenzt wurde. Wie herrlich musste es sein, den aufschäumenden Wellen dabei zuzusehen, wie sie gegen die schillernde Bucht schlugen!

Alvaros erste Priorität damals hatte der Gartenanlage und dem Pool gegolten. Sein Plan war, dass Zoe die Räume einrichtete, wenn er ihr später die Traumvilla zeigen würde. Es sollte ihr Hochzeitsgeschenk werden.

Jessica schluckte die Tränen hinunter, die sich plötzlich ihren Weg bahnen wollten. Wenn sie nicht achtgab, würde die Vergangenheit sie überrollen und sie wie eine kalte Welle mit sich hinunterreißen. Sie musste Alvaros Vorhaben einen Riegel vorschieben, ehe ihre Gefühle für ihn endgültig die Kontrolle übernahmen. Es würde sie beide nur unglücklich machen. Er sehnte sich nach Zoe und sie konnte und wollte ihm das nicht geben.

Jessica bemerkte, dass das Tor sich hinter ihr surrend schloss. Nun hatte sie keine Wahl mehr und musste ihrer größten Versuchung entgegentreten. Kaum wurde ihr dies bewusst, tauchte Alvaro in der Eingangstür der Villa auf. Offenbar hatte er den Sicherheitsdienst angewiesen, sie hereinzulassen.

„Komm rein“, forderte er sie auf.

Jessica blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, schließlich wollte sie ein ernstes Wort mit ihm reden. Drinnen war sie für einen Moment von der beeindruckenden Eingangshalle abgelenkt.

Die Wendeltreppe bestand aus dunklem, glänzendem Holz, ansonsten war der Raum mit der hohen Decke und dem großen Kristalllüster weiß gehalten. Die Halle war völlig schmucklos, nicht ein Möbelstück war zu sehen. Als sie sich zu Alvaro umdrehte, hallten die Geräusche ihrer Pumps auf dem hellen Marmor wider.

Alvaro musterte sie mit seinen dunklen Augen. Er ließ seinen Blick über ihre Beine, den kurzen Rock und die passende Bluse hinauf zu ihrem Mund gleiten. Jessica ärgerte sich darüber, dass sie unter seiner Musterung Lust verspürte. Die Erinnerung an seine Hände auf ihrem Körper drängte sich ihr auf und sie hätte beinahe vor Sehnsucht den Grund ihres Besuchs vergessen.

Wann würde sie in seiner Nähe nicht mehr vor Verlangen zerfließen? Voller Bitterkeit dachte sie daran, dass sie vor ihren Gefühlen für diesen Mann sogar in die Staaten geflohen war.

„Du hast mich arbeitslos gemacht“, erklärte sie in ihrer Erregung heftiger als beabsichtigt.

„Das stimmt nicht. Ich habe dich engagiert. Als meine persönliche Innenausstatterin.“

„Du erpresst Theo und bringst mich in eine unmögliche Lage. Dabei wissen wir beide, dass ich dein sogenanntes Angebot nicht annehmen kann.“

„Du bist nicht in der Position, etwas abzulehnen“, erwiderte Alvaro hart.

Überrascht zuckte sie zusammen. „Was fällt dir ein, du …“

„Hör mich erst an, bevor du Nein sagst.“

Jessica war sprachlos über so viel Unverfrorenheit. So unnachgiebig und kalt hatte sie Alvaro früher nie erlebt.

Er legte ihr Schweigen offenbar als Einverständnis aus und sprach weiter: „Du hast mir gestern keine Chance gegeben, dir meinen Vorschlag persönlich zu unterbreiten. Also musste ich auf Theos Hilfe zurückgreifen.“

Das war wohl die dreisteste Verdrehung der Tatsachen, die sie jemals gehört hatte. Er hatte sie schließlich geküsst und sie wussten beide, was das mit ihnen machen würde.

„Außerdem ist die Sache zeitlich begrenzt“, fuhr Alvaro in geschäftigem Ton fort. „Dein Ersatzmann wird für ein halbes Jahr eingestellt, danach bekommst du die Stelle zurück.“

„Ein halbes Jahr, um deine Villa einzurichten?“, fragte sie argwöhnisch.

„Nicht nur das“, sagte er ernst. „Ich brauche deine Hilfe, um mit der Vergangenheit abzuschließen. Es wird vielleicht schneller gehen, aber ich möchte keinen Zeitdruck. Ein halbes Jahr schien mir ein guter Zeitrahmen dafür zu sein.“

Also hatte sie recht gehabt mit ihrer Vermutung.

„Du willst, dass ich an Zoes Stelle für dich die Villa einrichte, damit es so aussieht, als hätte sie es getan, nicht wahr?“, fragte sie angespannt.

„Ja.“ Alvaros breite Brust hob und senkte sich, als er tief durchatmete. „Es wäre auch eine gute Gelegenheit, sich auszusprechen. Wir haben beide einiges aufzuarbeiten, findest du nicht?“

„Wohl kaum“, zischte Jessica. „Vor drei Jahren hast du mich gebeten, aus deinem Leben zu verschwinden, und jetzt möchtest du plötzlich, dass ich bei dir einziehe und dein Haus einrichte. Du denkst hoffentlich nicht ernsthaft, dass ich das mitmache?“

„Du bist doch genauso durcheinander wegen unseres Wiedersehens wie ich.“ Seine Blicke glitten über ihren Körper, ehe er mit angespannter Miene fortfuhr: „Ich bitte dich nur um wenige Monate …“

„Du bittest mich nicht, du forderst“, unterbrach sie ihn wütend. „Und was wird aus meiner geplanten Doktorarbeit? Hast du mal daran gedacht, dass du meine persönlichen Pläne durcheinanderbringst?“

„Ich werde dafür sorgen, dass du deinen Zeitplan einhältst.“ Er verschränkte die muskulösen Arme vor seiner breiten Brust. Anders als gestern trug er keinen Maßanzug, sondern verwaschene Jeans und ein rotes T-Shirt, das um seinen Bizeps spannte. „Wo sind deine Koffer?“, fragte er.

„Meine w… was?“ Sie verhaspelte sich und riss ihren Blick von seiner Brust los.

„Du musst bis Ende der Woche aus Theos Apartment ausgezogen sein.“

Jessica starrte ihn ungläubig an. „Du hast mein Zimmer auch weggegeben?“, fragte sie mit leichter Hysterie in der Stimme.

Alvaro hob die Arme, die Handflächen nach oben gerichtet. „Theo hat dir offenbar keine Details über unsere Vereinbarung gestern beim Lunch erzählt. Du wirst hier wohnen, während du für mich arbeitest, also brauchst du wohl kein Apartment, richtig? Auf diese Weise kannst du dir am besten ein Bild von den Räumlichkeiten machen und die passenden Kunstwerke und Einrichtungsgegenstände finden. Außerdem erleichtert es …“

„Alvaro“, sagte sie gepresst.

„… eine Aussprache ungemein, wenn man sich die Fahrzeit von drei Stunden ersparen kann.“

„Alvaro!“

„Möchtest du Wein? Ich könnte ein Glas gebrauchen.“ Er ging und ließ sie mit ihrer Wut zurück.

Aufgebracht stöckelte Jessica ihm hinterher. „Bleib stehen, ich bin noch nicht fertig mit dir“, rief sie. Seine Schritte waren lautlos, da er, wie sie nun feststellte, barfuß war. Sie konnte nicht anders, als seine beeindruckende Rückseite zu mustern, weshalb sie nicht gleich bemerkte, dass er mitten in der Eingangshalle stehen blieb und sich umdrehte. Prompt lief sie ihm gegen die harte Brust und entlockte ihm damit ein schelmisches Lächeln. Jessica schreckte zurück und funkelte ihn böse an. „Ich könnte dich auf der Stelle erwürgen!“

„Versuch es doch.“

Nach dieser Provokation warf sie wütend ihre Handtasche auf den Boden und umfasste mit beiden Händen seinen Hals. Alvaros Haut war überraschend samtig, was sie völlig aus dem Konzept brachte. Sie spürte die Hitze seiner olivbraunen Haut und das Pulsieren seiner Halsschlagader unter ihren Fingern.

Er hob herausfordernd das Kinn, während er sie unter halb gesenkten Lidern beobachtete.

Jessicas Wut wich einem kleinen Glucksen, das ihrer Kehle entwich. Die Situation war dermaßen absurd, dass sie loslachen musste.

„Du warst schon immer ein Hitzkopf“, bemerkte Alvaro vergnügt. „Das habe ich immer an dir geschätzt. Du bist ein Bauchmensch, der tut, was er liebt, während Zoe sich lieber auf ihren Verstand verließ und das Lustigste regelmäßig verpasste.“

Wie sehr er sich doch in dieser Hinsicht in ihr irrte. Sie hatte ihre wahren Gefühle für ihn stets unterdrückt, um sich vor einem großen Fehler zu schützen. Und sie hatte diesen Impuls auch nach ihrem Wegzug in die USA nicht ablegen können. Das Lachen verging ihr und traurig senkte sie die Lider. „Ich kann dir nicht helfen“, sagte sie leise.

„Jessica, du bist die Einzige, die versteht, was in mir vorgeht. Wenn mir jemand helfen kann, dann du.“

„Es fühlt sich nicht richtig an.“ Ihre Stimme zitterte. Ihre Gefühle würden sie erneut quälen und sie würde sie dieses Mal nicht unterdrücken können. Jessica wünschte sich nichts sehnlicher, als die Kontrolle abzugeben und sich ihrem Verlangen hinzugeben. Aber eine tiefe Schlucht lag zwischen ihr und Alvaro. Er war Zoes Verlobter gewesen und hatte selbst zugegeben, dass er sie in der Galerie im ersten Moment für Zoe gehalten hatte. Und nun wollte er, dass sie anstelle ihrer Schwester sein Zuhause einrichtete. Das war doch nicht normal.

„Gib uns einen Tag“, bat er eindringlich. „Übernachte in einem meiner Gästezimmer.“

Er hielt inne und Jessica musterte sein plötzlich verlegenes Gesicht. Die leere Eingangshalle war offensichtlich nicht der einzige Raum, der vernachlässigt worden war.

„Sag nicht, dass keines der Zimmer möbliert ist.“

Alvaro nickte langsam. „Ich habe mich nach meinem Einzug vor ein paar Monaten nur um die Räume gekümmert, die ich auch nutze. Du schläfst in meinem Bett, ich nehme die Couch im Wohnzimmer.“

„Was?“

„Ich lasse so schnell wie möglich Möbel für eins der Gästezimmer bestellen. Du kannst sie aussuchen, als ersten Auftrag sozusagen.“

Mitgefühl stieg in ihr auf. Alvaro war verzweifelt bemüht, seine Vergangenheit abzulegen. Und er glaubte offensichtlich, dass sie seine Einmischung in ihr Leben einfach hinnehmen würde. Sie war aber nicht nach Lissabon gekommen, weil sie Kontakt zu ihm suchte, sondern weil sie ihrem Herzen gefolgt war.

„Ich werde nicht bei dir bleiben, Alvaro“, sagte sie sanft.

Er wirkte nach ihrer Antwort so verloren, dass Jessica ihn am liebsten umarmt hätte. Das wäre jedoch zu gefährlich gewesen. Also wartete sie, bis er sich wieder im Griff hatte, ehe sie mit einem Kloßgefühl in der Kehle weitersprach: „Du musst deine Vereinbarung mit Theo rückgängig machen. Morgen möchte ich mein Apartment zurückhaben und meine Stelle.“ Sie hob ihre Handtasche vom Boden auf und drehte sich ein letztes Mal zu ihm um. „Leb wohl, Alvaro.“

Kaum war sie ein paar Schritte in Richtung Eingangstür gegangen, stellte Alvaro sich ihr wortlos in den Weg. Sein ruhiger und entschlossener Gesichtsausdruck verriet ihr, dass er es ihr nicht leicht machen würde. Sie schüttelte den Kopf über ihn, ehe sie seitlich um ihn herumging. Wieder stellte er sich ihr in den Weg und streckte dieses Mal einen Arm aus, der sie wie eine Schranke aufhielt.

„Lass das“, sagte sie erbost und versuchte erneut, ihn zu umschiffen. Alvaro machte eine Gegenbewegung, sobald sie auch nur einen Schritt tat.

Ihr Weg führte sie so quer durch die Halle.

Jessica wich nicht zurück und er ebenfalls nicht. Schritt links, Gegenschritt, halbe Drehung, Schritt rechts, Gegenschritt, halbe Drehung.

„Alvaro! Hör auf damit.“ Jessica bemühte sich nochmals, an ihm vorbeizukommen, als ihr endlich aufging, was sie hier eigentlich taten. „Ich will nicht Tango mit dir tanzen“, zischte sie und spürte zugleich Hitze in ihre Wangen steigen. Schritt, Gegenschritt, halbe Drehung. Er folgte ihr und brachte sie geschickt vom Weg ab, während sie immer wütender versuchte, sich durchzusetzen.

Sie erwiderte seinen glutvollen Blick mit einem entschlossenen Schritt, Gegenschritt. Auf ihrer Haut brannte jede zufällige Berührung mit seiner. Er strich wie unbeabsichtigt leicht mit den Fingern über ihren Arm. Die Energie im Raum veränderte sich und damit ihre Bewegungen. Jessica wurde nachgiebiger, Alvaro sanfter und das Prickeln zwischen ihnen unermesslich.

Mit einem verführerischen Lächeln auf den Lippen zog er sie an sich und führte sie in Tangoschritten über den hellen Marmorboden. Jessica konnte nicht klar denken, solange er ihren Blick mit seinem gefangen hielt. Ihre Bewegungen flossen immer intensiver zusammen, wurden vertrauter. Mit einem sanften Ruck zog Alvaro sie dicht an sich heran und beugte sich tief über sie. Jessica musste die Arme um seinen Nacken schlingen, um nicht rücklings zu fallen. Sie sahen sich atemlos an.

Es gab nur noch sie beide. Nichts anderes zählte mehr.

In einer kaum merklichen Berührung ließ Alvaro seine Lippen über ihren dargebotenen Hals gleiten. Jessica keuchte vor Verlangen auf. Die Glut in ihr wurde nach der kleinsten Berührung seiner Lippen zu einem Inferno. Lust durchströmte sie unaufhaltsam, alles beherrschend. Sie ließ es zu, dass Alvaro sie auf den Hals küsste, hielt ihn nicht auf, als er seine Hand auf eine ihrer Brüste legte und sie sanft massierte. Er gab ein tiefes Stöhnen von sich, was sie mit einem hellen Seufzer erwiderte.

Jessica spürte, wie der Boden unter ihren Füßen verschwand, als Alvaro sie hochhob. Endlich fanden sich ihre Lippen, und seine Zunge begann, mit ihrer zu spielen. Er trug sie die Stufen hinauf, wobei ihre Lippen kaum voneinander abließen.

Jessica verlor auf dem Weg zum Schlafzimmer einen Schuh, den anderen streifte Alvaro ihr ab, nachdem er sie sanft auf seinem Bett abgelegt hatte. Seine Hände erkundeten jeden Zentimeter ihres Körpers, während er sie auszog.

„Du bist so unglaublich schön“, raunte er.

Mit fiebrigem Blick betrachtete er sie und hinterließ mit seinen Lippen brennendes Verlangen an jeder Stelle, die er berührte.

„Alvaro“, flüsterte Jessica und schrie vor Lust auf, als er eine ihrer harten Brustspitzen in den Mund nahm. Ungeduldig zerrte sie an seinem T-Shirt, das er sich nun über den Kopf herunterzog. Ihre Fingerspitzen glitten über seine angespannten Muskeln, die breite Brust und seine Schultern. Er befreite sich von seiner restlichen Kleidung und Jessica kam nicht umhin, seine muskulöse Figur zu bewundern. Seine Lippen nahmen ihre wieder ein, und als er sich an sie presste, verlor sie sich vollkommen in ihrer langgehegten Lust.

Endlich in den Armen des Mannes zu liegen, den sie seit Jahren liebte und der ihre Träume und Sehnsüchte bestimmte, überwältigte sie. Als Alvaro sich zwischen ihre erhitzten Oberschenkel drängte, öffnete sie sich einladend für ihn. Er drang tief in sie ein und erst da erinnerte ein kurzer Schmerz sie daran, dass es ihr erstes Mal war.

„Was …?“, keuchte Alvaro.

Da er sich nicht mehr bewegte, öffnete sie die Augen. Schock und Überraschung standen in seinem Gesicht.

„Wie kann das sein? Jessica, bist du etwa noch …?“ Fassungslos betrachtete er sie.

Jessica nickte, und als er sich daraufhin zurückziehen wollte, schlang sie die Beine um ihn. „Bitte. Ich möchte, dass du der Erste bist.“

„Bist du sicher, dass du das willst?“, fragte er mit belegter Stimme.

„Bitte, Alvaro.“ Ein leises Wimmern entwich ihrer Kehle und sie legte die Arme um seinen Nacken und küsste ihn. Nur dieses eine Mal wollte sie schwach sein und sich ihren tiefsten Sehnsüchten hingeben.

Alvaro erwiderte ihre Liebkosungen nach kurzem Zögern und sie stöhnten beide vor Lust auf. Langsam bewegte er sich in ihr, steigerte von Minute zu Minute sein Tempo. Sie fanden einen gemeinsamen Rhythmus, der sie in immer höhere Sphären trieb. Jessicas lange unterdrückte Lust gipfelte in einem heftigen Höhepunkt, auf dem sie überrascht aufschrie. Alvaro keuchte im selben Moment auf und hielt sie eng umschlossen, während er tief in ihr zuckte.

Tränen des puren Glücks und der Befreiung flossen ihr über die Wangen. Sie wollte nicht, dass es aufhörte, und schlang die Arme erneut um Alvaros Nacken, damit er in ihr blieb. Ineinander verschlungen lagen sie da, bis ihre Atmung sich beruhigt hatte.

Jessica strich ihm zärtlich durchs Haar und liebkoste ihn mit kleinen Küssen, bis er sie leidenschaftlich zurückküsste. Sie spürte, dass auch er mehr wollte. Sein Kuss wurde tiefer und genüsslicher und ein wohliges Knurren entwich seiner Kehle.

Er löste seine Lippen von ihren und sie sahen sich für einen langen Moment an. Jessica lächelte, während Alvaro ernst und sehnsüchtig auf sie hinabblickte. Er war noch immer in ihr und bewegte sich nun in einem langsamen Rhythmus. Neue, tiefe Lust breitete sich in ihr aus, floss wie Lava durch ihren Körper und entlockte ihr Laute, die sie noch nie zuvor vernommen hatte.

Alvaros Muskeln spannten sich weiter an und er wurde in ihr wieder hart. Sanft, aber bestimmt griff er in ihr Haar und liebte sie nun fordernder und ausgiebiger. Ihre Körper schienen bei jedem seiner Stöße mehr miteinander zu verschmelzen. Alvaro katapultierte sie ein weiteres Mal über das Maß des Erträglichen hinweg und sie erzitterte heftig, als sie mit ihm einen zweiten Höhepunkt erreichte.

5. KAPITEL

Alvaro betrachtete den schlafenden Engel in seinem Bett. Das Licht der Nachmittagssonne fiel durch das Fenster auf ihr Haar, streifte ihre nackten Schultern und floss über die Decke, unter der sich ihre sanften Rundungen abzeichneten. Der unschuldige Ausdruck auf Jessicas Gesicht stand im Kontrast zu den Dingen, die sie miteinander getan hatten. Er lächelte und schob vorsichtig ihre zerzausten Haarsträhnen zurück.

Jessica öffnete die Lider und sah ihn aus dunkelblauen Augen verträumt an. Glücksgefühle durchfluteten ihn und er wollte sie auf der Stelle wieder lieben. „Hallo“, sagte er leise.

„Hallo“, erwiderte sie mit einem verlegenen Lächeln.

Alvaro küsste sie und zog sie an sich. Sein Körper reagierte sofort auf sie. Er beendete den Kuss und sah Jessica voller Verlangen an. Ihre rosig angehauchten Wangen glühten und sie genoss es sichtlich, als er sie streichelte. Seine Hand glitt zwischen ihre erhitzten Schenkel, gleichzeitig liebkoste er mit seiner Zunge ihre harten Brustwarzen und sog an ihnen, bis Jessica sehnsüchtig seinen Namen wisperte. Erst dann drang er in sie ein. Dieses Mal liebte er sie langsam und küsste sie, während er sich genussvoll in ihr bewegte. Er spürte, wie sie sich mehr und mehr für ihn öffnete, ihn tiefer einließ, körperlich und seelisch.

Er fühlte seinen Höhepunkt nahen, hielt sich aber zurück, bis auch sie so weit war. Er wollte diesen Moment so lange wie möglich auskosten und ihren Gesichtsausdruck in Erinnerung behalten, wenn sie sich auf dem Gipfel ihrer Lust auflöste.

„Minha linda“, keuchte er, „du hast mir so gefehlt.“ Sie waren beide kurz vor dem Höhepunkt und der Gedanke, gemeinsam mit ihr Erfüllung zu finden, ließ ihn tief aufstöhnen.

„Nein“, kam es gequält von ihren Lippen.

Benebelt vor Lust hielt er inne. Sie sah ihn aus klaren Augen an, aus denen jegliche Lust verschwunden war.

„Nein“, wiederholte sie und schob ihn von sich.

„Was ist mit dir?“ Er nahm ihre Hände, die sich hilflos gegen seine Brust stemmten.

Jessica rutschte aus dem Bett und sammelte ihre Kleidung ein.

„Was hast du?“ Alvaro stand ebenfalls auf und ergriff ihren Arm.

„Lass mich!“

„Erst sagst du mir, was los ist.“

„Es war ein Fehler, wir hätten nicht miteinander schlafen sollen.“

Ihre Worte trafen ihn wie Messerstiche und er ließ sie daraufhin los. Jessica zog sich hastig an, während er ihre Äußerung noch einzuordnen versuchte.

„Es fühlte sich aber nicht an wie ein Fehler“, sagte er dann.

Sie hob ihren Schuh auf und drehte sich zu ihm um.

„Es war nur Sex“, versetzte sie.

„Es war dein erstes Mal.“

„Und mein zweites und drittes Mal. Na und? Es war schließlich nichts Besonderes, nur rein körperliche Begierde“, erwiderte sie verbittert.

Er zog sie erbost an sich. „Jessica, ich habe doch gespürt, dass das mehr war als bloßer Sex.“

„Du hast mich mit Zoe verwechselt“, schrie sie ihn an und riss sich los.

„Was?“ Alvaro schüttelte verwirrt den Kopf. Er hatte ganz sicher nicht an Zoe gedacht. Der Schock über diese Unterstellung machte ihn sprachlos.

Minha linda. Meine Schöne, du hast mir so gefehlt“, wiederholte Jessica seine Worte. „Ist dir das Beweis genug? Minha linda, so hast du Zoe genannt.“ Jessica sah aus mit Tränen gefüllten Augen zu ihm hoch. „Du hast Zoes Verlust noch nicht verarbeitet und fantasierst über sie, wann immer du mich ansiehst und … berührst.“ Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und lief aus dem Zimmer.

Wie vom Donner gerührt stand Alvaro da. Ein kalter Schauer überlief seinen nackten Körper. Hatte sie womöglich recht und er redete sich lediglich ein, nicht an Zoe gedacht zu haben, während er mit Jessica geschlafen hatte?

Er spürte sein flatterndes Herz und setzte sich auf den Rand des Bettes. Er konnte nicht klar denken. Zu intensiv waren die Eindrücke von Jessicas warmem, anschmiegsamem Körper. Ihr Duft hing noch an ihm und erregte und verwirrte ihn zutiefst.

Meine Schöne, du hast mir so gefehlt. Seine eigenen Worte hallten in seinem Kopf nach.

Warum hatte er das ausgerechnet in diesem Moment gesagt? Wie war er überhaupt auf diesen Kosenamen gekommen, den er früher manchmal für Zoe verwendet hatte? Was hatte er sich nur dabei gedacht, so etwas zu Jessica zu sagen?

„Verfluchter Mist.“ Er musste das unbedingt mit Doktor Chierroni besprechen.

„Was verschafft mir die Ehre, mein Lieber?“, fragte Doktor Chierroni, als Alvaro am nächsten Morgen die Lissabonner Praxis des Psychologen betrat. Doktor Chierroni lächelte warmherzig und wartete, bis er Platz genommen hatte.

„Gestern ist etwas passiert, das ich dringend mit Ihnen besprechen muss“, erklärte Alvaro besorgt.

„Natürlich. Sonst wärst du nicht ohne Termin hier aufgetaucht, nicht wahr?“

„Danke, dass Sie sich trotz Ihres vollen Terminkalenders die Zeit für mich nehmen, Doktor.“

„Das ist doch selbstverständlich, unsere Familien sind schließlich über Generationen befreundet. Wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Das muss vor deinem Umzug nach Frankreich gewesen sein.“

„Ja, richtig. Und der Grund für meinen Besuch hängt mit meiner Vergangenheit zusammen.“

Doktor Chierroni nickte aufmunternd, weshalb Alvaro sich nun in dem bequemen Sessel zurücklehnte und ihm von der überraschenden Begegnung mit Jessica Williams und deren Folgen erzählte. Der Psychologe machte sich Notizen und überlegte einen langen Moment, bevor er sprach.

„Ist diese Anziehung zwischen Ihnen und der eineiigen Zwillingsschwester ihrer verstorbenen Verlobten schon früher da gewesen?“

„Für mich gab es immer nur Zoe. Und wie gesagt sind Jessica und Zoe völlig verschiedene Charaktere. Jessica war meine beste Freundin, mehr nicht.“ Alvaro lächelte versonnen bei dem Gedanken daran, wie unterschiedlich die Schwestern waren. „Jessica ist feinfühlig und zurückhaltend. Sie kann aber auch sehr gefühlsbetont sein und sich begeistert über Kleinigkeiten auslassen. Sie ist der liebenswerteste Mensch, den ich kenne.“

„Interessant“, bemerkte Doktor Chierroni und sah ihn nachdenklich an. „Haben Sie ein Beispiel?“

„Tausende“, erwiderte Alvaro lachend. „Ich habe ihr und Zoe damals riesige Blumensträuße zum einundzwanzigsten Geburtstag gekauft. Zoe hat ihn entsorgt, als er verblüht war, aber Jessica nicht. Sie hat die schönsten Blüten getrocknet, sie eingerahmt und an ihre Zimmerwand gehängt. Es sah wunderschön aus.“

„Hm“, machte der Doktor und schrieb etwas auf. „Erzählen Sie weiter“, forderte er im Plauderton.

„Jessica soll eine wunderbare Sängerin sein, noch besser als Zoe, was ich kaum glauben kann. Wissen Sie, ich habe mich in Zoe verliebt, als sie auf einem Familienfest eine wunderschöne italienische Arie gesungen hat. Sie …“ Sein Blick verschwamm, während er an seine erste Begegnung mit Zoe zurückdachte. „Sie war bezaubernd wie ein Engel“, sagte er leise. „Ich wusste sofort, dass ich nie wieder eine andere Frau haben wollte.“ Ihm stockte der Atem bei der Erinnerung an diesen magischen Augenblick.

Dr. Chierroni räusperte sich vernehmlich. Alvaro blinzelte ein paar Mal und entschuldigte sich für seine Ausschweifungen. „Jessica habe ich noch nie singen gehört, weshalb ich nicht beurteilen kann, ob sie tatsächlich eine bessere Sängerin ist. Früher hatte sie nie Lust dazu, wenn ich sie um eine Kostprobe bat.“ Alvaro wühlte tief in seinen Erinnerungen. „Manchmal wurde sie ganz plötzlich mürrisch und fuhr mich an, ohne mir eine Erklärung für ihre Unausgeglichenheit zu geben. Und dann wieder sah sie mich mit dieser traurigen Sehnsucht im Blick an, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen und sie getröstet hätte.“

„Zoe?“

„Nein, Jessica.“ Er erinnerte sich an diese merkwürdigen Momente mit ihr. „Es fühlte sich an, als trüge sie die Last der Welt im Herzen. Aber wenn ich sie danach fragte, lächelte sie nur und behauptete, dass alles in Ordnung sei.“

„Hast du ihr geglaubt?“

„Nein.“ Alvaro überlegte einen Moment. „Doktor, glauben Sie, dass ich Jessica plötzlich begehre, weil sie Zoe wie aus dem Gesicht geschnitten ist?“

„Du weißt, dass ich dir darauf keine Antwort geben kann, Alvaro. Aber wenn du einen Rat von einem alten Freund der Familie haben möchtest?“

„Ich bitte Sie darum.“

Doktor Chierroni legte Block und Stift beiseite und sah ihn mitfühlend an. „Rede mit Jessica über deine Gefühle.“

„Ich will keine falschen Hoffnungen schüren“, erwiderte Alvaro unsicher. Noch nie im Leben hatte er sich so durcheinander gefühlt wie in Jessicas Nähe. „Was, wenn ich tatsächlich Zoe auf sie projiziere und sie nur deshalb bei mir haben will? Das wäre doch nicht richtig, Doktor.“

Ohne darauf einzugehen, stand der Psychologe auf. „Dieses Gespräch führt uns nicht zum Ziel, fürchte ich. Aber du hast die Wahrheit praktisch vor dir.“

„Dann helfen Sie mir, sie zu erkennen“, bat er verzweifelt.

„Bedaure, du kennst meine Erwiderung darauf. Die Antwort kannst nur du selbst finden. Du musst lediglich dein Herz öffnen, Junge.“

„Mein Herz war schon einmal offen, und was außer Schmerz hatte ich davon?“, versetzte Alvaro verbittert.

„Verzeihung, aber dein Herz ist blind.“

Erstaunt über diesen direkten und rätselhaften Tadel, sah Alvaro Doktor Chierroni an.

„Ich muss leider zu meinem nächsten Patienten. Es war schön, dich wiederzusehen, Junge“, fügte dieser in nachsichtigem Ton hinzu.

Enttäuscht stand Alvaro auf. Er hatte sich mehr Klarheit von dem Gespräch erhofft und musste nun genauso ratlos wieder gehen, wie er hergekommen war. „Danke noch mal für Ihre Zeit, Doktor.“

Doktor Chierroni nickte ihm aufmunternd zu. „Grüße deine Eltern und deine Jessica von mir“, sagte er mit einem kleinen Lächeln.

„Sie ist nicht meine Jessica.“ Alvaro schluckte schwer. In seiner Brust zog sich etwas schmerzhaft zusammen, fast als würde sein Herz gegen seine Worte rebellieren. Jessica war früher seine beste Freundin gewesen. Aber das war vor Zoes Tod. Und vor dem sündigen Kuss auf der Beerdigung seiner Verlobten, für den er sich noch immer schämte.

Damals hatte er sich geschworen, Jessica nie wieder anzurühren. Er hatte sie sogar aus seinem Leben ausgeschlossen, um nicht in Versuchung zu geraten. Nun hatte ihn diese Versuchung doch noch eingeholt. Trotzdem war Jessica der einzige Mensch, der ihm helfen konnte. Irgendwie musste er es schaffen, die Hände von ihr zu lassen und sie gleichzeitig wieder zu einem Teil seines Lebens zu machen. Aber wie?

„Auf Wiedersehen“, sagte er mürrisch und verließ das Besprechungszimmer des Arztes.

Kaum erreichte er den Ausgang, lief ihm sein alter Schulfreund Filippo Chierroni in die Arme. Der Sohn seines Psychologen wirkte im ersten Moment erschrocken über die Begegnung. Vermutlich liegt es an meiner finsteren Miene, dachte Alvaro.

„Hallo, Filippo. Ich habe leider nicht viel Zeit“, sagte er schnell. Er wollte jetzt lieber allein sein, auch wenn er Filippo seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte.

„Du meinst, du willst nicht zu mir?“, fragte sein Gegenüber merklich erleichtert.

„Ich war bei deinem Vater. Wieso? Haben wir etwas zu besprechen?“

„Nein, nein. Wie geht es dir?“

„Es ging schon mal besser.“ Vierundzwanzig Stunden zuvor hatte er Jessica in sein Schlafzimmer getragen und sich wie ein Gott gefühlt. Und nun war ihm elend zumute. Eigentlich wollte er einfach nur gehen und seine Wunden lecken. Aber Filippo vor den Kopf zu stoßen, würde seine Situation nicht verbessern. „Und du arbeitest also für deinen alten Herrn?“, versuchte er sich an etwas Small Talk.

„Er übergibt mir nächstes Jahr seine Praxis“, sagte Filippo stolz. „Wir sind bereits mitten in der Übergabe.“

„Herzlichen Glückwunsch.“

„Danke.“ Filippo räusperte sich. „Alicia sagte mir, dass du seit ein paar Monaten wieder in Portugal bist. Ich wollte dich anrufen, aber deine Schwester riet mir davon ab.“

„Das war ein guter Rat von Lia, ich bin momentan keine gute Gesellschaft“, bestätigte Alvaro. Er verabschiedete sich von Filippo, und sobald er in der Limousine saß, kehrten seine Gedanken zurück zu Jessica.

„Zur Casa Vista, Georgio“, sprach er in die Gegensprechanlage zur Fahrerkabine. Der Wagen setzte sich in Bewegung und Alvaro lehnte sich leise seufzend in den weichen Ledersitz. Vielleicht war es besser, wenn er sich in Zukunft von Jessica fernhielt. Jedes Mal, wenn er sie sah, spielten seine Gefühle verrückt. Womöglich schadete er ihnen beiden, wenn er weiterhin ihre Nähe suchte.

Ihre Jungfräulichkeit hat sie bereits an mich verloren, dachte er und schluckte schwer. Wenn eine schöne Frau wie Jessica mit vierundzwanzig Jahren noch Jungfrau war, dann hatte sie dies ganz bewusst entschieden. Womöglich hatte er den kostbarsten Moment in ihrem Leben zerstört. Ihre große Liebe hätte der Mann sein sollen, der sie das erste Mal nahm, aber er hatte sie in einen Wirbel der Leidenschaft gerissen, den sie nun bereute.

Alvaro fühlte sich hin- und hergerissen. Einerseits hatte er die leidenschaftlichen Stunden mit Jessica mehr genossen, als er sich eingestehen wollte, andererseits kam es ihm wie Betrug gegenüber Zoes Vermächtnis vor. Sein Herz schrie nach weiteren Berührungen von Jessica, während sein Verstand ihn für diese Schwäche verachtete.

Und inmitten dieses inneren Sturms hatte er seine ehemals beste Freundin ein weiteres Mal verletzt. Ihm wurde bei dem Gedanken, Jessica erneut zu verlieren, noch elender zumute. Es tat ihm leid, dass sie im Streit auseinandergegangen waren, und er wünschte, er könnte das ändern. In diesem Moment erregte etwas auf dem Fußweg seine Aufmerksamkeit.

„Halte bitte hier, Georgio“, bat er seinen Fahrer.

Jessica wollte gerade die Straße überqueren, als eine schwarze Limousine direkt vor ihr hielt. Das hintere Fenster wurde heruntergefahren. Zu ihrem Verdruss war es Alvaro, seine markante Erscheinung brachte ihr Blut augenblicklich in Wallung. Sie dachte sofort an die leidenschaftlichen Stunden in seiner Villa zurück.

Aus dunklen Augen musterte er sie und ihre beiden Einkaufstüten. Unter seinen Blicken meinte Jessica, weich wie Butter in der Sonne zu werden.

„Was tust du da?“, fragte er.

„Einkaufen“, erwiderte sie so kühl wie möglich. Ihre Stimme zitterte jedoch verräterisch, genau wie ihre Hände, die sich um die Henkel der Einkaufstüten verkrampften.

„Steig ein.“

Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, aber dann entschied sie sich für ein kurzes Schnauben und ging um die Limousine herum.

„Jessica!“

Alvaros Stimme war deutlich zu hören, also war er ausgestiegen. Hastig stöckelte sie über die Straße, dicht gefolgt von Alvaro, der sie mit jeder weiteren Sekunde, die sie in seiner Nähe verbrachte, in größere Unruhe versetzte.

„Pass auf!“

Starke Hände rissen sie ruckartig zurück. Jessica hörte Autoreifen quietschen und einen spitzen Schrei, der wohl aus ihrer Kehle kam. Sie klammerte sich mit geschlossenen Augen an die Person, die sie festhielt.

Erst eine gefühlte Ewigkeit später öffnete sie die Augen langsam. Ihre Einkäufe lagen verstreut auf dem Asphalt, die geblümte Zuckerdose aus Porzellan, die sie vorhin erstanden hatte, lag zerbrochen vor ihren Füßen.

„Bist du in Ordnung?“

Sie sah zu Alvaro hoch und nickte nach kurzem Zögern.

Autor

Emma White
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Louisa Heaton
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Lynne Graham
Lynne Graham ist eine populäre Autorin aus Nord-Irland. Seit 1987 hat sie über 60 Romances geschrieben, die auf vielen Bestseller-Listen stehen.

Bereits im Alter von 15 Jahren schrieb sie ihren ersten Liebesroman, leider wurde er abgelehnt. Nachdem sie wegen ihres Babys zu Hause blieb, begann sie erneut mit dem...
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Ann McIntosh

Ann McIntosh kam in den Tropen zur Welt, verbrachte einige Jahre im kalten Norden und lebt jetzt mit ihrem Ehemann im sonnigen Florida. Sie ist stolze Mutter von drei erwachsenen Kindern, liebt Tee, Basteln, Tiere (außer Reptilien!), Bacon und das Meer. Sie glaubt fest an die heilenden und...

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