Romana Extra Band 90

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SEHNSUCHT IN DEINEN ARMEN von JANE WATERS
Ein romantisches Fischerdorf an der Amalfiküste: Hier begegnet die junge Engländerin Amber dem attraktiven Kellner Alessandro. Während er ihr die schönsten Seiten seiner Heimat zeigt, fühlt sie sich zu ihm hingezogen wie zu keinem Mann zuvor. Aber sie ahnt nicht, wer er wirklich ist …

AUF KORFU ERWACHT DIE LIEBE von SUSAN CLARKS
Lucy verabredet sich nur mit Bestsellerautor Nicos Bonaros, um ihn zu einer Lesung zu überreden. Als bester Freund ihrer verstorbenen großen Liebe ist der faszinierende Grieche tabu! Bei einem Candlelight-Dinner am Strand von Korfu verfällt sie dennoch seinem Charme …

SÜSSE RACHE IN MONTE CARLO von MELANIE MILBURNE
Fünf Jahre hat Marcelo Castellano, mächtiger Unternehmer in Monte Carlo, auf diesen Moment gewartet: Jetzt wird er sich an Ava rächen! Das Supermodel ist bankrott - und ihm komplett ausgeliefert. Marcelo weiß genau, wohin sein Plan sie führen soll: in sein Bett!

GESTRANDET IM GLÜCK? von MARION LENNOX
Als der New Yorker Anwalt Matt McLellan mit Bootsführerin Meg auf einer einsamen australischen Insel strandet, herrscht eine magische Spannung zwischen ihnen. Doch Matt ahnt: Sobald sie gerettet werden, ist alles wieder vorbei! Denn Meg und ihn trennen Welten. Oder?


  • Erscheinungstag 21.01.2020
  • Bandnummer 90
  • ISBN / Artikelnummer 9783733747923
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jane Waters, Susan Clarks, Melanie Milburne, Marion Lennox

ROMANA EXTRA BAND 90

JANE WATERS

Sehnsucht in deinen Armen

Als Unternehmer Alessandro Bellini im Café seines Onkels die schöne Krankenschwester Amber trifft, kommt sie ihm vor wie ein Engel. Bis er sie nach einer zärtlichen Liebesnacht als Lügnerin entlarvt …

SUSAN CLARKS

Auf Korfu erwacht die Liebe

Lucy war mit seinem verstorbenen Freund Kenneth zusammen – nur deshalb lädt Nicos Bonaros sie auf sein Anwesen ein! Doch bald muss er sich eingestehen, dass sie eine verbotene Sehnsucht in ihm weckt …

MARION LENNOX

Süße Rache in Monte Carlo

Vor fünf Jahren hat sie ihn betrogen. Erschrocken sieht Ava nun den Hunger nach Rache in Marcelos Augen. Aber noch etwas anderes lodert in den Blicken des Playboys: Kann das Leidenschaft sein?

MELANIE MILBURNE

Gestrandet im Glück?

Matt lässt Megs Herz gegen jede Vernunft höher schlagen. Dabei soll sie ihn nur auf die kleine Insel bringen, wo er die Grandma eines Waisenkinds suchen will. Danach wird Meg ihn nie wiedersehen …

PROLOG

Die Visagistin stäubte Puder über ihr Gesicht und Dekolleté, während vier andere Hände gleichzeitig den glitzernden Stoff von Ambers Kleid zurechtzupften. Laut gerufene Namen und Nummern schwirrten wie aufgescheuchte Vögel durch den hell erleuchteten Raum hinter der Bühne. Die Luft knisterte aufgeladen von der Aufregung rund um die berühmte Mailänder Fashion Week. Für Amber waren das immer Momente, in denen ihr all das wie ein Traum vorkam. Sie sah ihre Kollegin Laeticia in einem raffiniert geschnittenen Hosenanzug vom Catwalk zurückstolzieren und Carla in einem weißen Wolkenkleid aus bauschiger Seide hinausschweben.

Jemand packte Amber unsanft am Arm. „Träumst du? Was ist mit den Schuhen, kannst du darin laufen? Du musst gleich raus und stehst hier noch herum!“

Es gab im ganzen Trubel nur eine Person, die unnötig streng mit ihr war, dabei waren die Vorbereitungen für alle Beteiligten aufreibend genug. Ständig nörgelte ihre Chefin herum. Vorhin hatte sie entschieden, die Schuhe passten nicht zum Outfit, und nun musste Amber spontan ein anderes Paar anziehen. Die Absätze waren viel zu hoch! Sie hatte panische Angst, damit zu stolpern, und wahrscheinlich würde Chiara sie dann erst recht schlecht behandeln. Die Chefin machte kein Geheimnis aus ihrer Abneigung gegenüber Amber. Doch für diese Gedanken blieb nun keine Zeit mehr.

Das übliche Lampenfieber überfiel sie. Ihre Knie wurden weich, die Musik dröhnte in ihren Ohren. Sie stöckelte zu ihrer Startposition. Ein Display mit großen Zahlen war über der Tür angebracht, die nach draußen ins Rampenlicht führte. Darauf erschienen die Sekunden, die bis zu ihrem Auftritt blieben. Zehn, neun, acht …

Amber holte tief Luft. Völlig gelassen zu wirken, wenn sie während ihres Auftritts die kritischen Blicke auf sich spürte, war das Schwierigste. Nicht nur wegen der üblichen Nervosität, die kannten alle Mädchen. Es war das Märchenhafte an ihrer Geschichte, das von der Presse ziemlich genau verfolgt wurde. Es war nie Ambers Ziel gewesen war, ein erfolgreiches Model zu werden, doch auf einmal war sie es. Sie lebte den Traum so vieler Frauen, und dafür hatte sie nichts Besonderes getan. Vor einem Jahr war sie nach einem anstrengenden Tag in der Klinik auf dem Nachhauseweg von einem Modelscout in London angesprochen worden. Der Scout hatte im Auftrag von Chiara nach neuen und besonderen Gesichtern gesucht. Es folgten Testfotos und erste Aufträge. Dann wurde Amber für einen großen Auftrag gebucht. Plötzlich erschien ihr Gesicht auf den Titelseiten, ein Modedesigner wollte sie für eine Kampagne, ein Kosmetikhersteller als neue Beauty-Queen, und bei den Shows der Mailänder Modewoche lief sie für zahlreiche bekannte Labels. Ohne je darauf gehofft zu haben, verdiente sie nun viel Geld und jettete regelmäßig zwischen London und Mailand hin und her, wo sich die Fotografen um sie rissen. Allerdings hatte Amber mit Fotografen nicht nur gute Erfahrungen gemacht …

Null! Eine plötzliche Ruhe kam über sie, stärkte ihren Rücken, gab ihr Kraft. Amber hatte keine Ahnung, wo der Schalter war, der sie von einer Sekunde auf die andere so selbstbewusst machte. Es passierte einfach. Viele nannten sie ein Naturtalent.

Aufrecht trat sie hinaus. Jetzt gab es nur den Walk. Keine Spur von Unsicherheit auf den Beinen, jede Angst war verflogen. Das Publikum klatschte, schon bevor sie den Wendepunkt des Laufstegs erreicht hatte. „Flower, Flower!“, riefen ein paar Stimmen. Sie trug diesen Kosenamen wie ein Markenzeichen, seit sie auf einer spektakulären Show als Blume verkleidet gelaufen war. Außerdem passte er zu ihrem wirklichen Namen: Amber Rose. Sie hatte fast milchweiße Haut, eine grazile Figur und langes lockiges kastanienbraunes Haar. Entsprechend geschminkt wirkte sie wie ein Feenwesen.

Chiara blickte sie säuerlich an, als sie unter tosendem Applaus hinter den Vorhang trat. Warum freute sie sich nicht wenigstens in dieser Sekunde über den Erfolg mit? Es hieß, sie wäre auf die besonders hübschen Mädchen permanent eifersüchtig. Gemeinsam mit ihrem Mann Valentino stand sie an der Spitze des stetig wachsenden Modeimperiums „Bellini Couture“. Einst war die Mailänder Textilfirma Bellini ausschließlich für exklusive Stoffe und Designs berühmt gewesen, doch nun mischte die Firma auch als Castingagentur für Models und Shows mit. Valentino war täglich von vielen wunderschönen Frauen umgeben, und von „seiner“ besonderen Entdeckung Amber hatte er in einem Interview geradezu geschwärmt. Dabei kannten er und Amber sich persönlich kaum, weil Chiara die Managerin war und alles für sie verhandelte. Wie gerne wäre sie mal von ihr gelobt worden!

Doch Amber wollte sich nicht die Laune verderben lassen. Es war ihr letzter Auftritt an diesem ausgefüllten Wochenende, und sie würde sich bei einer späteren Show ungeschminkt unter das Publikum mischen und selbst eine Kamera in der Hand halten. Diese Belohnung schenkte sie sich selbst, denn Fotografieren war ihr leidenschaftliches Hobby. Zuvor aber hatte sie noch einen Termin mit Valentino, der ihr vorhin überraschend eine Nachricht geschickt hatte. Ob er sich bei ihr entschuldigen wollte? Am Tag zuvor hatte er auf einer After-Show-Party plötzlich und etwas zu intensiv den Arm um sie gelegt. Es passte gar nicht zu ihm, und nun erwartete er sie gleich im Backstage-Büro. Er hatte gebeten, den Termin diskret zu behandeln. Seltsam! Als sie an Chiara vorbeilief, streifte Amber der Hauch eines schlechten Gewissens – als teilte sie mit dem Agenturchef tatsächlich ein Geheimnis.

Geduldig ließ Amber sich beim Ablegen des Outfits helfen. Danach wurde sie nicht weiter beachtet, denn das Stresslevel war während einer Show zu hoch. Jeder tat, was er tun musste, und man sollte nicht im Weg herumstehen. Sie kuschelte sich in ihre flauschige Strickjacke und wandte sich zum Gehen. Im Nebenraum waren die Schränke mit den persönlichen Sachen der Crew. Sie wollte sich rasch anziehen und dann, nach dem Gespräch mit dem Chef, hoffentlich den Rest des Abends genießen können. Sie verließ den Backstage-Bereich auf Zehenspitzen, denn der Boden war eiskalt, und sie hatte ihre Slipper vergessen. Fast stieß sie auf dem Gang mit jemandem zusammen.

„Hoppla! So eilig?“

Hinter der Bühne war es dämmrig, sie konnte das Gesicht des Mannes, den sie fast umgerannt hatte, nicht genau erkennen. Dennoch hatte Amber das Gefühl, für einen Moment in seinen Augen zu versinken. Unwillkürlich atmete sie tief ein, bevor sie antwortete: „Entschuldigung.“

„Kein Problem“, sagte er. „Ist die Show schon vorbei?“

„Nein, sie läuft noch“, antwortete sie und fügte in ihrer noch euphorischen Stimmung hinzu: „Mich haben Sie aber leider verpasst.“

Er lachte auf, tief und melodisch. „Wen habe ich denn verpasst?“

Der musternde Blick aus seinen dunklen Augen verursachte bei Amber ein leises Prickeln. Gerade wollte sie etwas erwidern, als die Tür zur Backstage aufrissen wurde und zwei Mädchen heraus stürmten. Der magische Moment war vorbei. Amber sah auf ihre Uhr. „Ich muss gehen“, murmelte sie und schlüpfte an dem attraktiven Unbekannten vorbei.

Wenig später fiel hinter Amber die Tür laut ins Schloss. Bis eben hatte sie Haltung bewahrt, jetzt sackte sie draußen im Nieselregen in sich zusammen. Die Schockstarre löste sich, und die Tränen liefen über ihr Gesicht. Vor einer Stunde war sie auf dem Laufsteg bejubelt worden – jetzt hatte Chiara ihren Vertrag fristlos gekündigt und sie durch einen Hinterausgang nach draußen bringen lassen. „Ich rate dir, darüber nicht weiter zu reden“, hatte sie Amber zugezischt. „Mach es nicht noch schlimmer. Und halte dich von dieser Stadt fern.“

Der Vorwurf war derart absurd, dass sich Amber nicht einmal verteidigt hatte. Im Büro hatte sie nicht Valentino, sondern dessen Zwillingsbruder Sergio vorgefunden. Und der war sofort zudringlich geworden, und zwar so schnell, dass Amber völlig überrumpelt wurde. In diesem Moment war Chiara hereingekommen. Für die Agenturchefin schien es völlig unerheblich zu sein, dass sich Amber gegen die Zudringlichkeit ihres Schwagers wehrte. Für Chiara war Amber offensichtlich ein Model, das mit allen Mitteln versuchte, noch erfolgreicher zu sein, indem es sich an den zweiten Agenturchef heranmachte! Gegen solch maßlos ungerechtfertigte und blinde Eifersucht hatte Amber keine Chance.

Der kalte Regen mischte sich mit ihren Tränen. Ende Februar war es abends in Mailand immer noch winterkalt. Amber straffte sich und setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Durchs eisige Dunkle lief sie zur Straße. Hinter sich glaubte sie die Menge klatschen zu hören. Dies war ihr letzter Walk gewesen. Alles war eben doch nur ein schöner Traum gewesen.

1. KAPITEL

Ein Jahr später, Amalfiküste im April.

Der Klang der Kirchenglocken drang in Ambers Schlaf, und sie erwachte im Paradies. So jedenfalls fühlte es sich an in ihrem Feriendomizil hoch oben, in das hundertdreißig Stufen führten. Noch nie hatte sie in einem so altehrwürdigen großen Stadthaus gewohnt, das auf jeder Etage vier Wohnungen beherbergte. Die schwere große Holztür unten ächzte, wenn sie geöffnet wurde, als wollte sie nicht aus ihrem Jahrhundertschlaf geweckt werden. Kühl und still empfing das hohe Treppenhaus die Bewohner, und eine breite Steintreppe führte bis in den fünften Stock. Dort angekommen raste einem immer das Herz, doch der weite Blick auf die grünen Berge und die wunderschöne Basilika von Minori, die nebenan thronte, belohnte die Anstrengung. Amber hatte von einer Reisenden den Tipp bekommen, dass eine nette Italienerin in diesem Haus Quartiere an Touristen vermietete.

Freudig schlug sie jetzt die Decke zurück und lief zum Fenster. Sie konnte es kaum erwarten, den Ort zu erkunden. Die frische Morgenluft strömte herein. Das Meer konnte sie von hier aus nicht sehen, doch da sich Amber sowieso fast den ganzen Tag draußen aufhielt, störte sie dies nicht. Im Gegenteil. Der Ausblick war fantastisch!

In den Hügeln verteilt lagen die weißen Häuser mit ihren roten Dächern wie von Gottes Hand ins Grün gestreute Würfel. Auf unzähligen Terrassenanlagen zogen sich Gemüse- und Obstgärten den Hang hinauf, und die Zitrusfrüchte in den Bäumen leuchteten im Morgenlicht. Amber entdeckte eine Frau, die Wäsche aufhängte, und in der Gasse hinter der Kirche liefen ein paar Schulkinder entlang. Sie atmete ein tiefes Glücksgefühl ein. Nach zwei Wochen an Italiens romantischster Küste war sie innerlich angekommen, und weitere vier Wochen lagen vor ihr. Sie hatte bereits die interessante Hafenstadt Salerno besucht und auch Vietri sul Mare, den bezaubernden Ort, der bekannt für seine Keramik war. In dem ehemaligen Fischerdorf Minori wollte sie nun mindestens eine Woche bleiben. Sie war ihren Eltern zutiefst dankbar. Sie hatten Amber zu dieser Reise gedrängt. Und zum Nachdenken.

Die Ferienwohnung war ihr Vogelnest im Himmel, kompakt und gemütlich. Sie zog sich an und bereitete sich in der kleinen Küche einen Obstsalat zu. Dann betrachtete sie die Fotos vom Vortag auf ihrem Laptop. Während ihrer Reise hatte sie viele Bilder von der mediterranen Landschaft geschossen, die das blaue Mittelmeer umschloss. Die schönsten veröffentlichte sie auf ihrem Instagram-Account.

Minori galt als besondere Perle an der fünfzig Kilometer langen Amalfitana, einer sich eng windenden Küstenstraße. Wer von einer Ortschaft schnell zur anderen musste, hatte es an der Amalfiküste nicht leicht. Es gab oft Staus, und im Sommer konnten größere Fahrzeuge erst gar nicht passieren. Der Frühling hingegen war eine schöne Reisezeit.

Bevor Amber zu ihrem Streifzug aufbrach, suchte sie ein neues Foto heraus und veröffentlichte es auf ihrer Seite der Social-Media-Plattform. Das Motiv heute war die in gelb und weiß gehaltene Basilika im romanischen Stil, deren Glockengeläut sie in den nächsten Tagen nun immer wecken sollte. Ihre Fotos wurden von ihren Eltern manchmal auch wehmütig kommentiert. Es hatte früher schöne Familienurlaube in Italien gegeben, am Meer und in den Bergen. Doch nun war es ungewiss, ob ihr Vater je wieder wandern und schwimmen konnte. Seine Verletzungen heilten nur langsam. Daran zu denken war ein Wermutstropfen, der Amber manchmal bitter aufstieß. Dann wollte sie sofort nach Hause und wieder für ihre Eltern und ihre kleine Schwester Bonnie da sein. Dabei hatten sich alle in dem neuen Leben längst eingerichtet. Ihre Mutter kümmerte sich hingebungsvoll um ihren Ehemann, und noch konnte die Familie von dem üppigen Honorar, das Amber als Model verdient hatte, zehren. Es war das einzig Gute, was sie mit dieser unwirklichen Zeit verband.

Eine Nachricht blinkte auf. Sie kam von ihrer Mutter.

Den Ort habe ich sofort erkannt! Einst haben dein Dad und ich dort wundervolle Liebestage erlebt.

Amber wunderte sich. Davon wusste sie gar nichts. Als hätte Mom ihre Gedanken gelesen, schickte sie noch eine Nachricht hinterher, versehen mit einem zwinkernden Smiley:

Es war unsere erste gemeinsame Reise nach Italien, vielleicht die schönste Zeit unseres Lebens ohne Kinder. Es könnte auch für dich ein guter Ort sein, um zu hören, was dein Herz dir sagt.

Auf einmal trübte sich Ambers Laune. Sie wusste noch immer nicht, wie es mit Stanley weitergehen sollte. Nach ihrer Italienreise würde sie in der Klinik endlich fest angestellt sein und ihr erstes richtiges Gehalt verdienen. Dann würde sie täglich mit Stanley zu tun haben. Als Kollegin. Und als seine Freundin?

Sie mochte ihn, keine Frage. Sie war ihm für seine Unterstützung unendlich dankbar, als sie verzweifelt aus Mailand zurückgekehrt war. Ein Jahr zuvor hatte sie ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester wegen des Modeljobs abgebrochen.

Stanley war einer der jungen Ärzte, der sie vor diesem Schritt gewarnt hatte. „Auch wenn du noch so hübsch bist, Amber. Für die eitle Modewelt bist du nicht geschaffen“, hatte er gesagt, und er sollte recht behalten.

Aber ihre Eltern brauchten nach dem Unfall des Vaters dringend Geld, sonst hätten sie das Haus mit dem schönen Garten verkaufen müssen. Ihr Dad musste in der Erde wühlen und den Pflanzen beim Wachsen zuschauen können, sonst wäre er sprichwörtlich eingegangen wie eine Primel. Es war sein Beruf und seine Leidenschaft. Deswegen war sie in Mailand auf den Laufsteg gegangen, der persönliche Erfolg war sekundär gewesen. Stanley war in der Zwischenzeit zum Stationsarzt aufgestiegen und hatte sich später dafür eingesetzt, dass sie ihre Ausbildung doch noch zu Ende machen konnte. In vier Wochen würden sie in der Kinderklinik täglich gemeinsam auf der Station arbeiten. In vier Wochen wollte er wissen, wie sie zu ihm stand …

Amber klappte den Laptop zu, nahm ihre Tasche und verließ rasch die Wohnung. Unten drückte sie die schwere Tür auf und trat ins Freie. Dabei schickte sie einen Stoßseufzer in den Himmel. Der Tag war zu schade, um ihn mit schweren Grübeleien zu beginnen!

Es waren noch nicht viele Touristen unterwegs, und sie ließ sich treiben. Zunächst entdeckte sie in einer der Gassen einen kleinen Laden, in dem die landesweit berühmte Pasta handgemacht wurde. Auf das Abendessen freute sich Amber schon jetzt, genau so etwas Hausgemachtes sollte es sein. Sie schlenderte weiter und folgte dem Hinweisschild zu einer antiken römischen Villa, deren Grundmauern noch gut erhalten waren, ergänzt durch ein Museum. Amber wandelte durch die ehemaligen Arkaden und den Garten und stellte sich vor, wie die Adligen hier wohl residiert haben mochten. Dann bekam sie Lust auf eine süße Sünde und staunte über die üppige Auslage in einer der bekanntesten Konditoreien der Gegend. Sie probierte die Zitronentörtchen, eine regionale Spezialität. Himmlischer Genuss!

Am Nachmittag setzte sie sich an der hübschen Promenade auf eine Bank und sonnte sich. Rechts und links rahmten die Hügel das Städtchen schützend ein und machten neugierig, was hinter der grünen Kuppe wohl sein mochte. Sie öffnete ihre Tasche. Wann immer es ging, drückte sie auf den Auslöser ihrer Kamera. Wie gerne würde sie als Fotografin um die ganze Welt reisen! Doch dieser Traum lag in weiter Ferne. Zunächst musste sie die Familie mit ihrem Gehalt unterstützen. Und schon tauchte wieder die drängende Frage auf, ob Stanley der Mann an ihrer Seite sein könnte …

Ihr Telefon klingelte. „Amber! Ich habe wie immer in meinen freien Minuten an dich gedacht. Was macht die schöne Blüte in der Sonne, während es hier noch regnet und schneit?“

Sie biss sich auf die Lippe. Seit ihrer Modelzeit nannte Stanley sie oft „meine Blüte“ und erinnerte damit immer wieder an eine Episode ihres Lebens, an die sie nicht zu oft denken wollte. Sicherlich meinte er es gut, ja, zärtlich sogar. Doch weil sich Stanley so sehr für sie eingesetzt hatte, war das schockierende Finale in Mailand unabdingbar mit dem Gefühl verbunden, irgendwie von ihm abhängig zu sein. Oder ihm gar etwas zu schulden. Durch ihn war sie aus dem Loch, in das sie nach ihrem Model-Aus gefallen war, wieder herausgekommen. Sie hatte sich einfach wieder auf ihre Arbeit in der Klinik konzentriert.

„Ich sitze am Meer“, antwortete sie nach kurzem Zögern.

„Von was träumst du?“, fragte Stanley.

Innerlich zuckte sie zusammen, weil sie nicht einfach sagen konnte: von dir! Er wollte gerne hören, dass sie ihn vermisste, und er wollte wissen, dass sie sich auf eine Zukunft mit ihm freute. Nicht nur auf die berufliche Zusammenarbeit. Es war klar, dass er mehr von ihr wollte als eine gemeinsame Tasse Kaffee nach Arbeitsende. Bisher vergebens wartete sie auf Schmetterlinge im Bauch. Liebe aber konnte wachsen, so wie sie bei ihren Eltern gewachsen war. Sie waren Ambers Vorbild, mochte es noch so altmodisch erscheinen. „Ich fotografiere“, sagte sie.

„Was siehst du gerade?“

„Das Meer! Sonne, Wolken, Boote, Menschen.“

„Hast du in dem neuen Ort ein schönes Quartier gefunden?“

„Oh ja. Es ist paradiesisch.“

„Ist es dir im Paradies nicht zu einsam?“

„Nein, bis jetzt nicht.“ Diese knappe Antwort drückte die ganze Wahrheit aus.

Nun schwieg auch er einen Moment. „Ich verstehe, dass du das genießt“, fuhr er fort. „Endlich mal alleine sein.“

Er spielte darauf an, dass sie in London noch bei ihren Eltern lebte. Nicht, weil sie das unbedingt wollte. Aber die Berufsunfähigkeitsrente ihres Vaters reichte nun mal nicht für alles. Sie würde noch eine Weile in ihrem Mädchenzimmer unter dem Dach bleiben, selbst wenn sie bald ein festes Gehalt haben würde.

„Ich bin nicht so gern allein“, sagte Stanley. „Ich vermisse dich. Nicht nur auf der Station.“

Amber verspannte sich ein wenig. Sie brauchte noch Zeit. Zum Abschied hatte Stanley sie geküsst, als wäre es klar, dass sie bald ein Paar sein würden. Es hatte sich vertraut angefühlt. Sicher. Aber nicht aufregend. Jenes innere Prickeln, das ihr fehlte, erfuhr sie in diesem immer wiederkehrenden märchenhaften Traum, der sie seit mindestens einem Jahr schon begleitete: Sie ging in einem langen weißen Kleid, vielleicht ihr Brautkleid, einen Weg entlang, der durch einen luftigen Wald führte. Sie war auf dem Weg zu einer Verabredung, ohne genau zu wissen, mit wem. Es lauerte Gefahr, sie musste schneller laufen, immer schneller, und sie stolperte, fiel hin und hatte plötzlich Angst. Dann erschien jemand wie aus dem Nichts – ein großer athletischer Mann, der ihr aufhalf. Er hatte wie ein Wüstenscheich ein Tuch um Kopf und Gesicht geschlungen, nur seine dunklen Augen lagen frei. Dunkel, geheimnisvoll und glitzernd. Nun klopfte ihr Herz nicht mehr vor Angst. Sie war fasziniert von dem Fremden, der ihr nun seltsam bekannt vorkam. Amber hätte alles darum gegeben, zu sehen, welches Gesicht sich hinter dem Tuch verbarg. Sie musste es wissen! Doch bevor sich das Geheimnis enthüllte, wachte sie regelmäßig auf …

„Hast du eigentlich was dagegen, wenn ich mal mit Kate essen gehe, während du eine halbe Ewigkeit lang weg bist?“, fragte Stanley und holte sie damit in die Gegenwart zurück. Gerade war Amber eingefallen, dass der Traum sie in der vergangenen Nacht wieder heimgesucht hatte.

„Äh … nein, natürlich nicht“, erwiderte sie und war etwas irritiert, dass er fragte, ob er sich mit einer Kollegin verabreden durfte. Aber wahrscheinlich war es nur ein Versuch, sie aus der Reserve zu locken. In der Klinik war er sehr beliebt. Er konnte fantastisch mit Kindern umgehen. Seine Arbeit als Arzt hatte Amber von Beginn an beeindruckt. Er hatte eine viel versprechende Zukunft, und er war ein Gentleman. Dass er ihr den Hof machte, war schmeichelhaft.

Er seufzte. „Wie du meinst. Heute bist du nicht sehr gesprächig. Ist alles in Ordnung?“

„Es ist alles in Ordnung“, versicherte sie mit nun sanfter Stimme. „Viele Grüße an die Kinder und die Kollegen.“

Sie verabschiedete sich mit einem wehmütigen Gefühl in der Brust. Vermisste sie Stanley vielleicht doch ein bisschen? Oder war es einfach nur die Sehnsucht nach jemandem, mit dem sie lachen, weinen, Pferde stehlen und vor allem, den sie lieben und dem sie sich hingeben konnte?

Amber nahm ihre Kamera und erfasste mit dem Objektiv ein Liebespaar, das in der Ferne saß. Es küsste sich hingebungsvoll mit geschlossenen Augen. Amber hielt die Szene fest und wurde noch wehmütiger. Schon als Teenager hatte sie jene Arztromane verschlungen, in denen es immer nur Traummänner gab, die geheimste Wünsche erfüllten und deren Aussehen allein schon eine Gänsehaut verursachte. Aber das war es nicht allein. Sie wollte einen echten Seelenpartner an ihrer Seite haben.

Das Liebespaar blickte nun in Ambers Richtung. Sie zuckte zusammen, fühlte sich ertappt. Kreischend, als würden sie lachen, flogen ein paar Möwen über sie hinweg. In diesem Moment wurde Amber die wahre Mission ihres Hierseins klar. Die Reise durch Italien war nicht nur ihre Belohnung, weil sie die Ausbildung mit Bravour beendet hatte. Am Ende sollte sie neben einer Ausbeute toller Fotos vor allem eines im Gepäck haben: eine Entscheidung. Wenn Stanley sie am Flughafen abholen würde, wollte er ein Ja oder Nein hören. Sie war fortgereist, um die Weichen für ihr Leben zu stellen.

Es dämmerte bereits, als sie zurück zu ihrer Unterkunft kam. Sie wollte sich kurz ausruhen und dann irgendwo einkehren. Ihr Blick fiel auf das Café, das gegenüber von ihrem Quartier ein paar Tische und Stühle auf dem Pflaster stehen hatte. Einheimische trafen sich hier gern, das hatte Amber von ihrer Vermieterin erfahren, die prompt aus der Tür des Cafés kam und ihr zuwinkte. Neugierig kam Amber näher.

„Come stai?“, fragte die Signora und drückte Amber herzlich die Hand. Sie war eine typisch italienische Dame, etwas korpulent, mit feinen Gesichtszügen und sorgfältig geschminkt. Amber freute sich über diese familiäre Begrüßung und hätte gern noch mit ihr geplaudert, aber die Signora wurde von jemandem auf ihrem Handy angerufen. Sie verabschiedete sich von Amber und ging, lachend in ihr Telefon schwatzend, davon.

Amber warf einen Blick ins Lokal. Es bestand aus einem schlichten Raum mit rustikalen Holzmöbeln. Auf den wenigen Tischen brannten Kerzen, und die Wände strahlten in frischem blankem Weiß. Es roch nach gutem Essen. Gäste waren ins Gespräch vertieft. Da öffnete sich hinter der Theke eine Tür und ein Mann trat heraus.

„Buonasera!“, grüßte er mit tiefer und angenehmer Stimme. Er trug eine schwarze Hose und über dem weißen Hemd eine Weste, und er machte darin eine ziemlich gute Figur. Offenbar war es der Kellner. Er lächelte charmant, strich sich über seinen gepflegten Kinnbart und machte eine einladende Handbewegung. Er war ein verdammt attraktiver Kellner!

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich entschieden hatte. Auch wenn das Lokal authentisch wirkte, so wollte sie sich lieber ein Restaurant suchen, wo sie sich nicht allein fühlte. Mit einem Kopfschütteln lehnte Amber die einladende Geste des Kellners ab, was er mit einem freundlichen Blick aus seinen dunklen Augen akzeptierte. Der Impuls zu bleiben durchzuckte sie. Aber sie wollte sich noch ein wenig frisch machen, bevor sie den Abend mit einem Glas Wein und einer hausgemachten Pasta ausklingen lassen würde. Sie murmelte einen Abschiedsgruß, stieg nach oben in ihre Wohnung und legte sich für ein paar Minuten auf das Sofa. Als sie aufwachte, war es dunkel. Ihr Magen knurrte. Über eine Stunde hatte sie geschlafen. Rasch machte sie sich frisch und verließ die Wohnung.

Im Café gegenüber stand die Tür weit offen. Unwillkürlich ging sie schneller und bog rasch um die Ecke. Sie lief zu dem schönen Dorfplatz nahe der Promenade, wo am Mittag die Restaurants Tische und Stühle nach draußen gestellt hatten. Zu ihrer Überraschung waren alle Lokale, bis auf eins, geschlossen. Und dort kassierte gerade der Kellner den letzten Gast ab. Dabei war es nicht einmal neun Uhr!

Sie ging zur Hauptstraße und fand eine Kneipe, wo ein paar Männer auf der Terrasse in grellem Neonlicht Bier tranken. Einer pfiff durch die Zähne, als sie näher kam, und sie machte kehrt. Sie durchstreifte die Gassen des Orts, doch auch hier hatte alles, bis auf einen Imbiss, schon zu. Ein wenig enttäuscht beschloss sie zurückzugehen. In dem Café der Einheimischen war die Tür noch angelehnt, und warmes Licht fiel durch den Spalt nach draußen. Ob es hier vielleicht noch eine Chance gab? Doch von drinnen war kein Laut zu hören, es schien ebenso Feierabend zu sein. Sie wollte schon aufgeben, da hörte sie hinter sich: „Kann ich helfen?“ Sie fuhr herum. Da stand der Kellner vor der Tür und betrachtete sie seelenruhig.

„Guten Abend“, grüßte sie. Wieder lächelte er so charmant. „Warum sind alle Restaurants schon geschlossen?“, fragte sie.

Der Blick aus seinen dunklen Augen war faszinierend. Einerseits ruhte er auf ihr, gleichzeitig ging er ihr durch und durch. „Es ist ein kleiner Ort. In der Vorsaison kommen fast nur Tagestouristen. Es lohnt sich noch nicht. Bald wird das völlig anders sein“, antwortete er und lachte tief und melodisch. Er sprach ein tadelloses Englisch, und ihr kam es vor, als hätte sie dieses Lachen schon einmal gehört. „Wir haben geöffnet, bis die letzten Gäste fort sind“, sagte er.

Amber sah über seine Schulter ins Lokal, das leer zu sein schien. „Also schon geschlossen“, sagte sie etwas resigniert.

Er lachte wieder. „Nein, es sind noch Gäste da. Du hast riesigen Hunger, habe ich recht?“, fragte er.

Jetzt lächelte sie zurück. Wenn Amber eines nicht konnte, dann war es lügen. Selbst kleine Notlügen fielen ihr schwer. Sie hatte einen ausgeprägten Wahrheitssinn, und vielleicht nahm sie ihn manchmal auch zu ernst. Aber wenn sie log, so glaubte sie, geriet die Welt aus den Fugen. Wie bei dem Unfall ihres Vaters. Hätte sie ihm nicht ein falsches Alibi gegeben, wäre alles vielleicht anders gekommen …

„Ja, das stimmt“, gab sie zu. „Riesigen Hunger.“

„Ich bin Alessandro.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Ich wollte selbst gerade essen und ich habe gern Gesellschaft.“ Er wies hinter sich. „Eine ganz spezielle Pasta steht schon auf dem Herd. Meine Tante hat sie für mich gekocht. Sie kümmert sich um mich wie um einen Sohn“, bemerkte er augenzwinkernd.

Amber entspannte sich. Normalerweise versetzten sie allzu direkte Ansprachen von fremden Typen sofort in Alarmbereitschaft. Doch dieser Alessandro war ihr zunehmend sympathisch, und er wohnte anscheinend mit seiner Familie hier im Dorf. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und nahm seine Hand. „Gern. Ich heiße Amber.“ Unverwandt sah sie auf seine sinnlich geschwungenen Lippen und spürte seinen angenehm warmen Händedruck.

Sie trat in den Gastraum. An einem Tisch, der von draußen nicht sichtbar gewesen war, saß ein älteres Paar. Beide hatten graue Strähnen im Haar und waren mindestens so alt wie ihre Eltern.

„Such dir einen Platz aus“, sagte Alessandro. „Ich bin gleich wieder da.“ Dann verschwand er durch die Tür hinter dem Tresen.

Sie setzte sich an einen Tisch und lauschte den Geräuschen aus der Küche. Das Paar in der Ecke unterhielt sich mit verliebten Gesten statt vieler Worte. Sie hatten ihre Hände auf dem Tisch ineinander verschränkt und die Welt um sich herum vergessen. Amber gefiel die Vorstellung, dass die beiden schon lange miteinander verheiratet und immer noch verliebt waren, denn sie hatte goldene Ringe an den Fingern der beiden entdeckt. Welch schöner Gedanke …

Wenig später legte Alessandro ein mit Blumen gemustertes Tischtuch auf, und kurz darauf standen zwei Teller mit dampfender Pasta, garniert mit hauchdünnen Zitronenscheiben, sowie zwei Gläser Rotwein auf dem Tisch. Alessandro entzündete eine neue Kerze. Nun war es auch an ihrem Tisch plötzlich romantisch. Beim ersten Bissen sahen sie sich über die Kerzenflamme hinweg an. Diese tiefgründigen Augen! Ein kleiner Schauer rieselte durch Amber hindurch. Sie erinnerten plötzlich ein wenig an die Augen des Mannes aus dem Traum …

„Es schmeckt köstlich“, brach sie das Schweigen.

Er schmunzelte und fasste sich scherzhaft an den Bauch. „Spaghetti al limone, ein traditionelles und reichhaltiges Gericht. Es ist sogar zu köstlich. Das sage ich meiner Tante jedenfalls immer, aber sie liebt es, mich zu mästen.“

Amber sah ihren Tischpartner amüsiert an. Sie hatte seine athletische Figur genau studieren können, als er den Tisch gedeckt hatte. Wenn sie sich nicht täuschte, verbarg sich unter dem Hemd eher ein trainierter Waschbrettbauch und bestimmt kein Gramm Fett zu viel. Aber sie beschloss mitzuspielen. „Dann komme ich besser abends nicht mehr hierher“, sagte sie und sah ebenso an sich hinunter.

„Wie bitte? Du hast eine Traumfigur!“, konterte Alessandro und nutzte die Gelegenheit, seinen Blick ausgiebig über sie gleiten zu lassen. Es fühlte sich an wie ein Streicheln. „Du magst Komplimente“, stellte er lächelnd fest.

„Du wolltest zuerst eins hören“, gab sie schlagfertig zurück.

„Eins zu null für dich.“ Er hob das Glas.

Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Die Wärme des Weins rieselte durch ihre Glieder, und auf einmal fühlte sie sich frei und leicht. Sie aßen und plauderten, sprachen über die regionale Küche, über den Tourismus und die wundervolle Natur. Er beherrschte perfekt die Kunst des galanten Tischgesprächs. Als sie das Besteck hinlegte, betrachtete er Amber so lange, bis sie den Blick abwenden musste. Eins zu eins für ihn.

„Erzähl mir, wo du herkommst“, sagte er.

„Ich lebe schon immer in London“, antwortete sie und dachte unvermittelt an Stanley. Doch das passte nicht hierher. Nicht jetzt. „Ist dies dein Lokal?“, lenkte sie ab und lehnte sich zufrieden zurück.

„Es gehört meinem Onkel. Er hatte einen Unfall und erholt sich noch von den Folgen.“

Amber dachte sofort an ihren Vater, der bis heute noch nicht richtig arbeiten konnte. „Das tut mir leid. Etwas Ernstes?“

„Er kann nicht gut laufen, aber es wird jeden Tag besser. So lange helfe ich ihm“, antwortete Alessandro knapp.

Gern hätte sie mehr erfahren, wollte aber nicht zu neugierig sein. Sie selbst hatte ja auch keine Lust, zu viel von sich zu erzählen. Das Gespräch geriet ins Stocken. Da winkte der ältere Mann aus der Ecke herüber, und Alessandro stand auf.

„Und du wohnst drüben in dem alten Haus?“, nahm Alessandro das Gespräch wieder auf, nachdem die anderen gezahlt hatten und gegangen waren. „Für ein paar Tage“, erklärte Amber. „Ganz oben.“

„Ich kenne die Vermieterin. Die Apartments sind sehr beliebt.“

„Und wunderschön.“

„Du bist auch wunderschön.“

Ein Schauer lief ihr über die Haut. Alessandro sagte das so ganz nebenbei, und doch berührte es sie in ihrem Innersten, wie er es sagte. Sie konnte sich gar nicht satthören an seiner tiefen Stimme. Das war eindeutig der Beginn eines Flirts, aber es war nichts Aufdringliches oder Unechtes dabei. Sie trank den letzten Schluck Wein und spürte, wie ihre Hände leicht zitterten. „Danke“, sagte sie und schob den Stuhl zurück. Es war vielleicht albern, aber sie wollte mit Alessandro lieber nicht allein sein. „Danke für das Abendessen. Ich sollte jetzt gehen. Ich bin müde.“

„Wirklich?“, fragte er ehrlich überrascht.

Sie wurde verlegen. Nicht nur wegen seiner flirtenden Blicke. Sie hatte sich gerade bei einer Unwahrheit ertappt. Müde? Das Gegenteil war der Fall. Sie war aufgewühlt und nervös, und sie hätte noch viel länger auf seine Lippen schauen und weitere Komplimente hören können. Ihre Wangen glühten, und ihre Augen nahmen jede Bewegung Alessandros wahr. Wie er sich mit seinen wohlgeformten Händen über das markante Kinn strich, wie sich fragend eine Augenbraue hob, wie sein Mund spielerisch lächelte und nicht zuletzt, dass er ihr kein Wort glaubte. Ein Grund mehr, zu gehen. Sie fühlte sich viel zu sehr verunsichert.

„Vielleicht noch ein Glas Wein?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf und stand auf. Es war nun so still, dass sie das Knistern der Kerzenflamme hören konnte. Sie wollte nach ihrem Mantel greifen, aber Alessandro war auch aufgestanden und half ihr hinein.

„Schade“, flüsterte er in die Stille des Raums. Wahrscheinlich dachte er, Amber wäre auf ein Urlaubsabenteuer aus gewesen. Es war besser, unmissverständlich klarzustellen, dass es anders war.

Sie ließ sich zur Tür bringen und trat in die Kühle hinaus. Alessandros Augen schimmerten im Halbdunkel. Sie hätte darin versinken können … und riss ihren Blick los. Ihre Mission war es herauszufinden, ob sie sich in die blauen Augen von Stanley verlieben konnte und sonst gar nichts.

„Danke für deine bezaubernde Gesellschaft.“ Alessandro gab ihr einen vollendeten Handkuss. Sie mochte solche Gesten.

„Gute Nacht“, sagte sie. Dann ging sie steif hinüber zu ihrer Haustür und schaffte es, sich nicht umzudrehen. Dumpf fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, und einen Augenblick lang lehnte sie sich von innen dagegen.

Sie glaubte, Alessandros Blick immer noch im Rücken zu spüren, und auf ihrer Hand brannte die Stelle, die er geküsst hatte. Dieser Italiener hatte Übung darin, Frauen den Kopf zu verdrehen, das war so klar wie der Sternenhimmel über Minori. Doch für eine schnelle, unverbindliche Liebelei hatte sie sich nicht aufbewahrt. Langsam ging sie die Treppen hinauf, während ihr Herz so stark klopfte, als wäre sie die Stufen hochgerannt.

2. KAPITEL

Alessandro setzte sich mit einem Espresso vor das Café in die kühle Morgenluft und beobachtete, wie der Ort aus dem Schlaf erwachte. Die Glocken der Basilika schlugen laut. Seit drei Wochen war er in Minori, und er liebte die Ruhe und Gelassenheit der Menschen hier. Bei seinem Onkel hatte er als Kind viele schöne Sommer verbracht. Selbstverständlich, dass er Pepe jetzt so gut wie möglich helfen würde. Außerdem war es eine wohltuende Abwechslung zu seinem geschäftigen Leben in Mailand, wo sich alles um Geld, Glanz und Erfolg drehte. Die Tage im Café waren erfrischend klar strukturiert. Nach getaner Arbeit schloss er die Tür ab und war froh, allein und in Ruhe etwas zu essen und dann durch die stillen Gassen nach Hause zu gehen. Manchmal wartete sein Onkel auf ihn, und sie spielten noch eine Partie Schach. Bisher war dies eine wunderbare Routine gewesen. Doch seit dem gestrigen Abend war es anders. Er hatte kaum geschlafen, weil das Erscheinen eines wunderschönen feenhaften Wesens ihm die innere Ruhe geraubt hatte.

Ambers Augen hatten eine ganz besondere Färbung, sie waren nicht einfach nur blau. Leider hatte er sie nur in der Dämmerung und im Kerzenlicht betrachten können. So blieb die wahre Farbe noch ein Geheimnis – bis die Engländerin, vielleicht schon gleich, aus der Tür gegenüber kommen würde. Wieso hatte er die Frau am Abend zuvor einfach gehen lassen?

„He, Alessandro!“, rief jemand, und er schreckte hoch. Ein erster Gast war gekommen und wollte bedient zu werden. Alessandro musste seinen Beobachtungsposten verlassen.

Wenig später kam sein Onkel Pepe angehumpelt. Er hatte eine Operation am Knie hinter sich, und das ausgerechnet vor dem Beginn der Feriensaison. Er und seine Frau Maria lebten von den Einkünften, die von den Touristen in die Kasse gespült wurden. Alessandro hätte seinem Onkel natürlich auch einen Kellner bezahlen können. Geld besaß er genug. In der Familie Bellini musste niemand arm sein. Aber als der verzweifelte Anruf aus Minori kam, hatte es Alessandro ganz gut gepasst, Mailand für eine Weile zu verlassen. Er konnte etwas Gutes tun und seinem Bruder Valentino und Chiara einen Denkzettel verpassen …

Pepe ließ sich mit einem Seufzer auf einem Stuhl nieder und streckte die Beine von sich. Alessandro brachte ihm einen Kaffee und setzte sich einen Augenblick zu ihm. Immer wieder wanderte sein Blick dabei zu dem Haus gegenüber, auch wenn er es gar nicht wollte. Es passierte einfach.

Pepe lachte ihn an. Seine Augen strahlten Wärme und Zuneigung aus. Alessandro mochte ihn und seine Frau Maria sehr. Die beiden waren wie Eltern für ihn, nachdem seine Mutter viel zu früh und sein Vater vor wenigen Jahren gestorben waren. Alessandro wohnte bei ihnen im Gästezimmer, auch wenn er das alte etwas abgelegene Sommerhaus seiner Eltern hätte beziehen können. Es war wundervoll romantisch dort in den Hügeln. Aber auch sehr einsam.

„Ich weiß, es geht mich nichts an“, sagte sein Onkel vergnügt. Der Alte hatte immer gute Laune. Weder Schmerzen noch Geldsorgen konnten sein heiteres Gemüt trüben. „Ich bin trotzdem neugierig. Gestern Abend habe ich vergeblich auf dich gewartet, und heute Morgen warst du viel früher fort als sonst.“

Gegenüber ging die Tür auf, und Alessandro hielt den Atem an. Doch es war nur ein älterer Herr, der mit seinem Hund spazieren gehen wollte. „Es ist nichts“, sagte er und lächelte Pepe an. „Ich war gestern etwas länger hier, um gründlich sauber zu machen. Und heute Morgen hatte ich Lust auf einen Spaziergang.“

„Das ist alles?“ Sein Onkel zog skeptisch seine buschigen Augenbrauen hoch.

Alessandro schmunzelte. Schon war er durchschaut. „Na ja, ich hatte einen besonders netten Gast.“

„Wirklich?“, fragte Pepe freudig überrascht. „Maria und ich dachten schon …“

„Hm?“, machte Alessandro.

„Ich meine, wir wünschten, du könntest eine nette Frau kennenlernen. In Mailand hattest du bisher kein Glück.“

Alessandro atmete tief durch. Sein Onkel hatte recht. Er war in seinem Leben viel allein gewesen und von der Liebe desillusioniert. Selbst auf Affären mit Models, mochten sie noch so schön und erfolgreich sein, hatte er keine Lust mehr. In seinem Business ging es ums Prestige, und viele Frauen wollten allein deswegen an seiner Seite sein. Bellini Couture war aus der Modewelt nicht mehr wegzudenken. Valentino und dessen Frau Chiara kümmerten sich um die Suche nach außergewöhnlichen Gesichtern bis hin zur Ausrichtung von Modeschauen und um die Zusammenarbeit mit Designern und der Schneiderei. Er selbst interessierte sich wenig für den glamourösen Bereich und war Chef der Finanzen. Es ging um viele Millionen Umsatz im Jahr. Als sein Vater starb, hinterließ er ein solides Textilunternehmen, das mit frischen Ideen zu einer Erfolgsstory avancierte. Das war zugegeben auch Chiaras Kreativität und Talent zu verdanken. Dass sie ihm nun aber in der Aufsichtsratssitzung unterstellt hatte, er habe schlecht gewirtschaftet und leichtsinnige Entscheidungen getroffen, war eine bodenlose Unverschämtheit, die er mit einer Auszeit quittiert hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Hilferuf aus Mailand kommen würde. Er brauchte die Firma nicht zum Überleben, aber die Firma brauchte ihn. Valentino würde sich für seine Ehefrau entschuldigen müssen, falls sie es nicht selbst tat.

„Du bist anders als deine Brüder“, sagte Pepe und rührte in der Tasse. „Deswegen findest du dein Glück vielleicht nicht in dieser Glitzerwelt.“

Alessandro lachte bitter auf. Auch er fragte sich oft, wo sein Platz im Leben war. Jedenfalls wollte er nicht wie Valentino sein, der seiner Frau verfallen war und mit dem Eheversprechen anscheinend auch seinen Verstand abgegeben hatte. Und schon gar nicht war er wie Sergio, Valentinos Zwilling. Sergio war ein Lebemann, der es nie zu etwas bringen würde außer zu Skandalen in der Klatschpresse, weil er sich gerne an erfolgreiche Models heranmachte.

„Das Leben geht so schnell vorbei“, sagte Pepe. „Du bist zwar erst Anfang dreißig, und dennoch rate ich dir, warte nicht mehr zu lange. Wir würden uns so sehr freuen.“ Er legte seine Hand auf Alessandros.

Nun sah Alessandro etwas Schmerz in den Augen seines Onkels aufglimmen. Pepe war zwar lebenslustig und zufrieden, aber es gab auch eine tief sitzende seelische Wunde. Er und Maria hatten niemals Kinder bekommen. Er wünschte sich, dass seine Neffen Eltern wurden. Doch Valentino und Chiara hatten nur die Firma im Kopf, und Sergio würde sich wohl niemals binden. Pepes Hoffnung lag also auf Alessandro, der ihm ohnehin am nächsten stand.

In diesem Augenblick trat Amber aus dem Haus und schaute zum Café herüber. Ein Ruck ging durch Alessandro. Sie hob grüßend die Hand und ging in die andere Richtung davon. Sein Onkel bemerkte seinen wachen Blick, der Amber verfolgte. Er schmunzelte, sagte aber nichts weiter. Als sie verschwunden war, nahm Alessandro das Gespräch wieder auf. „Leider ist es nicht immer schön, bekannt und reich zu sein. Der Name Bellini ist zuweilen ein Hindernis, um die Richtige zu finden.“

„Wie soll die Richtige denn sein?“, fragte sein Onkel.

„Loyal. Herzlich. Humorvoll. Gerne auch bescheiden.“ Weitere Gäste kamen, und Alessandro stand auf. „Eine, die nicht die Firma Bellini, sondern mich will.“ Kurz beugte er sich nochmals zu seinem Onkel, um leise zu ergänzen: „Sexy darf sie natürlich auch sein.“

Pepe lachte. „Dann hast du die Möglichkeit, wie es besser funktionieren könnte, doch schon gefunden. Sei erst einmal nur du selbst und nicht der Boss einer großen Firma.“

Alessandro grinste über diesen Rat. Es wäre tatsächlich eine neue Herausforderung, einmal anders aufzutreten. Doch das konnte er nur außerhalb Mailands tun. Zum Beispiel … hier! Er sah in die Richtung, wo Amber verschwunden war. Eben wäre er am liebsten aufgesprungen und ihr hinterhergegangen. Er wollte fortsetzen, was er am Abend zuvor begonnen hatte. Ein Flirt mit hohem Erotikfaktor. Amber jedoch war nicht leicht zu erobern, das hatte sie ihm deutlich signalisiert. Und ohne den schmückenden Beinamen Bellini stand er vor einer doppelten Herausforderung. Trotzdem hatte sie ihm schon jetzt einen Gefallen getan. Sein männlicher Instinkt hatte sich zurückgemeldet, denn in einer wichtigen Sache hatte er sich getäuscht. Gegen wunderschöne Frauen war er noch lange nicht immun.

Amber war schon ein paar Schritte am Café vorbeigegangen, als Alessandro mit zwei Tabletts auf die Terrasse trat. Laut rief er hinter ihr her: „Amber!“ Sie drehte sich zu ihm um. Offenbar war sie auf dem Weg zu ihrer Unterkunft. Während Alessandro sie nicht aus den Augen ließ, schwappte etwas Kaffee über, und eine Kundin beschwerte sich: „Passen Sie doch auf!“

Pepe, der an einem anderen Tisch eine Bestellung aufnahm, sah ihn stirnrunzelnd an. Alessandro entschuldigte sich bei der Frau, stellte kurzerhand die Tabletts ab und ging zu Amber, die immer noch auf dem selben Fleck stand. Er blieb vor ihr stehen. Ein paar Sonnenstrahlen fielen auf ihr Gesicht, und nun erkannte er ihre Augenfarbe: ein zartes Veilchenblau, das im Licht geheimnisvoll schimmerte. Faszinierend. Sein Blick wanderte zu ihren vollen sinnlichen Lippen. Gerne hätte er ihre zarte weiße Haut berührt. Die kastanienbraunen Haare trug sie kurz, was sie bei Tageslicht fast burschikos aussehen ließ. Obwohl sie einen Mantel anhatte, war darunter ihre schlanke Figur zu erkennen. Selten hatte Alessandro die Erscheinung einer Frau so fasziniert, und das, obwohl Amber völlig natürlich auftrat. Wenn er zwischen ihr und einer der Laufsteg-Schönheiten die Wahl hätte, er würde sich für Amber entscheiden. Geschminkt und gestylt könnte die zarte Engländerin jedoch ohne Weiteres als Topmodel durchgehen …

Er schüttelte über seine Gedanken den Kopf. Er ließ seine Gäste warten und stand stattdessen hier wie hypnotisiert herum! Fragend sah Amber ihn an.

„Du hast den besten Espresso der Stadt noch nicht probiert“, sagte Alessandro.

Jetzt lächelte sie. „Nachdem ich gestern schon die beste Pasta und den besten Wein probiert habe?“

„Genau“, antwortete er. Er mochte ihren leisen Humor. „Möchtest du?“

„Ich war den ganzen Vormittag unterwegs und bin etwas müde“, sagte sie und sah zu der voll besetzten Terrasse hin. „Und du hast viel zu tun.“

Amber hatte recht, er würde im Moment kaum Zeit für sie haben. Da merkte er, wie Pepe zu ihm hinübersah. Blitzschnell tauschten sie Blicke. Sein Onkel erhob sich, ging zu dem Tisch, wo sein Neffe die Tabletts abgestellt hatte und begann, die Getränke zu verteilen. Er würde ihm also helfen. „Kein Problem. Komm“, sagte Alessandro und bot ihr den Arm. Widerstand war zwecklos, signalisierte er ihr so auf charmante Weise. Dann führte er Amber zu einem freien Tisch, und sie setzte sich. „Bin gleich wieder da“, sagte er.

Er stürzte zur Kaffeemaschine, als könnte sich Amber draußen in Luft auflösen, wenn er zu lange fortblieb. Dann saßen sie sich gegenüber, und sie schien etwas nervös. Er studierte ihr wunderschönes Gesicht. Sie hatte das gewisse Etwas! Wenn er wollte, könnte er Amber auf die Titelseiten bringen, dachte er schon wieder. Doch genau das wollte er eben nicht. Die letzte Beziehung zu einem Model hatte unglücklich geendet. Das war ein weiterer Grund, warum er eine Weile nicht in Mailand sein wollte. Er wollte Giulia endgültig vergessen. Er hatte ihren oberflächlichen Lifestyle und ihre Gier nach Aufmerksamkeit nie gemocht. Bereits wenige Tage nach ihrer Trennung wurde sie mit einem bekannten Unternehmer an ihrer Seite abgelichtet. Diese Geschichte wiederholte sich zu oft. Nie wieder ein Model, hatte er sich geschworen.

Womit Amber wohl ihr Geld verdiente? Am Abend zuvor hatte sie nicht viel über sich erzählt, und es interessierte ihn brennend.

„Was machst du beruflich?“, fragte er jetzt.

„Ich bin Kinderkrankenschwester“, sagte Amber. „Es ist ein verantwortungsvoller, anstrengender und auch gut bezahlter Beruf. Es ist sinnvoll, anderen Menschen zu helfen, ihr Leiden zu lindern. Kinder sind so dankbar.“

Als Amber von ihrer Arbeit in der Kinderklinik erzählte, leuchtete ihr Gesicht. Bei Alessandro traf sie damit eine sensible Stelle. Er verdiente eine Menge Geld, doch innerlich fühlte er sich leer. Als sinnvoll empfand er seine Tätigkeit nicht. Er half keine Leiden zu lindern. Er sorgte dafür, dass einige wenige noch reicher wurden und die Eitlen noch eitler. Er hatte einst auch davon geträumt, mit seinen Händen die Welt ein bisschen besser zu machen. Doch durch die Erbschaft war er auf einen anderen Weg geraten. Alessandro war geschickt im Umgang mit Geld und hatte das Unternehmen bisher souverän mit angeführt. Bis zu dem Minus in der letzten Bilanz, das Chiara ihm als persönliches Versagen vorwarf. Es sah ganz so aus, als wollte seine Schwägerin ihn auf billige Weise loswerden. Doch so einfach war er nicht ersetzbar. Durch seine Informanten wusste er bereits, dass es der Firma nun noch schlechter ging. Es ließ ihn seltsam kalt.

„Und du?“, fragte Amber und wies auf das Café. „Du hast gestern erzählst, du hilfst hier ein paar Wochen aus. Was tust du sonst?“

Alessandro winkte ab. Er wollte nicht lügen. „Ach, ich mache Geschäfte“, sagte er. „Es ist nicht wichtig. Hier nicht.“

Sie sah ihn forschend an, und ihre wunderschönen Augen schimmerten noch intensiver. Ohne nachzudenken, ob es angebracht war, wollte er nach ihrer Hand greifen.

Da klingelte ihr Handy, und statt nach ihrer Hand, griff er ins Leere, weil sie das Telefon aus ihrer Tasche nahm und dann, ohne auf das Klingeln zu reagieren, wieder wegsteckte. Ein Verehrer? Ihr Freund? Eben noch hatte er ihr ein klassisches Rendezvous vorschlagen wollen, doch nun überlegte er es sich anders. Er wollte Amber besser kennenlernen, bevor er vielleicht den nächsten Schritt tat.

„Es gibt hier in den Hügeln ein paar wundervolle Wege und Aussichtspunkte“, sagte er. „Ich würde sie dir gern bei einem Spaziergang zeigen.“

Wieder dieser forschende Blick. „Warum?“, fragte sie.

Er lachte. Ihre vorsichtige Art gefiel ihm. Aber wenn sie schon vergeben war, dann würde sie es ihm bestimmt rechtzeitig sagen. In diesem Moment genoss sie den Flirt. Er konnte es an ihren Gesten erkennen: der Augenaufschlag, die geöffneten Lippen und wie sie sich immer wieder durchs Haar fuhr.

„Du hast erzählt, dass du nicht allein, sondern mit deiner Kamera unterwegs bist“, sagte er. „Ich kenne Plätze, wo nicht jeder Besucher hinkommt.“ Im Geist sah er sich schon mit Amber auf der Terrasse des in den Hügeln versteckt liegenden Hauses seiner Eltern sitzen. Nah beieinander. Es würde dunkel und kühl werden, und er würde sie in einen nur von Kerzen beleuchteten Raum führen …

Ihre Augen sprachen ein Ja, doch ihre verführerischen Lippen fragten: „Warum?“

Kurz war er sprachlos, was wollte sie noch von ihm hören?

„Ich liebe Ehrlichkeit“, setzte sie nach.

Sie spürte also genau, dass er viel zu sehr darüber nachdachte, wie für ihn ein wundervoller Abend mit ihr aussehen würde. Aber es blieb noch eine ganz andere, einfache Wahrheit. „Es ist traumhaft, im Frühjahr in den Hügeln spazieren zu gehen. Reicht das, um dich zu überzeugen?“

Jetzt legte sie den Kopf in den Nacken und lachte. Sie streckte ihren Schwanenhals und ließ ahnen, wie schön auch der Rest des Körpers sein mochte. „Also gut“, sagte sie. „Wann?“

Etwas fiel laut klirrend zu Boden. Alessandro fuhr hoch. Seinem Onkel war ein Tablett entglitten, und er entschuldigte sich nach allen Seiten hin bei den erschrockenen Gästen. Amber war ebenso aufgesprungen.

„Soll ich helfen?“, fragte sie.

„Nein.“ Er hielt sie sanft am Arm fest. „Das ist mein Job.“ Eben hatte er noch fantasiert, gleich am nächsten Morgen mit Amber loszugehen. Doch dieser Plan war eben mit dem Porzellan und Glas auf dem Boden zersplittert. Aber das war nur eine Sichtweise. Amber formulierte gerade lächelnd die andere: „Scherben bringen Glück.“

„Gib mir drei Tage Zeit, um unseren Ausflug zu organisieren“, bat Alessandro.

„Drei Tage?“, fragte sie, und über ihr Gesicht huschte ein Ausdruck der Enttäuschung. Da wusste er, dass die Scherben ihm tatsächlich Glück brachten, denn es war besser, nichts zu überstürzen. Die gegenseitige Anziehung würde nur noch größer werden. Auch wenn Amber es versuchte zu verbergen: Er hatte in ihr ein Feuer entzündet. Seines brannte bereits lichterloh.

3. KAPITEL

Eine wilde Mischung von Gefühlen baute sich in Amber auf, als sie die Treppen in ihr Quartier hochstieg. Vorfreude kämpfte gegen Vorsicht, ein klopfendes Herz gegen einen kühlen Kopf. Oben angekommen dauerte es eine Weile, bis wieder Ruhe in ihrem Inneren eingekehrt war.

Sie schaltete ihren Laptop ein. Bonnie teilte ihr mit, dass sie ihre große Schwester vermisste und mit Mom und Dad aber gut klarkam. Außerdem schrieb sie:

Sie reden viel über dich, ob du wohl glücklich bist. Bist du glücklich?

Es war eine der großen Fragen, über die sich Amber auf ihrer langen Reise klar werden musste. Vor dem Unfall des Vaters, als sie kurz davor gestanden hatte, ein eigenes Leben zu beginnen, war sie glücklich gewesen.

Auf dem Laufsteg, wenn sie sich selbstbewusst und strahlend gefühlt hatte, war sie manchmal glücklich gewesen. Und auch hier an der Küste, wenn sie inmitten der Frühlingsblumen in der Sonne saß und aufs glitzernde Meer schaute, gab es Momente, in denen sie glücklich war.

Doch tief in ihrem Innern, als tragendes Lebensgefühl und innerer Kern, fehlte das Glück. Ihr Leben war nicht schlecht. Aber sie lebte es für andere – für ihre Eltern und Bonnie, für die Kinder in der Klinik. Vielleicht bald für Stanley. Dabei gab es in ihr auch den Drang, sich in ein eigenes, selbstbestimmtes Leben zu stürzen. Stärker aber war ihr Naturell, rational und vorausschauend zu handeln. Sie musste nun mal an ihre Familie denken. Außerdem schützte ihre Vernunftstimme sie vor Kummer und Enttäuschung. Nach ihrer letzten bitteren Liebeserfahrung hatte sie sich vorgenommen, dieser Stimme im Zweifelsfall immer zuzuhören.

Damals in Mailand jedenfalls hatte sie nicht auf ihren Kopf gehört. Auch nicht auf jene Menschen, die sie vor David, einem der bekanntesten Modefotografen in Mailand, gewarnt hatten. Wenigstens hatte sie ihre Unschuld vor diesem selbstsüchtigen Kerl bewahrt. Das war auch eine Art Glück.

Und ja, als Alessandro sie zu diesem Ausflug eingeladen hatte, war sie glücklich gewesen. Wenn da nicht der Anruf gewesen wäre …

Nachdenklich blickte sie auf das Display. Noch nie hatte sie das Telefon einfach klingeln lassen, wenn Stanley anrief. Diesmal schon. Es kam ihr vor wie Betrug. Sie konnte nicht so tun, als hätte sie den Anruf nicht bemerkt. Sie atmete tief durch und wählte seine Nummer. Währenddessen öffnete sie eine Nachricht von ihm auf dem Laptop. Stanley hatte ihr Fotos von der Station geschickt. Da war die kleine Florence, mager und blass, aber sie winkte für Amber in die Kamera. Auf dem anderen Foto saß Stanley auf der Bettkante bei Tommy, der nie wieder gesund werden würde. Der Junge war sehr tapfer, und Stanley hielt seine Hand. Seine blauen Augen blickten Amber fest entgegen. Sie hatte ihm wirklich viel zu verdanken.

„Da bist du ja!“, begrüßte Stanley sie am anderen Ende der Leitung.

„Ich sehe mir gerade die Fotos an“, entgegnete sie. „Vielen Dank dafür. Wie geht es den Kindern?“

Stanley lachte. „Meinst du nur die beiden oder alle auf der Station? Dann würde es ein langes Gespräch. Einige vermissen dich sehr.“

Amber nickte gerührt. Er sprach von Kindern wie Tommy, die lange blieben und öfter kamen. Für jene Jungen und Mädchen wurden die Ärzte und Schwestern zum Teil der Familie. Ihr Herz wurde warm. Es war einer der Momente, in denen sie froh darüber war, dass ihre Modelkarriere beendet war. Sie hatte nach dem Rauswurf aus der Agentur nicht gegen Chiara gekämpft, sondern ihre Kraft lieber wieder auf die sinnvolle Arbeit in der Klinik gerichtet. Vielleicht hätte sie sich tatsächlich in dieser Glitzerwelt verloren. Sie hatte viele hübsche Mädchen getroffen, die sehr unglücklich gewesen waren oder sich in fragwürdige Männer wie David verliebten. Nach außen hin gab er sich smart und weltgewandt, doch nachdem Ambers Karriere durch Chiara beendet wurde, zeigte er ein anderes Gesicht. Er hatte Amber sofort fallen lassen. Er hatte das aufsteigende Model begehrt, nicht sie. Schöne Frauen waren für ihn Trophäen, jungfräuliche erst recht. Wie viele der anderen Models hatte er bis zum Ende verführt? Und … wie viele Frauen hatte Alessandro schon im Café angesprochen, einfach weil er gerade Lust dazu hatte?

„Fühlst du dich immer noch nicht einsam?“, unterbrach Stanley ihre Gedanken.

„Nein“, sagte Amber wahrheitsgemäß. „Ich tanke im Alleinsein Kraft für die Zeit, die danach anbricht. Und ein paar Leute habe ich auch schon kennengelernt.“

„Ich vermisse dich so sehr“, sagte Stanley plötzlich ernst. Er schwieg einen Moment, bevor er fragte: „Wen hast du denn kennengelernt?“

Amber kicherte. „Bist du etwa eifersüchtig?“

„Natürlich. Ich nehme an, dass es ein glutäugiger Italiener ist, oder?“

„Genauso ist es“, bestätigte sie übermütig.

„Pass auf dich auf“, sagte er zum Abschied und klang dabei irgendwie traurig. Ob er sich Sorgen machte?

„Klar“, versprach Amber und dachte nach dem Auflegen noch lange an Stanley und an die Kinderstation. Dort war ihr Leben. Oder doch nicht? Musste sie sich, wenn sie dort arbeitete, auch für Stanley als Mann an ihrer Seite entscheiden? Bei ihren Eltern hatte es auch eine Weile gedauert, bis sie einander ihrer Liebe sicher gewesen waren. Ein Jahr lang hatten sie sich nur gelegentlich getroffen, bis der Funke übersprang. Auch danach hatte es bis zur ersten gemeinsamen Nacht noch gedauert.

Ihre Mutter habe sich vorher erst ganz sicher sein wollen. Das hatte sie Amber erzählt. Und von ihrem Vater wusste Amber, dass durch das lange Werben um Mom seine Liebe langsam und stetig gewachsen war. Als er sie dann heiraten durfte, war ihre Liebe wertvoll und tief geworden. Wie tief, das wurde auf die Probe gestellt, als Ambers Dad aus seinem Berufsleben gerissen und fast zum Krüppel wurde.

Noch lange nach dem Telefonat dachte Amber darüber nach, wie ihr zukünftiges Leben sein könnte. Irgendwann bemerkte sie, dass es dunkel geworden war. Hungrig ging sie hinunter, kaufte ein paar Lebensmittel ein und schlich zurück. Sie wollte Alessandro nicht begegnen, denn er hatte sie an diesem Tag bereits genug verwirrt. Sie wollte den Abend in aller Ruhe verbringen und einfach mal gar nichts tun. Jeden Tag war sie auf ihrer Reise viele Kilometer unterwegs gewesen. Es kam ihr sogar vor, als wäre sie ihr ganzes Leben lang unterwegs gewesen, um im Hier und Jetzt anzukommen, in diesem Himmelsnest nur mit sich allein. Sie dachte an die Worte ihrer Mutter. Vielleicht ein guter Ort für dich, um zu hören, was dein Herz dir sagt.

Drei Tage später klopfte es frühmorgens an der Wohnungstür. Amber saß gerade mit einer Tasse Tee am offenen Fenster und blickte hinaus auf die Berge, über denen noch der Morgennebel lag. Drei Tage lang hatte sie es geschickt vermieden, Alessandro zu begegnen, hatte sich mit ihren Fotografien beschäftigt und kleinere Touren gemacht. Sie hatte erst ihre Empfindungen für Alessandro unter Kontrolle bringen wollen, bevor sie ihm wieder gegenübertrat. Mittlerweile konnte sie an ihn denken, ohne Herzklopfen zu bekommen. Sie würde nicht sehr enttäuscht sein, falls er ihre Verabredung vergessen hatte. Sie fühlte sich frisch und erholt und würde auch ohne ihn eine tolle Wanderung durch die Berge machen.

Das Klopfen wurde lauter, und sie stand auf. Die Vermieterin, ein Nachbar? Sie fuhr sich durch die Haare, zog den Gürtel ihres Morgenmantels fest zu und ging zur Tür.

„Miss, Miss“, hörte sie von draußen eine dünne Stimme. Verwundert öffnete sie. Vor ihr stand ein Junge mit schwarzem Strubbelkopf und sah sie aus dunklen Knopfaugen an. Er streckte ihr einen zusammengefalteten Zettel entgegen, und kaum hatte sie ihn genommen, lief der kleine Bote davon.

„He!“, rief sie hinter ihm her, hörte aber nur noch, wie seine Schritte auf der Treppe verklangen. Stirnrunzelnd schloss sie die Tür. Dann setzte sie sich wieder ans Fenster mit dem Zettel in der Hand. Eine Weile saß sie ganz still. Sie spürte, wie ihr Inneres in Bewegung geriet. Drei Tage hatte sie völlig unaufgeregt verbracht. Damit war es nun vorbei. Sie wusste, bevor sie es las, was auf dem Papier geschrieben stand. Es war eine der vielen Weggabelungen des Lebens, an die ein Mensch immer wieder gelangte. Punkte, an denen sich etwas Richtungsweisendes entschied – oder schon entschieden war. In ihrem Fall Letzteres. Ihr Herz schlug schneller, und ihre Hände zitterten vor Ungeduld, als sie den Zettel auseinanderfaltete. Von wegen Kontrolle! Sie hatte sich etwas vorgemacht.

Alessandro wollte sie unten im Café treffen. Sie sollte ihre Kamera einpacken und sich bequeme Schuhe anziehen, denn sie würden länger unterwegs sein.

Sie las die wenigen Zeilen wieder und wieder. Dann, als sie wieder ruhig geworden war, legte sie das Papier zur Seite und wählte Stanleys Nummer. Sie wollte nicht noch mal mit ihm sprechen müssen, wenn Alessandro dabei war. Die stille Absprache, täglich mit London zu telefonieren, hatte Bestand, und es war nur fair, jetzt anzukündigen, dass sie unterwegs sein würde.

„Darling!“, rief Stanley überrascht. Etwas in ihr zog sich zusammen, denn noch war sie niemandes Darling. „Ist etwas passiert?“, fragte er. „Schön, auch mal in den Morgenstunden etwas von dir zu hören. Ausgeschlafen?“

„Ich schlafe hier wunderbar“, antwortete sie. „Wie geht’s den Kindern?“, fragte sie automatisch. Dann erst setzte sie nach: „Wie geht es dir?“

„Gut“, sagte Stanley fröhlich. Dann fuhr er etwas verhaltener fort: „Vor allem freue ich mich darauf, mit dir etwas zu unternehmen, wenn du wieder da bist. Ich weiß gar nicht mehr, wie ein Wald aussieht.“

Amber lachte unbeholfen. Tatsächlich hatten sie und Stanley noch nicht einmal einen ganzen Tag miteinander verbracht, nur hier und da ein gemeinsames Essen in einem Lokal oder ein kurzer Spaziergang durch den Park. Und mit Alessandro würde sie heute einen langen Ausflug machen! Als sie mit Stanley sprach, klopfte ihr Herz wieder stärker. Aber in diesem Moment war das wohl eher ihrem schlechten Gewissen zuzuschreiben. Noch war sie innerlich kein bisschen weiter gekommen. Sie hatte keine Vision davon, wie es war, mit Stanley durchs Leben zu gehen und sich eine gemeinsame Zukunft vorzustellen, die nicht nur auf die Arbeit begrenzt war.

„Überlege es dir bitte“, hatte er Amber beim Abschied in London gebeten.

„Was meinst du genau?“, hatte sie verunsichert gefragt.

Jetzt, weit weg von zu Hause, fiel ihr dieser ernste Moment ihres letzten Gesprächs von Angesicht zu Angesicht wieder ein. Stanley hatte zum Schluss ziemlich deutliche Worte gefunden.

„Ich werde nicht mit einer Frau zusammenarbeiten, in die ich verliebt bin, und die ich aber nicht heiraten kann.“

Sie war ihm deswegen nicht böse, sie konnte ihn sogar verstehen. Stanley war ein vorausschauender und ehrlicher Mensch, ganz ähnlich wie sie. Er wollte wissen, woran er war, und das war sein gutes Recht. Sie schätzte seine Geduld mit ihr. Ja, sie hatten sogar darüber gesprochen, dass Liebe auch langsam entstehen und wachsen könne. Das Gegenteil davon verkörperte Ambers Freundin Sally. Sie taumelte von einer Enttäuschung in die nächste, verliebte sich immer wieder neu und war oft unglücklich. So etwas wollte Amber nicht erleiden, zumal sie ihre Freundin häufig getröstet hatte. Aber ein wenig „echtes“ Herzklopfen musste doch mal zu spüren sein? Auf einmal fiel es Amber wie Schuppen von den Augen, warum auch sie auf die täglichen Gespräche mit Stanley so viel Wert legte. Sie wartete darauf, dass sich dabei endlich das bestätigende Gefühl einstellen würde, mit diesem Mann durchs ganze Leben zu gehen. Sie wollte sich vor einer klaren, eventuell negativen Entscheidung drücken.

Stanley bemerkte ihren inneren Aufruhr. „Hast du etwas auf dem Herzen?“

„Nichts Besonderes“, wehrte sie ab und sagte dann: „Ich mache heute übrigens diesen Ausflug, von dem ich dir erzählt habe.“

„Mit dem glutäugigen Italiener?“ Wieder wählte Stanley diese Worte, doch diesmal klang es nicht komisch.

„Ich werde dir später erzählen, wie es war.“ Sie meinte das ganz ehrlich. Sie würde Stanley nicht anlügen, sie würde niemanden anlügen. Außerdem flirtete er auch manchmal mit den Kolleginnen. Er war in der Klinik ziemlich beliebt.

Stanley gab sich zufrieden und erzählte von der bevorstehenden Visite. Sie verabschiedeten sich bis zum nächsten Tag. Dann duschte Amber heiß und kalt. Sie frisierte und schminkte sich länger als sonst, wählte eine bequeme und gut sitzende Hose, nahm ihren hübschen Sonnenhut und die Kamera und schlang sich ein türkisfarbenes Seidentuch um den Hals.

Sie fühlte sich bereit, einen unbekannten Weg zu erkunden. Damit meinte sie nicht nur den Spaziergang durch die Berge, sondern auch das Rätsel namens Alessandro. Noch nie hatte ein fast Fremder in so kurzer Zeit ein solches Chaos in ihr verursacht. Amber schwor sich, an diesem Tag herauszufinden, was die Verwirrung zu bedeuten hatte. Es konnte beides sein: eine Warnung vor Alessandro oder aber eine Warnung davor, sich für Stanley zu entscheiden.

Stufen über Stufen! Das würde Amber für immer mit der Amalfiküste verbinden. Langsam und stetig stieg sie hinter Alessandro eine der unzähligen Treppen empor, die durch die Gärten nach oben in die umliegenden Berge führte. Alessandro hatte sie im Café mit einem tiefen Blick aus seinen dunkelbraunen Augen begrüßt, und sein Onkel hatte ihr herzlich die Hand geschüttelt. Der kleine Bote war ein entfernter Verwandter der beiden gewesen. Seit sie losgegangen waren, hatten Alessandro und Amber nur wenige Worte gewechselt. Auf einem kleinen Plateau blieben sie nun stehen, und Amber schoss ein paar Fotos, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war.

Die Sonne schien warm an diesem Vormittag. Amber war froh, ihren Hut dabeizuhaben. Sie liebte Hüte in allen Varianten und das nicht nur, weil sie ihr sehr gut standen. Auf einigen ihrer besten Bilder aus der Modelzeit trug sie sehr elegante Kopfbedeckungen. Alessandro musterte sie. Aber Amber ging nicht davon aus, dass er in ihr das Model von den Titelseiten der Modemagzine wiedererkannte. Das war bestimmt nicht seine Welt. Ausserdem hatte sie damals ihre Haare lang getragen und weniger Rundungen besessen. Gleich nach dem Aus in Mailand hatte sie sich eine etwas weiblichere Figur zugestanden und sich eine neue Frisur zugelegt, um einen Schlussstrich zu ziehen.

Sie hielt Alessandros Blick stand. Sein schönes Gesicht, Augen zum Hineinfallen, seine stolze Haltung und diese athletische Figur – es streifte sie der Gedanke, wie sich wohl seine Lippen oder seine Hände anfühlten. Partout fiel ihr nichts Sinnvolles zum Reden ein, um sich von dieser Vorstellung abzulenken. „Wohin gehen wir eigentlich?“, wollte sie dann wissen. Vor lauter Nervosität hatte sie die naheliegendste Frage bisher noch nicht gestellt.

„Das hier ist der berühmte Zitronenpfad, und er führt in die Nachbargemeinde. Ich bin den Weg schon einige Male gegangen, doch er ist immer wieder neu und wundervoll.“

Amber nickte. Woher der Pfad seinen Namen hatte, war sonnenklar. Unzählige Zitronen- und Orangenbäume, an denen leuchtende Früchte wuchsen, säumten den Wegesrand. Sie gingen weiter. Der steinige Weg führte bergauf, überall wuchs sattes Grün, und die Luft roch frisch und würzig. Die Kronen alter Pinien rauschten im Wind, die Blätter der Olivenbäume schimmerten im Sonnenlicht. Der Ausblick auf das blau leuchtende Meer, auf dem die Schiffe weiße Linien zeichneten, war überwältigend. Liebevoll gestaltete Keramikschilder zeigten dem Wanderer den Weg des Sentiero dei Limoni, wie er in der Landessprache hieß. Amber genoss die überwältigende Natur. Immer wieder blieb sie stehen und fotografierte.

Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichten sie einen fast verfallenen Bauernhof und setzten sich dort auf einen sonnenwarmen Felsen, um zu rasten.

„Warte hier“, sagte Alessandro und ging zu dem alten Haus. Er klopfte an die Tür, die etwas offen stand, und ein grauhaariger Mann streckte den Kopf hinaus. Amber verstand nicht, was sie sprachen, aber wenig später kam Alessandro mit zwei Gläsern köstlicher Limonade zurück, die aus den rundherum wachsenden Zitrusfrüchten zubereitet worden war. Der Alte wohnte schon lange hier oben und verdiente damit seinen Lebensunterhalt, erfuhr sie. Amber leckte sich über die Lippen, so köstlich war das kühle Getränk. Alessandro beobachtete sie dabei. Er rückte ein winziges Stück an sie heran, und ihre Schultern berührten sich. Obwohl es heiß war, überlief Amber ein Schauer. Alessandros Gesicht war dicht neben ihrem, und er sah sie herausfordernd an. „Du bist wunderschön“, sagte er.

Sie lächelte. „Das sagtest du bereits“, antwortete sie keck. Der breite Hut schützte sie, sonst wäre Alessandro sicherlich noch ein Stück näher gekommen. Sie hätte ewig in dieser wundervollen Umgebung sitzen bleiben können, angeregt durch die beeindruckende Natur und die Anwesenheit eines umwerfend attraktiven Mannes. Sie roch einen Hauch seines herben Aftershaves und atmete tief ein, als könnte sie den Zauber des Augenblicks so in ihrem Inneren für immer bewahren. Doch nichts war für die Ewigkeit, und sie wollte auch keinen Kuss riskieren. Es wäre zu verfänglich, einfach so aus einer Laune heraus. Sie stand auf. „Gehen wir weiter?“

Alessandro blieb souverän. „Wie du möchtest.“ Er brachte die Gläser zurück, und der zahnlose Alte winkte ihnen hinterher.

Nun ging es bald bergab, und sie näherten sich dem anderen Ort namens Maiori. Manchmal war der Pfad schmal oder steinig, und Amber lief voraus. Dann spürte sie Alessandros Blicke im Rücken. Genauso gern beobachtete sie ihn, wenn er vorausging. Deutlich zeichnete sich unter der Hose sein knackiger Hintern ab, und Amber wäre einmal fast gestolpert, weil sie ihren Blick nicht abwenden konnte. Mamma mia!

Hinter einer Kirche, deren Dach aus hell- und dunkelgrünen Steinen in der Sonne schimmerte, führten die Treppen nun in das Städtchen hinein. Auf den ersten Blick war es nicht halb so romantisch wie das alte Fischerdörfchen, wo sie wohnte. Maiori war ein moderner Ort, in dem es neben den alten Gebäuden auch viele neue Wohnhäuser und eine breite Promenade am Meer mit Palmen gab. Vor einem einladenden, schon gut besuchten Strandlokal machten sie halt. Sie traten ein, und Alessandro wechselte mit dem Kellner ein paar Worte. Sie bekamen einen der besten Tische auf der Terrasse mit Ausblick auf das Meer. Sie bestellten Meeresfrüchte, tranken leichten Wein und hielten sich an die unausgesprochene Abmachung, sich gegenseitig nicht auszufragen. Zum Glück, denn Amber mochte nach wie vor weder ihre Modelzeit noch Stanley erwähnen.

Während sie aßen und tranken, flirteten sie mit den Augen. Amber genoss seine streichelnden Blicke. Es gab nur das Hier und Jetzt, das leibliche Wohl und den berauschenden Frühlingstag am Meer. Doch immer wieder umkreiste sie die Frage, wie es wohl wäre, nicht nur mit den Augen gestreichelt zu werden. Von einem Mann, den sie kaum kannte! Das hier war etwas Neues und sehr aufregend.

Nachdem Alessandro gezahlt hatte, sah er sie fragend an und sagte: „Was möchtest du jetzt tun?“ Längst war es Nachmittag geworden.

Sie spürte die Wärme seiner Haut und seinen begehrenden Blick. Ich möchte mich verlieren, hätte sie am liebsten geantwortet ohne zu wissen, was sie damit genau meinte. Sie fühlte sich so frei, so leicht und ein wenig übermütig. Diese Unbeschwertheit war ein Teil ihres Wesens und kam leider viel zu selten zum Ausdruck.

„Entschuldige mich kurz“, sagte Amber und stand auf, um die Waschräume aufzusuchen. Dort blickte sie lange in den Spiegel, doch sie fand immer noch keine Antwort. Ihre Verwirrung war während der Wanderung nicht geringer, sondern größer geworden. Was sollte sie nur antworten?

Auf dem Rückweg zum Tisch blieb sie stehen, um Alessandro einen Moment lang unbemerkt aus der Ferne zu beobachten. Eine junge Kellnerin räumte gerade den Tisch ab, und es war offensichtlich, dass er mit ihr flirtete. Wie er sich vorbeugte, über seinen Bart strich, wie er lachte. Die Kellnerin strahlte zurück, und Amber wurde es flau im Magen. Wollte sie sehenden Auges wiederholen, was sie schon einmal erlebt hatte? Auch ihr Ex hatte mit vielen anderen Frauen geflirtet … Ein unsichtbarer Schalter wurde in ihr umgelegt, aktivierte ihre rationale Ader und ihren Verstand. Alessandro war ein unglaublich attraktiver Italiener mit viel Charme, der sie umgarnen wollte, nicht mehr und nicht weniger. Von was träumte sie eigentlich? Musste sie noch mehr wissen? Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen, was sie nun zu antworten hatte. Es war ein rauschhafter schöner Ausflug gewesen, mehr nicht, und er ging nun mal zu Ende. Die hübsche Kellnerin warf Alessandro noch einen geschmeichelten Blick zu, bevor sie mit dem Geschirr verschwand. Amber kam zum Tisch, und er lächelte sie an. „Nun?“, fragte er.

Sie setzte sich. „Ich möchte vor der Dunkelheit in Minori sein“, sagte sie und zog ihre Hand, nach der Alessandro gegriffen hatte, sachte wieder zurück. Enttäuschung flackerte in seinem Gesicht auf. Aber vielleicht bildete sie sich das nur ein, denn als sie ihn wieder anschaute, war sein Ausdruck völlig gelassen. „Wie du meinst“, sagte er und schob seinen Stuhl zurück. „Gehen wir.“

Amber hatte einen Kloß im Hals, und sie hatte Mühe, ebenso entspannt zu wirken. Mit ihren Gedanken war sie auf der sicheren Seite, aber ihr Körper schien ein Eigenleben zu führen. Statt erleichtert zu sein, war sie es, die einen tiefen und schmerzhaften Stich der Enttäuschung in der Brust spürte.

4. KAPITEL

Amber war etwas Besonderes. Das spürte Alessandro an diesem Tag deutlich, als er mit der Engländerin einen der schönsten Ausflüge seines Lebens machte. Sicher, sie war eine wunderschöne Frau. Aber gleichzeitig ließ ihn ihre Anwesenheit auch die Schönheit der Landschaft noch stärker empfinden. Er konnte sich kaum sattsehen an der üppig grünen Natur – und an seiner Begleitung. So ging es hin und her.

Ihre Augen schimmerten im Sonnenlicht in irisierendem Veilchenblau, als wären sie zwei kostbare Edelsteine. Der Hut stand ihr fantastisch. Es gab Frauen, die waren für diese Art Kopfbedeckung geschaffen. Sie wirkten mit Hut geheimnisvoll, elegant und begehrenswert. Amber hatte sich dazu einen seidenen türkisfarbenen Schal um die Schultern gelegt, der manchmal verrutschte und ein Stück ihrer hellen makellosen Haut freigab. Ihre Zähne waren wie weiße Perlen. Und sie hatte etwas an sich, was ihn über ihre äußerliche Schönheit hinaus faszinierte. Als sie oben auf dem Hügel bei dem alten Nicolo die kühle Limonade tranken, hätte er sie am liebsten geküsst. Doch sie wollte weiterwandern, und kleine Schweißperlen hatten sich über ihrer Oberlippe gebildet, als sie das letzte Stück bergauf gingen. Alessandro musste sich beherrschen, um Amber nicht einfach an sich zu ziehen. Beherrscht hatte er sich auch im Lokal, um nicht zu offensiv mit ihr zu flirten. Nun aber duldete Amber nicht einmal, dass er ihre Hand einen Moment länger als nötig hielt. Stattdessen wollte sie zurückgehen. Es gelang ihm, souverän zu reagieren, auch wenn er lange schon keine Frau mehr ausgeführt hatte, die dann so plötzlich einen Rückzieher machte. In seinem Mailänder Leben kam so etwas nicht vor.

Er musterte Amber. Hatte er sich etwas vorgemacht und sie wollte ihn gar nicht näher kennenlernen? Sie hatten es beide geschickt vermieden, über ihre privatesten Dinge zu sprechen, was den Reiz des Flirts nur noch vergrößerte. Er wusste aus ihrem Londoner Leben nur, dass sie aus „bestimmten Gründen“ noch mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester unter einem Dach wohnte und gerade ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester beendet hatte. Einen Ring trug sie nicht …

Er schob den Stuhl zurück. „Wie du meinst“, sagte er. „Gehen wir.“ Noch war der Tag nicht zu Ende.

Auf dem Rückweg blieb Amber oft stehen, um das zauberhafte Licht einzufangen, das vor Sonnenuntergang den Himmel und die Weite des Horizonts zart durchwirkte. Ein Foto von ihm hatte sie bisher nicht gemacht. Das bedeutete vielleicht, dass sie nach ihrer Reise nicht mehr an ihn denken wollte, grübelte er schon wieder. Dennoch fühlte er sich, ihrer bisherigen Zurückweisung zum Trotz, so gut wie lange nicht mehr. Seit seiner letzten Liebesenttäuschung mit Giulia hatte er kein Date mehr gehabt. Endlich spürte er wieder, wie es war, eine Frau zu begehren. Er war mit jeder Minute mehr bereit für – nun, zumindest ein erotisches Abenteuer! Doch was war mit Amber?

Sie näherten sich Minori, und dort gingen die ersten Lichter an. Ein Ortsfremder konnte sich hier oben in den Hügeln bei den vielen Treppen abseits des Hauptwegs leicht verlaufen. Amber entdeckte immer noch neue Fotomotive und wollte um diese oder um jene Ecke schauen. Der Weg wurde schmaler und die Treppen steiler. Hier gab es keine Beleuchtung, dafür immer höhere Mauern. Verblüfft registrierte Alessandro, dass Amber einen ganz besonderen Weg gewählte hatte. Sie erreichten ein schmiedeeisernes Tor, das wie in Tausendundeiner Nacht von Pflanzen umrankt war, und sie blieben stehen.

„Wo sind wir?“, fragte sie.

Alessandro zögerte einen Moment. Als er vor Wochen in Minori angekommen war, hatte er darüber nachgedacht, wie es wäre, hier in den Hügeln zu wohnen. Das Haus war gründlich entstaubt worden, weil auch seine Brüder lange nicht mehr da gewesen waren. Aber schon die Vorstellung, hier oben allein in der Einsamkeit zu sein, machte ihn melancholisch.

„Das ist das Anwesen meiner Eltern“, sagte er. „Aber sie sind schon lange tot.“

Amber stand dicht neben ihm. Es war nun ziemlich dunkel, doch er konnte ihren betroffenen Gesichtsausdruck erkennen. „Das tut mir leid“, flüsterte sie.

Er trat noch ein Stück näher an sie heran, und fast berührten sie sich. „Soll ich es dir zeigen?“, fragte er.

„Nein“, entgegnete sie eine Spur zu hastig.

„Warum nicht?“ Ruhig stand er neben ihr, obwohl es wieder einer der Momente war, in denen er Amber am liebsten einfach umarmt hätte.

„Ich will nach Hause“, sagte sie, doch ihre Stimme klang brüchig. Als sie sich abwandte, hielt er sie instinktiv an der Schulter fest. Es konnte kein Zufall sein, dass sie sich hierherverirrt hatten. Sie fuhr herum, stieß einen erschrockenen Laut aus, und ihre Tasche fiel zu Boden. Auch Alessandro war erschrocken – über sich selbst. Normalerweise hielt er keine Frauen fest. Es war überhaupt nicht seine Art, und er erkannte sich selbst kaum wieder. Doch der Reiz, die schöne Engländerin ganz und gar zu erobern, war für einen Moment übermächtig geworden.

„Was soll das?“, fragte Amber entrüstet.

„Entschuldige“, sagte er und suchte nach einer plausiblen Erklärung. „Ich wollte dich nicht vorausgehen lassen, weil der Weg im Dunkeln gefährlich ist.“ Beschwichtigend und diesmal wesentlich sanfter wollte er ihr die Hand auf die Schulter legen, doch sie wich ihm aus. Wortlos sammelte sie die Gegenstände ein, die aus ihrer Tasche gefallen waren.

„Ich helfe dir“, sagte er und wollte sich bücken. Doch sie widersprach barsch: „Nein!“

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie fertig war. Als sie sich aufrichtete, bot er ihr den Arm, doch wieder lehnte sie ab. Alessandro war ratlos. Es schien, als hätte er verloren. Aber er wollte zumindest weiterhin sein Gesicht wahren. „Ganz wie du willst“, sagte er. Dann ging er weiter die dunklen Treppenstufen hinunter.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis Amber hinter ihm strauchelte und leise aufschrie. Sofort war er bei ihr und hielt sie fest.

„Verstehst du?“, sagte er und legte seinen Arm beschützend um ihre Schulter. „Ich führe dich jetzt, keine Widerrede. Alles andere ist albern. Ich bringe dich sicher zurück.“

„Es ist so schnell dunkel geworden“, sagte sie.

„Tut mir leid für die Umstände. Ich habe einfach die Zeit vergessen, weil es so schön mit dir war“, sagte er, und es war die schlichte Wahrheit. Dieser Tag war besonders schnell vergangen.

Die erste Laterne kam in Sicht, und Amber blieb stehen. „Ist es wahr, was du gerade gesagt hast?“, hakte sie nach.

Er musste über ihre Frage lachen. „Natürlich ist das die Wahrheit! Du bist eine wunderschöne Frau. Wir haben einen tollen Ausflug gemacht. Und ich bin – falls du dich das fragen solltest – frei.“ Es war eine ziemlich direkte Antwort auf eine provozierende Frage.

Amber senkte den Kopf. „Entschuldige“, sagte sie. „Ich fand es auch wunderschön. Aber jetzt allein mit dir im Haus deiner verstorbenen Eltern … das kann ich nicht.“

Alessandro schüttelte über sich selbst den Kopf. Er hätte etwas erfinden sollen, das einladender klang als ein Totenhaus. „Sieh mich an“, bat er, und Amber hob den Kopf. Plötzlich hatte er eine andere Idee, die ihr vielleicht gefallen könnte. „Möchtest du wirklich schon nach Hause? Oder darf ich dich noch auf ein Glas Wein einladen?“

Sie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. „Lieber nicht“, sagte sie, aber die Art, wie sie es sagte, verriet alles. Sie wollte sehr wohl, aber sie befürchtete weitere Annäherungsversuche. Alessandro jedoch hatte sich nun wieder fest im Griff.

„Nicht in trauter Zweisamkeit, keine Angst“, scherzte er. „Ich wohne im Haus meines Onkels. Es liegt auf dem Weg. Auch meine Tante würde sich freuen. Es wäre fast eine Beleidigung, nicht kurz Hallo zu sagen. Danach bringe ich dich zurück. Komm!“ Einladend und dennoch förmlich bot er Amber seinen Arm. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Er hatte ins Schwarze getroffen.

„Das klingt gut“, willigte sie ein, und ein Stein fiel ihm vom Herzen. Eine weitere Abfuhr hätte er nur schwer ertragen. Jede Stunde, die Amber ihm schenkte, war kostbar wie schon lange keine Zeit mehr mit einer Frau.

Marias Augen leuchteten auf, als er vor der Tür stand. „Du bringst einen Gast mit? Das ist wundervoll!“, rief sie aus und schüttelte herzlich Ambers Hand. „Kommt herein. Ich habe gerade frisches Brot gebacken, und auch der neue Hauswein ist köstlich. Ihr wart wandern? Den Weg hin und zurück? Ihr müsst hungrig sein.“ Sie klatschte in die Hände und ging mit energischen Schritten voraus.

Amber sah ihn fragend an, denn sie hatte bei dem Wortschwall nicht viel verstanden. Alessandro grinste. „Italienische Gastfreundschaft. Genieße sie! Wann immer du willst, bringe ich dich nach Hause.“

Amber ließ sich von ihm in die behagliche Wohnküche führen, wo es noch einen alten Herd gab, der befeuert wurde. Es duftete nach Brot, und der alte Kater lief ihnen entgegen. Sonst schmiegte er sich immer an seine Beine, doch heute wählte er Amber. Sie sah sich entzückt im Raum um, in dem auch er als Kind von Maria schon oft mit Leckereien verwöhnt worden war.

„Setzt euch“, sagte seine Tante und fing sogleich an, aufzutischen.

„Ich habe doch noch gar keinen Hunger“, flüsterte Amber ihm zu.

„Aber Appetit“, erwiderte Alessandro, während Maria laut mit dem Geschirr klapperte. Bei den Kochkünsten seiner Tante war noch jeder schwach geworden, der vorher behauptete, satt zu sein. Sie setzten sich, und der Kater rollte sich auf Ambers Schoß zusammen. Alessandro beobachtete, wie ihre zarten Hände über das Fell glitten und sie das Tier liebevoll ansah. Wäre es nicht lächerlich, wäre er eifersüchtig – auf ein Tier!

„Nur ein paar Kleinigkeiten“, sagte Maria und stellte Teller mit frischen Tomaten, Oliven, Käse und Meeresfrüchtesalat auf den Tisch. Sie schnitt das duftende Brot in dicke Scheiben, wischte sich die Hände an der Schürze ab, goss Wein ein und setzte sich zu ihnen.

„Das Dinner“, sagte Alessandro vergnügt. Er ließ sich immer gern von der Lebensfreude seiner Tante anstecken, die sie mit Pepe gemein hatte. Schon öffnete sich die Tür, und sein Onkel kam von draußen herein. Überrascht blickte er in die Runde und grüßte erfreut zu Amber hinüber. Dann sagte er: „Es waren am Abend kaum Gäste im Café. Außerdem hatte ich so ein Gefühl, es wäre gut, früher nach Hause zu gehen. Jetzt weiß ich ja, warum. Wir haben einen bezaubernden Gast.“

Maria klatschte in die Hände. „So lang hast du niemanden mitgebracht! Dann auch noch so ein schönes Mädchen!“

In diesem Moment war Alessandro froh, dass Amber nicht alles verstand. Die beiden führten sich auf, als hätte er gerade eine bevorstehende Hochzeit verkündet. Amber sah ihn fragend an, doch er würde garantiert nicht jedes Wort übersetzen. Die Rolle als Dolmetscher hatte einen riesigen Vorteil. Sollte etwas über ihn gesagt werden, was er nicht wollte, konnte er es einfach weglassen.

„Sie freuen sich sehr über deinen Besuch. Genau wie der alte Kater“, erklärte er Amber.

Das Tier schnurrte immer noch auf ihrem Schoß. Dann saßen sie alle an dem alten Holztisch und aßen und tranken. Schon nach dem ersten Glas Wein hatte Amber rote Wangen, und ihre Augen leuchteten. Sie lobte das Essen, Maria strahlte, und Pepe lächelte zufrieden. Alessandro bemerkte sehr wohl, dass sein Onkel erschöpft war. Aber er hatte nach seiner langen Krankheitspause seinen ersten Tag im Café gut gemeistert, und immer wieder sah er wohlwollend zu ihm hinüber.

Alessandro saß dicht neben Amber. Er bräuchte nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren. Aber er hatte sie nun durchschaut. Sie war eine Frau, die nicht bedrängt werden wollte. Sie taute erst dann auf, wenn der Mann eine gute Weile zurückhaltend war. Dieser Zug an ihr gefiel ihm immer besser.

Nun wollte Maria mehr über Ambers Leben in London wissen, und auch er wurde hellhörig. Verriet sie nun etwas mehr über sich?

„Ich liebe meinen Beruf, auch wenn ich gerne Fotografin geworden wäre“, sagte Amber. Wieder erzählte sie von ihrer Arbeit im Krankenhaus voller Begeisterung, und Alessandro geriet in seine üblichen Grübeleien. Er vermisste Mailand nicht und musste sich bald überlegen, wie es weitergehen sollte. Er wollte der Firma nicht schaden. Aber bevor sich Chiara und sein Bruder nicht bei ihm entschuldigten, würde er nicht zurückgehen. Wie er wusste, war ein weiterer wichtiger Deal gerade geplatzt. Es war eine Frage von Tagen, bis sie sich melden würden …

„Alessandro?“

Veilchenblaue Augen sahen ihn an, ein voller roter Mund lächelte dazu. Kurz war er gedanklich abgeschweift. Was für eine Vergeudung, jetzt an Mailand zu denken, während diese wundervolle Frau neben ihm saß! Er hörte wieder zu und übersetzte, was Amber nun von ihrer Familie erzählte.

„Mein Vater ist Landschaftsgestalter, doch er hatte einen Unfall und kann nicht mehr arbeiten. Er erholt sich nur langsam. Wir müssen zusammenhalten und brauchen jeden Cent. Deswegen wohne ich noch zu Hause, statt mir eine eigene Wohnung zu mieten.“

Maria und Pepe nickten und waren voller Mitgefühl. „So, wie mir auch Alessandro beisteht. Wir haben keine eigenen Kinder, doch einen wundervollen Neffen. Das ist Familie. Wenn etwas passiert, helfen wir uns“, sagte sein Onkel. „Was ist passiert?“

Amber sah plötzlich betroffen aus. „Ich habe ein schlechtes Gewissen.“

„Warum das?“, mischte sich Alessandro nun interessiert ein.

„Weil ich mich mitschuldig fühle“, sagte Amber leise. „Als es geschah, bat mich mein Vater zuvor, für ihn zu schwindeln. Er brauchte ein Alibi, weil er auf einer Baustelle heimlich einen zweiten Job angenommen hatte. Meine Mom hätte das niemals geduldet, er arbeitete sowieso schon viel, aber er wollte noch mehr Geld verdienen und meiner Mutter zu Weihnachten ein besonderes teures Geschenk machen.“ Amber sah ihn mit Tränen in den Augen an, und er übersetzte stockend. „Dann stürzte das Gerüst ein. Ich habe mir danach geschworen, nie wieder zu lügen. Für niemanden“, erzählte Amber. „Zum Glück halten meine Eltern wie Pech und Schwefel zusammen.“

Kurz herrschte in der Küche betroffenes Schweigen.

„Es gibt gute und schlechte Zeiten“, sagte Maria und ergänzte, als Amber nickte: „Das Fundament ist immer Respekt und Liebe.“

Amber schien von den Worten gerührt zu sein. „Ist eure Liebe auch immer weitergewachsen?“, frage sie mit großen Augen. Es war eine sehr persönliche Frage, die sie da stellte. Alessandro zögerte, doch sie sah ihn erwartungsvoll an, und er übersetzte.

Nun griffen Maria und Pepe über den Tisch hinweg nach ihren Händen und drückten sie. Sie lächelten sich an, waren voller Wärme. „Ja“, sagten sie aus einem Mund. „Es ist das beste Rezept. Anfangs waren wir nicht sehr verliebt, doch wir begegneten uns immer wieder. Die Zuneigung wuchs wie eine zarte Pflanze. Mit der Zeit bekam sie Wurzeln, und das Schicksal schweißte uns zusammen. Uns war es wichtig, nichts zu überstürzen. Es ist aber auch wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen. Irgendwann spricht das Herz. Dann ist es entschieden, und Treue ist selbstverständlich.“

Auch Alessandro bewegten die offenen Worte.

„Wie schön“, sagte Amber. „Ähnlich war es auch bei meinen Eltern. Sie sind mein großes Vorbild.“

„Warte auf den Richtigen“, sagte Maria und sah dabei auch Alessandro an. Er fühlte sich etwas unbehaglich, weil das Gespräch in eine völlig unerwartete Richtung lief. Es war, als ob sich die drei in einer Moralvorstellung, die er für altmodisch hielt, verbündet hätten. Trotzdem vermittelte sie etwas Wahres. Viele Frauen hatten neben ihm gelegen, und die Richtige war nicht dabei gewesen. Wie aber sollte er die Richtige erkennen?

„Das tue ich“, sagte Amber, und Onkel und Tante nickten zufrieden. Dann fuhr sie, als hätte sie Alessandros Gedanken gelesen, fort: „Es ist heutzutage vielleicht altmodisch. Aber ja, ich warte auf den Richtigen. Das habe ich bisher noch nicht bereut.“

Verblüfft sah er Amber an. Wollte sie damit sagen, dass sie sich noch nie einem Mann hingegeben hatte? Konnte eine Frau wie sie noch Jungfrau sein? Sein Herz begann stärker zu schlagen.

Pepe gähnte herzhaft. Der Zeiger auf der Küchenuhr war ein großes Stück vorgerückt, und Alessandro brannte darauf, mit Amber allein zu sein. „Dann gehen wir jetzt“, sagte er und niemand widersprach.

Während Amber schon in den Flur trat, nahm Maria ihn zur Seite. „Normalerweise geht es mich nichts an“, sagte sie. „Aber sei dem Tag dankbar, der dir heute geschenkt wurde und versuche nicht, gleich alles zu bekommen.“

Der gut gemeinte und weise Rat versetzte Alessandro einen Dämpfer. Er wünschte sich, baldmöglichst wenigstens Ambers Lippen zu spüren, am liebsten aber noch viel mehr. Er wollte ihren Körper erkunden, genießen, lieben …

„Verstehst du?“, fragte Maria eindringlich.

Alessandro nickte. Er wusste, dass sie recht hatte. Das hier war nicht Mailand, und außerdem war Amber etwas Besonderes. Sie strahlte eine erfrischende Reinheit aus. Das zu erleben war auch eine Art Genuss.

Autor

Marion Lennox
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