Ruchloser Schürzenjäger - unschuldige Schönheit?

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Seine Tage als Schürzenjäger sind vorbei! Das hat Kingston sich feierlich geschworen. Davon hängt nicht nur sein guter Ruf, sondern auch sein eigener Seelenfrieden ab. Deshalb weiß er: Die schöne, aber schüchterne Miss Charlotte Langley stellt garantiert keine Gefahr für seinen Entschluss dar. Doch plötzlich schmiegt sie sich an ihn und küsst ihn feurig. Unglaublich! Denn Miss Charlotte ist eigentlich einem anderen versprochen. Kingston muss gegen die süße Versuchung ankämpfen, koste es, was es wolle …


  • Erscheinungstag 02.03.2024
  • Bandnummer 159
  • ISBN / Artikelnummer 0840240159
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Sophie Jordan

Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzesssinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrer Familie in Houston, und wenn sie sich nicht gerade die Finger wund tippt bei einem weiteren Schreibmarathon, sieht sie sich gerne Krimis und Reality-Shows an.

1. KAPITEL

Die schweren Glockenschläge der Uhr klangen durch das Haus wie eine ernste, düstere Warnung. Jeder Schlag hallte tief in Charlotte nach, wie etwas Körperliches, etwas Greifbares, das in sie eindrang. Jeder Schlag … ein sirrendes Vibrieren, das mit dem nagenden Ziehen in ihrem Unterleib zusammenfiel – dem untrüglichen Anzeichen dafür, dass ihre Menstruation bevorstand.

Oh, verdammt.

Wenn sie eine Neigung zu schlimmen Schimpfwörtern gehabt hätte, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gewesen, sie alle laut auszusprechen. Einmal im Monat hätte sich ihr ein passender Anlass geboten.

Es war immer das Gleiche. Zuverlässig wie die Sonne morgens auf- und abends unterging, bekam Charlotte vor allem vor und zu Beginn ihrer Blutung schreckliche Krämpfe. Dann war ihr hundeelend, und es war, als käme ihr Leben zum Stillstand. Der Schmerz erfasste sie so zuverlässig, dass sie sich schon Tage vorher zu fürchten begann. Er nahm auch leider keine Rücksicht. Die Krämpfe überfielen sie, wann immer sie wollten, und leider war das fast nie spät am Abend, wenn sie sich in ihrer Kammer hätte einschließen und mit einer Wärmflasche in ihr Bett zurückziehen können. Nein, ihre Menstruation schien immer zu den unpassendsten Zeiten zu kommen.

So wie jetzt.

Charlotte hielt die Luft an und zählte die schweren Glockenschläge, bis der siebte verklungen war. Es war so weit. Jetzt gab es Abendessen. Sie musste zu den anderen nach unten gehen. Sie stieß einen zittrigen Atemzug aus und presste sich eine Hand auf den schmerzenden Unterleib.

Sie konnte es schaffen.

Ihr Verlobter und seine Familie warteten unten auf sie. Ihre Familie ebenfalls. Nun, bis auf Nora, die sie jetzt erwartungsvoll anstarrte, eine Hand in die Hüfte gestemmt, und ihr mit der anderen ein kleines Glas reichte.

„Bist du sicher, dass es sich nicht um etwas anderes handelt als deine üblichen monatlichen Beschwerden?“, fragte Nora mit hochgezogener Augenbraue. „Ist irgendetwas anders als sonst?“

Charlotte behagte die Frage nicht im Geringsten. Sie wusste, worauf ihre Schwester anspielte, und die Andeutung gefiel ihr ganz und gar nicht. Ihre Schwester glaubte, dass ihr Magen angesichts der Aussicht auf ein Abendessen mit ihrem Verlobten und dessen Familie rebellierte.

„Das ist nicht der Grund“, sagte sie barsch. Und das entsprach sogar der Wahrheit. Der Gedanke war ebenso beleidigend wie absurd.

Charlotte riss ihrer Schwester das Glas förmlich aus der Hand und redete sich ein, dass das stärkende Mittel helfen würde. Noch ging es ihr einigermaßen gut. Sie würde den Abend überstehen. Sie würde es schon schaffen. Morgen konnte sie sich in kuschelige Decken einhüllen und mit einer Wärmflasche auf dem Bauch Tee schlürfen, um die Schmerzen zu lindern.

Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich von ihren Krämpfen kleinkriegen zu lassen.

Nora verzog das Gesicht, offenbar entschlossen, ihren Standpunkt klarzumachen und es nicht bei bloßen Andeutungen zu belassen. „Bist du sicher, dass du nicht einfach nur Angst vor diesem Abendessen hast und einen Grund suchst, um zu kneifen?“

„Natürlich nicht.“ Empörung flammte in Charlottes Brust auf. „Warum sollte ich mich vor dem Essen mit Billy und seiner Familie fürchten? Wir haben schon oft mit ihnen gemeinsam zu Abend gegessen.“

„Eben.“ Nora verdrehte die Augen. „Du weißt, was dich erwartet.“

„Sei freundlich, Nora“, ermahnte Charlotte ihre Schwester.

„An Billy ist nichts auszusetzen, nehme ich an. Anständig genug. Vielleicht ein bisschen langweilig, der Gute, aber …“ Nora zuckte mit den Schultern und verstummte. Sie betrachtete Charlotte von oben bis unten, und es war vollkommen klar, was in ihrem Kopf vorging.

Nora hielt Charlotte auch für langweilig.

Mit dieser Einschätzung lag Nora nicht ganz falsch. Charlotte nahm es ihr nicht übel. Sie wusste, dass sie die uninteressanteste der Langley-Schwestern war. Die Langweilerin.

Die graue Maus. Das Mauerblümchen.

Ihr fehlte die Ausstrahlung und Anmut ihrer ältesten Schwester Marian und die Kühnheit und der Witz von Nora. Sie war unaufregend – genau wie Billy. So einfach war das.

Sie waren zwei ganz normale Menschen, was sie zu einer guten und sicheren Partie füreinander machte. Nora wusste das. Charlotte wusste das. Jeder, der sie kannte, wusste das.

Charlotte kannte Billy schon seit Kindertagen. Wie alle anderen in Brambledon war sie immer davon ausgegangen, dass sie heiraten würden.

Nora fuhr fort: „Aber seine Eltern sind absolut erbärmlich, Char. Wie kannst du es nur mit ihnen aushalten?“

„Seine Eltern werde ich ja auch nicht heiraten“, erwiderte sie gleichmütig.

Nora schnaubte. „Trotzdem!“

Charlotte ignorierte sie, drehte das Glas in der Hand und sah auf den trüben Inhalt hinunter. Kräuter schwammen in der cognacfarbenen Flüssigkeit, und ein scharfer Geruch stieg aus dem Glas auf.

Sie wünschte sich, ihre jüngere Schwester wäre ein wenig sanftmütiger und nicht so unverblümt in ihren Äußerungen. Ein bisschen mehr wie Marian, die Charlotte in ihrer Entscheidung, Billy zu heiraten, unterstützte. „Sie sind gute Menschen, Nora, und in der Gemeinde hoch angesehen.“

„Nun gut. Wenn du darauf bestehst, dann höre auf mich, wenn ich dir rate, wegzuziehen, sobald du geheiratet hast – und nicht um die Ecke von den verdammten Pembrokes …“

„Nora, achte auf deine Sprache, bitte!“

„Zieh weit weg von Brambledon“, fuhr die unbeirrt fort. „Du wirst nicht wollen, dass sich die Pembrokes ständig in dein Leben einmischen.“

Charlotte war nicht bereit dazu, darüber zu diskutieren, wo sie wohnen würde, sobald sie und Billy verheiratet waren. Es war bereits entschieden. Sie würden sich in Brambledon niederlassen. Natürlich. Es war das einzige Zuhause, das sie kannten. Der einzige Ort, an dem sie sein wollten – der einzige Ort, an dem Charlotte sein wollte. Das Vertraute gegen das Unbekannte einzutauschen, war eine beängstigende Aussicht. Und Charlotte hatte sich nie danach gesehnt, irgendwo anders zu leben. Nicht, wenn ihr Zuhause ein so freundlicher und bequemer Ort war.

Nein, sie würden nicht fortziehen. Das war auch gar nicht nötig.

Sie waren in Brambledon zur Welt gekommen. Sie waren hier aufgewachsen. Natürlich würden sie hierbleiben, als verheiratetes Paar.

Sie würden dort bleiben, wo alles vertraut war, wo keine unliebsamen Überraschungen auf sie lauerten, wo sie sich auskannten. Sie würden kein Risiko eingehen. Und ein geordnetes und zufriedenes Leben führen. Die Welt außerhalb von Brambledon würden sie den Abenteurern überlassen.

Kopfschüttelnd hob sie das Glas an ihre Lippen.

Wenn sie ihre Schmerzen niederringen und den Abend überstehen wollte, brauchte sie jede Hilfe, die sie bekommen konnte. Sie musste für den vor ihr liegenden Abend mit ihren zukünftigen Schwiegereltern in bester Verfassung sein.

Sie schnitt eine Grimasse, als das starke Getränk ihr die Kehle hinunterlief. Sie widerstand dem Drang zu würgen und schluckte es hinunter. So etwas hatte sie noch nie getrunken, und sie scheute sich nie, zu probieren, was ihre Schwester zusammenbraute.

„Igitt. Nora.“ Sie leckte sich über die Lippen und schüttelte sich in der Hoffnung, den bitteren Geschmack loszuwerden. Es nützte wenig. Das Zeug schmeckte furchtbar und ganz anders als sonst.

Nie hatte sie daran gezweifelt, dass ihre Schwester sich hervorragend in ihrem Metier, der Kräuterkunde, auskannte. Nora hatte jahrelang Seite an Seite mit ihrem Vater gearbeitet, der Arzt gewesen war, bevor er vor über zwei Jahren in den Ruhestand gegangen war. Vor neunundzwanzig Monaten, um genau zu sein; nicht dass das für Charlotte von Bedeutung gewesen wäre.

An den Tag, an dem ihr Vater gestorben war, konnte sich Charlotte noch gut erinnern. Sie hatte an seinem Bett gesessen und seine Hand gehalten, als das Licht aus seinen Augen verschwand. So etwas vergaß man nicht … einen geliebten Menschen sterben zu sehen. Als das Licht aus seinen Augen verschwunden war, war auch ein Teil des Lichts aus ihrer Welt verschwunden.

Papa hatte Nora sehr viel Vertrauen entgegengebracht. Einige Menschen in der Gemeinde Brambledon taten das immer noch und kamen zu Nora, um sich von ihr Heiltränke und Umschläge gegen Schmerzen und sonstige Leiden zusammenbrauen zu lassen. Papa hatte an sie geglaubt. Charlotte hatte keinen Grund, ihr und ihrem Wissen nicht zu vertrauen.

Nur der ungewohnte Geschmack des Getränks in Verbindung mit dem gespannten Blick, mit dem Nora sie musterte, verursachte ihr ein Kribbeln im Nacken.

Nora nickte zufrieden, als sie Charlotte das leere Glas abnahm. „So, jetzt wirst du dich gleich besser fühlen.“

Charlotte warf Nora einen strengen Blick zu und fragte sich, ob ihr Tonfall nicht ein wenig gezwungen wirkte. Als ob ihre Schwester versuchte, sich selbst davon zu überzeugen und nicht nur Charlotte.

Nora entfernte sich mit raschelnden Röcken, um das Glas auf einem ihrer Arbeitstische abzustellen. Nora hatte mehrere Tische im Raum verteilt, die alle mit Fläschchen, Waagen, Gewichten und Instrumenten übersät waren. Kräuter in Töpfen standen überall im Raum verstreut und oder hingen von der Decke. Man hätte nicht erkennen können, dass es sich um ein Schlafgemach handelte, wären da nicht das Bett und der große Kleiderschrank auf der anderen Seite des Raumes gewesen. Andere Mädchen in ihrem Alter interessierten sich für Bälle und ihre Heiratsaussichten. Aber nicht Nora.

Sie waren jetzt seit etwas mehr als einem Jahr hier, und Nora fühlte sich in Haverston Hall wie zu Hause und hatte dem eleganten Zimmer ihren eigenen Stempel aufgedrückt. Nun, so elegant war es inzwischen nicht mehr, denn es sah jetzt aus wie das Labor eines Wissenschaftlers.

Charlotte war das genaue Gegenteil davon. Sie fühlte sich in Haverston Hall immer noch wie eine Besucherin, selbst nach so langer Zeit.

Als Marian Charlotte und Nora gebeten hatte, bei ihr einzuziehen, war es ihr wie ein Wunder vorgekommen. Als Papa starb, hatte Marian alles aufgegeben und war nach Hause zurückgekehrt, um sich um ihre jüngeren Schwestern zu kümmern. Keine leichte Aufgabe, da sie vollkommen mittellos gewesen waren und jeder Gläubiger in Brambledon hinter ihnen her gewesen war. Bevor Marian den Duke of Warrington geheiratet hatte, war die Lage der Familie ziemlich hoffnungslos gewesen.

Charlotte war davon ausgegangen, dass sie es genießen würde, in dem feinen Herrenhaus des Dukes zu leben, mit seiner Vielzahl an Bediensteten und Räumen, in denen man sich tagelang verlieren konnte. Wer hätte das nicht genossen? Es war der Stoff, aus dem die Träume waren.

Aber sie hatte sich geirrt. Leider war sie nicht dazu in der Lage, es zu genießen.

Charlotte fühlte sich immer noch wie ein Gast in Warringtons Haus. Ja, es war jetzt auch das Haus ihrer Schwester. Marian hatte das Haus nach ihren eignen Vorstellungen gestaltet, hatte Möbel gekauft und Wände tapezieren und streichen lassen.

Charlotte ertappte sich oft dabei, dass sie bei ihren Spaziergängen an dem bescheidenen Haus vorbeikam, in dem sie aufgewachsen war, das nun leer stehende Cottage anstarrte und sich wunderte, dass sie nicht mehr unter dem vertrauten Giebeldach lebte.

Jetzt lebte sie woanders. In einem riesigen Haus mit zu vielen Zimmern, um sie zählen zu können, und mit einer Menge an Dienstboten, die die Anzahl der Mitglieder der Besitzerfamilie bei Weitem übertraf. Es war absurd.

Sie fühlte sich wie eine Hochstaplerin.

Sie redete sich ein, dass sich alles natürlicher anfühlen würde, sobald sie mit Billy verheiratet war. Sie würde wieder in ihrem gemütlichen und überschaubaren Elternhaus leben. Nichts im Vergleich zu der Pracht von Haverston Hall.

Sie würde zu einer bescheidenen Existenz zurückkehren. Ein ruhiges Leben führen. Dieser Tag konnte nicht früh genug kommen.

Charlotte deutete auf das Glas. „Das Zeug hat scheußlich geschmeckt.“ Sie fuhr sich mit der Zunge durch den Mund und versuchte immer noch, den fauligen Geschmack loszuwerden. „Das ist nicht wie das, was du mir sonst gibst.“

Nora gab ihr immer einen Heiltrank, um ihre Unterleibsschmerzen zu lindern, was leider nur bedingt half. Die Schmerzen waren zu stark, als dass ein simpler Kräutertrank ihr hätte helfen können, aber sie war dankbar für alles, was ihre Schwester für sie tat. Wenn es wieder so weit war, blieb sie im Bett, bis die Schmerzen nachließen. Sie rollte sich eng zusammen und versuchte, das Schlimmste zu verschlafen. Sie hatte sich mit diesem Schicksal abgefunden, aber Nora, die geborene Heilerin, war nicht bereit aufzugeben. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Charlotte von ihrem Leid zu befreien.

Nora machte eine wegwerfende Bewegung mit einer Hand. „Oh, es waren die üblichen Zutaten.“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Es war anders.“

Nora zuckte mit den Schultern. „Nun ja. Ich habe vielleicht die Mengen ein wenig verändert, um die Wirkung zu verbessern.“ Sie nahm ihre Schreibfeder zur Hand und kritzelte etwas in das Notizbuch, das sie meistens bei sich trug.

Charlotte nickte. „Nun, ich nehme an, das zählt dann wohl. Es schmeckte noch abscheulicher als sonst.“

„Was schmeckte abscheulich?“, fragte Marian, die in einem smaragdgrünen Kleid den Raum betrat, das seidige goldene Haar aufgesteckt.

Die Ehe stand ihrer ältesten Schwester. Oder vielleicht war es die überwältigende Liebe, die sie für ihren Mann empfand, die sie so strahlen ließ. Sie war nun seit etwas mehr als einem Jahr verheiratet, und der Glanz war noch nicht verblasst. Marian schien vor Glück von innen zu leuchten.

„Nichts. Charlotte hat ihr monatliches Unwohlsein“, antwortete Nora schnell, während sie begann, ihre Utensilien aufzuräumen.

„Oh je.“ Marian sah Charlotte besorgt an und fragte mitfühlend: „Fühlst du dich nicht wohl, Charlotte? Das ist allerdings ein äußerst schlechter Zeitpunkt.“

„Es ist noch nicht allzu schlimm“, versicherte Charlotte ihr. „Mir geht es gut genug, um zum Abendessen zu gehen.“ Zumindest jetzt war es noch so. Das Ziehen in ihrem Unterleib hatte gerade erst begonnen. Sie würde das Dinner überstehen.

Marian atmete tief aus, und Charlotte verstand den Grund für diesen Seufzer. Marian hatte keine Lust, die Pembrokes ohne sie unterhalten zu müssen.

Marian sah ihre jüngste Schwester an. „Bist du fertig, Nora?“

Nora zog ihre schmutzige Schürze aus, und darunter kam ihr Kleid zum Vorschein. „Ich denke schon. Wenn ich muss. Zumindest wird es ein großartiges Abendessen werden. Die Köchin übertrifft sich immer selbst, wenn wir Gäste haben. Ich bin sicher, das hervorragende Essen wird die Gesellschaft mehr als wettmachen.“ Sie warf Charlotte einen Blick zu, den man nur als mitleidig bezeichnen konnte.

Nora brauchte die Bedeutung hinter diesem Blick nicht zu erklären. Charlotte wusste sehr wohl, dass ihre zukünftigen Schwiegereltern keine besonders angenehmen Menschen waren. Marian war höflich genug, es nicht offen auszusprechen, aber Nora nahm nie ein Blatt vor den Mund. Sie hatte Charlotte bei mehr als einer Gelegenheit wissen lassen, dass Mr. und Mrs. Pembroke Grund genug waren, Billy nicht zu heiraten.

Charlotte stimmte mit Noras Einschätzung von Mr. und Mrs. Pembroke weitgehend überein. Sie mochte das arrogante Paar nicht besonders, und ihr war klar, dass der einzige Grund, warum die beiden zugestimmt hatten, dass ihr Sohn sie heiratete, der war, dass Marian nun die Frau des Duke of Warrington war. Allein diese familiäre Verbindung machte sie in ihren Augen würdig, ihren heißgeliebten Sohn zu heiraten. Als Person war sie ihnen vollkommen gleichgültig.

Wegen Billy war sie bereit, die beiden zu ertragen.

Sie war mit ihm aufgewachsen. Er war freundlich und sanft und ganz anders als seine Eltern. Er kümmerte sich nicht um seine Stellung oder seinen Platz in der Gesellschaft. Billy hatte sie schon heiraten wollen, bevor ihre Schwester Warrington geheiratet hatte. Er hatte sich einfach nicht gegen seine Eltern stellen können. Es sei denn, er hätte in Kauf genommen, von seiner Familie verstoßen zu werden, und wer hätte schon so etwas Schreckliches von ihm verlangen wollen?

Aber jetzt waren die Pembrokes mit der Heirat einverstanden.

Sie und Billy würden sich ein gemeinsames Leben aufbauen. Sicherlich würde sie ab und zu ihre Schwiegereltern ertragen müssen, aber nicht jeden Tag. Charlotte war ein geduldiger Mensch. Wenn sie ein- oder zweimal in der Woche mit ihnen essen musste, war das ein kleines Opfer, gemessen an der Tatsache, mit einem guten Mann verheiratet zu sein und in einem eigenen Haus zu leben.

„Sollen wir zum Abendessen hinuntergehen?“ Marian drehte sich um und verließ das Zimmer.

„Es duftet himmlisch!“, rief Nora, als sie die Treppe hinuntergingen. „Nicht einmal die Aussicht darauf, Mrs. Pembroke dabei zuhören zu müssen, wie sie sich bei Nathaniel anbiedert, kann meine Begeisterung trüben.“

„Nora, mach gute Miene zum bösen Spiel und tu nicht so, als wärst du nur wegen des Essens da“, sagte Marian streng.

Charlotte folgte ihren Schwestern, drückte sich eine Hand auf den Bauch und atmete langsam und gleichmäßig ein und aus.

Es würde keine Ewigkeit dauern, und sie würde nicht viel reden müssen. Das tat sie in Gegenwart der Pembrokes nie. Ihre zukünftigen Schwiegereltern bestritten die meiste Zeit die Unterhaltung. Von ihr wurde wenig erwartet. Oft hatte sie das Gefühl, dass man sie gar nicht wahrnahm, wenn sie mit ihnen zusammen war.

Ausnahmsweise war das ein Trost. Sie konnte während des Essens schweigend dasitzen und gegen ihr Unwohlsein ankämpfen, und sie würden sich nichts dabei denken.

Allerdings war dies in letzter Zeit ein Punkt, der sie beunruhigte. Sie war im Begriff, ein Mitglied von Billys Familie zu werden. Sollte sie nicht teilhaben? Sollten die Pembrokes sich nicht für ihre Gedanken interessieren? Sollten sie sie nicht unbedingt kennenlernen wollen?

Je näher ihr Hochzeitstermin rückte, desto häufiger dachte Charlotte darüber nach. Sie hatte sich überlegt, dass es schön wäre, eine gute Beziehung zu Billys Eltern zu haben. Entweder das, oder Noras ständige Kommentare über die unsympathische Art der Pembrokes würden anfangen, Wurzeln zu schlagen.

Sie rief sich zur Ordnung, ermahnte sich, nicht derart selbstsüchtig zu sein. Ihre Schwiegereltern waren gute Menschen. Sie billigten die Heirat. Sie akzeptierten sie als ihre zukünftige Schwiegertochter. Das war genug.

Lautlos keuchte sie auf, als sich ihr Unterleib zusammenkrampfte.

Zumindest heute Abend kam das Desinteresse der Pembrokes ihr sehr gelegen.

2. KAPITEL

Kingston war nicht er selbst.

Die Zeichen waren alle da. Unübersehbar und unbestreitbar. Und unerwünscht. Er wollte nicht so sein, und doch … war er einfach so.

Er mied die üblichen Orte seiner Ausschweifungen. Seine Clubs. Die Rennbahnen. Das Theater. Seine Lieblingskneipen. Die Spielhöllen. Die Partys und Streifzüge durch die Stadt, die bis zum Morgengrauen dauerten. Die Tage andauernden Partys auf dem Land, die ihn im Winter unterhielten. Der endlose Strom von Frauen.

All das mied er.

Er ignorierte seine Freunde, eine Familie im traditionellen Sinne hatte er nicht. Es gab nur wenige Menschen in seinem Leben, die er als Familie bezeichnen konnte.

Ja, er hatte einen Vater. Einen, der ihn aus irgendeinem seltsamen Grund gerne um sich hatte. Er wusste, dass das außergewöhnlich war. Die meisten Adligen waren nicht bereit, sich mit ihren Bastarden zu beschäftigen oder gar in der Öffentlichkeit zu zeigen, aber sein Vater hatte nie ein eheliches Kind gezeugt, also war seine Gunst vielleicht nicht weiter verwunderlich.

Sein Vater war nicht der Typ Mann, dem es wichtig war, was die Gesellschaft von ihm dachte. Der Earl of Norfolk war kein sittsamer, zurückhaltender Aristokrat mittleren Alters. Er trieb es immer noch so wild, wie er es als junger Mann getan hatte, als er Bastarde auf dem Lande zeugte. Kingston musste es wissen. Schließlich war er selbst ein solcher Bastard.

Auch seine Stiefmutter war keine tugendhafte Dame. Sie ging den gleichen Vergnügungen nach wie sein Vater. Deshalb passten sie auch so gut zusammen. Ihre Partys gehörten zu den ausschweifendsten des Königreichs. Sein Vater und seine Stiefmutter nannten ihre Zusammenkünfte Salons, aber in Wahrheit waren sie kaum mehr als Orgien.

Sie luden Kingston immer ein. Früher hatte er sich an ihrer Aufmerksamkeit erfreut und sich sogar – sofern er es gewagt hatte, sich dies einzugestehen – geliebt gefühlt, wenn sie ihn in ihr Leben einbezogen.

Aber jetzt verspürte er nicht länger den Wunsch, einbezogen zu werden. Ihr hedonistischer Lebensstil passte nicht mehr zu ihm. Vor einem Jahr war es noch genau richtig gewesen, aber jetzt …

Jetzt, plötzlich, war alles anders. Nichts, was ihn früher verlockt hätte, erschien ihm jetzt noch erstrebenswert.

Die vielleicht wichtigste Veränderung von allen war, dass Kingston seit dreizehn Monaten nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen war. Mehr als ein Jahr. Ein Rekord, ganz sicher. Nicht mehr, seit er seine Mutter am Krankenbett besucht hatte. Er hatte gewusst, dass sie kränklich war, bevor er sie aufsuchte, aber sich der Realität zu stellen, war etwas ganz anderes gewesen.

Etwas zu wissen und etwas mit den eigenen Augen zu sehen waren zwei ganz verschiedene Dinge.

Jetzt wusste er, wie es um seine Mutter in Wirklichkeit stand.

Jetzt hatte er gesehen, wie seine Mutter unter einer Krankheit litt, die zu grausam war, um sie beim Namen zu nennen, und es hatte ihn verändert. Es hatte ihm die Lust an seinem gewohnten Lebensstil genommen.

Vielmehr war es sogar so, dass er regelrechte Verachtung dafür empfand.

Er wunderte sich über sich selbst, aber er konnte diesen Schleier, der über ihm hing, nicht abschütteln.

Sein Vater verstand nicht, was mit ihm los war. Auch seine Freunde nicht. Nicht dass er es einem von ihnen versucht hätte zu erklären. Er sprach weder mit seinen Freunden noch mit seiner Familie über tiefer gehende Dinge. Damit wollte er auch jetzt nicht anfangen.

Er konnte es sich selbst kaum erklären. Da vermied er lieber die einschlägigen Orte und Veranstaltungen und wartete ab, wie sich die Lage entwickelte.

Die letzten vierzehn Tage hatte er sich in einem Gasthaus in den Cotswalds vergraben. Landschaftlich reizvoll, aber es gab dort viel zu viele neugierige Gäste. Die Tochter des Wirts war die neugierigste von allen. Sie lauerte ihm ständig auf, um ihn mit ihren armseligen Flirtversuchen zu belästigen, löcherte ihn mit Fragen und schnüffelte in seinen Angelegenheiten herum. Von seinen einsilbigen Antworten hatte sie sich kaum beirren lassen.

Am Tag zuvor hatte er mitten in der Nacht beschlossen, seinen Aufenthalt am nächsten zu beenden, nachdem er die impertinente Person nackt in seinem Bett vorgefunden hatte. Er war seit über einem Jahr abstinent. Aber sie war kaum die Frau, die ihn von seinem selbst auferlegten Vögelverbot abbringen konnte. Er wusste nicht, welche Frau ihn verführen könnte, wenn überhaupt, aber die geschwätzige Wirtstochter war es nicht.

Er hatte das Mädchen aus seinem Zimmer geworfen und war am nächsten Tag zu dem einen Ort aufgebrochen, von dem er wusste, dass ihn niemand dort finden würde. Weder sein Vater noch seine Stiefmutter. Keiner seiner feierfreudigen Freunde.

Er machte sich auf, um seinen langweiligen Stiefbruder zu besuchen. Wenn er Warrington überhaupt als Stiefbruder bezeichnen konnte. Sie hatten nichts füreinander übrig. Warrington konnte ihn nicht ausstehen. Er hatte ihn bei all ihren erzwungenen Begegnungen lediglich geduldet.

Doch der Stiefsohn seines Vaters schien die perfekte Lösung zu sein. Warrington lebte wie ein Einsiedler und mied die Gesellschaft. Nicht ein einziges Mal hatte er eine von Norfolks Partys besucht. Kingston nahm an, dass er auf Haverston Hall, wo Warrington wohnte, die ersehnte Ruhe und Abgeschiedenheit finden würde. Vorausgesetzt, der Duke warf ihn nicht hinaus. Es war durchaus möglich, dass Warrington ihm die Tür vor der Nase zuschlug.

Als er in Haverston Hall ankam, war er auf einen frostigen Empfang gefasst.

Das Letzte, was Kingston erwartet hatte, war, dass sein Bruder verheiratet war und mit einer Schar von Frauen zusammenwohnte. Respektable Frauen. Warringtons Ehefrau und deren Schwestern.

Noch schockierender war, dass Warrington ausgerechnet am Abend seiner Ankunft Gäste eingeladen hatte – Dinnergäste.

Tatsächlich hatte er ihm die Tür nicht vor der Nase zugeschlagen. Vielmehr hatte er ihn hereingelassen. Zwar nicht sehr herzlich, aber Warringtons junge Frau hatte das kühle Verhalten seines Bruders durch ihre freundliche Art wettgemacht.

Die junge Duchess of Warrington war überaus hübsch und ließ sich von den finsteren Blicken ihres Mannes nicht einschüchtern. Sie lud Kingston ein, so lange zu bleiben, wie er wollte.

Kingston bezweifelte allerdings, dass das sehr lange sein würde. Warrington lebte nicht mehr wie ein Einsiedler. Leider. Und das änderte alle seine Pläne.

Er würde natürlich über Nacht bleiben, aber morgen würde er sich rasch verabschieden. Er kannte sein Ziel nicht. Vielleicht war es an der Zeit, sich eigene vier Wände zuzulegen. Dann wäre er nicht mehr auf andere angewiesen.

Er hatte sich nie die Mühe gemacht, sich eine eigene Wohnung zu besorgen, weil es bislang keinen Bedarf gegeben hatte. Er hatte noch nie das Bedürfnis verspürt, sesshaft zu werden oder nach einem Rückzugsort oder gar einem eigenen Haus.

Er hatte einen nomadischen Lebensstil genossen und war von Hausparty zu Hausparty gezogen. Wenn ausnahmsweise mal keine Party stattgefunden hatte, hatte er auf einem der Anwesen seines Vaters die Zeit bis zur nächsten Vergnügung überbrückt. Das war aber nur äußerst selten vorgekommen. Er hatte eigentlich immer zu viele Einladungen erhalten, als dass er sie alle hätte annehmen können. Er hatte sich aussuchen können, wo und mit wem er feiern wollte.

Das war jetzt alles vorbei.

Er hatte genug von seinen hedonistischen Neigungen. Er war vielleicht nicht so reich wie sein Stiefbruder, aber er war schon ein wohlhabender Mann. Es war an der Zeit, dass er Wurzeln schlug. Er konnte es sich leisten, sich niederzulassen. Dann konnte er allein sein, wann und so oft er wollte.

Doch heute Abend würde er Warrington und seine neue Familie und seine Gäste ertragen müssen. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Irgendwie würde er die eine Nacht hinter sich bringen.

Kingston stand in dem elegant ausgestatteten Salon und schaute aus dem Fenster, hinter dem sich der parkähnliche Garten erstreckte. Er lehnte sich mit einer Schulter gegen den Fensterrahmen und beobachtete, wie draußen die Dämmerung einsetzte und den Himmel in tiefe Grau- und Violetttöne mit einem Hauch von Orange tauchte.

Er hörte dem Geplauder der anderen um ihn herum nur mit halbem Ohr zu, plante seine Flucht am nächsten Tag und überlegte, wohin er sich wohl als Nächstes wenden würde.

Auf den Shetlands war er noch nie gewesen. Die Inseln lockten ihn mit ihrer abgelegenen Lage. Dort musste es doch ein nettes kleines Fischerdorf mit einer gemütlichen Bleibe für ihn geben.

Es war ja nicht so, dass Warrington ihn vermissen würde, wenn er sich morgen wegschlich. Er hatte eine Grimasse geschnitten, als er Kingston heute erblickte. Zwischen ihnen hatte es nie Wärme oder Zuneigung gegeben.

Kingston wusste genau, dass der Duke ihn verachtete. Es hatte ihn nie interessiert, was Warrington über ihn dachte, denn er konnte den Mann nicht leiden, ob er nun ein Verwandter war oder nicht. Es amüsierte Kingston sogar ein wenig, dass seine Anwesenheit dem verdammten Duke die Stimmung verdarb.

„Kingston, was gibt es da draußen auf dem Rasen so Faszinierendes zu sehen? Warum setzen Sie sich nicht zu uns, guter Mann?“

Er drehte sich bei dieser Frage um. Ein älterer Herr in einer hellen pflaumenfarbenen Jacke stand vor ihm und sah ihn freundlich an. Kingston zwang seinen Blick von der Jacke weg. Genau wie die Sonne konnte er sie nur kurz betrachten.

Den Namen des Mannes hatte er bereits vergessen. Dessen Ehefrau saß in der Nähe auf einem Sofa, ihre beträchtliche Gestalt aufrecht wie eine Holzlatte. Sie trug einen kunstvollen, mit Pfauenfedern geschmückten Turban. Sie fächelte sich ununterbrochen mit einem bunten Fächer Luft zu und ließ die Federn flattern.

Warringtons Frau hatte sie vor wenigen Augenblicken verlassen, um zu sehen, wo die anderen Ladys blieben. Die Ladys waren ihre Schwestern. Junge, ungebundene Frauen. Genau die Art von Frauen, die er mied. Heiratswillige und unerfahrene Mädchen waren äußerst langweilig.

Die zusammengekniffenen Lippen der turbangekrönten Matrone verkündeten ihre Unzufriedenheit darüber, dass man sie sich selbst überlassen hatte. Sie war eindeutig hergekommen, um sich zu unterhalten.

Kingston schüttelte leicht den Kopf.

Warrington hatte nicht nur eine Frau, sondern auch noch zwei Schwägerinnen und einen Schwager, der irgendwo in einer Schule steckte. All das hatte er bereits in Erfahrung gebracht. Die frischgebackene Duchess of Warrington war sehr auskunftsfreudig.

Es war schwer, sich den einstigen Einsiedler-Duke in einer so häuslichen Lebenssituation vorzustellen. Nicht nur, dass Warrington mit einer Familie belastet war, er unterhielt nun auch noch den örtlichen Adel – so bieder diese Leute auch waren.

Der Gedanke war geradezu lächerlich. Und doch fand das alles gerade vor Kingstons Augen statt.

Kingston war schon auf vielen Dinnerpartys gewesen – aber die Partys, die er üblicherweise besucht hatte, waren nicht mit so anständigen und reizlosen Leuten bevölkert gewesen wie denen, die heute Abend anwesend waren.

Tief und leidgeprüft seufzend schaute er sich in dem elegant eingerichteten Raum um.

Es gab in der Tat etwas Schlimmeres als eine Dinnerparty mit verdorbenen und vergnügungssüchtigen Individuen, und zwar eine Dinnerparty voller wertvoller und anständiger Mitglieder der Gesellschaft. Gute Menschen. Pfui. Leute wie diese. Gott schütze ihn.

Irgendwie hatte sich sein Stiefbruder in ihre Gemeinschaft eingereiht, so unglaublich und unwahrscheinlich das auch zu sein schien. Irgendwie war Warrington gut und anständig und und langweilig geworden.

Kingston kippte seinen Drink hinunter, genoss den würzigen, warmen Geschmack des Brandys und schenkte sich noch einen ein.

Er steckte in einer vertrackten Situation. Weder war er dazu in der Lage, die Gesellschaft seiner alten Freunde weiterhin zu genießen, noch die Gesellschaft derer, die als die ehrbaren Mitglieder einer Gemeinde galten. Es war verwirrend, um es vorsichtig auszudrücken.

Was blieb ihm also übrig?

Die Antwort lag auf der Hand. Er war allein. Also sollte er sich bewusst in die Einsamkeit zurückziehen.

Die Idee hatte etwas für sich. Alles war besser als das hier.

Es war klar, dass er sich von allem und jedem fernhalten musste, bis er den Zustand überwunden hatte, der ihn seit Monaten fest in den Klauen hatte, und er zu seinen alten Freunden, seinen bevorzugten Orten und seinem früheren Ich zurückkehren konnte.

Er – Kingston, der König der Laster.

Innerlich zuckte er bei diesem Gedanken zusammen. Dieses seltsame Gefühl der Leere, das ihn befallen hatte, war gewiss nur vorübergehend. Er würde seine alten Gewohnheiten wiederaufnehmen, wenn es so weit war.

Doch zunächst saß er hier fest, auf dieser Dinnerparty. Angeödet bis zur Schmerzgrenze und ohne Aussicht auf Besserung. Eine schlechte Entscheidung seinerseits, ganz sicher. Aber er würde es einfach ertragen müssen.

Der so schrill violett gekleidete Herr stand vor ihm und trank sein viertes Glas Brandy. Hin und wieder geriet er ins Schwanken und drohte mehrmals umzukippen, während er von seinen vielen Erlebnissen und Verbindungen in den Cotswalds erzählte. Nachdem er erfahren hatte, dass Kingston gerade von dort gekommen war, war der Mann überzeugt, dass sie gemeinsame Bekannte haben mussten.

„Die Pringleys?“ Er deutete eindringlich mit einem Finger auf Kingston. „Kennen Sie sie? Das müssten Sie, denn Mrs. Pringley ist eine Cousine von Viscount Loughton.“

Kingston schüttelte den Kopf, betrachtete den Salon und alle Anwesenden und fragte sich, wann sie endlich zu Tisch gehen würden. Sie hatten noch nicht einmal mit dem Dinner begonnen, und er war bereits so verzweifelt, dass er am liebsten auf der Stelle geflohen wäre – eine Tatsache, die für den Rest des Abends, der sich schon jetzt unendlich in die Länge zu ziehen schien, nichts Gutes verhieß.

„Nun, Mrs. Pringley war sehr angetan von meiner Frau.“ Der Herr in Violett nickte in Richtung seiner streng dreinblickenden Frau. „Das ist auch verständlich. Bettina kann gut mit Menschen umgehen.“

Kingston blickte besagte Lady wieder an. Es war schwierig, sich vorzustellen, dass das stimmte. Die Frau trug einen überaus finsteren Blick zur Schau, der ganz und gar nicht zu ihrem frivolen Turban passte. Sie schien nicht in der Lage zu sein, zu lächeln, während sie auf dem Sofa saß und ihre Mutter, eine ältere Frau mit fast durchscheinender Haut, die in einem hölzernen Rollstuhl saß, geflissentlich ignorierte.

„Die Leute fühlen sich zu Bettina hingezogen“, prahlte Pembroke weiter. „Sie haben großen Respekt vor ihrer Meinung in Sachen Haushalt und Garten. Außerdem hat sie einen tadellosen Geschmack und einen herausragenden Stil. Sie gab Mrs. Pringley viele gute Ratschläge in Sachen Hüte, ein weiteres Thema, mit dem sie sich sehr gut auskennt … als wir vor einigen Jahren dort Urlaub machten. Sie korrespondieren auch heute noch.“ Er reckte sein Glas in die Luft, wobei der Brandy über den Rand schwappte und an seinen Fingern hinuntertropfte. „Auf. Diesen. Tag.“

Mrs. Pembroke fummelte jetzt an dem Hut ihrer Mutter herum, während ihr Mann ihre Tugenden pries. Die alte Frau starrte ausdruckslos vor sich hin, und Kingston konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob das daran lag, dass sie in irgendeiner Weise beeinträchtigt war, oder daran, dass sie sich genau wie er zu Tode langweilte.

„Was hat sie denn bloß so lange aufgehalten?“, fragte Mr. Pembroke laut und sah seinen Sohn vorwurfsvoll an, als wäre er schuld an der Verspätung seiner Verlobten.

Kingston hatte den Sohn des Paares fast übersehen.

Im Gegensatz zu seinem Vater hatte der junge Mann ein zurückhaltendes Auftreten, wirkte wie ein gespenstischer Schatten, der in einer Ecke saß und seine schlanken Hände auf die Armlehnen seines Stuhls stützte.

„Wo sind denn die anderen Damen?“, fügte Mrs. Pembroke säuerlich hinzu, als sie den Hut ihrer Mutter erneut zurechtrückte. „Es ist ganz, ganz …“ Sie presste die Lippen zusammen, als ob sie sich eine hässliche Bemerkung verbissen hätte. Immerhin war eine dieser Damen die Duchess of Warrington. Ihre Gastgeberin wollte sie bestimmt nicht beleidigen. Schließlich war ihr offenbar ein passendes Wort eingefallen. „Es ist ziemlich ungewöhnlich, dass sie uns so lange warten lassen.“

Kingstons Lippen zuckten. Es war fast amüsant. Die Frau hatte die Duchess und ihre künftige Schwiegertochter offensichtlich mit einem wenig schmeichelhaften Wort dafür beschimpfen wollen, dass sie sie warten ließen, und sich nur in letzter Sekunde zurückhalten können.

„Ich bin mir sicher, dass sie bald unten sein werden“, antwortete Warrington mit einem gequälten Blick. Augenscheinlich mochte er diese Leute auch nicht. Da jedoch eine seiner Schwägerinnen mit dem stumm auf dem Stuhl sitzenden Pembroke-Burschen verlobt war, musste der Duke sich wohl oder übel mit ihnen arrangieren.

Der arme Mistkerl. Wenn Kingston seinen Stiefbruder gemocht hätte, hätte er Mitleid mit ihm gehabt.

„Ah!“ Warrington klatschte in einer Geste der Erleichterung in die Hände. „Sie sind da.“

Die Anwesenden richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Tür, um die Ladys zu begrüßen. Kingston unterdrückte einen schweren Seufzer und verspürte nichts von Warringtons Erleichterung, während er sich die gängigen Höflichkeitsfloskeln zurechtlegte, die bei einer Vorstellung üblich waren.

Er hegte keine Vorliebe für bodenständige Landmädchen, aber er würde sich ein Lächeln auf die Lippen zaubern und den Abend mit Anstand überstehen. Er mochte zwar ein Bastard sein, aber er war immer noch das Ziel von Müttern mit Töchtern im heiratsfähigen Alter. Er hoffte inständig, dass die Schwestern der Duchess ihn nicht als Heiratskandidaten ansahen … und dann erinnerte er sich.

Wenigstens eine von ihnen würde ihn mit Gewissheit in Ruhe lassen. Sie war bereits verlobt.

3. KAPITEL

Kingston hatte Warringtons hübsche Frau bereits bei seiner Ankunft kennengelernt, aber an diesem Abend sah sie wirklich wie eine echte Duchess aus. Mit ihren goldenen Locken und in einem Abendkleid von leuchtendem Grün betrat die Duchess den Raum, noch schöner als bei ihrer ersten Begegnung.

Er nahm an, wenn man schon heiraten musste, war sie eine gute Wahl – obwohl Warrington kein Mann war, der hatte heiraten müssen. Für Kingston ergab es immer noch keinen Sinn, warum sein Stiefbruder diesen fatalen Schritt gegangen war.

Ihre Schwestern folgten ihr. Beide waren eindeutig jünger. Die goldenen Locken hatten sie mit ihrer älteren Schwester gemein, doch damit endete die Ähnlichkeit.

Die eine war fülliger und kleiner, hatte lebhafte Augen und rosige Wangen, als wäre sie gerade aus der Sonne gekommen.

Die andere war größer, schlank wie ein Weidenrohr, ihre Züge nachdenklich und ihre Haut alabastern wie frische Sahne. Nichts an ihr wirkte übermütig oder auch nur erfreut, als sie durch den Raum ging, um, wie es sich gehörte, den dargebotenen Arm des jungen Pembroke anzunehmen.

Offensichtlich war sie die besagte Verlobte. Eine passende Partie für den Pembroke-Burschen. Kingston hatte schon vermutet, dass sie diejenige welche war, bevor sie sich zu ihrem Verlobten gesellte. Die andere Schwester war zu lebhaft, um an einen solchen Holzkopf gebunden zu sein.

Die Duchess of Warrington stellte sich schnell vor. Die jüngere Schwester, die mit den rosigen Wangen, betrachtete ihn mit Interesse. Ihr Verhalten war ihm nur allzu vertraut. Er kannte seine Vorzüge, wusste, dass er gut aussah. Das hatte er von seinen Eltern geerbt. Bei dem Gedanken an seine Mutter zuckte er innerlich zusammen. Die Schönheit seiner Mutter war bereits ihrer Krankheit zum Opfer gefallen. Ein weiterer Verlust, den sie zu beklagen hatte.

„Ein Stiefbruder?“, rief die jüngere Schwester aus. „Wie nachlässig von dir, nicht zu erwähnen, dass du einen Stiefbruder hast, Nathaniel.“

Der Duke zuckte unschuldig mit den Schultern, als er den Vorwurf hörte. „Das musste mir entfallen sein.“

Kingston schnaubte. Höchstwahrscheinlich war es Warrington nie in den Sinn gekommen, weil Kingston für ihn ein Nichts war. Niemand, der ihm etwas bedeutete. Schon gar nicht Familie oder gar ein Freund.

Niemand, über den er mit denen reden konnte, die ihm etwas bedeuteten.

Es hätte nicht wehtun dürfen. Er kippte sich den Rest des Brandys in seinem Glas die Kehle hinunter und genoss das warme Gefühl, das sich in seinem Magen ausbreitete.

Es sollte nicht wehtun. Und doch tat es das.

Es bestätigte nur, wie wenige Menschen er in seinem Leben hatte. Er dachte einen Moment darüber nach. Vielleicht hatte er wirklich niemanden.

Kingston blickte von der jüngsten Miss Langley und ihrem strahlenden Blick weg zu der anderen Miss Langley. Zu der Stillen, die mit dem Holzkopf mit den aufdringlichen Eltern verlobt war. Sie warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu, bevor sie den teilnahmslosen Blick auf ihren Verlobten richtete.

Unabhängig von ihrem Status bedachten ihn die anderen anwesenden Damen mit mehr als einen flüchtigen Blick. Er wusste, was der ton an Männern zu bieten hatte. Die meisten von ihnen hatten eine Glatze, verfaulte Zähne und vom vielen Trinken aufgedunsene Gesichter. Im Großen und Ganzen hatten sie auch eine Vorliebe dafür, sich mit Eau de Cologne einzusprühen, um ihren eigenen nicht gerade angenehmen Körpergeruch zu überdecken.

Kingston war gesegnet mit gesunden und vollzähligen Zähnen und vollem Haar, und er wusch sich regelmäßig. Er konnte ein intelligentes Gespräch führen. Damit war er anderen Männern weit voraus, auch wenn er vielleicht im klassischen Sinn nicht so gut aussah. Er mochte unehelich geboren sein und keine Wurzeln haben, aber das hatte die Frauenwelt nie daran gehindert, ihn zu umwerben. Er hatte Selbstbewusstsein und war nicht arrogant. Ein Bastard ohne Titel oder Erbe musste seine Stärken kennen.

Die langweilige mittlere Miss Langley war offenbar immun dagegen. Vielleicht war sie aber auch nur tatsächlich in ihren jungen Mann verliebt.

Bald waren sie alle im Speisesaal versammelt. Wenigstens war er dem Ziel, sich für die Nacht in sein Gemach zurückzuziehen, einen Schritt nähergekommen.

Die Duchess wies ihm einen Platz neben Warrington zu, der am Kopfende des Tisches saß. Das war unglücklich, denn so saß er zwischen dem Duke und den Pembrokes.

Der gute Gentleman vom Lande und seine Frau wollten nichts mehr als die Aufmerksamkeit des Dukes zu gewinnen, und sie verbrachten den größten Teil des Essens damit, ihn über Kingstons Kopf hinweg mit Fragen zu löchern und ihm alles Mögliche zu erzählen.

Die lebhafte Miss Langley beäugte ihn nachdenklich, während sie von ihrem Brot abbiss. „Ich bin sehr daran interessiert, alles über Sie zu erfahren, Mr. Kingston … Nathaniels geheimnisvollen Bruder.“

„Ah, eigentlich bin ich sein Stiefbruder“, korrigierte Warrington mitten in Mr. Pembrokes Erzählung über seinen jüngsten Kauf – ein Karriol, mit dem er Rennen fahren wollte.

„Haben Sie noch andere Verwandte?“, hakte die jüngste Miss Langley nach und musterte Kingston aufmerksam, auch wenn sie die Frage an ihren Schwager gerichtet hatte.

„Nora, du bist neugierig“, murmelte die mittlere Langley-Schwester und griff nach ihrem Glas. Sie trank einen kleinen Schluck, die perfekte Verkörperung einer sittsamen und respektablen Frau.

Es waren die ersten Worte, die er von ihr gehört hatte, seit sie sich zum Essen hingesetzt hatten.

Nora verdrehte die Augen, offensichtlich ungerührt von der Zurechtweisung ihrer Schwester, während sie ihr Glas nahm. „Nach der Familie meines Schwagers zu fragen? Das halte ich nicht für neugierig, Charlotte.“

Charlotte. Das war ihr Name. Ein sehr korrekter englischer Name für ein korrektes englisches Fräulein. In diesem Land konnte man einen Stein werfen und würde eine Charlotte treffen. Es gab sie im ganzen Königreich wie Tee und Kekse im Überfluss.

„Das ist nicht neugierig“, pflichtete er ihr bei. Sein Blick blieb an der Charlotte mit dem sehr gewöhnlichen Namen haften, und er vermutete, dass sie genauso gewöhnlich war wie ihr Name, leider.

Sie wandte ihre hübschen blauen Augen ab und starrte angelegentlich auf ihren Teller, das Kinn im Leinen ihres matronenhaften Fichus vergraben.

Sie war ein hübsches Mädchen mit hübschen Augen, genau wie alle anderen hübschen Mädchen, die durch die Bond Street bummelten. In England wimmelte es von ihnen. Allesamt sehr eintönige Kreaturen. Er hatte noch nie mit einer von ihnen gesprochen, und er war sich sicher, auch nichts verpasst zu haben.

Offenbar würde sich daran auch jetzt nichts ändern.

Sie ignorierte ihn und behandelte ihn, als wäre er Luft.

„Haben Sie unsere Eltern schon kennengelernt? Der Earl und die Countess of Norfolk?“, fragte Kingston mit gezwungener Leichtigkeit in die Runde, vor allem aber in Richtung der Duchess.

„Dieses Vergnügen hatten wir noch nicht“, antwortete Warringtons Frau freundlich.

„Ich würde den Earl und die Countess gerne kennenlernen“, meldete sich Mrs. Pembroke eifrig zu Wort, wobei ihr Blick zwischen Kingston und Warrington hin und her huschte.

„Hört, hört! Das würde uns in der Tat sehr freuen“, stimmte ihr Mann ihr zu und prostete den anderen Gästen mit einem x-ten Glas Brandy zu. „Man kann nie zu viele einflussreiche Freunde mit einem guten Stammbaum haben, sage ich immer!“

„Ich habe eine Idee! Vielleicht sollten wir sie zu unserer Hochzeit einladen.“ Mrs. Pembroke sah den Duke beinahe flehentlich an, als ob es seine Entscheidung wäre und nicht die des Paares, um das es ging und das an diesem Tisch saß.

Kingston wandte seine Aufmerksamkeit dem glücklichen Paar zu und war gespannt auf ihre Reaktion.

Der junge Pembroke war damit beschäftigt, auch noch den letzten Tropfen Soße von seinem Teller mit einem Stück Brot aufzutunken, und schien das Gespräch gar nicht wahrzunehmen.

Charlotte Langley griff erneut mit zitternder Hand nach ihrem Glas und trank einen großen Schluck, wobei sie ihrer zukünftigen Schwiegermutter einen kurzen Blick zuwarf, bevor sie sich wieder ihrem Glas zuwandte, als ob der Inhalt desselben interessanter wäre als das Gespräch über ihre bevorstehende Hochzeit. Die zitternde Hand war ein Zeichen dafür, dass sie vielleicht doch nicht so ungerührt war, wie Kingston gedacht hatte. Seltsam, in der Tat. Er fragte sich, was hinter ihren kühlen blauen Augen wirklich vorging.

„Ich dachte, die Gästeliste wäre schon vor Wochen beschlossen worden“, warf die Duchess of Warrington ein, da ihre Schwester offensichtlich nicht dazu in der Lage war, das Wort zu ergreifen.

Mrs. Pembroke winkte mit einer Hand ab. „Wir können jederzeit Änderungen vornehmen. Wohin soll ich die Einladung schicken?“

Die junge Duchess blickte über den Tisch hinweg zu ihrer Schwester und dem jungen Mr. Pembroke. „Was sagst du denn dazu, Charlotte? Und du, William?“, fragte sie mit einem Hauch von Hoffnung und einer Portion Ermutigung in der Stimme, als rechnete sie damit, dass die beiden eine Lösung für diese Frage parat hätten.

Der Bursche blinzelte, als er angesprochen wurde, und wischte sich mit dem Handrücken die flüssige Butter ab, die ihm am Kinn hinunterlief. „Verzeihung?“

„Oh, William kümmert sich überhaupt nicht um die Hochzeit“, erklärte seine Mutter mit einem weiteren Abwinken. „Na ja, abgesehen von der Speisekarte, natürlich. Er mag zwar spindeldürr sein, aber er hat bei der Zusammenstellung des Menüs mitgewirkt. Mögen Sie Puddingtörtchen? Wenn ja, können Sie sich bei ihm bedanken, denn er hat reichlich davon bestellt.“

Kingston beobachtete, wie der Junge seinen Teller leeraß, als wäre er ein Soldat auf dem Weg in den Krieg und dies könnte die letzte Mahlzeit seines Lebens sein.

„Charlotte wollte keine große Sache aus der Hochzeit machen“, sagte die junge Nora, die keine Schwierigkeiten zu haben schien, sich an dem Gespräch zu beteiligen.

Autor

Sophie Jordan

Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzesssinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New York...

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