Schlaflose Nächte

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Auf der Reise nach Nepal lernt Sarah, Mutter eines erwachsenen Sohnes, den Journalisten Neal kennen. Sie verlieben sich unsterblich ineinander. Und doch wird Sarah bald allein zurückkehren - niemals kann sie Neal an sich binden, denn er ist viel jünger als sie …


  • Erscheinungstag 21.04.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733756567
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Wenn du dort einen echten Prachtkerl triffst und er anfängt, sich an dich heranzumachen, dann kneif nicht“, sagte Sarahs beste Freundin Naomi. „Hier bei uns sind Traummänner dünn gesät … nicht vorhanden, wäre zutreffender. In Nepal ist das Angebot besser. Jedenfalls war es das in dem Jahr, als ich dort war. Echte Männer mögen unbequeme Orte: Ozeane, Dschungel und Berge. Wann hast du zuletzt einen Traummann in einem Einkaufszentrum gesehen? Noch nie … oder so gut wie nie. Sie sind wie jede andere seltene Spezies. Wenn du an sie herankommen willst, musst du in ihr Wohngebiet gehen. Und das liegt nicht dort, wo wir beide unser Leben verbringen, soviel ist sicher.“

Achtundvierzig Stunden später saß Sarah im Flugzeug. Die Frau neben ihr schlief. Während des Abendessens hatten sie sich unterhalten, deshalb wusste Sarah, dass ihre Nachbarin eine Stewardess war, die dienstfrei hatte. Für sie war es Routine, um die Welt zu fliegen und schöne Reiseziele kennenzulernen.

Sarah war noch nie irgendwo gewesen, und sie war zu aufgeregt, um auch nur einen Moment lang die Augen zu schließen. Gestartet waren sie um zweiundzwanzig Uhr. Um Mitternacht war das Abendessen serviert worden, und danach hatte sich Sarah beide Bordfilme angesehen. Bis zum Morgen las sie einen Reiseführer. Bald nach dem Frühstück landeten sie in Doha.

Die Stewardess auf dem Platz neben ihr arbeitete für eine arabische Fluggesellschaft und wohnte in Doha. Sarah hatte noch weitere fünf Stunden Flug vor sich. Aber erst einmal musste sie neunzig Minuten in der Transithalle des Flughafens verbringen.

Sarahs Handgepäck bestand nur aus einem kleinen Rucksack. Nachdem er durchleuchtet worden war, hängte sie ihn sich über die Schulter und ging die Damentoilette suchen.

Ihr Spiegelbild kam ihr noch immer erschreckend anders vor. Naomi hatte sie zu einer neuen Frisur und Haarfarbe überredet, ihr gesagt, was sie anziehen und einpacken sollte, und ihr außerdem einige Kleidungsstücke geliehen. Sarah war noch nicht an ihr neues Image gewöhnt. Und auch nicht an die Trekkingstiefel. Sie hatte sie in den vergangenen vier Wochen jeden Tag einige Stunden lang getragen, doch sie fühlten sich trotzdem noch schwer und klobig an. Und was konnte weniger zu solchen Stiefeln passen als ein knöchellanger, in leuchtenden Farben geblümter Rock?

Naomi hatte ihr versichert, dass so ein Outfit in Nepal gang und gäbe sei. Niemand werde sie verwundert ansehen. Zu dem knitterfreien Rock trug Sarah ein langärmeliges Baumwollhemd und darunter ein T-Shirt, das Naomi gehörte. Auf die Vorderseite war der Name der Gebirgsroute gestickt, auf der diese mit ihrem Freund während eines Urlaubs in dem Jahr zwischen ihrem Schulabschluss und dem Beginn des Studiums getreckt war.

Fünfzehn Minuten später kehrte Sarah in die Halle zurück. Sie trug jetzt nur noch das ausgeblichene blaue T-Shirt und fühlte sich trotz der schlaflosen Nacht hellwach. Sie fand den richtigen Flugsteig und suchte sich einen Platz in der Nähe. Als sie sich setzte, war sie sich bewusst, dass ihre Mitreisenden sie einen Moment lang neugierig betrachteten. Nur ein Passagier beachtete sie überhaupt nicht. Der Mann auf dem Stuhl ihr gegenüber war in ein Buch vertieft. Sarah war ein Bücherwurm, und so versuchte sie unwillkürlich den Titel auszumachen. Dass er lieber las, als Neuankömmlinge zu mustern, brachte dem Fremden Punkte bei ihr ein. Erst dann stellte sie fest, dass nicht nur das Buch für ihn sprach. Er war groß, breitschultrig und langbeinig und trug eine Kakihose mit verstärkten Knien und vielen zusätzlichen Reißverschlusstaschen. Da er nur eine Plastiktüte aus dem Duty-free-Shop in Heathrow bei sich hatte, trug er die wichtigen Sachen offensichtlich am Körper und hatte sein gesamtes Gepäck aufgegeben.

Der Mann war schlank und muskulös. Vielleicht war er ein Bergsteiger, der zu den Gipfeln des Himalaja unterwegs war. Bergsteigen und Trekking waren zwei der Gründe, warum Ausländer das Königreich Nepal besuchten. Die meisten männlichen Transitpassagiere waren unrasiert. Nicht so der Mann mit dem Buch. Sein tiefgebräuntes Gesicht war frei von Bartstoppeln. Er machte überhaupt einen sehr sauberen, gepflegten Eindruck.

Er sieht aus, als würde er gut riechen, dachte Sarah. Nicht nach einem teuren Rasierwasser. Bestimmt hatte er einen natürlichen Duft an sich, der so angenehm war wie der von in der Sonne getrockneter Wäsche. Während ihr dies durch den Kopf ging und sie sein dichtes schwarzes Haar betrachtete, schaute der Mann auf und ertappte sie dabei, wie sie ihn musterte. Sarah wollte wegsehen, doch irgendetwas an seinem Blick machte es ihr unmöglich. Schließlich lächelte der Fremde flüchtig, und dann taxierte er sie eingehend.

Wenn du einen echten Prachtkerl triffst … Sarah fiel plötzlich Naomis Ratschlag ein. Warum nicht? dachte sie und lächelte erst den Mann und dann einige der Leute neben ihm strahlend an. Alle erwiderten das Lächeln oder nickten freundlich. Es war, als hätte sie das Eis gebrochen. Zuerst fragte die Frau neben ihr, zu welcher Reisegruppe sie gehöre, dann begannen alle Reisende miteinander zu reden. Nur der Mann mit dem Taschenbuch sagte nichts. Er las weiter.

Neal Kennedy sah nicht von seinem Buch auf, als der Flug nach Katmandu aufgerufen wurde. Er wusste aus Erfahrung, dass es besser war zu warten. Auch wenn die Shuttle-Busse auf arabischen Flughäfen außergewöhnlich groß waren, würden die ersten zwei oder drei überfüllt und der letzte halb leer sein. Die Fahrt zur Maschine würde eine gute Gelegenheit sein, mit der attraktiven Frau zu sprechen, die ihm gegenübersaß.

Doch als Neal das Buch zuklappte und aufblickte, stellte er überrascht fest, dass sie schon durchgegangen war. Er hatte gedacht, sie kenne sich auch aus. In Stiefeln zu reisen, war ein Merkmal des erfahrenen Treckers. Jeder andere Teil der Ausrüstung, der beim Transit verlorenging, war ersetzbar. Eingelaufene Stiefel erster Qualität waren es nicht.

Die Frau war ihm nach der Landung in Doha aufgefallen. Sie hatte bei der Sicherheitskontrolle vor ihm in der Schlange gestanden und war dann zu den Toiletten gegangen. Sie hatte ihm gefallen, aber er hatte sie ja nur von hinten gesehen.

Er hatte nicht mehr an sie gedacht, bis er eine Weile später bemerkt hatte, dass sie ihn musterte. Sein erster Eindruck war bestätigt worden. Sie war schlank, jedoch nicht zu schlank, wohlproportioniert und hatte eine gute Haltung. Wahrscheinlich war der Einfluss seiner Mutter, einer führenden Osteopathin, daran schuld, dass er eine Abneigung gegen Menschen hatte, die ihre Wirbelsäule schädigten, indem sie sich nicht gerade hielten.

Die Frau in dem bunten Rock war keine Schönheit, aber sie hatte einen intelligenten Blick, und ihr herzliches Lächeln war unwiderstehlich. Früher hatte sein Vater ihm einmal geraten, nach Mädchen Ausschau zu halten, die intelligent und hochherzig waren. Damals, mit sechzehn, hatte er sich nicht darum gekümmert. Teenager glaubten eben, dass Eltern sowieso nichts über das Leben wussten. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte er gelernt, dass seine Eltern zu den vernünftigsten und klügsten Menschen gehörten, die er kannte. Seine Geschwister und er hatten das immer seltener werdende Glück gehabt, von Eltern aufgezogen zu werden, die sich liebten und deren Ehe ein Leben lang hielt.

Zwischen ihrer und seiner Generation hatte die westliche Gesellschaft ein kulturelles Erdbeben durchgemacht. Wertvorstellungen und Lebensstil hatten sich geändert. Viele Menschen meinten, die Ehe sei überholt. Heutzutage war so eine unglückliche Ehe wie die seines Bruders Chris anscheinend typischer als die seiner Eltern. Aufgrund der Erfahrung seines Bruders und der Folgen hatte Neal beschlossen, diesen Weg nicht zu gehen.

Er hatte fünf Neffen und Nichten und zahlreiche Patenkinder. Eigene Kinder brauchte er nicht. Und er brauchte auch keine Ehefrau. Jedenfalls nicht, wenn man darunter eine Frau verstand, die einem Mann gleichzeitig Haushälterin, Krankenschwester und Privatsekretärin war. Mit den praktischen Dingen des Lebens wurde er selbst fertig, wahrscheinlich besser als die in Hausarbeit unerfahrenen Karrierefrauen von heute.

Nur im Bett brauchte er eine Frau. Nicht einmal als Twen hatte er ständig wechselnde Partnerinnen gehabt. Er hatte schon früh gelernt, dass Beziehungen, die eine Zeit lang dauerten und in denen er nicht nur sexuell, sondern auch intellektuell gut mit einer Frau harmonierte, besser waren als flüchtige Abenteuer für eine Nacht. Aber wenn ihm in Katmandu die richtige Frau sagte, sie sei verfügbar, würde er die Gelegenheit zu einer Affäre nutzen. Welcher vitale Mann würde es schon vorziehen, im Urlaub allein zu schlafen?

Sarah hatte um einen Fensterplatz auf der linken Seite gebeten. Naomi hatte gesagt, so würde sie beim Anflug auf Katmandu einen wundervollen Blick auf den Himalaja haben. Als Sarah bei der Sitzreihe ankam, saß jedoch eine kleine, mollige Frau in nepalesischer Tracht auf ihrem Platz. Da sie nur wenige Worte Nepalesisch konnte, ließ Sarah die Sache auf sich beruhen. Sie verstaute den Rucksack im Fach und setzte sich auf den mittleren der drei Plätze auf der linken Seite des linken Ganges.

Einige Zeit später kam als einer der letzten Passagiere der Mann mit dem Buch durch den Gang. Er setzte sich neben Sarah. „Hallo!“

„Hallo!“ Plötzlich war sie froh, dass die Nepalesin den Fensterplatz mit Beschlag belegt hatte.

Der Mann beugte sich vor, legte die Handflächen aneinander und sagte etwas zu der Frau neben Sarah. Die Nepalesin antwortete lächelnd.

„Sprechen Sie Nepalesisch?“, fragte Sarah.

„Ja, aber nicht gut. Ich kann die Höflichkeitsfloskeln und weiß genug, um zurechtzukommen.“ Er schnallte sich an und lehnte sich zurück. „Da wir bis zum Spätnachmittag nebeneinandersitzen, sollten wir uns vielleicht miteinander bekannt machen. Neal Kennedy.“

„Sarah Anderson.“

„Gehen Sie trekken?“

„Ja. Sie auch?“

„Diesmal nicht.“ Er blickte auf das gestickte Emblem auf ihrem T-Shirt: drei schneebedeckte Gipfel mit dem Namen von Naomis Trekking-Route und dem Datum. „Sie reisen offensichtlich schon seit Langem nach Nepal. Ich bin auch häufig dort, aber ich mache nicht jedesmal dasselbe. Diesmal nehme ich am Everest-Marathon teil.“

Sie sollte ihm erklären, dass das T-Shirt nicht ihr gehörte. Doch aus irgendeinem Grund wollte sie es nicht … noch nicht. Sie hatte Bücher über Trekking gelesen und wusste, dass erfahrene Trecker die Touristen verachteten, die nur anspruchslose Routen zurücklegten und von Trägern begleitet wurden, die ihnen die schweren Rucksäcke trugen. Neal Kennedy sah wie einer dieser erfahrenen Trecker aus. Sie wollte nicht, dass er sofort das Interesse an ihr verlor. „Sind Sie Marathonläufer? Ich dachte, die seien kleiner und schmächtiger.“

„Es gibt sie in allen Größen. Aber nein, ich nehme nicht als Läufer teil. Ich werde darüber berichten. Ich bin Journalist. Was machen Sie?“

„Ich arbeite mit Computern.“ Fest entschlossen, ihr Alltagsleben zu vergessen, bis sie wieder in England war, ging Sarah nicht näher darauf ein. „Sind Sie freiberuflich tätig?“

„Offensichtlich lesen Sie nicht das ‚Journal‘“, sagte er lächelnd. „Ich bin einer der Kolumnisten. Und ich arbeite gelegentlich für Fernsehen und Radio.“

Ihre Mutter bezog ein Sensationsblatt, das Sarah jedoch nur selten las. Sie hielt sich durch einen Nachrichtendienst im Internet auf dem Laufenden. Aber sie wusste, dass das „Journal“ eine der angesehensten Zeitungen Englands war und von Führungskräften gelesen wurde. Was bedeutete, dass Neal in seinem Beruf ein Star sein musste. „Wenn ich wieder zu Hause bin, halte ich Ausschau nach Ihrer Kolumne“, sagte sie und erwiderte sein Lächeln.

Neal erschauerte, als Sarah ihn anlächelte. Sie hatte einen sinnlichen Mund und perfekte weiße Zähne. Wie viele Männer hatten Sarah wohl schon geküsst? Hatte ihr einer am Vorabend in Heathrow einen Abschiedskuss gegeben? Dass sie allein reiste, besagte nichts. Sogar seine Eltern verreisten manchmal getrennt.

Er wusste, dass sie beunruhigt waren, weil er jeder ernsthaften Beziehung aus dem Weg ging. Sie wünschten sich, dass er eine Familie gründete. Aber es war ihm bisher immer gelungen, nicht sein Herz zu verlieren, und inzwischen war er aus dem gefährlichen Alter heraus, in dem der Fortpflanzungstrieb am stärksten war und man glaubte, dass Gefühle andauern würden, bei denen es sich im Grunde nur um chemische Reaktionen handelte.

Neben Sarah Anderson zu sitzen erregte ihn. Er war sich sehr bewusst, dass das ziemlich enge T-Shirt ihre Brüste betonte, und er nahm den Duft ihres frisch gewaschenen, kurzen aschblonden Haars wahr. Die großen braunen Augen deuteten darauf hin, dass es von Natur aus dunkler war. Es war jedoch unauffällig gefärbt, und das Aschblond passte gut zu ihrer hellen Haut.

Das Flugzeug rollte zur Startbahn. „Wann geht das Trekking los?“, fragte Neal.

„Erst Dienstag. Zwei Tage Erholung nach einem so langen Flug sind wohl besser, meinen Sie nicht auch? Wann fängt der Marathon an?“

„In zwei Wochen. Aber einige Leute werden schon vorher eintreffen. Ich bin immer gern in Katmandu … auch wenn es sich sehr verändert hat, seit wir beide zum ersten Mal dort gewesen sind.“

Sarah fand es seltsam wohltuend, dass Neal annahm, sie sei mit der Hauptstadt Nepals ebenso vertraut, wie er es war. Wie sehr sie wünschte, es würde stimmen! Es hätte einmal wahr werden können. Als Teenager hatte sie davon geträumt, Katmandu, Samarkand, Darjeeling und viele andere Orte zu besuchen. Vielleicht hätte sie inzwischen alle gesehen, wenn nicht … Sie schreckte vor dem Gedanken zurück.

Die Maschine war kleiner als die vorige und nicht so voll. Vor dem Mittagessen wurden Drinks serviert. Als Sarah um einen Gin Tonic bat, erklärte die Stewardess entschuldigend, dies sei ein „trockener“ Flug. „Dann nur Tonic, bitte.“

Neal nahm dasselbe, bat jedoch um zwei weitere Gläser. Warum, wurde Sarah kurze Zeit später klar. Er zog die Plastiktüte unter dem Sitz vor ihm hervor. „Mein Laptop und eine Flasche Gin“, sagte er.

„Haben Sie keine Angst, dass Ihr Laptop beschädigt wird?“

„So ist die Gefahr viel geringer, dass er mir gestohlen wird. Diese vornehmen Taschen, in denen Geschäftsmänner ihren Laptop haben, fordern Diebe ja geradezu auf, sich das Ding zu holen. Ich habe auf dem Flughafen gesehen, dass Sie eine kleine Umhängetasche in Ihrem Rucksack haben. Bestimmt haben Sie nichts wirklich Wichtiges darin.“

„Nein, habe ich nicht.“ Naomi hatte ihr eine Stofftasche mit Reißverschluss und einer Schlaufe gegeben, die Sarah durch ihren Rock- oder Hosengürtel ziehen konnte. Darin waren der größte Teil ihres Geldes, die Kreditkarte und eine Kopie ihres Reisepasses.

Neal goss Gin in die zusätzlichen Gläser, stellte eines auf Sarahs Tablett und füllte erst ihres und dann seines mit Tonic auf. „Om mani padme hum“, sagte er und prostete ihr zu.

Sie brauchte ihn nicht zu fragen, was die Worte bedeuteten. Es war ein buddhistisches Mantra: „Das Juwel im Herzen des Lotos.“ Sie interessierte sich für den Buddhismus, denn sie hatte persönliche Gründe zu hoffen, dass der Tod kein Ende war, sondern der Beginn eines weiteren Lebens auf der langen Reise zur Erleuchtung.

Neal entging ihr Stimmungswechsel nicht. Missbilligte sie, dass er das Mantra als Trinkspruch benutzte? Oder war sie durch die Worte an etwas erinnert worden, an das sie nicht denken wollte?

Während des Mittagessens versuchte er, sie über ihren Job auszuhorchen, doch sie wich seinen Fragen aus, deshalb brachte er das Gespräch auf Bücher. Das war der Maßstab, nach dem er beurteilte, ob eine Frau auch dann eine interessante Partnerin sein würde, wenn sie gerade nicht miteinander schliefen. Sarah erzielte eine hohe Punktzahl. Sie hatte jedes Reisebuch gelesen, das er erwähnte. Wie sich herausstellte, hatten sie beide vor Kurzem noch einmal James Hiltons „Lost Horizon“ gelesen, einen Bestseller der dreißiger Jahre. Es war einer der wenigen Romane, der ein neues Wort eingeführt hatte: „Shangri-la“.

„Mein Großvater hat mir das Buch zum zwölften Geburtstag geschenkt“, sagte Neal. „Wann haben Sie es zum ersten Mal gelesen?“

Sarah lächelte. „Weihnachten vor meinem fünfzehnten Geburtstag. Ich habe mein Taschengeld in einem Secondhandshop für Bücher ausgegeben. Der Besitzer Mr. King hat es mir geschenkt, weil ich seine jüngste Stammkundin war. Als ich mit ihm über das Buch gesprochen habe, hat er gesagt, es könnte wirklich einen Ort wie Shangri-la geben … ein verborgenes Tal in den Bergen, wo die Menschen sehr alt würden und glücklich und zufrieden seien. Eine Zeit lang habe ich ihm geglaubt. Aber wenn so ein Ort existieren würde, wäre er inzwischen auf einem Satellitenfoto entdeckt worden. Trotzdem, es ist schön, ihn sich vorzustellen.“

„Mein Großvater sagt, es gebe ihn. Aber es sei nicht wie im Buch ein geheimnisvoller, unzugänglicher Ort in Zentralasien. Seiner Meinung kann jeder Mensch Shangri-la in sich selbst finden, doch nur wenige tun es.“

„Wie alt ist Ihr Großvater?“

„Er wird nächstes Jahr neunzig und ist erstaunlich aktiv und modern. Er surft durchs Web und tauscht E-Mails mit anderen alten Männern aus, die geistig noch fit sind.“

„Gut für ihn.“ Sarah lachte.

Neal fiel auf, dass sie nichts über ihre Familie erzählte. Die meisten Menschen redeten bei der kleinsten Ermutigung nonstop über sich selbst. Sarahs ungewöhnliche Zurückhaltung musste einen Grund haben.

Nach dem Mittagessen lief ein ungefähr dreijähriges Kind im Gang auf und ab, bis es eine Weile später plötzlich anfing zu schreien. „Dad … Dad …“ Anscheinend wusste es nicht mehr, wo sein Vater saß.

Vielleicht schlief er. Jedenfalls kam Dad nicht, und die ganze Kabinencrew machte offensichtlich gerade Pause. Sarah wollte aufstehen, doch Neal war schneller. Er hob das Kleinkind hoch, sprach beruhigend mit ihm und ging den Vater suchen.

Sarah setzte sich auf den Platz am Gang und beobachtete Neal. Er sieht von hinten sehr gut aus, dachte sie unwillkürlich. Breite Schultern, schmale Hüften und ein sexy Po … Dann sah sie, dass Neal viel weiter vorn das Kind seinem Vater reichte. Schnell setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Sie war ein bisschen erstaunt, dass Neal als Einziger von all den Leuten, die am Gang saßen, sofort etwas unternommen hatte. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass er vielleicht verheiratet war und selbst Kinder hatte.

„Mit dem Problem sind Sie ja gut fertig geworden“, sagte sie, als er zurückkam.

„Ich habe einen Neffen in dem Alter.“ Neal schwieg einen Moment lang, dann sagte er: „Ich mag lieber Kinder, die ich bei den Eltern abliefern kann, wenn ich genug habe. Journalismus und Familienleben passen nicht gut zusammen.“

„Wohl nicht.“ Sarah fragte sich, ob sie das als Warnung verstehen sollte. Wenn ja, grenzte es an Arroganz, jetzt schon eine für nötig zu halten. Andererseits war er zweifellos der mythische Traummann, von dem Naomi gesprochen hatte. Vielleicht hatte er durch Erfahrung gelernt und stellte immer sofort klar, dass mit ihm nur eine kurze Beziehung ohne Bedingungen infrage kam.

Nach dem Film wurde der Nachmittagstee serviert. Sie mussten sich Nepal nähern, denn die Frau neben ihr beugte sich vor und blickte aus dem Fenster. Was bedeutete, dass Sarah kaum etwas sehen konnte. Sie war sehr enttäuscht.

Vielleicht spürte Neal ihre Frustration. Er sagte etwas zu der Frau, und sie lehnte sich zurück, sodass sie alle einen Blick auf den Himalaja werfen konnten. Bald darauf kamen die Berge in Sicht, die Katmandu umgaben. Sarahs Begeisterung über die bevorstehende Ankunft und das Zusammentreffen mit ihren Trekking-Gefährten wurde jedoch dadurch getrübt, dass sie sich in Kürze von Neal verabschieden musste.

„Heute Abend werden Sie sicher zu müde sein, aber wie wäre es, wenn wir uns morgen Abend sehen?“, fragte er plötzlich. Er wusste, dass sie zwischen London und Doha nicht geschlafen hatte.

„Ich würde gern … nur weiß ich noch nicht, ob es möglich ist. Kann ich Sie morgen anrufen?“

„Klar. Ich gebe Ihnen meine Nummer.“ Neal zog einen Post-it-Block und einen Kugelschreiber aus einer seiner vielen Hosentaschen, schrieb etwas, riss den Zettel ab und gab ihn Sarah. „Würden Sie bitte vor neun anrufen? Ich habe morgen viel zu erledigen.“

„Ich hoffe, es klappt. Ich würde mich gern mit Ihnen treffen.“

„Ich möchte Sie auch gern wiedersehen … sehr gern.“

Neals Lächeln ließ Sarah erschauern. Aber war es nicht verrückt, auch nur daran zu denken, dies weiterzuführen? Es war ja gut und schön, wenn Naomi ihr predigte, nicht zu kneifen, nur hatte Sarah in diesem besonderen Fall das Gefühl, dass der Ratschlag ihrer Freundin gefährlich sein könnte.

In der Ankunftshalle des Flughafens berührte er sie zum ersten Mal. Sarah hatte ihr Visum schon vor der Abreise in England bekommen, musste es jedoch noch prüfen lassen. Neal hatte ihr erzählt, er besorge sich seines lieber bei der Ankunft.

Bevor sie sich vor den verschiedenen Schaltern anstellten, nahm Neal ihre Hand und drückte sie. „Bis morgen Abend, Sarah.“ Anscheinend betrachtete er es als selbstverständlich, dass nichts dazwischenkommen würde.

Sie ärgerte sich ein bisschen über seine Selbstsicherheit, sagte jedoch nichts. „Auf Wiedersehen, Neal.“ Wenn sie einen Funken Vernunft besaß, würde sie ihn am nächsten Morgen anrufen und ihm mitteilen, dass es leider nicht gehen würde. Sie brauchte einen Mann in ihrem Leben. Aber keinen wie Neal Kennedy.

Nach dem, was sie bereits über ihn erfahren hatte – ganz zu schweigen von allem, was er noch nicht über sie wusste –, waren sie völlig falsch füreinander.

2. KAPITEL

Mit einer Girlande aus Ringelblumen um den Hals saß Sarah hinten im Kleinbus und musterte die Reiseleiterin. Sie hatte die dreizehn Trecker abgeholt und durch das Chaos aus Schleppern und Taxifahrern vor dem Flughafengebäude geführt. Ihr Name war Sandy. Sie hatte einige weibliche Merkmale, doch insgesamt sah sie eher wie ein Mann aus und benahm sich auch so. Sarah hatte sie auf Anhieb nicht leiden können. Jetzt stand sie mit einem Mikrofon in der Hand neben dem Fahrer und hielt Vorträge.

Erwartet sie im Ernst, dass wir all das Zeug in uns aufnehmen, bevor wir Schlaf nachgeholt haben? fragte sich Sarah. Sie sah sich verstohlen die anderen Mitglieder der Gruppe an und war enttäuscht. Sie hatte mit Leuten gerechnet, die fit und unternehmungslustig waren. Doch selbst wenn sie berücksichtigte, dass sie gerade einen dreizehnstündigen Flug hinter sich hatten und nicht in Hochform sein konnten, waren alle älter, in schlechterer Verfassung und langweiliger, als sie gehofft hatte. Provinziell, dachte sie. Da sie selbst aus einer Provinzstadt kam, wollte sie nicht zwei Wochen lang mit Menschen aus dem gleichen uninteressanten Milieu zusammen sein. Welche von den anderen alleinreisenden Frauen würde wohl ihre Zimmer- und Zeltgenossin sein?

Eine halbe Stunde später hielt der Bus vor einem großen Hotel, und Gepäckträger begannen die Rucksäcke auszuladen. Beim Aussteigen wurden alle Teilnehmer noch einmal von Sandy überprüft und bekamen ein Namensschild. Den Alleinreisenden sagte sie, wer ihr „Partner“ sei.

Sarahs Partnerin war Beatrice, eine dünne, ernste Frau in den Sechzigern.

Der Blick aus dem Fenster ihres Zimmers heiterte Sarah auf. Hinter den Dächern der Stadt waren die Berge zu sehen, die das Katmandu-Tal umgaben, und dahinter die höheren Gipfel. „Ich kann kaum glauben, dass ich wirklich hier bin“, sagte sie verträumt. Als Beatrice nicht antwortete, blickte sie über die Schulter. Ihre Zimmergenossin packte aus.

Die ältere Frau sah einen Moment lang auf. „Ich hoffe, Sie sind ordentlich, Miss Anderson.“

Wie man Freundschaft schließt und Menschen für sich einnimmt! dachte Sarah ungläubig. „Ich gehe nach unten und bestelle mir einen Schnaps“, sagte sie liebenswürdig. „Dann können Sie inzwischen in Ruhe Ihre Sachen in Ordnung bringen. Da wir nur einen Schlüssel haben, sind Sie vielleicht so nett und suchen mich, wenn Sie hier oben fertig sind. Bis nachher.“

Obwohl es schon dunkel wurde, trank Sarah ihren Gin Tonic im gepflegten Garten. Sogar vom Fünf-Sterne-Hotel war sie ein bisschen enttäuscht. Der Stil war eher international als nepalesisch. Sie hatte auf ein Haus mit mehr Atmosphäre gehofft.

Wo Neal wohl wohnte? Ihr fiel der Zettel ein, den sie in ihr Notizbuch geklebt hatte. Er hatte seinen Namen, den des Hotels und die Telefonnummer aufgeschrieben. Vor einer Stunde war sie noch fest entschlossen gewesen, sich nicht mit ihm zu treffen. Inzwischen hatte sie es sich anders überlegt. Tatsächlich konnte sie es kaum erwarten, ihn am nächsten Morgen anzurufen und sich mit ihm zu verabreden.

Um kurz nach acht, während Beatrice unten im Restaurant frühstückte, wählte Sarah die Nummer, die Neal ihr aufgeschrieben hatte.

„Ich stelle Sie durch“, sagte die Telefonistin.

„Neal Kennedy.“

„Ich bin’s, Sarah. Guten Morgen.“

„Guten Morgen. Haben Sie gut geschlafen?“

„Ausgezeichnet“, log sie. „Und Sie?“

„Ich bin um vier aufgewacht und habe gelesen. Es dauert zwei oder drei Tage, bis sich meine innere Uhr umgestellt hat. Können wir heute Abend zusammen essen?“

„Ja, das wäre schön.“

„Ich hole Sie um halb sieben ab. Vorher gehen wir auf einen Drink ins ‚Yak and Yeti‘.“

Sarah wusste aus ihrem Reiseführer, dass es das größte und eleganteste Hotel in Katmandu war. „Ich habe mein kleines Schwarzes nicht mitgebracht.“

„Kein Problem. Reiche Einheimische und Weltreisende machen sich fein, Bergsteiger und Trecker nicht. Was immer Sie anziehen, Sie werden großartig aussehen.“

„Okay … wenn Sie es sagen. Bis dann.“ Als Sarah den Hörer auflegte, war die Begeisterung wieder da, die nach Gesprächen beim Abendessen und Frühstück mit einigen anderen aus der Gruppe und einer Nacht mit Beatrice in einem Zimmer verschwunden gewesen war.

Sarah saß in der Hotelhalle, als Neal hereinkam und zur Rezeption ging. Sie wusste, dass ihm dort jemand sagen würde, wo sie saß, deshalb beobachtete sie ihn, während er darauf wartete, dass einer der Angestellten Zeit für ihn hatte.

Er trug die Hose, die er während des Fluges getragen hatte, aber ein anderes Hemd. Über dem Arm hatte er ein Kleidungsstück aus Vlies. Naomi hatte Sarah ein kanariengelbes geliehen. Neals war dunkelblau und besaß einen korallenfarbenen Kragen.

Neal sah auffallend anders aus als alle anderen in ihrer Reisegruppe. Er strahlte eine spürbare Vitalität und Männlichkeit aus. Als er sich umdrehte und auf sie zukam, spürte sie sein Charisma noch stärker. Bevor er sie erreichte, war sie aufgestanden.

Autor

Anne Weale
Jay Blakeney alias Anne Weale wurde am 20. Juni 1929 geboren. Ihr Urgroßvater war als Verfasser theologischer Schriften bekannt. Vielleicht hat sie das Autorengen von ihm geerbt? Lange bevor sie lesen konnte, erzählte sie sich selbst Geschichten. Als sie noch zur Schule ging, verkaufte sie ihre ersten Kurzgeschichten an ein...
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