So reich und so charmant

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Für den Unternehmer Jack Millard gibt es nur eine Frau, die sein Leben teilen soll: die zauberhafte Köchin Christina Kenley. Doch all seine Eroberungsversuche - unzählige Blumensträuße, romantische Einladungen - bleiben wirkungslos. Da entschließt sich Jack, zum Äußersten zu greifen: Er baut sein Zelt auf ihrem Grundstück auf …


  • Erscheinungstag 09.05.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757038
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Der Mann fiel sofort auf. Christina betrachtete ihn kritisch. Er trug verschmutzte Jeans, Stiefel voller Schlamm und einen Dreitagebart. Sein Gesicht war wettergegerbt und tief gebräunt, das dichte, dunkle Haar zu lang und zerzaust. Er war sehr groß, hatte breite Schultern, und die hochgekrempelten Ärmel gaben braune, muskulöse Unterarme frei.

Beunruhigt verfolgte Christina, wie er über den blank gebohnerten Eichenfußboden des gemütlichen Eingangsbereichs ging. Hoffentlich trat er nicht auf den kostbaren Perserteppich! Gott sei Dank, er verpasste ihn gerade um zwei Zentimeter!

Der verwahrloste Typ passte nicht in ihren hübschen, idyllischen „Sleepy Hollow Inn“. Warum war er hier? Und was wollte er? Die Leute, die hierher kamen und eins der fünf Gästezimmer buchten, verbrachten ihre Hochzeitsnacht hier oder feierten einen besonderen Jahrestag. Der „Sleepy Hollow Inn“ war ein Liebesnest, das fast versteckt in einem kleinen grünen Tal in den Bergen von Pennsylvania lag.

Der Fremde sah jedoch nicht so aus, als hätte er eine Liebesnacht oder auch nur ein schnelles Sexabenteuer im Sinn. Außerdem schien er allein zu sein, was nicht verwunderlich war. Christina kannte keine Frau, die das Bett mit ihm hätte teilen mögen, nicht einmal in den edelsten Laken und dem romantischsten Zimmer.

Er sah eher so aus, als wäre er schon eine ganze Weile nicht mehr mit Wasser und Seife in Berührung gekommen. Dieser Typ brauchte dringend ein Bad. Rasieren und ein Haarschnitt wären auch nicht übel. Eigentlich müsste man ihn erst mal mit dem Gartenschlauch abspritzen, überlegte Christina amüsiert, so wie ihre Mutter es früher mit ihr und ihrer Schwester Anne Marie getan hatte, wenn sie am Fluss oder Teich mit Fröschen und Schildkröten gespielt hatten.

Er fing ihren Blick auf, und seltsamerweise überlief Christina ein Schauer. Er hatte markante Züge, und seine Nase war leicht gebogen. Die dunklen Bartstoppeln verliehen ihm ein finsteres Aussehen. Er erinnerte Christina an einen Kerl, den sie vor Kurzem im Film gesehen hatte – einen gewissenlosen Schurken, der kleine alte Damen ausraubte.

Kleine alte Damen. Sie war klein. Und alt. Na ja, so alt nun auch wieder nicht, obwohl sie eine einundzwanzigjährige Tochter hatte. Zweiundvierzig war nicht wirklich alt. Sicher, sie besaß schon einige graue Haare, die sie mithilfe der modernen Chemie geschickt überdeckt hatte. Und ihr Bauch war nicht mehr so flach wie einst. Auch die Brüste waren schon fester gewesen, doch sie besaß immer noch ihre eigenen Zähne und joggte jeden Morgen fünf Kilometer, während die Liebespärchen noch selig in ihren romantischen Zimmern schlummerten – oder auch nicht. Wer wusste das schon?

Sie mochte ein Liebesnest besitzen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie ständig an Liebe und Sex dachte. Im Gegenteil. Seit Jahren versuchte sie, nicht daran zu denken. So war das Leben leichter.

Der Mann legte die schmutzigen Hände auf den antiken Schreibtisch, den Christina als Empfang benutzte. „Hübsch haben Sie’s hier“, sagte er mit dunkler, etwas rauer Stimme.

„Danke. Was kann ich für Sie tun?“ Vielleicht hatte er sich verfahren und wollte sich nur nach dem Weg erkundigen. Da war er bei ihr genau richtig.

„Ich hätte gern ein Zimmer für eine Nacht, falls noch eins frei ist“, erklärte er lächelnd.

Christinas Herz begann schneller zu schlagen. Natürlich konnte sie behaupten, ausgebucht zu sein, aber das wäre gelogen. Und sie log nicht gern. Ihre Mutter hatte sie gut erzogen.

Da war ja noch das Kuschelstübchen, ein gemütlicher kleiner Raum mit schrägen Wänden und einem winzigen Balkon mit Blick über den Blumengarten, in dem jetzt im Herbst leuchtende Chrysanthemen und Astern blühten. Sollte sie diesen großen, schmutzigen Mann in das romantische Stübchen einziehen lassen?

Eigentlich konnte sie es sich nicht leisten, Räume leer stehen zu lassen. Aber hatte der Mann eine Ahnung, wie hoch die Preise in ihrem Haus waren? Er musste doch sehen, dass es hier luxuriös und teuer zuging. Konnte er überhaupt zahlen?

„Wir haben heute nur noch ein Zimmer frei“, sagte Christina betont geschäftsmäßig. „Es ist aber ziemlich klein.“

„Das macht nichts.“

Christina holte eine Preisliste für Zimmer und Mahlzeiten hervor und schob sie dem Mann hin. Fast hoffte sie, ihn damit abschrecken zu können. Dann würde sie ihn an das Motel verweisen, das elf Kilometer entfernt am Stadtrand lag, wo ein Zimmer nur ein Fünftel kostete und sich gleich nebenan ein Hamburger-Imbiss befand. Sicher würde er sich dort eher zu Hause fühlen.

Der Fremde warf kaum einen Blick auf die Preisliste. „Geht in Ordnung.“

Christina reichte ihm ein Anmeldeformular und sah zu, wie er seinen Namen in großen, kühnen Buchstaben eintrug. Seine Hand war kräftig und wirkte zupackend, die Hand eines Arbeiters.

Jack Millard hieß er. Zahlungsmittel: Master Card. Er griff in die Gesäßtasche seiner schmutzigen Jeans, runzelte die Stirn und wandte sich wieder Christina zu. „Einen Moment, bitte. Meine Karte ist im Transporter.“

Nachdenklich sah Christina ihm nach, als er zielstrebig zum Ausgang ging. Er hatte einen breiten Rücken und lange Beine. Nicht übel, dachte Christina. Sofort rief sie sich zur Ordnung. Meine Güte, konnte sie diesen ungepflegten Gesellen den anderen Gästen überhaupt zumuten? Aber vielleicht wollte er ja auch gar nicht zu Abend essen und blieb in seinem Zimmer. Auf der anderen Seite brauchte ein Mann wie er anständiges Essen, um bei Kräften zu bleiben. Na ja, vielleicht sah der Typ besser aus, wenn er sich rasiert und gebadet hatte. Und wenn er es nicht tat? Christina seufzte. Unter Umständen verlangten die anderen Gäste dann ihr Geld zurück.

Es war natürlich auch möglich, dass sie ihn gar nicht bemerkten. Die meisten schwebten im siebten Himmel und waren zu sehr mit ihren Hormonen und ihren Partnern beschäftigt, um sich um andere zu kümmern.

Gleich darauf kehrte der Mann zurück. Und wieder wich er dem Teppich aus, als er auf den Empfang zukam. In der Hand hielt er einen kleinen Plastikbeutel mit den Dingen, die normale Leute in der Brieftasche mit sich herumtrugen. Er wühlte kurz darin und fand die benötigte Kreditkarte. Donnerwetter! Eine goldene.

Christina nahm sie entgegen. Jack Millard stand darauf. Plötzlich kam ihr ein erschreckender Gedanke. Die Karte war gestohlen. Daher der Plastikbeutel. Der Typ hatte jemanden ausgeraubt, dessen Brieftasche geleert und weggeworfen und nur das von ihrem Inhalt behalten, was er brauchen konnte. Erst vorige Woche hatte Christina eine Fernsehsendung über Kreditkartenschwindel gesehen, die ihr einen gehörigen Schreck eingejagt hatte.

Sie würde ihr Geld nicht bekommen! Der kalte Schweiß drohte ihr auszubrechen. Sie würde diesen Typ in ihrem Hotel bewirten und verwöhnen und schließlich auf einer Rechnung über Hunderte Dollar sitzen bleiben.

Unauffällig betrachtete sie ihn erneut und versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken. „Werden Sie heute Abend hier essen?“ Sie dachte an die Kaninchenteile, die seit gestern in Kognak eingelegt im Kühlschrank standen. Es waren genug da. Bei siebzig Dollar pro Person kam sie auf ihre Kosten.

„Ja“, erwiderte Jack Millard höflich und unterschrieb das Formular.

Unwillkürlich fragte Christina sich, ob er schon mal siebzig Dollar für ein Essen bezahlt hatte. Aber falls er eine gestohlene Kreditkarte benutzte, kostete es ihn natürlich nichts.

„Ab acht servieren wir ein Sieben-Gänge-Menü“, erklärte sie sachlich. „Der Speisesaal ist dort drüben links.“

Erstaunt zog Jack Millard eine Braue hoch. „Sieben Gänge?“

Christina nickte. „Das ist einer der Gründe, warum unser Haus als etwas Besonderes gilt. Ach übrigens, sind Sie gegen irgendetwas allergisch?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste.“ Geistesabwesend fuhr er sich mit den Fingern durch das schmutzige Haar. „Könnte ich ein Bier bekommen?“

„Sicher. Möchten Sie es im Zimmer serviert haben?“

„Gern. Danke.“

Christina legte ihm eine Getränkekarte vor, auf der auch berühmte ausländische Biere standen. Jack Millard entschied sich jedoch für ein einheimisches, bei Bauarbeitern besonders beliebtes. Warum überraschte sie das? Es war schließlich nichts Anrüchiges, Bauarbeiter zu sein. Sie war kein Snob. Ihr Großvater, an dem sie sehr gehangen hatte, war Bauarbeiter gewesen. Beim Bau eines Gotteshauses hatte er zwei Finger verloren. Ungerecht so etwas.

„Und könnten Sie mir bitte ein belegtes Brot machen, damit ich bis acht durchhalte?“

Christina nickte. „Selbstverständlich.“ Also los, ermahnte sie sich. „Ihr Zimmer befindet sich im rückwärtigen Teil des Hauses. Sie erreichen es über die Außentreppe. Es liegt direkt unterm Dach. Der Name steht an der Tür. Sie haben das Kuschelstübchen.“

„Das was?“

„Das Kuschelstübchen. Es ist unser kleinstes Zimmer, aber sehr gemütlich.“

„Ich verstehe.“ Jack Millard lächelte amüsiert. „Na gut. Ich gehe jetzt ins Kuschelstübchen.“

Mit geschmeidigen Schritten ging er davon. Wieder beobachtete Christina ihn. Und wieder fiel ihr seine kraftvolle, muskulöse Gestalt auf. Die verwaschenen Jeans umschlossen seinen Körper wie eine zweite Haut … Unwillkürlich versuchte Christina, sich ihn ohne Kleidung vorzustellen, und sie vergaß zu atmen.

Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. An nackte Männer zu denken war etwas, das sie sich sonst nicht gestattete. Das gehörte sich nicht. Sie sollte sich schämen. Aufstöhnend schlug sie die Hände vors Gesicht. Seit wann war sie so prüde?

Bestimmt wird Anne Marie das als erstes Anzeichen begrüßen, dass ich wieder vernünftig werde, dachte Christina. Ihre Schwester sorgte sich um sie und hielt es für höchste Zeit, dass sie sich wieder einen Mann suchte und heiratete oder sich wenigstens wieder so richtig verliebte.

Beides war für Christina undenkbar. Schuld daran war Peter. In den sechzehn Jahren, die sie mit ihm verheiratet gewesen war, hatte er dafür gesorgt, dass ihre rosaroten Träume von Ehe, Liebe und Sex geplatzt waren. Nachdem er das erreicht hatte, war er ein Verhältnis mit seiner Sekretärin eingegangen, einem aufreizenden jungen Ding mit üppigen Brüsten, das zwölf Jahre jünger als Christina war.

Natürlich hatte sie Tränen vergossen. Tag und Nacht. Doch sie hatte es durchgestanden, war jetzt seit sechs Jahren geschieden, besaß ein kleines Hotel voller Liebespaare und hatte keinen Mann in ihrem Bett. Aber das machte ihr nichts aus. Aus dem Alter war sie sowieso heraus. Zweiundvierzig. Niemand wollte eine Zweiundvierzigjährige mit Schwangerschaftsstreifen und ergrauendem Haar, auch wenn sie immer noch alle Zähne besaß.

„Mom!“ hatte ihre Tochter Dana sich vor Kurzem empört, als Christina diese Gedanken geäußert hatte. „Mom, du bist nicht alt! Mit etwas Nachhelfen könntest du noch glatt im Playboy erscheinen! Was ist nur mit dir los?“

Lieb gemeint von Dana! Sie hing maßlos an ihr.

„Eins kann ich dir jetzt schon sagen“, hatte ihre Tochter entschlossen hinzugesetzt, „ich denke nicht daran, später so wie du völlig auf Sex zu verzichten.“

Sicherheitshalber hatte Christina sich in Schweigen gehüllt.

„Ich habe vor, bis an mein Lebensende Sex zu haben“, hatte Dana verkündet.

Es lebe der jugendliche Überschwang! Christina stand vom Empfang auf. Mr. Millard wartete auf sein Bier und ein belegtes Brot. Das konnte Dana übernehmen. Sie war übers verlängerte Wochenende vom College heimgekommen und hatte angeboten, im Hotel mitzuhelfen.

Christina ging in die Küche und suchte kerniges Krustenbrot heraus, das einem Arbeitertyp sicher am ehesten zusagte. Dann belegte sie zwei Scheiben mit geräuchertem Lachs. Vermutlich wäre dem Mann fettes Corned Beef lieber gewesen, aber natürlich gab es so etwas in ihrer Küche nicht. Also musste er mit dem Räucherlachs vorlieb nehmen.

Das Telefon klingelte. Es war Anne Marie, die aus Kalifornien anrief. Ihre Schwester war in Tränen aufgelöst, weil sie mit ihrem dreizehnjährigen Sohn nicht fertig wurde, der sich unmöglich aufführte und vom Schulbus gestoßen worden war, sodass sie ihn jetzt täglich zur Schule fahren musste. Sie könne ihn umbringen, ereiferte Anne Marie sich. So ging es noch eine Weile weiter.

Als Christina schließlich über die Außentreppe zum Kuschelstübchen unterm Dach hinaufstieg, waren mindestens zwanzig Minuten vergangen, seit der Mann sein Bier und das Brot bestellt hatte. Christina klopfte und hörte sein „Herein“.

Eine warme Rosenduftwolke hüllte sie ein, als sie den Raum betrat. Also hatte der Typ doch nicht ungeduldig auf sie gewartet. Sie konnte ihn durch die halb geöffnete Badezimmertür sehen – genüsslich ausgestreckt in der Wanne, bis zur behaarten Brust mit Schaum bedeckt. Er musste die ganze Flasche Bade- und Duschgel ins Wasser geschüttet haben.

Diskret blickte Christina zur Seite und wollte das Tablett auf den kleinen Couchtisch stellen.

„Es ist vielleicht nicht üblich, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das Tablett herzubringen? Ich möchte mich noch eine Weile in der Wanne aalen.“

Am besten gleich einen ganzen Monat, dachte Christina. Sie atmete tief durch, ging zur Badezimmertür und stieß sie weiter auf. Schweigend stellte sie das Tablett auf einen Hocker und rückte ihn an die Wanne.

„Danke.“ Jack Millard griff nach dem Bierglas, leerte es wie ein Verdurstender und behielt es in der Hand. „Wie heißen Sie? Sie haben hoffentlich nichts dagegen, dass ich Sie danach frage.“

Mrs. Kenley, war Christina versucht zu sagen. Doch irgendwie kam ihr der Name plötzlich etwas ältlich und langweilig vor. „Christina.“ Sie richtete sich auf und zog unauffällig den Bauch ein.

Jack Millard nickte zufrieden. „Christina. Gefällt mir. Altmodisch, aber nicht steif.“ Er sah ihr ins Gesicht, und wieder überlief sie ein Schauer. Diese Augen … sie funkelten humorvoll, wissend.

Sein Mund wirkte sinnlich, der linke Winkel war leicht hochgezogen. Christina machte einen Schritt auf die Tür zu. „Freut mich, dass Sie ihn nicht steif finden“, hörte sie sich sagen und wäre am liebsten geflüchtet.

„Ein romantischer Name. Und Sie sind sicher romantisch veranlagt, da Sie in einem Hotel wie diesem arbeiten.“

Lag da ein Hauch von Humor in seiner Stimme? Christina ärgerte sich, weil sie sich unsicher fühlte. Sie hätte längst wieder verschwunden sein müssen. Trotzdem stand sie hier immer noch an der Badezimmertür, während der Mann nackt in der Wanne lag – ein Gast.

„Setzen Sie sich“, fuhr er fort und deutete mit der schaumigen Hand auf den rosafarbenen Toilettendeckel. „Ich bade gern in Gesellschaft.“

Ihr Herz begann rascher zu schlagen. „Die Gäste, die hierher kommen, bringen ihre Partner mit.“

„Ja, das kann ich verstehen“, bemerkte Jack Millard geduldig. „Leider habe ich keinen. Und wie steht’s mit Ihnen, Christina?“

„Das ist etwas zu persönlich, meinen Sie nicht auch, Mr. Millard?“

Er zog eine Braue hoch. „Kann es noch persönlicher werden? Sie sind bei mir im Bad, während ich so, wie Mutter Natur mich geschaffen hat, in der Wanne sitze.“

„Dabei müsste ich längst in der Küche sein und das Abendessen kochen. Wir sehen uns um acht.“ So würdevoll, wie sie konnte, verließ sie den Raum.

Klopfenden Herzens und auf unsicheren Beinen eilte Christina die Holzstufen hinunter. Um ein Haar wäre sie gestolpert, doch sie konnte sich gerade noch rechtzeitig am Geländer festhalten. Ein gebrochenes Bein konnte sie sich nicht leisten.

Sie war sicher, dass er sie durchschaute. Er wusste, dass er sie verunsicherte, dass sie sich fragte, was er völlig verschmutzt und allein in diesem Hotel suchte. Und ihr war inzwischen aufgegangen, dass dieser Mann nicht das war, als was er erschien. Schon seine Art, sich auszudrücken, verriet, dass er kein Sumpfbewohner war.

Christina atmete die würzige Herbstluft tief ein und versuchte, sich wieder zu fangen, ehe sie die Küche betrat. Ihr Koch, makellos weiß gekleidet, hackte fleißig Schalotten. Carl war ein pensionierter Wirtschaftsprüfer, der sich sein Leben lang danach gesehnt hatte, seine Kochkünste auch beruflich ausüben zu können. Jetzt konnte er seinen Traum verwirklichen und seine Schlemmerfantasien ausleben.

Als Christina ihm berichtete, dass ein Gast mehr zum Abendessen da sein würde, schlenderte Dana in die Küche. Sie trug das lange blonde Haar zu einem französischen Zopf geflochten und statt wie üblich Jeans und College-Sweatshirt eine elegante schwarze Hose und eine weiße Seidenbluse. Gertenschlank und bildhübsch, war sie mit ihren strahlenden blauen Augen und dem seidig glänzenden Haar die Verkörperung von Jugend und Unternehmungsgeist.

„Wo warst du?“ fuhr Christina sie an. „Ich habe dich gesucht.“

Der scharfe Ton überraschte Dana. „In meinem Zimmer. Ich habe für die Archäologie-Klausur gebüffelt. Ich sollte dir doch erst um sechs helfen.“

Es war sieben Minuten vor sechs. Christina hatte Gewissensbisse. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht anfahren.“

„Was ist denn passiert, Mom? Warum hast du mich gesucht?“

Beruhigend legte Christina ihr die Hand auf die Schulter. „Nichts ist passiert. Vor einer Stunde ist ein weiterer Gast gekommen. Er wollte ein belegtes Brot, und da bin ich ein bisschen ins Schleudern gekommen.“

Dana runzelte die Stirn. Es passte nicht zu ihrer Mutter, über ein belegtes Brot ins Schleudern zu geraten, während sie sonst spielend siebengängige Menüs zauberte.

„Ein Mann ohne Anschluss?“, fragte Dana interessiert.

„Ja. Und er isst auch hier zu Abend. Da musst du alle fünf Tische decken.“

„Okay. Ich fange gleich damit an.“

Um sieben sah Christina den Neuen durch den Salon schlendern, wo er die dort aufgestellten geschnitzten Holzelefanten betrachtete. Anne Marie hatte sie gesammelt, während sie als Kinder in Tansania gelebt hatten. Ihre Weltenbummler-Familie hatte viele Jahre in fremden Ländern verbracht, und die Räumlichkeiten des Hotels schmückten ausgewählte Stücke der Kunsthandwerkszünfte ferner Zonen. Die Gäste wanderten gern durch die Räume, um die Figuren, Gemälde, Wandbehänge und Sammlungen alter Puppen, afrikanischer Masken, farbiger Kristalle und geschnitzter Buddhas zu bewundern. Die Räume waren gemütlich und sehr persönlich gestaltet und luden zum Verweilen ein.

Jack Millards langes dunkles Haar lockte sich um seine Ohren, und der Dreitagebart verbarg noch immer seine untere Gesichtshälfte. Doch jetzt trug er eine saubere Hose und einen leichten Pullover. Ein echter Fortschritt, wie Christina sich eingestehen musste.

Irgendwie machte es sie jedoch nervös, dass er alles so sorgfältig betrachtete. Wollte er das eine oder andere Stück mitgehen lassen? Eine antike Puppe ihrer Mutter? Das Gemälde der indischen Prinzessin? Was mochte in seinem Kopf vorgehen?

Als Christina zwei Minuten später wieder an der Tür vorbeikam, stand er nachdenklich vor den Büchern in den Wandregalen. Er nahm eins heraus, schlug es auf und blätterte darin. Dann drehte er sich plötzlich um, als hätte er Christinas Blick gespürt. Sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie sich ertappt fühlte. Seine Augen waren dunkelbraun und schienen kleine goldfarbene Pünktchen zu haben.

„Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich hier ein wenig umsehe?“, fragte Jack Millard höflich.

„Nein, natürlich nicht. Dafür ist das alles ja da.“

„Faszinierend“, meinte er.

Christina floh in die Küche, wo Dana die Weingläser auf Wasserflecken überprüfte.

„Mom! Dieser Typ! Einfach toll!“, erklärte sie atemlos.

„Welcher?“ Christina stellte sich dumm. „Wir haben fünf Männer hier.“

Dana sah sie vorwurfsvoll an. „Du weißt genau, wen ich meine.“

„Den mit den langen Haaren und den Bartstoppeln?“

„Er sieht fantastisch aus“, sagte Dana begeistert. „Und dieser Körper! Hast du ihn dir angesehen?“

„Nicht richtig, nein.“ Unwillkürlich hatte Christina ihn nackt in der Wanne vor sich, nur von nach Rosen duftendem Schaum bedeckt.

Bedauernd seufzte Dana. „Leider ein bisschen zu alt für mich. Aber er sieht wirklich umwerfend aus.“ Sie hielt ein Glas gegen das Licht und begutachtete es. „Aber für dich wäre er genau richtig.“

„Nein, danke.“ Christina betrachtete die Schüssel mit den Waldpilzen, die in die Kognaksauce für das Kaninchen gehörten.

„Also ich an deiner Stelle würde versuchen, ihn mir zu angeln, Mom“, schlug Dana vor und polierte ein Glas. „Denk drüber nach. Wie viele ledige Männer landen hier schon? Nicht ein Einziger, soweit ich weiß. Das ist ein Wink des Schicksals, Mom. Ein Omen.“

„Woher willst du wissen, ob er ledig ist? Er könnte ebenso gut verheiratet sein und sieben Kinder und eine Geliebte haben.“

„Dann hätte er seine Frau oder Geliebte mitgebracht, meinst du nicht? Er ist hier, weil du für ihn bestimmt bist.“

Christina stöhnte auf. „Wie kommst du nur auf solche Ideen?“

„Das liegt in der Luft, Mom. Du musst nur wahrnehmen, was um dich her vorgeht. Nichts passiert ohne Grund.“

„Der Mann ist hier, weil er ein Bett zum Übernachten und etwas zu essen braucht und nicht, um eine Affäre mit mir anzufangen. Und jetzt tu mir den Gefallen, und hör auf, mich verkuppeln zu wollen, Mädchen. Über mein Liebesleben bestimme ich selbst.“

„Was für ein Liebesleben, Mom?“, stichelte Dana und nahm das mit makellosen Weingläsern beladene Tablett auf.

Christina überhörte die Bemerkung und bereitete die Teller für die Vorspeise vor.

Christina wünschte, sie hätte den Mut, Jack Millard wegzuschicken. Während sie den Gästen in dem kleinen Speisesaal die einzelnen Gänge servierte, spürte sie den ganzen Abend über, dass der Mann sie beobachtete. Seine Blicke waren nicht begehrlich, das musste sie ihm lassen, eher unauffällig, diskret. Dennoch entgingen sie Christina nicht. Sie spürte deutlich, dass er sie immer wieder ansah. Ihr Herz raste, und ihre Hände zitterten. Letzteres war gefährlich, weil sie Teller mit kostspieligen Speisen servierte.

Er hörte nicht auf, sie zu beobachten. Und er versuchte sogar, sich mit ihr zu unterhalten, während sie ihn bediente. Dennoch schaffte Christina es, sich höflich unbeteiligt zu geben, und zog sich jedes Mal, so schnell es ging, wieder zurück.

Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann ein Mann ihr das letzte Mal so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Und sie konnte sich noch weniger vorstellen, warum Jack Millard sich für sie interessierte. Etwas stimmte nicht mit ihm.

Er ließ es sich schmecken und nahm sich Zeit dafür. Dann fiel Christina auf, dass er zwischen den Gängen ein Taschenbuch las – dem Einband nach zu schließen, einen internationalen Spionagethriller. Nicht zu fassen! Sie fühlte sich beleidigt, wusste jedoch selbst nicht genau, warum. Schließlich war da niemand, mit dem er sich hätte unterhalten können. Außerdem legte sie zwischen den einzelnen Speisefolgen immer längere Pausen ein. Sieben Gänge waren viel, und die Leute brauchten eine Unterbrechung.

Als Christina später im Bett lag, war sie angespannt und ruhelos, fast so, als hätte sie zu viel Kaffee getrunken. Unwillkürlich kreisten ihre Gedanken um Jack Millard. Immer wieder hatte sie seine dunklen Augen vor sich, die Blicke, mit denen er sie im Speisesaal verfolgt hatte … selbst jetzt noch.

Christina konnte einfach nicht schlafen. Schließlich schaltete sie das Licht ein, nahm ihre Lieblingszeitschrift „Reisen und Freizeit“ zur Hand und blätterte darin. Eines Tages würde sie auch reisen können, sich in einem exotischen Land niederlassen und ein ganz anderes, abenteuerliches Leben kennenlernen. Sehnsüchtig dachte sie an ihre glückliche Kindheit im Ausland zurück.

Prompt verspürte sie Schuldgefühle. Ihr jetziges Leben war in Ordnung. Sie war stolz auf ihr kleines Hotel, genoss es, fantasievolle Speisen zu kochen. Hier war sie unabhängig und ihr eigener Herr.

„Was könnte ich mir mehr wünschen?“, sagte sie laut. Neue Horizonte, Abenteuer, Liebe flüsterte eine kleine innere Stimme. Aufstöhnend drückte Christina das Gesicht ins Kissen.

Am späten Vormittag entdeckte Christina Jack Millard in der Hängematte. Die anderen Gäste waren abgereist, also konnte nur er es sein. Christina ging über den mit Blättern übersäten Rasen auf die beiden alten Bäume zu, an denen die Hängematte befestigt war. Für Oktober war es ungewöhnlich warm, sodass Christina wünschte, sie hätte statt eines Pullovers eine Bluse angezogen.

Jack Millard lag mit geschlossenen Augen da. Klopfenden Herzens betrachtete Christina seine Züge. Er hatte ein kraftvolles, männliches Gesicht und wirkte jetzt ganz entspannt und friedlich, keineswegs bedrohlich.

Auf dem Boden lag eine Zeitschrift, die aus der Hängematte gerutscht sein musste. Christina nahm sie auf. „Abfallwirtschaft“ stand auf dem Titelblatt. Irgendwie hatte sie davon gehört.

„Hallo“, sagte Jack verschlafen.

Christina blickte auf und bemerkte, dass er sie schläfrig musterte. Er trug eine Baumwollhose und ein leuchtend rotes T-Shirt. Rot. Die Farbe der Leidenschaft, der Gefahr. Christina riss sich zusammen. Wie kam sie nur auf so verrückte Gedanken?

Sie zwang sich, Jack ins Gesicht zu sehen. „Um zwölf müssen die Zimmer geräumt sein“, sagte sie freundlich, aber bestimmt.

„Wie spät ist es jetzt?“

„Zehn vor zwölf.“

Träge gähnte er. „Ach, ich fühl mich hier gerade so wohl. Ich bleibe noch eine Nacht.“

Christina biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte sie ihm erklärt, sie erwarte neue Gäste, sein Zimmer sei bereits vergeben, doch das konnte sie sich nicht leisten. Schließlich brauchte sie das Geld für den Hotelbetrieb und Danas Studium.

„Wenn Sie bei uns zu Abend essen wollen, geben Sie uns bitte bis zwei Uhr Bescheid“, erwiderte sie sachlich.

„Ich esse bei Ihnen“, antwortete er prompt. „Arbeiten Sie heute Abend?“

Die Frage überraschte Christina. „Wieso?“

Jack lächelte. „Wenn nicht, würde ich Sie gern zum Essen einladen, sodass ich Gesellschaft hätte. Das hier ist ein Liebesnest, und ich bin mir gestern Abend so ganz allein ziemlich fehl am Platz vorgekommen.“

Danach hatte es aber ganz und gar nicht ausgesehen. Seiner Umgebung hatte er kaum einen Blick gegönnt, sondern sie, Christina, beobachtet, das Essen genossen und zwischen den Gängen sein Buch gelesen.

„Ich arbeite heute Abend“, betonte sie.

Jack lächelte jungenhaft. „Und Sie könnten sich wohl nicht krankmelden und dann mit mir bei Tisch erscheinen?“

„Das könnte ich schon deshalb nicht tun, weil mir das Hotel gehört und ich die Köchin bin.“ Na ja, genau genommen besaß sie nur die Hälfte. Ihre Schwester Anne Marie war genauso daran beteiligt. Nachdem ihre Eltern vor einigen Jahren bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen waren, hatten sie das Hotel zu gleichen Teilen geerbt.

Jack zog die Brauen hoch. „Tut mir leid, dass ich die Situation falsch beurteilt habe. Ich hätte es mir denken können.“

„Wieso?“

„Weil Sie eine Klassefrau sind und genau in diese Umgebung passen.“

Klassefrau. Meine Güte!

Jack deutete in die Runde. „Der gepflegte englische Rasen, die Blumen, der Teich, der Wald. Wie groß ist das Anwesen?“

„Zwölf Hektar.“

Nachdenklich nickte er und schien sich etwas durch den Kopf gehen zu lassen. Christina reichte ihm die Zeitschrift. „Ist das Ihre?“

Er nahm sie entgegen. „Ja. Sie ist mir runtergefallen, und ich war zu faul, aus der Hängematte zu klettern und sie aufzuheben. Stattdessen bin ich eingeschlafen.“

Irgendwie sah er nicht so aus, als würde er mitten am Tag faulenzen und schlafen. Seine Muskeln verrieten, dass er ein dynamischer Typ voller Energie und Tatkraft und bestimmt auch kein Abstinenzler war, was Sex betraf.

Autor

Karen Van Der Zee
Karen van der Zee wuchs in Holland auf und begann schon früh mit dem Schreiben. Als junges Mädchen lebte sie ganz in der Welt ihrer Träume, verschlang ein Buch nach dem anderen und erfand zudem eigene Geschichten, die sie in Schulheften aufschrieb und liebevoll illustrierte. Leider entdeckten ihre Brüder eines...
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