Sterne der Heimat, Feuer der Hoffnung

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Glasgow, 1862. Seit Kindertagen schlägt das Herz der ungestümen Glynis MacIain für den attraktiven Lennox Cameron. Aber als sie ihm keck einen Kuss stiehlt, weist er sie ab. Gedemütigt flieht die schöne Schottin ins ferne Amerika, in ein neues Leben. Nun, sieben Jahre später, zwingt der Bürgerkrieg Glynis dazu, erneut alle Brücken hinter sich abzubrechen und in die Heimat zurückzukehren. Und wieder steht sie Lennox gegenüber, der ihren Puls noch immer in die Höhe treibt. Endlich scheint er ihr Verlangen zu erwidern! Doch in Washington hat Glynis etwas Schreckliches getan, und ihr dunkles Geheimnis droht ihr unerwartetes Glück zu zerstören …


  • Erscheinungstag 10.10.2017
  • Bandnummer 319
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768386
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Glasgow, Schottland,

Juli 1855

Glynis hatte sich mit allergrößter Sorgfalt auf die Begegnung vorbereitet. Eigentlich konnte nun nichts mehr schiefgehen, denn das Einzige, was noch geschehen musste, war, dass die Hauptperson in den Vorraum kam.

Lennox.

Vor ein paar Minuten hatte Glynis einer Bediensteten eine Münze in die Hand gedrückt, damit sie ihm eine Nachricht überbrachte.

„Ich weiß nicht, Miss MacIain“, hatte die junge Frau skeptisch eingewandt. „Diese Russen sind doch bei ihm.“

„Er wird kommen.“ Glynis war sich ihrer Sache sicher gewesen.

Das Mädchen hatte sie stirnrunzelnd angesehen.

„Du kannst dich darauf verlassen, wirklich. Geh und hole ihn bitte her.“

Dass das Mädchen trotz der Aufforderung unschlüssig gezögert hatte, war verständlich. Lennox galt als vorbildlicher Gastgeber, und er vertrat seinen Vater, der sich derzeit in England aufhielt. Der Ball heute Abend fand zu Ehren des Grafen Bobrov statt und sollte dem russischen Geschäftspartner, seiner Gattin und seiner Tochter einen Eindruck schottischer Gastfreundschaft vermitteln. Hillshead, Lennox’ Elternhaus, war hell erleuchtet – wie ein Signalfeuer, das von ganz Glasgow aus zu sehen war.

Glynis holte tief Luft, presste die Hände gegen den Bauch und versuchte, sich zu beruhigen. Mit neunzehn war sie kein Kind mehr, auch wenn sie erst vor einer Woche Geburtstag gefeiert hatte. Lennox hatte das Fest mit seiner Gegenwart beehrt und es zu einem unvergesslichen Ereignis gemacht, als er sie vor aller Augen auf die Wange geküsst hatte.

Es war warm im Vorzimmer, aber vielleicht lag es an ihrer inneren Unruhe, dass sie feuchte Hände hatte. Ihre Wirbelsäule fühlte sich an wie ein Eiszapfen, und ihr Magen schmerzte.

Wann würde er kommen?

Flüchtig wischte sie mit den Handflächen über den Rock ihres Kleides, einer wundervollen blassrosa Ballrobe, die ihre Mutter ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Dazu passend hatte ihre Zofe ihr an diesem Abend rosa Rosenknospen ins Haar geflochten. Glynis hob die Hand und befingerte geistesabwesend die Kette aus kleinen silbernen Rosenblüten, die um ihren Hals lag.

Das Vorzimmer war kein separater Raum, sondern eigentlich ein kleiner Eingangsbereich. Man konnte ihn über die Terrasse, die sich an der gesamten Vorderfront von Hillshead entlangzog, betreten. Ein Vorhang trennte ihn vom Ballsaal.

Sie würden ausreichend Privatsphäre haben.

In ein paar Minuten konnte sie mit ihm rechnen. Lennox war zu höflich und zu ehrenhaft, um ihre Bitte zu ignorieren.

Hatte sie zu viel Parfum aufgelegt? Sie liebte diesen Duft, den ihre Mutter aus London mitgebracht hatte, Spring Morning. Er erinnerte sie an Blumen, Frühlingsregen und die Rosenknospen in ihrem Haar.

Ihre Hände zitterten. Die Finger ineinander verschränkt, tat sie einen tiefen Atemzug und dann noch einen in dem vergeblichen Versuch, sich zu beruhigen. Dann schloss sie die Augen und sagte im Stillen ihre einstudierte Rede auf.

Ihr gesamtes Leben fand in diesem Moment seinen Höhepunkt. Beim Aufwachen galt ihr erster Gedanke Lennox. Wenn sie zu Bett ging, galt ihr letzter Blick Hillshead. Wenn Lennox zu ihnen nach Hause kam, um Duncan zu besuchen, sah sie zu, dass sie diejenige war, die ihm Erfrischungen brachte, auch wenn Lily und die Köchin sich noch so sehr über ihre Beflissenheit amüsierten. Wenn sie ihm in der Stadt begegnete, erkundigte sie sich nach dem Schiff, das gerade im Bau war, fragte nach seinem Vater, nach seiner Schwester, nach egal was, wenn es ihn nur ein paar Minuten länger aufhielt. Wenn sie bei Bällen manchmal mit ihm tanzte und er sie im Arm hielt, kostete es sie Mühe, ihm nicht zu zeigen, wie sehr sie ihn verehrte.

Ihre Ohrläppchen brannten, und ihre Wangen schienen in Flammen zu stehen. Vermutlich würde sie dahingeschmolzen sein, noch ehe er vor ihr stand. Mit gespreizten Fingern presste sie abermals beide Hände auf ihren Bauch, atmete tief aus und schloss die Augen, um sich die Szene, die gleich stattfinden würde, bildlich vorzustellen.

Sie hätte das zurückhaltende, züchtige Benehmen an den Tag legen sollen, das einer jungen Dame geziemte – aber wie? Es ging um Lennox. Lennox, der ihr Herz in seinen Händen hielt. Lennox, der sie mit solcher Liebenswürdigkeit anlächelte, dass es ihr den Atem verschlug.

Lennox war hochgewachsen und stark, er hatte breite Schultern und eine Art, sich zu bewegen, die ihren Blick zu bannen schien. Es gab in ganz Glasgow keinen attraktiveren Mann als ihn.

Plötzlich war er da, trat in den Vorraum. Langsam, um das Schwingen ihres Reifrocks in Grenzen zu halten, drehte Glynis sich zu ihm um und sah ihn an.

Er war formell gekleidet – grau gestreifte Hosen und ein schwarzer Abendfrack, der den Blick auf eine schneeweiße plissierte Hemdbrust freigab.

Sein Haar trug er streng aus der Stirn zurückgekämmt, seine Augen, die graugrün waren wie der River Clyde, verrieten Intelligenz und Humor. Jemand, der ihn nicht kannte, hätte wohl angenommen, dass er das Leben von seiner leichten Seite nahm, aber Lennox war von klein auf zielstrebig seiner Berufung gefolgt. Alles, was mit Schiffen und dem Unternehmen seiner Familie zusammenhing, hatte ihn fasziniert.

Sein Gesicht war schmal, mit hohen Wangenknochen und einem entschlossenen Kinn. Sie hätte ihn stundenlang betrachten können, ohne sich jemals sattzusehen.

„Glynis? Was ist los?“

Tief Luft holend, nahm sie all ihren Mut zusammen und trat vor ihn hin. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihm die Hände auf die Schultern, reckte sich und küsste ihn auf den Mund.

Er erstarrte für einen winzigen Moment, dann erwiderte er den Kuss.

Sie schlang ihm die Arme um den Nacken, schmiegte sich an ihn, und er vertiefte den Kuss. In ihren Träumen hatte es sich himmlisch angefühlt, Lennox zu küssen, und genau so war es in Wirklichkeit – das Paradies auf Erden. Hätten in diesem Moment Engel zu singen begonnen, es wäre ihr nicht im Mindesten verwunderlich erschienen.

Nach einer ganzen Weile löste sich Lennox von ihr und beendete den Kuss. Er umfasste ihre Handgelenke und zog sie herab von seinem Nacken.

„Glynis“, sagte er leise. „Was tust du da?“

Ich liebe dich. Die Worte zitterten unausgesprochen auf ihren Lippen. Sag es ihm. Sag es ihm jetzt. Doch trotz des vielen Probens ging es nicht. Er musste dasselbe für sie empfinden. Unbedingt.

„Lennox? Wo bist du denn?“

Der Vorhang teilte sich, und Lidia Bobrova trat in den Vorraum. Mit einem Blick erfasste sie die Situation, eilte an Lennox’ Seite. Sie hakte sich bei ihm unter und lehnte sich an ihn, als hinge ihr Leben davon ab, dass er sie stützte.

Lidia war so zerbrechlich wie ein Ackergaul. Groß und grobknochig gebaut, hatte sie ein längliches Gesicht mit einem breiten Mund und slawischen Wangenknochen. Ob Lennox sie hübsch fand?

Erst vor einer Stunde war Glynis der jungen Dame vorgestellt worden. Die Tochter von Mr. Camerons russischem Geschäftspartner hatte sie kaum eines Blickes gewürdigt und ihr ein flüchtiges, gleichgültiges Lächeln geschenkt, das gleiche Lächeln, mit dem sie sie auch jetzt wieder bedachte.

„Was ist denn los, mein lieber Lennox?“

Mein lieber Lennox?

„Papa wünscht dich zu sprechen.“ Mit flatternden Wimpern blickte sie zu Lennox auf. „Du darfst ihn nicht warten lassen. Wie du weißt, will er etwas Wichtiges mit dir bereden.“ Sie tätschelte ihm den Arm. „Die Zukunft vielleicht?“

Wieder presste Glynis die Hände auf ihren Bauch und zwang sich, ruhig zu atmen.

Lidia klammerte sich an Lennox, und alles, was er tat, war, auf sie hinunterzuschauen.

Das grüne Samtkleid der Russin war viel zu schwer für einen schottischen Sommer. Goldkordeln schmückten die geschlitzten Ärmel und den Überrock und waren in ihr weizenblondes Haar eingeflochten. Ihr Reifrock hatte einen Umfang, der den Raum winzig erscheinen ließ. Dennoch schaffte sie es, sich dicht an Lennox zu schmiegen.

Es schickte sich nicht für eine unverheiratete junge Dame, so viele Diamanten an den Ohren und um den Hals zu tragen wie Lidia. Fürchteten diese Russen, man würde sie ihrer Reichtümer berauben, wenn sie sie nicht alle auf einmal anlegten?

„Komm, Lennox.“ Lidias Stimme klang eher klagend als verführerisch.

Der Lennox, den Glynis ihr ganzes Leben lang gekannt hatte, konnte jammernden, quengelnden Frauen nichts abgewinnen.

„Komm und sprich mit Vater, und dann tanzen wir. Du hast es mir versprochen, Lennox. Bitte.“

Lennox blickte auf Lidia hinunter und lächelte. Auf eine Art, von der Glynis immer geglaubt hatte, sie sei für sie reserviert. Eine Kombination aus Geduld und Humor.

Bis zu diesem Moment hatte er sie noch nie behandelt, als sei sie ein Ärgernis oder als fiele sie ihm lästig. Obwohl sie Duncans kleine Schwester war, hatte er sie stets ernst genommen, stets um ihre Meinung gefragt und sogar über seine Zukunftspläne mit ihr gesprochen. Doch jetzt verhielt er sich genauso herablassend wie Lidia.

Der Aufmerksamkeit nach zu urteilen, die die beiden ihr schenkten, hätte sie genauso gut nicht anwesend sein können.

Ein Gefühl von Verlegenheit stieg in ihrer Magengrube auf, breitete sich aus, bis sie glaubte, zu Eis zu erstarren. Sie stand da wie festgefroren, wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken.

„Bitte, liebster Lennox.“

Mit beiden Händen raffte Glynis ihre Röcke, wirbelte herum. Sie musste verschwinden. Sofort. Ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen, floh sie aus dem Vorraum. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Das Letzte, was sie hörte, war Lidias Lachen.

„Ach, kümmere dich doch nicht um das törichte Mädchen! Lass uns lieber zu meinem Vater gehen und anschließend tanzen.“

Zögernd wandte Lennox sich Lidia zu. Da er schon als Junge mit seinem Vater nach Russland gereist war, kannte er sie fast genauso lange wie Glynis.

Lidia blickte lächelnd zu ihm auf, doch in ihrer Miene lag ein merkwürdig berechnender Ausdruck, bei dem sich ihm das Nackenhaar sträubte.

„Ist die Kleine immer so ungezogen?“, fragte sie angelegentlich.

„Nicht dass ich wüsste.“ Auch hätte er Glynis nicht als Kleine bezeichnet, nicht, nachdem sie ihn geküsst hatte.

War ihrer Mutter entgangen, dass ihre Abendrobe einen viel zu großzügigen Ausschnitt hatte? Er war versucht gewesen, ihr das Kleid hochzuziehen, um den hübsch gewölbten Ansatz ihrer Brüste züchtig zu verhüllen. Und war ihr Korsett nicht viel zu fest geschnürt? Er hatte nie bemerkt, wie schmal ihre Taille war.

Mit einem Blick zur Tür fragte er sich, wie er Lidia loswerden konnte. Sie hing schon den ganzen Abend an ihm wie eine Klette, und den wohlwollenden Blicken ihres Vaters nach zu urteilen fand ihr Verhalten die Billigung ihrer Familie.

Cameron & Co. waren dabei, ihre russischen Werften an den Grafen Bobrov zu verkaufen. Sie hatten die Verhandlungen praktisch abgeschlossen, und so kurz vor Ende wollte Lennox nichts aufs Spiel setzen. Aber wenn er Lidia gestattete, in aller Öffentlichkeit so zu tun, als sei ihre Beziehung mehr als eine bloße Bekanntschaft, ging das zu weit.

Wieder lehnte Lidia sich an ihn, und eine Wolke ihres schweren französischen Parfüms wehte ihm in die Nase. Sie hatte sich das Gesicht gepudert und trug Rouge auf den Lippen.

Er musste zusehen, dass er aus dem Vorraum herauskam, ehe jemand der Tatsache, dass Lidia sich mit ihm dort aufhielt, Bedeutung zumaß. Er musste Glynis finden und ihr alles erklären. Sie mussten über den Kuss sprechen.

Wie hätte er auch damit rechnen sollen, dass sie ihn küssen würde? Seine Gedanken überschlugen sich, und er war Lidia fast dankbar, dass sie das Vorzimmer nicht eine Minute früher betreten hatte.

Was hätte er sagen sollen?

Sie hat mich überrumpelt. Eine Erklärung, die ihm niemand geglaubt hätte, obwohl es die Wahrheit war.

Er hätte sie fortschieben sollen, statt den Kuss zu genießen. Immerhin war es Glynis. Glynis mit dem fröhlichen Lachen und den funkelnden Augen und dem schlagfertigen Humor. Glynis, die es geschafft hatte, seine Gedanken durcheinanderzuwirbeln und ihn vollkommen zu verwirren.

Lidia sagte etwas, doch er hörte nicht zu. Stattdessen setzte er sich in Bewegung. Da sie sich regelrecht in seinen Oberarm verkrallt hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich ihm anzuschließen.

Wenn er Glück hatte, würde Duncan ihm aus der Klemme helfen, ihm die besitzergreifende Lidia abnehmen und einen Walzer mit ihr tanzen, sodass er sich auf die Suche nach Glynis machen konnte.

In diesem Moment wusste er noch nicht, dass sieben Jahre vergehen sollten, ehe er sie wiedersehen würde.

1. KAPITEL

Glasgow, Schottland,

Juli 1862

Du bist nach Hause gekommen!“ Lennox ergriff ihre Hand.

Am liebsten hätte Glynis sich losgemacht, aber sie zwang sich, stehen zu bleiben. Überstürzte Gesten konnten zu Missverständnissen führen. Besser, sie gestattete ihm, ihre Hand zu halten, statt eine Szene zu machen, zumal wenn man um sie herum schon zu tuscheln begann.

„Die Tochter der MacIains ist zurück. Nach all den Jahren.“

„Gab es da nicht irgendeinen Skandal im Zusammenhang mit ihr?“

„Ist dies das erste Mal, dass sie sich wieder in der Gesellschaft blicken lässt?“

Erinnerten sich die Leute noch an die Zeiten, da sie Lennox als kleines Mädchen am Rockzipfel gehangen hatte? Mit fünf hatte sie beschlossen, dass er ihr gehörte. Als junge Frau war sie bereit gewesen, ihm zu sagen, dass sie ihn verehrte.

Wie töricht von ihr.

Sie durfte nicht zulassen, dass er wieder Gefühle in ihr hervorrief. Auf gar keinen Fall! Sie war keine neunzehn mehr und auch nicht bis über beide Ohren verliebt.

„Warum bist du nicht früher zurückgekommen?“ Er hielt ihre Hand immer noch fest.

Statt einer Antwort lächelte sie nur. In den Kreisen der Diplomatie hielt man nicht viel von der Wahrheit, und sie hatte sich daran gewöhnt, sie zu umgehen.

Er roch nach Holz und Meer. Immer noch, nach all den Jahren. Jedes Mal, wenn sie das Wort Schiff hörte oder salzige Luft einatmete, konnte sie ihn wieder vor sich sehen mit seinen funkelnden Augen.

Dass er sich bei diesem wichtigen Ereignis mit einem Bartschatten zeigte, war keine Nachlässigkeit seinerseits. Er musste sich mehrmals am Tag rasieren, um die winzigen Stoppeln auf seinen Wangen und seinem Kinn loszuwerden.

„Mein Bartwuchs ist Gottes Wille, glaube ich“, hatte er einmal zu ihr gesagt. „Aber Gott und ich sind in dieser Sache nicht einer Meinung.“

Er überragte sie um mindestens einen Fuß, und seine schwarze Abendkleidung betonte seine Schultern und seine beeindruckende Körpergröße. Dass er sein ganzes Leben lang hart gearbeitet hatte, zeigte sich in der Breite seines Brustkorbs und in seinen muskulösen Beinen. Ihn umgab eine Ausstrahlung von Macht, und in einem Raum voller Menschen war er derjenige, um den sich die anderen scharten und zu dem sie aufblickten wie zu einer Vertrauensperson oder einem Führer.

Lennox Cameron hatte etwas von einem Prinzen, einem umwerfenden Highlander, und er war der Held ihrer törichten Mädchenträume gewesen.

Nicht mehr. Zu viel war seitdem geschehen.

Sie war erwachsen geworden.

Sie musste etwas sagen, um sich von seinem brennenden Blick abzulenken. Irgendetwas, das ihn davon abbrachte, sie anzustarren, als vergliche er sie mit dem ungestümen, wagemutigen Mädchen, das sie einmal gewesen war.

Ob er fand, dass sie alt aussah? Wenn sie lächelte, erschienen feine Fältchen in ihren Augenwinkeln. Die einzigen Hinweise darauf, dass sieben Jahre vergangen waren.

„Was denkst du, hat Glasgow sich sehr verändert?“

Gott sei Dank lockerte er die Atmosphäre mit einer unverfänglichen Frage auf, einer Frage, die sich leicht beantworten ließ. Sie konnte stundenlang über Städte, Länder, Leute oder das Wetter reden. Persönliche Fragen dagegen pflegten sie in Verlegenheit zu bringen.

„Ja, doch, durchaus. Dein Unternehmen scheint zu florieren.“

Hatte sie angemessen reagiert? Duncan zufolge trugen ein Dutzend Docks entlang des River Clyde seinen Namen.

„Das Glück war uns hold.“

Selbst in Washington kannte man seine Schiffswerft. Mitglieder des Kriegsministeriums behaupteten, mit der Unterstützung des Feindes haben Cameron & Co. den Ausgang des Krieges maßgeblich beeinflusst.

Es würde Lennox nicht kümmern, selbst wenn die ganze Welt sich das Maul über ihn zerriss. Er würde immer tun, was er für richtig hielt. Bei einem anderen Mann hätte solches Draufgängertum zweifellos lächerlich gewirkt, nicht so bei Lennox.

„Danke, dass du gekommen bist. Mein Vater wird sich freuen.“

„Duncan erzählte mir von der Erblindung deines Vaters. Es muss schrecklich für ihn sein.“

Lennox zuckte die Schultern. „Der Unfall hat ihm seine Zuversicht nicht nehmen können. Er ist dankbar, am Leben zu sein.“

Eine Bemerkung, die als Antwort nicht mehr als ein Nicken und ein Lächeln erforderte.

„Du hast deinen Ehemann verloren“, stellte er ohne Umschweife fest.

Eine merkwürdige Art, seine Anteilnahme zu zeigen.

„So ist es.“

Ein Unfall, hatte es geheißen. Was für eine schreckliche, sinnlose Tragödie, zumal für eine so junge Frau, wurde getuschelt.

Er drückte ihre behandschuhten Finger. Ihre Hand war eiskalt. Konnte er es durch ihre Handschuhe hindurch spüren? Ahnte er, dass ihre Lippen sich vollkommen taub anfühlten?

Sie waren Fremde und doch auch wieder nicht. Würden es nie wirklich sein. Sie hatten ihre Kinder- und Jugendjahre miteinander verbracht und teilten viel zu viele Erinnerungen.

Er starrte sie an. Sie hätte sich in seinen Augen verlieren können. Aber natürlich war sie inzwischen klüger, älter und hatte an Erfahrung gewonnen.

Sie zwang sich zu einem höflichen Lächeln, einem ähnlichen Gesichtsausdruck wie dem, den sie aufgesetzt hatte, als sie den boshaften, klatschsüchtigen Matronen in Washington vorgestellt worden war. Die heutige Situation erschien ihr nicht minder wichtig.

Er ließ ihre Hand los. Fast hätte sie vor Erleichterung geseufzt, aber sie hielt sich zurück.

Sie durfte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

„Danke für die Einladung.“ Es war eine der routinierten Bemerkungen, die sie ohne nachzudenken bei Gelegenheiten wie dieser anzubringen pflegte. „Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Ich möchte deinen Vater begrüßen.“

Er sagte kein Wort, als sie sich umdrehte und auf das Empfangskomitee zusteuerte.

Die Finger gegen das Zwerchfell gepresst, holte Glynis tief Luft. Nach und nach beruhigte sich ihr Magen, und auch ihr Pulsschlag normalisierte sich. Das hohle Gefühl in ihrer Brust wollte dennoch nicht weichen.

Wenn sie es vermied, in seine Richtung zu blicken, würde sie vielleicht ihre Contenance wiedererlangen.

Sie versuchte, sich zu konzentrieren, auf etwas anderes, irgendetwas, und wenn es die Kronleuchter waren. William Cameron hatte sie aus Frankreich importieren lassen. Hunderte von Kerzen, verteilt auf sechs prächtige dreistöckige Kristalllüster, erhellten den Saal. Unzählige tropfenförmig geschliffene Glasprismen hingen von jeder der drei Etagen herunter und warfen regenbogenfarbene Lichter gegen die Wände.

Der Ballsaal hatte einen Marmorfußboden, der so glatt und glänzend war wie ein Spiegel. Glynis mahnte sich, langsam zu gehen. Auch die Bogenfenster waren blitzblank, spiegelten die leuchtenden Roben der Damen und die strenge schwarze Abendkleidung der Herren. Aus dem Augenwinkel sah sie ihr eigenes Spiegelbild in dem konservativ geschnittenen malvenfarbenen Abendkleid. Rasch wandte sie den Blick ab.

Sie ging an den beiden Büfetttischen vorbei, auf denen reich verzierte Messingaufsätze mit Dutzenden Sorten Kuchen, Keksen, Torten und Süßigkeiten standen. Ein Heer von Hausmädchen brachte Nachschub aus der Küche und stellte sicher, dass es den Gästen auf Hillshead an nichts fehlte. Die Tabletts waren mit ausgesuchten Köstlichkeiten beladen, von geräuchertem Lachs bis Speiseeis, und in den riesigen Kristallschalen fand sich Punsch für jeden Geschmack.

William Cameron hatte das Haus bauen lassen, nachdem die Werft in Russland vor zwanzig Jahren begonnen hatte, Profit abzuwerfen. Mit den Jahren waren Anbauten dazugekommen, und inzwischen konnte Hillshead mit sagenhaften siebenundsechzig Räumen aufwarten.

In den beiden Seitenflügeln und dem Haupttrakt waren vierundzwanzig Schlafzimmer untergebracht, dazu zwölf Badezimmer, eine Reihe von Salons, Wohnzimmern, Musikzimmern und darüber hinaus ein Dutzend Räume, die der Dienerschaft vorbehalten waren, außerdem ein riesiger Speisesaal, ein Frühstückszimmer und das private Esszimmer der Camerons.

„Wie entscheidet ihr, wo ihr esst?“, hatte sie Mary irgendwann einmal gefragt.

Lennox’ Schwester hatte gelächelt. „Meistens im Esszimmer der Familie“, hatte sie erwidert. „Den Speisesaal benutzen wir nur, wenn wir Gäste haben.“

Da Cameron & Co. weltweit Geschäfte tätigten und Hillshead viele ausländische Besucher beherbergte, stand zu erwarten, dass der Speisesaal recht häufig benutzt wurde.

Die Gästeschar an diesem Abend war bei Weitem zu groß, als dass man sie irgendwo anders als im Ballsaal hätte unterbringen können. Ganz Glasgow, so schien es, war eingeladen, um William Cameron, der kürzlich den Kaiserlichen Orden des Heiligen Stanislaus erhalten hatte, die Ehre zu erweisen.

Die eindrucksvolle goldene Medaille mit ihrem himmelblau und scharlachrot gestreiften Band lag in einer Vitrine im Foyer. Russische Würdenträger hatten etwas für Theatralik übrig, und ihre Auszeichnungen zeugten davon.

Das Haus war renoviert worden, seit Glynis das letzte Mal hier gewesen war. Himmelblaue Vorhang- und Polsterstoffe wechselten sich ab mit blassblauen Wandbespannungen. Die Nische, in der sie seinerzeit auf Lennox gewartet hatte, war nicht mehr durch einen Vorhang abgetrennt. Stattdessen standen dort zwei von Farnen flankierte, dunkelrot gepolsterte Sofas.

Die Farbgebung erinnerte an die auf dem Ordensband.

Hatte Lennox die russischen Farben für sein Heim absichtlich gewählt?

Warum war er nicht mit einer russischen Frau verheiratet? Warum nicht mit Lidia Bobrova?

Er hatte überhaupt nicht geheiratet. Ein erfolgreicher und gut aussehender Mann wie er musste eigentlich die beste Partie von ganz Glasgow sein. Warum war er immer noch Junggeselle?

Richards Stimme hallte in ihrer Erinnerung nach. „Neugier ist ein unliebsamer Charakterzug, Glynis.“

Sie hörte jemanden aufkreischen, dann schlossen sich zwei in kastanienbraune Seide gehüllte Arme um sie. Unwillkürlich entwich ihr ein Keuchen, als sie im nächsten Moment fest gedrückt wurde.

„Glynis! Glynis! Glynis! Meine liebe Glynis, endlich bist du wieder da! Grundgütiger, ich habe dich schrecklich vermisst!“

„Charlotte?“

Vorsichtig trat Glynis einen Schritt zurück, dann gab ihre Freundin aus Kindheitstagen sie zögernd frei.

„Du hast dich kein bisschen verändert.“ Charlottes Lächeln strahlte mit den Kronleuchtern über ihren Köpfen um die Wette. „Ich habe fast vierzig Kilo zugenommen, und du bist noch genauso schlank wie früher.“

Ihre Veränderungen waren nicht auf den ersten Blick sichtbar. Früher hatte ihr Charlottes Überschwänglichkeit nichts ausgemacht. Nun waren ihr die Begrüßung und die Komplimente ihrer alten Freundin ebenso peinlich wie die verstohlenen Seitenblicke der Umstehenden.

„Du hast dich genauso wenig verändert“, erwiderte sie leichthin, im Lügen versiert. Washington hatte ihr ausreichend Gelegenheit gegeben, sich in der Kunst der Tatsachenverdrehung zu üben.

Mir ist nichts über den Verlauf des Krieges zu Ohren gekommen, Madam. Aber sicher haben Sie recht, und die Unannehmlichkeiten werden in Kürze zu Ende sein.

In der Tat, Sir, Ihre Gattin ist eine ungemein liebenswürdige, charmante Person. Ich habe ihre Gesellschaft über die Maßen genossen und freue mich darauf, sie bald wiederzusehen.

Nein, werter Gatte, ich beklage mich nicht. Gehöre ich nicht zu den Frauen, die sich außerordentlich glücklich schätzen dürfen?

„Unsinn.“ Charlotte schüttelte den Kopf. „Ich habe vier Kinder und nach der Geburt der letzten beiden jedes Mal zwanzig Kilo zugelegt.“ Sie lachte schallend, und die Leute drehten sich nach ihnen um und starrten sie an.

Musste sie so viel Aufmerksamkeit auf sie ziehen? Eine unangenehme Hitze stieg in Glynis auf und sammelte sich in ihrem Nacken.

„Komm einfach zum Dinner“, fuhr Charlotte unbeeindruckt fort. „Dann lernst du die MacNamaras vollzählig kennen.“

„Ja, sicher“, antwortete Glynis und versuchte, sich an einen Mann namens MacNamara zu erinnern.

Charlottes Blick glitt über ihr malvenfarbenes Kleid, und ihr rundes Gesicht verzog sich vor Mitleid.

„Hast du ihn sehr geliebt? Du bist viel zu jung, um Witwe zu bleiben, Glynis. Es tut mir so leid. Starb er im Amerikanischen Krieg?“

„Nein, bei einem Kutschenunfall.“

Wenn Charlotte ihre Tratschsucht nicht inzwischen abgelegt hatte, würde jede Neuigkeit, die sie ihr erzählte, sich in der Stadt verbreiten wie ein Lauffeuer. Sie würde zusehen müssen, dass man in Glasgow nichts über Richard erfuhr.

Abermals fand sie sich von den braunseiden verhüllten Armen umschlungen.

„Gott mutet uns immer nur so viel zu, wie wir tragen können.“

Wie oft hatte sie sich diesen Satz in den vergangenen neunzehn Monaten anhören müssen? Oft genug, dass sie zur Antwort nur noch nicken konnte.

„Ich fürchte, ich muss los, ich wollte noch Mr. Cameron begrüßen.“

„Du kommst zum Dinner?“

„Aber natürlich“, antwortete Glynis in der Hoffnung, dass Charlotte die Einladung vergaß.

Lächelnd setzte sie sich in Bewegung. Da, schon die zweite Person, der sie heute Abend entkommen war.

Ob es so weitergehen würde? Dass sie auf eine frühere Bekanntschaft nach der anderen stieß und die Vergangenheit sie zu verschlingen drohte?

Sie drehte sich um und erhaschte einen Blick auf Lennox. Wie ein Monarch stand er inmitten einer Gruppe bewundernder Untertanen, allesamt jung und weiblich. Glynis kannte keine von ihnen, aber der hingerissene Ausdruck in den Gesichtern war selbst aus der Entfernung unübersehbar. Ihr war es einst genauso ergangen.

Mit neunzehn, als sie geglaubt hatte, das Leben zu kennen.

Was für eine Närrin sie gewesen war! Was für eine naive Närrin.

Sollten sie doch um ihn herumscharwenzeln. Sie jedenfalls würde sich nicht dazu hergeben. Washington wimmelte vor gut aussehenden, hochgewachsenen, schmalhüftigen Gentlemen mit langen Beinen und breiten Schultern.

Bedauerlicherweise hatte keiner von ihnen es fertiggebracht, ihr Herz höher schlagen zu lassen, wenn er lächelte.

Die flatterhafte, unverblümte Glynis MacIain existierte nicht mehr. Richard hatte sie gut dressiert, hatte die Gattin eines Diplomaten aus ihr gemacht.

Bedauerlich nur, dass sie das Mädchen von damals der Frau, die sie heute war, entschieden vorzog.

2. KAPITEL

Immer wieder innehaltend, um mit den Menschen zu plaudern, die sich zu Ehren seines Vaters versammelt hatten, bahnte Lennox sich seinen Weg durch die Menge.

Dies war Williams Abend, eine Gelegenheit, die anstrengenden Jahre zu feiern, die er in St. Petersburg verbracht hatte.

War der Orden all die Opfer wert?

Lennox fragte sich, welche Erinnerungen die Ehrung in seinem Vater hervorrief. Machte er sich die Jahre, die er in Russland gearbeitet, die Belastungen, die seine Ehe dadurch erlitten hatte, bewusst? Dachte er überhaupt an seine ehemalige Gattin und daran, dass sie ihn betrogen und verlassen hatte? Oder zog sein Vater es vor, sich auf jeden einzelnen Tag zu konzentrieren, ihn so zu nehmen, wie er kam, und die Vergangenheit ruhen zu lassen?

Am besten machte er es genauso.

Trotzdem dachte er an Glynis, als er Miss Oldhams Fragen beantwortete. Ja, er war stolz. Ja, es war ein Erfolg. Nein, sie planten nicht, Schottland noch einmal zu verlassen.

Er hatte genügend Zeit in Russland verbracht, angefangen von den Jahren, da sein Vater ihn gelehrt hatte, wie man Schiffe konstruierte, bis zu der Zeit, da er ihren Bau selbst überwacht hatte. Als die Werften schließlich an den Grafen Bobrov verkauft waren, hatte es keinen Grund mehr gegeben, wieder nach Russland zurückzukehren.

Von nun an würden Cameron & Co. sich auf die Betriebe in Schottland konzentrieren und sich mit etwas ebenso Gewinnbringendem wie Gefährlichem befassen: dem Bau von Eisenwandschiffen für die Konföderierten Staaten von Amerika.

Auf der Suche nach Gavin Whittaker und seiner Frau ließ Lennox den Blick über die Menge schweifen. Er entdeckte ihn in der Nähe des Fensters, inmitten einer Gruppe Gäste, denen er seinen Spazierstock vorführte. Der Griff enthielt einen rasiermesserscharfen Dolch, und Gavin zeigte ihn mit bubenhaftem Stolz herum.

Gott sei Dank war Lucy Whittaker nicht in der Nähe.

Lennox hatte den Whittakers ein Heim geboten, weil er besorgt gewesen war um Gavins Sicherheit. Nach drei Tagen hätte er sie am liebsten in einem Hotel untergebracht.

Als sein Hausgast legte Gavin Whittaker das Gehabe eines Südstaatenfarmers an den Tag, bis hin zu dem flachkrempigen Hut und dem braunen Anzug. An diesem Abend allerdings trug er Schwarz. Sein blondes Haar, fast weiß gebleicht von der Sonne, war länger, als es gerade in Mode war. Die braunen Augen, die die Farbe von Mutterboden im Frühjahr hatten, verrieten Humor und Selbstironie. Wenn er nicht lachte, erzählte er Geschichten aus seiner Heimat Georgia, sehr zum Vergnügen seiner gebannten Zuhörerschaft.

In Wahrheit war Whittaker kein Farmer aus den Südstaaten, sondern Schiffskapitän und, soweit Lennox wusste, ein ziemlich guter. Möglicherweise konnte man ihn als ein bisschen zu waghalsig bezeichnen, aber er war zweifellos mutig. Ein Blockadebrecher musste mutig sein.

Eine Schwachstelle hatte Whittaker: seine Ehefrau. Ihre endlosen Beschwerden schien er nicht zu hören. Für Gavin war Lucy zerbrechlich, scheu und feinfühlig.

Offensichtlich war sie auch zu scheu und zu zerbrechlich, um Angst um ihren Ehemann zu haben. In wenigen Wochen würde Gavin großer Gefahr ausgesetzt sein als Kapitän eines Schiffs, das die Seeblockade der Nordstaaten durchbrechen sollte. Wenn Lucy um ihren Ehemann besorgt war, so zeigte sie es jedenfalls nicht.

Für sie war die Reise nach Schottland eine Art Hochzeitsreise, die jedoch mehr und mehr zur Enttäuschung geriet. Nichts an Schottland gefiel ihr, weder das Essen noch das Wetter noch die Mundart der Schotten.

Ihre Verachtung für Schottland entging Lennox nicht. Sie war der höhnischen Haltung, die die Engländer seinem Land entgegengebracht hatten, nicht unähnlich. Er konnte den Hass seiner Vorfahren und ihre Kriegslüsternheit gut verstehen. Jeden Abend nach dem Dinner fühlte er das Gleiche.

Morgens nahm er Whittaker mit auf die Werft. Zu seiner Überraschung machte der Mann brauchbare Vorschläge für Veränderungen an der Raven, und seine Ideen waren es wert, bei zukünftigen Blockadebrechern ausprobiert zu werden.

Lucy selbst versuchte, Lennox wo immer möglich aus dem Weg zu gehen. Vielleicht würde er Eleanor MacIain überreden können, die Frau unter ihre Fittiche zu nehmen, ihr Glasgow zu zeigen und sie mit irgendetwas zu beschäftigen.

Nur noch vierzehn Tage, dann hatte er seinen Frieden wieder. Zu dem Zeitpunkt würden Gavin und seine englische Braut mit einer Rumpfmannschaft nach Nassau in See stechen. Zwei weitere Wochen ließ sich das gerade noch ertragen.

„Er ist sehr müde“, sagte Mary, die sich bei ihm eingehängt hatte, in seine Gedanken hinein.

Er warf seiner Schwester einen Blick zu. Seit dem Unfall ihres Vaters machte er sich unentwegt Sorgen um sie. Anspannung lag in ihren Zügen und ließ das Weiße in ihren grünen Augen trüb erscheinen. Ihr schwarzes Haar wirkte stumpf und ihre Miene teilnahmslos. Sie war eine junge Frau, aber sie bewegte sich wie jemand, der des Lebens überdrüssig war.

Sie verhielt sich viel eher wie eine Witwe als Glynis. Der Gedanke bestürzte ihn, weil er den diskreten Abstand missachtete, den sie sich gegenseitig zugestanden.

„Fühlst du dich krank, Mary?“

Blinzelnd sah sie zu ihm hoch, unübersehbar überrascht von der Frage.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung, von dem du mir nichts erzählt hast?“

Sie machte den Mund auf, um zu sprechen, dann schloss sie ihn wieder und schüttelte den Kopf.

„Bist du sicher?“

„Aber ja.“

Um ihren Mund erschien ein zittriges Lächeln, das ihn beruhigen sollte. Vergeblich.

„Kümmere dich um Vater“, sagte sie, ehe er weiterfragen konnte. „Er sollte sich ausruhen.“

Immerhin eine Antwort und, wie er vermutete, die einzige, die er bekommen würde.

Sein Blick glitt zu William. Ermüdung stand in seinen Zügen, obwohl er seinen Gratulanten zulächelte.

Als er seinen Vater erreichte, beugte er sich zu ihm und flüsterte: „Bist du einverstanden, wenn ich sie dir alle vom Hals schaffe, Vater?“

Williams Lächeln vertiefte die senkrechten Falten um seinen Mund.

„Noch nicht, mein Junge.“ Mit blicklosen grünen Augen starrte er in den Ballsaal, als könne er die lange Reihe von Leuten, die ihn begrüßen wollten, sehen. „Bewunderung kann man nie genug bekommen, findest du nicht auch?“

Mit festem Griff umfasste Lennox die Schulter seines Vaters und war ein wenig alarmiert, als er Knochen fühlte, wo ein Muskel hätte sein sollen. Gleichwohl lächelte er, als er sich abwandte, entschlossen, Mary zu überreden, ihren Vater nach Rothesay auf der Isle of Bute zu bringen. Die Heilwasserbehandlung würde ihnen beiden guttun.

„Ein rauschendes Fest, das du da gibst, Lennox.“

Er wandte sich um. Gavin stand hinter ihm, einen vollen Teller mit Essen in der einen Hand, ein Glas Punsch in der anderen und den allgegenwärtigen Spazierstock am Arm hängend.

„Den Lachs kann ich empfehlen.“ Gavin hielt ihm auffordernd den Teller hin. „Aber lass die Finger vom Haggis.“

Lennox hob abwehrend die Hand. „Nein, danke.“

„Ich habe versucht, Lucy dazu zu bewegen, etwas zu essen, aber sie ist nicht hungrig, das arme Kind.“

Whittaker machte Anstalten, sich zur gegenüberliegenden Seite des Ballsaals zu begeben, wo eine Reihe Sofas aufgestellt war, damit die älteren Gäste es bequem hatten. „Ich dachte, es wäre ein Spaß für sie, sich mit den anderen Frauen dort drüben zu unterhalten, aber sie ist ein scheues kleines Ding, und diese vielen Leute überwältigen sie. Ich glaube, sie ist hinauf in unser Zimmer gegangen.“

Wenigstens würde sie auf die Art nicht die Gäste beleidigen, die zu Ehren seines Vaters anwesend waren.

Lennox sah sich im Ballsaal um, entdeckte seinen besten Freund und entschuldigte sich.

Duncans Schultern in dem schwarzen Abendanzug wirkten angespannt, vor Nervosität klopfte er mit der Schuhspitze auf den Boden.

Lennox setzte sich in Bewegung, nahm Glückwünsche entgegen, beantwortete Fragen, lächelte und dankte seinen Gästen, während er sich seinen Weg zu Duncan bahnte.

„Steht es so schlecht?“, fragte er seinen Freund, als er bei ihm ankam.

„Schlechter könnte es kaum stehen.“ Duncan fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

Er wirkte abgehärmt und gehetzt. Wahrscheinlich hatte er nächtelang nicht geschlafen.

Den Glasgower Textilfabriken fehlte das Rohmaterial. Die Blockade der Konföderierten, die sich für Cameron & Co. als so gewinnbringend erwies, brachte die schottische Textilindustrie an den Rand des Ruins.

Lennox schob Duncan in die Halle hinaus und die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, in Richtung Bibliothek. Dort konnten sie ungestört miteinander sprechen.

Sie betraten den Raum, und er bedeutete dem Freund, sich zu setzen. „Wirst du mir gestatten, dir zu helfen?“

Mit einer ordentlichen Finanzspritze konnte sich die Fabrik über Wasser halten, bis ein neuer Lieferant für Baumwolle aufgetan war.

Duncans Lippen bogen sich in einem freudlosen Lächeln nach oben. „Indem du das Ende des Krieges herbeizauberst? Wenn du das kannst, gern. Ansonsten? Nein.“

Sie waren von Kindesbeinen an Freunde, vertrauten einander wie Brüder. An dem Tag, als das erste Schiff, das er gebaut hatte, vom Stapel gelaufen war, hatte Duncan an seiner Seite gestanden. Als Duncan das Ruder in der Textilfabrik übernommen hatte, hatte er das Ereignis mit Lennox gefeiert.

Obwohl ihre Lebenswege sich getrennt hatten, hätte Lennox seinem Freund gern geholfen, doch Duncans Stolz ließ es nicht zu. Er fragte sich, wie er sich verhalten hätte, wäre die Situation umgekehrt gewesen, und stellte fest, dass er nur hoffen konnte, dass er mehr Geschäftssinn besessen und die Hilfe des Freundes angenommen hätte.

Die Aussicht, dass die Fabrik der MacIains wohl schließen musste, wenn nicht ein Wunder geschah, war nur schwer zu ertragen.

Statt Schiffe für die Marine der Konföderierten zu bauen, sollte er vielleicht besser seine eigene Flotte auf die Beine stellen, um die Blockade zu brechen.

„Wann wird das neue Schiff fertig?“ Duncan nahm auf einem der Sessel vor dem kalten Kamin Platz.

„In ungefähr zwei Wochen.“ Lennox setzte sich seinem Freund gegenüber. „Die Änderungen am Schiffsrumpf erwiesen sich als schwierig, aber wir haben sie hingekriegt.“

Sie sprachen über geschäftliche Angelegenheiten, tauschten Neuigkeiten über den Krieg aus. Sowohl die Sache der Nordstaaten als auch die der Konföderierten rief leidenschaftliche Anhänger auf den Plan. Beide Seiten im amerikanischen Bürgerkrieg konnten gute und weniger gute Gründe vorweisen. Lennox lehnte Sklaverei ab. Er hatte etwas gegen Misshandlungen und Schikanen. Im Übrigen würden die Konföderierten seiner Einschätzung nach am Ende verlieren. Sie verfügten nicht über die Wirtschaftskraft der Nordstaaten.

Duncan war es vermutlich vollkommen egal, wer gewann, solange seine Fabrik Baumwolle geliefert bekam.

Viele Schotten kämpften als Freiwillige im amerikanischen Bürgerkrieg. Einige wenige offizielle Schreiben waren bei Eltern und Ehefrauen eingetroffen, mit Todesnachrichten, die besagten, dass ein geliebter Sohn, Ehemann, Bruder oder Vater im Dienst einer anderen Nation gefallen war und für immer in amerikanischer Erde ruhen würde.

Erst gestern hatte Lennox erfahren, dass eins seiner Schiffe, die Elizabeth, vor der Küste von North Carolina auf Grund gelaufen war. Die Besatzung hatte sie in Brand gesetzt, um der Gefangennahme zu entgehen, doch leider vergebens. Vermutlich hatte man die Männer in ein Nordstaaten-Gefängnis geworfen.

Es sah so aus, als irre die Mehrheit mit ihrer Meinung, dass der Konflikt nur von kurzer Dauer sein würde. Der Krieg konnte sich über Jahre hinziehen – vorteilhaft für sein eigenes Unternehmen und ein Desaster für das von Duncan.

„Du willst wirklich nicht, dass ich dir unter die Arme greife?“

Duncan schüttelte den Kopf. Seine zusammengekniffenen Augen warnten Lennox, nicht noch einmal zu fragen.

Die schottische Dickköpfigkeit war sprichwörtlich, sein Vater pflegte gern darüber zu spotten. Lennox hätte beinahe laut aufgelacht. William Cameron war der sturste und starrsinnigste Schotte, den er kannte.

Da er sich bereits auf ein Minenfeld begeben hatte, konnte er sein Sündenregister genauso gut verlängern und nach Glynis fragen.

„Ich bin froh, dass du es geschafft hast, deine Schwester zu überreden, die Einladung anzunehmen.“

Duncan lächelte schief, er schien den Mut des Freundes zu schätzen.

„Und ich freue mich“, fuhr Lennox fort, „dass du deine Einsiedlerklause verlassen hast.“

„Ich wollte die Gelegenheit unter keinen Umständen verpassen“, erwiderte Duncan schulterzuckend. „Ich betrachte deinen Vater auch ein bisschen als meinen. Wie geht es ihm überhaupt?“

„Ich mache mir Sorgen um ihn.“ Lennox zog die Stirn in Falten. „Er wird immer hinfälliger.“

Irgendwann würde er seinen Vater verlieren, genau wie Duncan vor ein paar Jahren seinen. Die Falten auf Lennox’ Stirn vertieften sich. Mit William zusammenzuarbeiten, war wichtig für ihn. Nicht nur wegen der großen, unschätzbar wertvollen Erfahrung, die sein Vater ihm voraushatte, sondern auch, weil er ihn aufrichtig liebte.

„Findest du, dass Glynis sich sehr verändert hat?“, fragte er nach einem kurzen Moment des Schweigens.

„Und du?“

Ihr herzförmiges Gesicht und die sanften blauen Augen waren so faszinierend wie eh und je. Ihr Mund, mit der vollen Unterlippe und dem hübschen Amorbogen an der Oberlippe, hatte seinen Blick schon immer wie magisch angezogen. Trotzdem wirkte Glynis anders, skeptischer. Vielleicht war es aber auch die eigentümliche Steifheit ihrer Haltung.

Das Mädchen, das er einmal gekannt hatte, die unbändige Glynis, war ständig in Bewegung gewesen, so als habe sie es kaum erwarten können, ihr Leben zu leben. Die Frau, die sie nun war, machte auf ihn den Eindruck einer spröden Statue, die jeden Moment zerspringen konnte.

„Ja, ich finde in der Tat, dass sie sich verändert hat“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Sie wirkt abweisend. Und sie ist so überaus höflich. Ihr Lächeln erreicht ihre Augen nicht.“

Die Frau, die heute Abend anwesend war, hatte Glynis’ Gesichtszüge, ihre blauen Augen, ihr rotbraunes Haar und ihre Art, sich zu bewegen, aber nicht ihre Persönlichkeit. Das aufgeweckte, intelligente Mädchen, das er sein ganzes Leben lang gekannt hatte, war verschwunden, als habe man seine Lebensgeister zu einer flackernden kleinen Flamme heruntergedreht.

„Sie ist Witwe. Sie hat ihren Gatten verloren.“

Trauerte sie noch um den Mann? Es war eine Frage, die ihm nicht zustand. Sicher hatten die beiden gut zueinandergepasst, eine Verbindung von Herz und Verstand.

Dummes Geschwätz! Er glaubte nichts davon.

Einen Monat nach ihrer Abreise nach London war sie verheiratet gewesen. Kaum genug Zeit, um einen völlig Fremden wirklich kennenzulernen.

Warum die schnelle Eheschließung? War etwas vorgefallen, das die Gerüchteküche angeheizt hatte? Hatte sie noch jemanden so geküsst wie ihn, ohne Vorwarnung, dafür mit umso mehr Inbrunst?

Der Abend, an dem er sie zuletzt gesehen hatte, würde ihm ewig in Erinnerung bleiben.

Sie war neunzehn gewesen, hatte ein Kleid getragen, dessen ungewöhnlich zarter Farbton ihren Teint wie rosig überhauchtes Porzellan hatte wirken lassen.

„Sie ist nicht mehr die, die sie einmal war“, sagte Duncan in seine Gedanken hinein.

Er blickte den Freund an. „Was meinst du damit?“

„Sie hat Dinge erlebt, die wir uns nicht einmal vorstellen können.“

Sie war sieben Jahre lang mit jemand anderem verheiratet gewesen.

„Sie ist schön.“ Sobald er die Bemerkung gemacht hatte, fragte er sich, ob dies nicht ein Fehler gewesen war.

Sie hatte vor ihm gestanden, nicht mehr die Glynis, die er einmal gekannt hatte, sondern ein Rätsel, eine Frau, die ihn beschäftigte und den Wunsch in ihm weckte herauszufinden, in welcher Weise sie sich verändert hatte.

Wer war Glynis heute?

3. KAPITEL

Unauffällig glitt Glynis in den Kreis um ihre Mutter und lächelte den beiden Frauen, die sich wegen irgendetwas bei Eleanor beschwerten, zu.

Eleanor MacIain war die freundlichste Frau der Welt – eine Tatsache, die Glynis umso mehr schätzte, seit sie die Washingtoner Gesellschaft kannte. Die boshaften Wortführerinnen der amerikanischen Hauptstadt waren Raubvögel, verglichen mit ihrer sanften Mutter.

Es sei denn, es ging um ihre Kinder. Dann konnte Eleanor zur Löwin werden.

Anscheinend gab es unter den vielen Menschen, die bei ihr stehen blieben, um sie zu begrüßen, keinen einzigen Fremden.

Glynis lächelte, wenn sie bemerkte, dass sie gemustert wurde. Ihr war bewusst, dass sie bei sämtlichen Anwesenden Gegenstand wilder Spekulationen war. Glynis MacIain, die nach Glasgow zurückgekehrt war. Glynis, die Witwe. Sie hat lange in Washington gelebt, müssen Sie wissen.

Hatte Charlotte schon angefangen, über sie zu reden?

Ihre Hände zitterten immer noch. Glynis umklammerte ihr Retikül, zwang sich, tief zu atmen, und merkte, dass ihr Lächeln zu einer Grimasse gefror.

Dabei hätte sie sich gratulieren sollen dafür, dass sie sich in die Glasgower Gesellschaft getraut hatte. Auf die Begegnung mit Lennox war sie nicht vorbereitet gewesen, aber wenigstens hatte sie sie nun hinter sich.

Mit fünf Jahren hatte sie beschlossen, dass er ihr gehörte, hatte ihm einen Platz in ihrem Herzen gegeben, und dort war er fortan geblieben. Vieles hatte sich geändert in den Jahren, die seitdem vergangen waren. Das junge Mädchen, das so tiefe, aufrichtige Gefühle empfunden hatte, tat ihr leid.

„Was ist los, Liebes?“, hörte sie ihre Mutter fragen.

Sie blinzelte, hatte Mühe, ihre Gedanken von der Vergangenheit zu lösen.

„Nichts.“

„Du wirkst so traurig. Musst du an Richard denken?“

Es wäre ein Leichtes gewesen, zu nicken und sich vom Mitgefühl ihrer Mutter einhüllen zu lassen. Aber es widerstrebte ihr, Eleanor zu belügen. „Nein. An mich, als ich fünf war.“

Eleanor lächelte. „Du warst so ein süßes kleines Mädchen. Und du bist eine schöne Frau.“

Ihre Mutter war stets ihre entschiedenste Verteidigerin gewesen, selbst nach jenem Abend vor sieben Jahren. Sie war aus dem Vorzimmer geflohen, zu ihrer Kutsche gehastet, und dort hatte ihre Mutter sie gefunden.

„Ich will Lennox Cameron nie wiedersehen.“ Sie war wie versteinert gewesen.

Ihre Mutter hatte sie in den Arm genommen und sie an sich gedrückt. „Das meinst du nicht ernst, Liebes.“

Sie hatte die Szene im Vorraum geschildert, ohne freilich den Kuss zu erwähnen.

„Sie klebte förmlich an ihm, und er ließ es zu.“

Ihre Mutter hatte genickt. „Es geht das Gerücht, dass er die Tochter des Grafen heiraten wird.“

Bei den Worten war ihr das Herz gebrochen.

„Es wäre eine wünschenswerte Verbindung. Die beiden Familien kennen einander seit Jahren, und die Camerons wollen ihre Werft in St. Petersburg an die Russen verkaufen.“

Sie hatte es nicht geschafft, die Tränen zurückzuhalten.

„Es tut mir so leid, mein Schatz“, hatte Eleanor geflüstert.

Am nächsten Tag war ihre Mutter mit ihr nach London gefahren. Nach zehn Tagen hatte sie der Gedanke, nach Glasgow zurückkehren zu müssen, so entsetzt, dass sie Eleanor angefleht hatte, in England bleiben zu dürfen. Widerstrebend hatte ihre Mutter zugestimmt, sie bei ihren englischen Verwandten zu lassen, und drei Wochen später hatte Glynis ihren Eltern einen Brief geschrieben und sie informiert, dass sie heiraten würde.

Richard war ihr wie die Antwort auf all ihre Gebete erschienen, aber es gab wohl Gebete, die besser nicht erhört worden wären. Die man nicht einmal hätte aussprechen sollen.

Durch den doppelten Bogengang am anderen Ende des Ballsaals gelangte man hinaus auf die Terrasse. Die Dunkelheit draußen war verführerisch, genau wie die frische Luft und die Möglichkeit, ein wenig allein zu sein.

Sobald sie mit Mr. Cameron gesprochen hatte, würde sie sich hinausschleichen.

Die Gäste standen dicht gedrängt, das Stimmengewirr wurde von Moment zu Moment lauter. Immer wieder erklang Gelächter, und ihr wurde warm, als sie es hörte.

Schließlich hatte sie Mr. Cameron erreicht. Er saß auf einem thronartigen Sessel, die linke Hand ruhte auf dem geschnitzten Löwenkopf am Ende der Armlehne. Das weiße Haar hatte er, seit sie ihn kannte, und der Haarschopf saß wie ein Busch Ginster auf seinem Kopf. Wie Lennox war er glatt rasiert. Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

„Ich bin es, Glynis, Mr. Cameron.“ Sie drückte ihm die mit Altersflecken übersäte Hand.

„Glynis MacIain. Endlich wieder daheim. Wie schön, dass du gekommen bist. Hast du dich sehr verändert, kleine Glynis?“

Bei der Anrede lächelte sie. Er hatte sie oft so genannt. Besonders, wenn sie durch das Haus gerannt war.

„Nicht äußerlich“, erwiderte sie immer noch lächelnd. „Ich bin ein wenig älter und klüger geworden.“

„Sind wir das nicht alle? Was für ein Parfüm ist das, das du da trägst? Es riecht angenehm. Würzig und gleichzeitig süß.“

„Es heißt Spring Morning.“

Eines der wenigen Dinge, die Richard ihr nicht hatte abgewöhnen können.

Sie lächelte Mary zu, die hinter ihrem Vater stand. Nachdem sie ihm gratuliert hatte, küsste Glynis Mr. Cameron auf die Wange, dann ging sie.

Ihre Mutter stand bei Mrs. MacKenzie, wie sie mit einem kurzen Blick entdeckte. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft. Glynis steuerte auf die Terrassentüren zu und floh in die Nacht.

Hillshead stand auf einem Hügel, von dessen Kuppe aus man ganz Glasgow überblickte. Der River Clyde funkelte im Mondlicht. Zu ihrer Linken, ein Stück den Hang hinunter, aber immer noch im West End, lag ihr Zuhause, nicht weit von der Textilfabrik, die den Namen ihrer Familie trug.

Weiße Rauchwolken, die noch immer in den Nachthimmel stiegen, legten Zeugnis davon ab, dass die Stadt niemals schlief.

Edinburgh mochte hübscher und älter sein, aber Glasgow war mächtig. Es erinnerte sie an ein schottisches Fabelwesen, einen mythischen Dämon, der zum Leben erwacht war und London auf dem Gebiet der Industrie und des Handels schon bald den Rang ablaufen würde. Die Stadt erstreckte sich vom River Clyde bis Dumbarton und darüber hinaus. In ihren Mietskasernen hausten Menschen in verzweifelter Armut, und die Reichen lebten im florierenden West End.

Glasgow war ihre Heimat.

Hier gab es keine Moskitos, die jeden Millimeter entblößter Haut attackierten. Keine Dämpfe aus den Sümpfen, deren schwefliger Geruch in ihrem Haar und in ihren Kleidern hing. Der Sommer war mild, nicht drückend heiß wie in Washington.

Glasgow war eine Industriestadt, kein politisches Machtzentrum. Hier lag Handel in der Luft anstelle von Intrigen.

Sie lehnte sich gegen die Terrassenbrüstung und starrte hinunter auf die Gartenanlagen von Hillshead. Von hier oben hatte man einen wunderbaren Blick auf die verschlungenen Pfade und die Bank, an die sie sich noch aus den Tagen ihrer Kindheit erinnerte. Die Hütte des Gärtners war abgerissen und als Cottage neu errichtet worden. Früher hatte Hillshead vier Angestellte beschäftigt, die sich um die Gemüse- und Blumengärten gekümmert und Büsche und Bäume zurückgeschnitten hatten. Ob es immer noch so viele waren? Oder hatte Lennox sogar zusätzliche Gärtner eingestellt?

Eine Bewegung zu ihrer Linken zog ihren Blick an. Sie zuckte erschrocken zusammen, als sie sah, dass ein Schatten auf sie zuglitt.

„Ich dachte mir, dass es sich lohnen würde, ein wenig Geduld zu haben.“

Sie drehte sich langsam um, jeder Sekundenbruchteil schien sich zu Stunden zu dehnen. Der Abend war anstrengend, einen anderen Grund konnte es nicht dafür geben, dass der vertraute Klang der männlichen Stimme solches Entsetzen in ihr hervorrief.

Grundgütiger, mach, dass ich mich geirrt habe!

„Du musst einfach warten, sagte ich mir, bis Glynis sich nach draußen begibt. Und das wird sie unweigerlich tun, denn sie hasst Menschenansammlungen.“

Sie wandte sich wieder zu der Terrassenbrüstung um, umklammerte sie fest mit beiden Händen. Das Mädchen, das sie einmal gewesen war, hätte angesichts des Gefühls von Hilflosigkeit, das in ihr aufstieg, vermutlich geschrien. Oder den Mann, der sich ihr lautlos genähert hatte, mit Fäusten bearbeitet.

Sie stellte ihn sich vor, wie er auf dem Boden lag und sich vor Schmerzen wand. Während sie selbst ihn beobachtete, mit angehaltenem Atem, ungefähr so, wie er das Leben um sich herum zu beobachten pflegte.

Vor langer Zeit hatte sie ihm einmal vorgeworfen, seine gleichgültige Art, durchs Leben zu gehen, unberührt von dem Schmerz, den er anderen achtlos zufügte, erinnere sie an eine Katze.

Er hatte unbeeindruckt mit den Schultern gezuckt. „Du bist kein Vögelchen, das Angst haben müsste vor mir.“

Welch ein Irrtum!

Er stand viel zu dicht, weniger als einen Meter entfernt. Am liebsten hätte sie die Hände gehoben, um ihn davon abzuhalten, noch näher zu kommen. Aber Worte würden genügen müssen.

„Was haben Sie hier zu suchen, Baumann?“

„Matthew. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen mich Matthew nennen?“

„Wir sind nicht in Washington.“

Er lachte in sich hinein und trat aus der Dunkelheit heraus wie ein Ungeheuer aus seiner Höhle.

„Verfolgen Sie mich?“

„Im Gegenteil, Glynis. Sie verfolgen mich. Ich halte mich schon seit sechs Wochen in Ihrem schönen Land auf.“

Darum also war sie ihm in den letzten Monaten in Washington nicht begegnet. Darum hatte er ihr in der Zeit vor ihrer Abreise nicht unablässig nachgestellt.

„Warum sind Sie hier, Baumann?“, wiederholte sie ihre Frage.

„Ich mag Ihr Land.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ihr Schotten seid auf eine geradezu erbitterte Weise unabhängig, genau wie die New Yorker. Lieber spuckt ihr jemandem ins Gesicht, als Befehle entgegenzunehmen. Dafür würdet ihr sogar Gesetze brechen.“

„Wollen Sie mir eine Moralpredigt halten, Baumann?“, fragte sie bissig. „Das wäre ein wenig verlogen, oder nicht?“

„Ach Glynis, Sie billigen nicht, dass ich hier bin“, erwiderte er in einem vorgetäuscht gekränkten Ton. „Wie betrüblich, dass Sie mir die viel gepriesene schottische Gastfreundlichkeit vorenthalten wollen.“

„Es gibt hier nichts für Sie zu holen, Baumann.“

Sie blickte in die Dunkelheit, betete um … Mut? Zuversicht? Stärke? Irgendetwas, das sie dieses jähe durchdringende Entsetzen aushalten ließ, das Baumanns Gegenwart in ihr verursachte. Es konnte einfach nicht sein, dass er hier war. Es durfte nicht wahr sein.

„Im Gegenteil.“ Seine Stimme klang hart. „Meiner Meinung nach ist diese Stadt, Ihre schottische Heimatstadt, im Augenblick die wichtigste Stadt der Welt.“

Langsam drehte sie sich zu ihm um.

„Unser Gastgeber ist Schiffbauer, Glynis. Was glauben Sie, woran er arbeitet? Einer Barkasse für Vergnügungsfahrten unterm Sternenhimmel? Einem Raddampfer, der auf dem Potomac kreuzt, wenn er fertig ist? Nein, er baut ein Schiff, das als Blockadebrecher eingesetzt werden soll.“

„Hat das Kriegsministerium Sie aus diesem Grund hergeschickt?“

Er trat in den Lichtkegel, der durch eines der Fenster des Ballsaals fiel. Sein dichtes goldbraunes Haar lockte sich auf seinem Kragen. Sein Oberlippen- und Kinnbart unterstrichen seine vollen Lippen. In seinen dunklen Augen lag der übliche Ausdruck von Spott.

Die Pockennarben auf seiner Nase erinnerten an die Stiche einer Naht. Als sie ihm vor drei Jahren das erste Mal begegnet war, hatte sie sie angestarrt. Als es ihr bewusst geworden war, hatte sie errötend beiseite geblickt.

„Stacheldraht“, hatte er grinsend erklärt.

Verwirrt hatte sie ihm ins Gesicht geschaut. „Pardon?“

„Ein Sturz, der auf einer Rolle Stacheldraht endete“, hatte er erläutert. „Es ist schon lange her, aber die Narbe erinnert mich für alle Zukunft daran, nicht unbeherrscht zu sein.“

„Und Sie sind unbeherrscht, Mr. Baumann?“

„Allerdings, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, Mrs. Smythe.“ Ein Lächeln hatte um seine Mundwinkel gezuckt. „Immer noch.“

Sie hatte ihn niemals unbeherrscht erlebt. Im Gegenteil, ihrer Meinung nach war er absolut kontrolliert und berechnend. Er pflegte die Menschen in seiner Umgebung mit einem einzigen Blick einzuschätzen.

An diesem Abend trug Baumann Schwarz wie die meisten Gentlemen auf dem Ball. Er war gesellschaftlich gewandt, selbst Walzer tanzte er gut. Mehr als einmal hatte er sie so schnell auf dem Parkett herumgewirbelt, dass ihr die Luft weggeblieben war.

„Gehen Sie.“ Was hätte sie darum gegeben, über ausreichend Macht zu verfügen, um ihn mit einer Handbewegung des Landes verweisen zu können. „Sie sollten nicht hier sein.“

„Ganz im Gegenteil, dies ist genau der Ort, denke ich, an dem ich mich aufhalten sollte.“

„Es war ein Fehler von Ihnen, nach Glasgow zu reisen“, beharrte sie finster. „Sie hätten besser bleiben sollen, wo Sie herkommen! Hier zu spionieren wird kein gutes Ende nehmen, Baumann.“

Sie raffte ihre Röcke, ging an ihm vorbei zu den Terrassentüren. Das Gefühl des Entsetzens in ihrem Inneren verstärkte sich.

Duncan wollte allein bleiben. Lennox ließ ihn in der Bibliothek und kehrte in den Ballsaal zurück. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge, begrüßte Gäste, mit denen er noch nicht gesprochen hatte, unter anderem auch Eleanor MacIain.

„Danke, dass du gekommen bist.“ Er nahm ihre behandschuhten Hände in seine.

„Aber ich bitte dich, Lennox, ich hätte die Gelegenheit um keinen Preis verpassen wollen. Es freut mich so sehr, dass unser lieber William eine solch hohe Ehrung erhalten hat. Ich wünschte nur, Hamish hätte es noch erleben können.“

Lennox nickte. Hamish MacIain und seinen Vater hatte eine lebenslange Freundschaft verbunden. Hamishs Tod war auch für die Bewohner von Hillshead ein Verlust.

„Ein wunderbares Fest.“ Eleanor blickte sich um. „Das hast du großartig gemacht.“

„Es ist mehr Marys Verdienst als meines“, erwiderte er nüchtern. Seine Schwester hatte Wochen damit verbracht, diesen Abend vorzubereiten. Die letzten Tage waren von hektischer Aktivität erfüllt gewesen. „Ich suche Glynis“, wechselte er das Thema.

„Sie wollte auf die Terrasse hinaus, ein wenig frische Luft schnappen.“ Lächelnd legte Eleanor ihm die Hand auf den Arm und gab ihm einen sanften Schubs. „Du siehst aus, als könntest du auch ein wenig frische Luft gebrauchen.“

Er wusste nicht, was er sagen sollte, nickte Eleanor zu und ging in Richtung der Terrassentüren davon.

Doch jeder Gedanke daran, seine Unterhaltung mit Glynis fortzusetzen, endete abrupt, als er sie mit Matthew Baumann sprechen sah.

Wusste sie nicht, dass er ein Agent der Nordstaaten war? Baumann hatte vom ersten Augenblick an kein Hehl daraus gemacht. Vor etwa einem Monat war er auf der Werft erschienen, um sich vorzustellen.

„Ich bin Vertreter der Regierung der Vereinigten Staaten, Mr. Cameron“, hatte er gesagt. „Und in dieser Funktion muss ich wissen, ob Sie irgendwelche Aufträge der Konföderierten angenommen haben.“

Anschließend hatte Baumann ein Dokument präsentiert, ein Einführungsschreiben, das vollkommen echt aussah und absolut nutzlos war. Lennox interessierte es nicht, wen Baumann vertrat. Wenn er glaubte, er könne einfach bei Cameron & Co. hereinspazieren und vertrauliche Einzelheiten über die Geschäftsbeziehungen des Unternehmens fordern, täuschte er sich.

„Mr. Baumann.“ Lennox hatte den Amerikaner mit festem Blick angeschaut. „Ich bin sicher, Sie werden verstehen, dass ich geschäftliche Angelegenheiten grundsätzlich nicht mit Außenstehenden erörtere.“ Selbst seine Angestellten erfuhren von den Projekten, über die er verhandelte, erst dann, wenn der Vertrag unter Dach und Fach war.

Ein Lächeln hatte um den Mund des Amerikaners gezuckt. „Mit anderen Worten: Sie lehnen es ab, mir Informationen zu geben.“

„Weil sie Sie nichts angehen, Mr. Baumann.“

„In diesem Punkt irren Sie, Mr. Cameron. Sie gehen mich etwas an. Sie gehen das Kriegsministerium etwas an. Sie gehen mein Land etwas an.“

Der Mann plusterte sich auf wie ein Kampfhahn.

„Das mag sein, aber ich bin Schotte, Mr. Baumann. Cameron & Co. ist eine schottische Firma. Und wir sind neutral.“

Am dreizehnten Mai des vergangenen Jahres hatte Königin Victoria eine Neutralitätserklärung erlassen, die es britischen Untertanen verbot, im amerikanischen Bürgerkrieg Partei zu ergreifen.

Lennox war stolz darauf, Schotte und nur ein ganz kleines bisschen Brite zu sein. London brauchte nicht über alles Bescheid zu wissen, was er tat.

Einen Moment lang musterte Baumann ihn schweigend. „Wir wüssten es zu schätzen, Mr. Cameron. Sehr zu schätzen.“

Lennox war versucht, dem Mann zu sagen, wo er sich seine Wertschätzung hinstecken konnte, doch stattdessen lächelte er.

„Ich bin weder für Bestechung noch für Nötigung empfänglich, Mr. Baumann.“

„Es verwundert mich, dass Sie meine Worte so auslegen, Mr. Cameron.“

„Wie gefällt Ihnen Ihr erster Besuch in Glasgow?“ Hoffentlich, so hatte er gedacht, versteht er den Wink. Er würde dem Agenten der Unionsstaaten keine Informationen liefern. Weder jetzt noch in Zukunft.

„Es ist eine interessante Stadt“, hatte Baumann reserviert erwidert.

Der einzige Grund, weshalb Lennox ihn für diesen Abend eingeladen hatte, war, dass er wissen wollte, was Baumann im Schilde führte, mit wem er in Verbindung stand. Wer war sein Kontaktmann in Glasgow?

Damit, dass der Amerikaner mit Glynis reden würde, hatte er nicht gerechnet. Auch nicht damit, dass die beiden sich überhaupt kannten.

Was hatte Glynis mit dem Spion der Nordstaaten zu tun? Und warum war sie ausgerechnet jetzt nach Glasgow zurückgekehrt?

4. KAPITEL

Geh zu Bett.“ Lennox umfasste Marys Ellbogen und drückte ihn sacht.

Sie ignorierte ihn und dirigierte einen der Pferdeknechte zu einem mit Essen beladenen Tablett. An diesem Abend konnten sich die Bediensteten in den Stallungen und im Küchentrakt auf ein Schlemmermahl freuen. Was sie übrig ließen, würde an die Armen verteilt.

Der knoblauchhaltige Duft von Hammelbraten wetteiferte mit dem nach Roastbeef und dem wunderbar hefigen Aroma der Brioches, deren Rezept, wie die Köchin schwor, nicht von einer französischen, sondern einer irischen Verwandten stammte. Und über allem schwebte der unverwechselbare Geruch der unzähligen Wachskerzen, die die Diener eine nach der anderen löschten.

Mary erteilte den Hausmädchen Anweisung, ehe sie sich in Bewegung setzte, um sich zur anderen Seite des Ballsaals zu begeben. Lennox’ Schwester führte die Dienerschaft mit militärischer Präzision, wie ein General seine Truppen. Ihre Stimme war heiser vor Müdigkeit.

Lennox griff sich ein Tischtuch, knüllte es zu einem Ball zusammen und warf ihn in den Korb mit der schmutzigen Wäsche. Ein Hausmädchen grinste, als er sein Ziel auf Anhieb traf.

Als Mary zurückkam, nahm er ihr den Stapel Teller, den sie mitbrachte, aus den Händen.

„Geh zu Bett“, wiederholte er ruhig.

Mary musterte ihn befremdet. „Unsinn.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist noch viel zu viel zu tun. Das gute Geschirr muss eingepackt und fortgeräumt werden.“

„Mrs. Hurst und die Diener können das erledigen.“

Mary nickte. „Ja, aber die Teppiche müssen gefegt und die Fußböden feucht gewischt werden.“ Sie blickte auf die Marmorfliesen. „Außerdem ist Wachs heruntergetropft. Besser, es wird so schnell wie möglich entfernt.“

„Du musst nicht dabei sein. Und wenn die Hausmädchen Fragen haben, die Mrs. Hurst nicht beantworten kann, sollen sie sich an mich wenden.“

„Seit wann bist du so häuslich, Lennox?“ Mary blickte lächelnd zu ihm auf.

„Das habe ich mir von dir abgeschaut.“ Er zuckte mit den Schultern. „Mrs. Hurst kann die anstehenden Aufgaben ohne Weiteres erfüllen. Schließlich ist sie die Haushälterin, oder? Und wenn nicht, können sie bis morgen warten.“

„Es dauert nicht lange, sie zu erledigen.“

„Macht es dir etwas aus, dich um Vater zu kümmern?“

Sie sah ihn verwundert an.

„Warum sollte es mir etwas ausmachen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Er hat sich doch schließlich auch um uns gekümmert, nicht wahr?“

Lennox nickte. „Du hast dich verändert in den vergangenen zwei Jahren.“ Es war das erste Mal, dass er seine Sorge um sie offen einräumte.

Sie trat an einen der Wandtische und begann, Besteck zu sortieren.

„Der Unfall war schrecklich.“ Über die Schulter warf sie ihm einen Blick zu. „Ich fürchte, wir können uns gar nicht vorstellen, wie tragisch es sein muss, in einem Moment noch sehen zu können und im nächsten blind zu sein.“

„Dich trifft keine Schuld, Mary.“

Wieder warf sie ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu, sammelte die schmutzigen Servietten ein und warf sie in den Korb am Ende des Tischs.

„Lass mich den Rest machen“, schlug er vor. „Du solltest wirklich zu Bett gehen.“

Sie lächelte ihn an. „Ich bin nicht müde. Der Abend war ein Erfolg, findest du nicht auch?“

„Ja. Und das ist dein Verdienst.“

Seine Schwester war das Herz von Hillshead. Alles lief perfekt, weil sie das Rückgrat des Haushalts war, weil sie plante, organisierte und sicherstellte, dass es ihm und seinem Vater an nichts fehlte.

Ob sie sich einen eigenen Hausstand wünschte? Die Frage war ihm nie in den Sinn gekommen, wie er in diesem Augenblick erstaunt feststellte. Mary hatte nie auch nur eine Andeutung gemacht, dass sie einen Ehemann oder eine Familie wollte, aber war dieser Wunsch nicht ganz normal für eine junge Frau in ihrem Alter?

Vielleicht. Wenn sie nicht alle Hände voll zu tun hätte damit, Hillshead am Laufen zu halten, würde sie sich ihrem eigenen Leben widmen können.

Autor

Karen Ranney
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