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Was bringt ein Citygirl aus London ins ferne Australien? In Clares Fall ist es ein Versprechen, das sie ihrer schwerkranken Schwester gegeben hat: Clare soll ihre Nichte Alice zu deren Vater bringen. Kaum in Mathison angekommen, fragt Clare sich entsetzt, wie man in dieser flirrenden Hitze und unendlichen Weite überhaupt leben kann! Bis sie von dem großen breitschultrigen Gray Henderson abgeholt wird. Zwar glaubt er nur zögernd, dass Alice die Tochter seines Bruders Greg ist. Doch auf seiner Ranch Bushman‘s Creek erkennt Clare, dass auch sie hier leben könnte - zusammen mit Gray, der ihr die Zärtlichkeit schenkt, die sie in ganz London vergeblich gesucht hat …


  • Erscheinungstag 04.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758066
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Clare blinzelte in das grelle Sonnenlicht und beobachtete die Staubwolke, die in der flirrenden Hitze langsam näher kam. War das endlich Gray Henderson?

Sie hoffte es sehr, denn sie hatte den ganzen Morgen auf ihn gewartet und dabei nichts anderes tun können, als mit Alice auf dem Arm die Hauptstraße von Mathison auf und ab zu gehen.

In dieser verlassenen Gegend gab es außer dem Hotel nur einen Gemischtwarenladen, eine Bank, eine Tankstelle und einige niedrige, sehr einfache Häuser. Die ganze Stadt – wenn man die Ansammlung verstreut liegender Gebäude überhaupt als solche bezeichnen konnte – wirkte, als würde sie sich vor der Hitze verkriechen.

Während ihres Spaziergangs waren sie niemandem begegnet und schnell wieder in den Schatten der Hotelveranda geflüchtet, wo Alice zufrieden mit ihren Händchen spielte.

Clare dagegen hatte sich entsetzlich gelangweilt. Als sie am Horizont auf der scheinbar endlosen Landstraße die Staubwolke auftauchen sah, war sie voller Hoffnung aufgesprungen. Aber es hatte noch eine halbe Ewigkeit gedauert, bis sich die Wolke endlich als verbeulter Pick-up entpuppte, der ratternd und mit knirschendem Getriebe auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Stehen kam. Die Beifahrertür wurde geöffnet, und ein Mann stieg aus dem Wagen.

Von der Veranda aus konnte Clare nur eine schlanke, große Gestalt in einer Baumwollhose und einem karierten Hemd erkennen, die sich vorbeugte, um durch das Fenster mit dem Fahrer zu sprechen. Sie beobachtete, wie der Mann zum Abschied auf das Dach des Führerhauses klopfte und der Wagen mit Getöse davonfuhr. Dann drehte der Mann sich um und kam über die Straße auf das Hotel zu.

Clares Anspannung wuchs, denn sein federnder Gang und die lässige Art, wie er den Hut trug, passten genau zu der ruhigen, tiefen Stimme, die sie am Telefon gehört hatte. Einerseits war sie erleichtert, dass er endlich da war, andererseits ärgerte sie sich, dass er erst jetzt auftauchte. Zu allem Überfluss schien er es überhaupt nicht eilig zu haben, obwohl er sie den ganzen Morgen hatte warten lassen!

Sie durfte sich natürlich nicht beschweren, sondern musste vorsichtig sein. Bei diesem ersten Treffen sollte auf keinen Fall etwas schief gehen. Für Alice und auch für Clare selbst war die Begegnung sehr wichtig. Von den nächsten Minuten hing sehr viel ab. Sie nahm Alice auf den Arm. Der kleine, warme Körper des Babys gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Nachdem sie den ganzen Morgen sehnsüchtig auf Gray Hendersons Ankunft gewartet hatte, hoffte sie jetzt plötzlich, er wäre es nicht.

Aber er war es.

Als der Mann sie entdeckte, blieb er für einen Moment am unteren Treppenabsatz stehen und musterte sie unverhohlen. Dann ging er mit geradezu unverschämter Gemütsruhe die Treppe hinauf. „Clare Marshall?“, fragte er und nahm den Hut ab. Er warf einen flüchtigen Blick auf Alice und zog fragend die Augenbrauen hoch. „Ich bin Gray Henderson. Sie wollten mich sprechen.“

Er hatte braunes Haar, eine von Wind und Wetter gebräunte Haut und braune Augen. Grays prüfender Blick verunsicherte sie. Clare wurde plötzlich klar, wie fremd und fehl am Platz sie in dieser abgelegenen Stadt wirken musste mit ihren Perlenohrsteckern, dem gelben Leinenkleid und den schicken italienischen Sandaletten. Sie hatte sich an diesem Morgen besonders sorgfältig zurechtgemacht, um ihn zu beeindrucken. Sie wusste nicht, ob es ihr gelungen war. Gray Henderson ließ sich jedenfalls nichts anmerken.

„Ja“, beantwortete sie seine Frage und hatte das unbehagliche Gefühl, dass ihr Lächeln aufgesetzt wirkte. Verglichen mit seinem breiten australischen Dialekt hörte sie sich sehr englisch an. „Vielen Dank, dass Sie gekommen sind“, fügte sie steif hinzu. Es fiel ihr schwer, nicht zu fragen, warum er so lange gebraucht hatte.

„Sie sagten, es sei wichtig“, erinnerte er sie.

„Ja, das ist es.“

Seit sie erfahren hatte, dass Jack nicht da war, hatte Clare überlegt, wie sie stattdessen Gray Henderson die ganze Sache erklären könnte. Aber als er ihr jetzt gegenüberstand, löste sich ihre sorgfältig vorbereitete Rede in Luft auf. Ihr Kopf war völlig leer, und sie fühlte Panik in sich aufsteigen.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Gray Henderson so kühl und unnahbar wirken würde. Jack war ein freundlicher, charmanter und humorvoller Mann, wie Pippa ihr erzählt hatte. Grays Miene hingegen war sehr verschlossen und irgendwie undurchdringlich.

„Sollen wir uns setzen?“, schlug Clare vor. Sie wollte Zeit gewinnen, um ihre Gedanken zu ordnen.

Gray folgte ihr zu der Bank am anderen Ende der Veranda. Er setzte sich neben Clare und wartete geduldig darauf, dass sie ihm erklärte, warum sie ihn hatte treffen wollen.

Als Clare ihn am Abend zuvor angerufen hatte, hatte sie geglaubt, es sei zu kompliziert, die Sache am Telefon zu besprechen. Jetzt bereute sie die Entscheidung, denn er beobachtete sie mit seinen braunen Augen so scharf, dass sie verunsichert war.

Seine ruhige, gelassene Art hatte etwas ungemein Einschüchterndes. Noch nie war Clare jemandem begegnet, den Schweigen nicht irritierte. Jeder andere hätte längst erklärt, warum er so spät gekommen war, oder gefragt, was sie eigentlich von ihm wolle. Dieser Mann aber saß einfach nur da und wartete ab.

Da er offensichtlich nicht vorhatte, ihr den Anfang zu erleichtern, atmete sie tief durch und wies mit einer Kopfbewegung auf das Baby. „Das ist Alice.“

„Hallo, Alice“, sagte Gray mit ernster Miene.

Er kitzelte Alice mit einem Finger am Bauch. Alice lächelte und griff nach seiner Hand, doch schon im nächsten Moment verließ sie der Mut. Schüchtern schmiegte sie sich an Clare.

Clare musste lächeln. Alice war ein niedliches Kind mit ihrem seidenweichen blonden Haar und den braunen Augen.

Als Clare Gray ansah, bemerkte sie zu ihrer Erleichterung, dass er die Kleine belustigt betrachtete. Das angedeutete Lächeln machte ihn auf Anhieb sympathischer. Überrascht gestand Clare sich ein, dass Gray viel attraktiver war, als sie im ersten Moment gedacht hatte.

„Wie alt ist sie?“, fragte er.

„Sechs Monate, beinah sieben.“

Clare setzte Alice in den Kindersitz, der sich bei Bedarf zu einem Tragegestell umfunktionieren ließ. Um Protesten vorzubeugen, gab sie Alice ihren schlappohrigen Hasen, der vom vielen Knuddeln und Drücken schon arg in Mitleidenschaft gezogen war.

Gray warf einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr, und Clare wurde klar, dass sie endlich zur Sache kommen musste. Sie straffte unwillkürlich die Schultern und sah ihn offen an. Ihre grauen Augen schimmerten silbrig und bildeten einen reizvollen Kontrast zu ihrem glänzenden dunklen Haar. „Wahrscheinlich wundern Sie sich, was wir hier wollen“, begann sie.

„Sie haben am Telefon erwähnt, dass Sie eigentlich mit Jack sprechen wollten.“ Grays Miene blieb verschlossen, und seine Stimme klang etwas misstrauisch. „Von einem Baby war nicht die Rede.“

„Nein“, gab Clare zu. „Es ist schwierig, die Sache am Telefon zu erklären. Ich wollte es lieber persönlich machen.“

„Okay, jetzt bin ich hier. Sie können mir endlich verraten, was Sie wollen“, erwiderte Gray kühl.

Clare zögerte. „Ich muss unbedingt mit Jack sprechen. Wissen Sie, wann er zurückkommt?“

„Vielleicht in einem Monat oder in sechs Wochen.“

Es schien Gray nicht zu stören, dass er nichts Genaues über die Pläne seines Bruders wusste. Clare war entsetzt. Sie hatte erwartet, Jack sei in Darwin oder Perth und würde in den nächsten Tagen zurückkommen. „In einem Monat erst? Wo ist er denn?“

„In Texas. Er ist in Sachen Rinderzucht unterwegs.“

Clare schluckte. „Können Sie ihn irgendwie erreichen?“

„Das dürfte schwierig sein“, erwiderte Gray wenig hilfsbereit.

Niedergeschlagen ließ Clare die Schultern sinken. Sie spürte plötzlich, wie erschöpft sie war. Daran waren nicht nur der endlos dauernde Flug von London schuld und die letzte Nacht, in der sie kein Auge zugetan hatte. Immer wieder hatte sie sich gefragt, wie Gray Henderson reagieren würde. Nach Pippas Tod hatte sie die Verantwortung für das Baby übernehmen müssen. Es war eine große Belastung, und ihr wurde plötzlich alles zu viel. Es kam ihr vor, als hätte sie monatelang nicht richtig geschlafen. Solange sie mit den Reisevorbereitungen beschäftigt gewesen war, hatte sie eine Aufgabe gehabt, die sie abgelenkt hatte. Doch nachdem sie jetzt ihr Ziel erreicht hatte, spürte sie ihre Erschöpfung und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie fand es frustrierend, dass sie sich mit Gray statt mit Jack unterhalten musste.

Sie senkte den Kopf, presste die Hände zusammen und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen. „Ich hätte schreiben sollen“, stieß sie hervor. Ihr Gesicht war hinter einigen Strähnen ihres seidigen dunklen Haares verborgen. „Nicht im Traum habe ich daran gedacht, Jack nicht anzutreffen.“

„Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen möchten, sorge ich dafür, dass er sie nach seiner Rückkehr bekommt“, bot Gray ihr eher widerwillig an.

Clare schüttelte deprimiert den Kopf. „Ich kann nicht bis zu seiner Rückkehr warten. Ich muss jetzt mit ihm reden.“

„Das ist leider unmöglich. Sie müssen schon mit mir vorlieb nehmen.“

„Offensichtlich“, erwiderte Clare benommen.

Sie war völlig durcheinander und sah das Baby an. Für Alice hing unendlich viel davon ab, dass Clare die richtige Entscheidung traf. Sie streckte die Hand aus und streichelte sanft das Köpfchen der Kleinen.

„Hören Sie, ich will Sie ja nicht unter Druck setzen“, sagte Gray nach einer kurzen Pause. Zum ersten Mal schwang in seiner Stimme ein Anflug von Ungeduld mit. „Aber ich muss mich um viele tausend Rinder kümmern und habe Ihnen schon mehr Zeit geopfert, als ich verantworten kann. Können Sie nicht allmählich auf den Punkt kommen?“

Clare richtete sich auf und sah ihn an. „Alice ist der Punkt!“

Gray runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

„Sie ist Jacks Tochter“, erklärte sie ruhig. „Sie braucht ihren Vater.“

Sekundenlang herrschte Schweigen. „Was sagen Sie da?“, fragte Gray dann gefährlich ruhig.

„Alice ist Jacks Tochter.“

Grays Blick wurde hart. Er betrachtete Alice. Das Kind sah ihn mit diesen großen braunen Augen an, die seinen so sehr ähnelten. Mit einer Hand presste Alice sich den Stoffhasen an den Mund, mit der anderen spielte sie an einem ihrer kleinen Ohren, als wollte sie demonstrieren, was sie schon alles konnte.

„Davon hat Jack nie etwas erwähnt“, entgegnete Gray schroff.

„Er weiß nichts von ihrer Existenz.“

„Ist es dann nicht reichlich spät für so eine Behauptung?“

Clare fuhr sich nervös durchs Haar. „Ich glaube, er wird wissen wollen, dass er eine Tochter hat.“

„Wenn es sein Kind ist, hätte er es längst erfahren müssen“, erwiderte Gray hart. „Wenn es stimmt, dass Alice sechs Monate alt ist, dann hatten Sie immerhin fünfzehn Monate Zeit, um sich einen Vater für sie auszusuchen. Warum haben Sie so lange gezögert, sich an Jack heranzumachen?“

Clare errötete. „Ich mache mich nicht an ihn heran!“

„So hört es sich aber an!“ Gray musterte sie geradezu unverschämt. Er ließ den Blick über ihren schlanken Körper und ihr erschöpftes Gesicht gleiten. Dann sah er ihr in die Augen, die so lebendig und doch voller Traurigkeit und Verzweiflung waren. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Jacks Typ sind.“

„Bin ich auch nicht“, versicherte Clare ihm mit einem müden Lächeln. „Aber meine Schwester war sein Typ.“

„Alice ist gar nicht Ihr Kind?“, fragte Gray langsam.

„Nein, sie ist meine Nichte.“ Clare blickte ihm in die Augen. „Sie ist auch Ihre Nichte.“

„Wer ist ihre Mutter?“

„Meine Schwester Pippa.“ Clare wandte sich ab und betrachtete die lange, einsame Landstraße, über der die Luft in der glühenden Hitze flimmerte. „Pippa ist vor sechs Wochen gestorben“, erklärte sie seltsam unbeteiligt, als würde sie das nichts angehen. In Wahrheit war jedoch dadurch eine Welt für sie zusammengebrochen.

Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Überall da, wo keine Bäume Schatten spendeten, brannte die Sonne unbarmherzig auf die Wellblechdächer, wurde reflektiert und brachte die Luft über der Straße zum Flirren. Ein mit rotem Staub bedeckter Jeep fuhr an dem Hotel vorbei und hielt in einiger Entfernung vor dem Gemischtwarenladen an. Wahrscheinlich ist das alles, was heute in dieser Stadt passiert, dachte Clare. Sie war an das geschäftige Treiben, die Hektik, die vielen Menschen und den lebhaften Verkehr in London gewöhnt. Die Ruhe hier hatte für sie etwas Unheimliches. Außerdem war die Luft viel zu trocken, und die Bank kam ihr viel zu hart vor. Plötzlich war sie sich der Nähe dieses Mannes, der so ruhig neben ihr saß, viel zu sehr bewusst.

„Am besten erzählen Sie mir alles der Reihe nach“, schlug Gray vor.

Seine Stimme hatte jetzt etwas sehr Beruhigendes, und Clare atmete auf. Sie hatte die erste Hürde genommen. Er war bereit, ihr zuzuhören. Mehr konnte sie momentan nicht von ihm verlangen.

Clare kramte in ihrer Handtasche und zog ein Foto hervor, das Pippa bis zum Schluss neben ihrem Bett stehen gehabt hatte. Es war zerknittert und hatte Eselsohren. Clare versuchte, es auf ihren Knien etwas glatt zu streichen, ehe sie es Gray reichte. „Das ist Pippa, und der Mann neben ihr muss Jack sein.“

„Ja, das ist mein Bruder Jack“, bestätigte Gray und betrachtete stirnrunzelnd das Foto. Jack hatte den Arm um ein hübsches junges Mädchen gelegt, das vor Lebensfreude und Glück nur so strahlte. Die beiden sahen sich verliebt in die Augen und schienen die Welt um sich her vergessen zu haben. „Jack hat Ihre Schwester niemals erwähnt. Dabei ist es eigentlich nicht seine Art, etwas für sich zu behalten.“ Er gab Clare das Foto zurück. „Wann und wo haben die beiden sich kennengelernt?“

„Pippa hat als Köchin in Bushman’s Creek gearbeitet. Wie sie zu dem Job gekommen ist, weiß ich auch nicht.“

„Wahrscheinlich über die Agentur“, mutmaßte Gray. „Die Ranch liegt sehr abgelegen, und niemand hält es dort lange aus. Während der Sommermonate können wir jede Hilfe gebrauchen.“

Wenn es dort genauso aussah wie in Mathison, konnte Clare gut verstehen, warum es niemand aushielt. „Pippa war vor Freude völlig aus dem Häuschen, als sie den Job bekommen hatte“, erzählte Clare. „Sie hatte schon immer davon geträumt, auf einer richtigen Viehfarm irgendwo im Outback zu arbeiten.“

Clare seufzte bei dem Gedanken an Pippas glückliche Miene, wenn sie vom Outback geschwärmt hatte. „Schon früher, als sie noch zur Schule ging, hat sie nur von Australien geredet. Als sie das Geld für die Überfahrt zusammenhatte, hat sie eine Arbeitserlaubnis beantragt und ist hergekommen, um sich einen Job zu suchen. Zuerst war sie in Sydney. Dann ist sie weitergezogen nach Queensland ans Meer, bis sie schließlich vor ungefähr achtzehn Monaten die Stelle in Bushman’s Creek angenommen hat.“

Als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, drehte Clare sich zu Gray um und sah ihn an. „Sie können nicht dort gewesen sein, sonst würden Sie sich an sie erinnern! Pippa war kein Mensch, den man so schnell wieder vergisst!“

„Vor ungefähr anderthalb Jahren war ich für drei Monate in Südostasien“, gab Gray widerwillig zu. „Sie könnte in Bushman’s Creek gewesen sein, ohne dass ich ihr begegnet bin.“

Clare nickte. „Das kann hinkommen. Pippa war ungefähr drei Monate dort und hat immer wieder betont, dass es die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen sei. In ihren Briefen hat sie beschrieben, wie einsam es dort ist und wie hart die Menschen arbeiten.“ Clare schüttelte den Kopf. „Für mich klang es furchtbar, aber Pippa hat es geliebt.“

Sie schwieg einen Moment und betrachtete das Foto. „Und sie hat Jack getroffen. Man kann sehen, wie glücklich die beiden waren. Pippa hat gesagt, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie haben jede freie Minute zusammen verbracht und sogar vom Heiraten gesprochen. Irgendwann haben sie sich dann fürchterlich wegen einer Kleinigkeit gestritten. Ich weiß nicht, um was es dabei ging, aber die beiden müssen sich sehr verletzende Dinge an den Kopf geworfen haben. Pippa war unglaublich impulsiv. Für sie gab es nur himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt.“ Clare lächelte traurig. „Ich glaube, sie hat niemals begriffen, was es heißt, Kompromisse zu machen oder sich anzupassen.“

Clare sah Gray an. Er schien auch nicht gerade kompromissbereit zu sein. Aber man konnte ihn nicht mit Pippa vergleichen. Wie sollte sie ihm nur klar machen, wie Pippa gewesen war mit ihrer überschwänglichen Art und mit ihrem überschäumenden Temperament?

„Es ist wichtig, dass Sie verstehen, wie Pippa war“, sagte Clare mit einem Anflug von Verzweiflung. „Sie war vor allem ein sehr leidenschaftlicher Mensch. Sie war liebevoll, lustig und wunderbar. Aber sie konnte auch sehr schwierig sein. Es war typisch für sie, dass sie auf den Streit mit Jack so unangemessen heftig reagiert hat. Sie hat geglaubt, es sei alles vorbei, und ist Hals über Kopf abgereist.“

Clare seufzte, als sie daran dachte, mit welcher Wucht Pippa damals ihr ruhiges, geregeltes Leben durcheinandergebracht hatte. „Dass sie schwanger war, hat sie erst einige Wochen nach ihrer Rückkehr gemerkt.“

Gray blickte sie überrascht an. „Warum hat sie Jack nicht informiert?“

„Ich habe versucht, sie zu überreden, ihm wenigstens zu schreiben. Aber sie wollte nicht. Pippa konnte den Streit mit Jack nicht vergessen. Mehr als zwei Monate waren vergangen, und sie hatte immer noch nichts von ihm gehört. Deshalb dachte sie, er hätte kein Interesse mehr an ihr, und sie war viel zu stolz, um ihn um Hilfe zu bitten. Sie meinte, er würde sich verpflichtet fühlen, eine Beziehung einzugehen, die er eigentlich gar nicht wollte. Ich glaube, bei Alice’ Geburt ist ihr klar geworden, wie sehr sie Jack immer noch liebte. Jedenfalls hat sie sich entschlossen, mit Alice nach Australien zurückzukehren, um sich mit Jack auszusprechen. Doch dann …“

Clare atmete tief ein, um sich zu beruhigen. „Wenige Monate nach Alice’ Geburt entdeckte Pippa einen Knoten in ihrer Brust. Es war Krebs. Die Ärzte sagten, er sei bösartig und man könne nichts mehr für sie tun. Danach ging alles sehr schnell.“ Vor lauter Kummer und Schmerz schienen ihre Augen ganz dunkel zu werden. „Drei Monate später war sie tot.“

„Das tut mir leid“, sagte Gray leise.

Clare seufzte. „Sie war ein ganz besonderer Mensch. In den letzten Wochen hat sie an nichts anderes gedacht als an Jack und Alice. Ich musste ihr versprechen, Jack mitzuteilen, wie sehr sie ihn geliebt hat, und ihn zu bitten, ihr gemeinsames Kind großzuziehen. Alice soll bei ihrem Vater aufwachsen, an dem Ort, wo Pippa so glücklich gewesen ist. Das hat sie sich gewünscht.“

„Haben Sie es ihr versprochen?“

Sie machte eine hilflose Handbewegung. „Ja“, erwiderte sie leise. „Deshalb bin ich hier.“

Gray stand auf und lehnte sich an das Geländer der Veranda. Nachdenklich blickte er in die Ferne. „Ich will nicht behaupten, dass ich Ihnen nicht glaube. Aber können Sie beweisen, dass Jack Alice’ Vater ist?“, fragte er schließlich.

„Warum sollte ich mir so eine verrückte Geschichte ausdenken?“ Clare war erstaunt.

Er drehte sich unvermittelt um, verschränkte die Arme über der Brust und sah Clare herausfordernd an. „Vielleicht geht es Ihnen um Geld“, antwortete er sarkastisch.

„Was für Geld? Wie Pippa mir erzählt hat, führen Sie da draußen auf Bushman’s Creek nicht gerade ein Luxusleben!“

„Stimmt. Doch Jack und ich besitzen riesige Ländereien. Alice hätte einen Anspruch darauf, wenn sie wirklich Jacks Tochter ist.“

Clare konnte kaum glauben, was sie da hörte. „Ihr verdammtes Land interessiert mich nicht!“, fuhr sie ihn an, und ihre Augen funkelten zornig. „Für wen oder was halten Sie mich eigentlich?“

„Ich weiß es nicht. Das ist genau der Punkt.“ Grays Stimme klang aufreizend ruhig. „Bis gestern Abend hatte ich weder von Ihnen noch von Ihrer Schwester jemals etwas gehört. Jetzt wollen Sie mir einreden, dass mein Bruder ein Kind hat, von dem er nichts weiß. Wie soll ich beurteilen, ob Sie die Wahrheit sagen?“

„Aber auf dem Foto …“, protestierte Clare.

„Ein Foto ist kein Vaterschaftsbeweis“, fiel Gray ihr ins Wort.

„Gut, wenn Jack einen Vaterschaftstest machen lassen will, soll er es tun“, erklärte Clare energisch. „Aber ich bin davon überzeugt, wenn er Alice sieht, weiß er, dass sie seine Tochter ist. Pippa und Jack haben sich geliebt, dessen bin ich mir sicher.“

„Mag sein“, erwiderte Gray immer noch skeptisch. „Aber Sie können nicht von mir erwarten, dass ich in Jacks Namen die Verantwortung für das Baby übernehme.“

„Das erwarte ich auch gar nicht.“ Clare spürte plötzlich, wie müde sie war. Dennoch zwang sie sich, aufzustehen und sich neben ihn zu stellen. „Ich möchte Sie ja auch nur darum bitten, Jack so schnell wie möglich zu informieren, damit er rasch zurückkommt. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?“

Gray warf einen Blick auf das Baby, das mit seinen kleinen Füßchen auf dem Boden der Veranda herumstrampelte und vergnügt quietschte. „Nein“, gab er zu, „aber es kann eine Zeit lang dauern, bis ich ihn ausfindig gemacht habe. Er hat nicht im Voraus geplant, wann er wo sein wird. Mir bleibt nichts anderes übrig, als Freunde anzurufen und zu hoffen, dass er dort früher oder später auftaucht.“

Er sah Clare an. Ihr glattes dunkles Haar, das ihr sonst offen auf die Schultern fiel, hatte sie achtlos hinter die Ohren gestrichen, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie wirkte sehr erschöpft, und ihm war klar, dass sie sich nur mit letzter Kraft aufrecht hielt.

„Am besten fliegen Sie zurück nach England und warten, bis Jack wieder zu Hause ist“, schlug Gray vor.

Clare richtete sich auf. „Nein, auf keinen Fall“, erklärte sie entschieden. „Alice und ich sind erst gestern hier angekommen. Selbst wenn ich mich damit abfinden könnte, noch einmal dreiundzwanzig Stunden unterwegs zu sein, würde ich es nicht tun. Ich habe kein Geld, um Alice ein zweites Mal nach Australien zu bringen, wenn Jack irgendwann auftaucht. Falls er wirklich bereit ist, die Verantwortung für sein Kind zu übernehmen, möchte ich so lange bei Alice bleiben, bis ich sicher sein kann, dass sie sich gut eingelebt hat.“

„Was schlagen Sie vor?“

„Können Sie uns nicht mit nach Bushman’s Creek nehmen?“

Gray blickte sie schweigend an. Dann wandte er sich unvermittelt ab. „Bushman’s Creek ist für Sie und das Baby nicht der richtige Ort“, antwortete er.

„Wollen Sie behaupten, es würde im Outback keine Frauen und Kinder geben?“

„Ich behaupte, dass das Leben auf der Ranch völlig anders ist als Ihr bisheriges Leben“, erwiderte er leicht gereizt. „Mit dem Flugzeug braucht man von hier aus vierzig Minuten bis nach Bushman’s Creek, mit dem Wagen zwei Stunden. Während der Regenzeit sind wir von der Außenwelt abgeschnitten und nur mit dem Flugzeug zu erreichen. Geschäfte, der nächste Arzt und all die anderen Annehmlichkeiten, die für Sie selbstverständlich sind, sind meilenweit entfernt. Außerdem habe ich keine Zeit, mich um Sie zu kümmern. Die Arbeit wächst uns momentan sowieso über den Kopf.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung Horizont. „Da draußen auf der Weide stehen fünfzehntausend Rinder. Sie müssen zusammengetrieben und ausgemustert werden. Unsere Haushälterin hat uns vor einigen Wochen im Stich gelassen, und seitdem hat niemand sauber gemacht. Mit dem Kochen wechseln wir Männer uns ab, und es gibt nur die allereinfachsten Gerichte.“

Gray schüttelte den Kopf. „Das Leben da draußen ist alles andere als bequem. Wenn Sie schon nicht zurückfliegen wollen, dann wäre es das Beste, Sie würden mit Alice in einen der Urlaubsorte an der Küste fahren und dort warten, bis Jack wieder auftaucht.“

„Ich glaube nicht, dass ich mir das leisten kann.“ Clare errötete. Es war ihr peinlich, zuzugeben, wie schwierig ihre finanzielle Situation war. „Zu Hause in England habe ich einen gut bezahlten Job, aber Pippa konnte nicht besonders gut mit Geld umgehen. Ein Baby ist eine ziemlich kostspielige Angelegenheit. Als Pippa dann auch noch krank wurde, musste ich mich beurlauben lassen, um mich um sie und Alice zu kümmern. Dabei sind meine ganzen Ersparnisse draufgegangen. Um das Flugticket bezahlen zu können, musste ich einen Kredit aufnehmen.“ Verlegen biss sie sich auf die Lippe. „Ich weiß nicht, wovon ich ein Hotel oder eine Wohnung bezahlen soll, wenn mir niemand sagen kann, wie lange Jack noch wegbleibt. Außerdem“, fuhr sie mutig fort, „könnte ich Ihnen vielleicht nützlich sein.“

Gray ließ den Blick skeptisch von ihren Ohrsteckern über das schlichte, aber elegante Kleid bis hinunter zu ihren zierlichen Riemchensandaletten gleiten.

„Nützlich?“, wiederholte er und zog die Augenbrauen spöttisch hoch. „Wie denn?“

Autor

Jessica Hart
Bisher hat die britische Autorin Jessica Hart insgesamt 60 Romances veröffentlicht. Mit ihren romantischen Romanen gewann sie bereits den US-amerikanischen RITA Award sowie in Großbritannien den RoNa Award. Ihren Abschluss in Französisch machte sie an der University of Edinburgh in Schottland. Seitdem reiste sie durch zahlreiche Länder, da sie sich...
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