Wer sein Herz riskiert …

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"Ich bin überzeugter Single." Tiefe Gefühle vermeidet Dr. Noah Jackson - bis er der schönen Hebamme Lilia begegnet. Gleich ihr erster heißer Kuss trifft ihn mitten ins Herz. Aber kaum will sich Noah näher auf Lilia einlassen, zieht sie sich plötzlich vor ihm zurück …


  • Erscheinungstag 03.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719555
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Möchten Sie schließen?“

Noah Jackson, chirurgischer Oberarzt am Melbourne Victoria Hospital, lächelte, als Begeisterung in den Augen seines Assistenten aufleuchtete.

„Genauso gut könnten Sie mich fragen, ob mein Herz für die Westies schlägt.“ Rick Stewarts Leidenschaft für den strauchelnden West Adelaide Football Club war krankenhausbekannt, und die Kollegen zogen ihn gnadenlos damit auf, wenn sein geliebter Club wieder einmal verloren hatte.

„Für Mrs. Levatti wünsche ich mir, dass Sie besser nähen, als Ihr Team spielt.“ Auch Noah ließ sich die Chance nicht entgehen, obwohl er vollstes Vertrauen in Ricks Fähigkeiten hatte.

An seine Patienten ließ er nur Chirurgen, die herausragende Kompetenzen bewiesen hatten. Rick erinnerte ihn an seine eigene Assistenzarztzeit. Auch Noah war getrieben gewesen von dem Willen, erfolgreich zu sein.

„Danke an alle.“ Noah trat vom OP-Tisch zurück und streifte sich die Handschuhe ab. „Es war eine lange Woche, vor mir liegt ein freies Wochenende.“

„Glückspilz“, murmelte Ed Yang, der Anästhesist. „Ich habe Dienst.“

Noah zeigte wenig Mitgefühl. „Es ist mein erstes freies Wochenende seit über einem Monat, und ich werde es in der Rooftop Bar mit einem kühlen Bier einläuten.“

„Vielleicht sehen wir uns später dort“, meinte Lizzy.

Der laszive Blick der grünäugigen OP-Schwester erinnerte ihn an ein paar nette Stunden, die er mit ihr verbracht hatte. „Jeder ist willkommen“, antwortete er, um klarzumachen, dass er seine Unabhängigkeit schätzte. „Ich werde eine Weile da sein.“

Damit verließ er den OP-Saal und ging zu den Umkleideräumen. Ein Gefühl neu gewonnener Freiheit durchströmte ihn und erfüllte ihn mit Vorfreude auf die nächsten Tage. Noah wollte ausschlafen, mit seinem Rennrad den Yarra entlangfahren, sich vielleicht im Melbourne Cricket Ground ein Spiel ansehen, in seinem Lieblingslokal essen und endlich den neuen französischen Thriller sehen, von dem alle redeten. Ja, er liebte Melbourne im Frühling und alles, was die Stadt zu bieten hatte!

„Noah?“

Eine vertraute tiefe Stimme ertönte hinter ihm, und er drehte sich zu dem distinguierten Mann um, den das Pflegepersonal ehrfürchtig „Silberfuchs“ nannte.

„Hätten Sie einen Moment Zeit?“, fragte Daniel Serpell.

Nein. Aber dieses Wörtchen behielt man als Assistenz- oder Oberarzt lieber für sich, wenn man mit dem Leiter der Chirurgie sprach. „Klar.“

Der Ältere nickte bedächtig. „Guter Job am Dienstag bei der Leberruptur. Beeindruckend.“

Noah konnte sich gerade noch zurückhalten, die Faust in die Luft zu stoßen. Sein strenger Vorgesetzter warf sonst nicht gerade mit Lob um sich. „Danke. Es stand auf Messers Schneide, und wir mussten die Blutbank plündern, aber wir haben gewonnen.“

„Niemand in diesem Krankenhaus zweifelt an Ihren chirurgischen Fähigkeiten, Noah.“

Die Betonung auf „chirurgisch“ verunsicherte ihn ein wenig. „Das ist doch gut, oder?“

„Das Royal Australasian College of Surgeons benennt neun Kompetenzbereiche, die einen guten Chirurgen ausmachen.“

Noah kannte jeden einzelnen in- und auswendig. Schließlich standen in wenigen Monaten seine letzten Facharztprüfungen an. „Hab sie alle im Griff, Prof.“

„Mag sein, dass Sie das denken, Noah, aber andere sind nicht dieser Meinung.“ Er griff in seine Jacketttasche, zog einen weißen Umschlag hervor und reichte ihn Noah.

„Was ist das?“

„Ihre Lösung für Kompetenzbereich Nummer zwei.“

„Ich kann Ihnen nicht folgen.“

Der Professor seufzte. „Noah, Ihre technischen und handwerklichen Qualitäten sind exzellent. Ich würde mich, meine Frau und meine gesamte Familie bei Ihnen unters Messer legen. Ihr Talent bei schlafenden Patienten ist unbestritten, doch es gab Beschwerden über Ihren Umgang mit Patienten, die wach sind.“ Er räusperte sich. „Und Bedenken aus dem Kollegenkreis.“

Noah verspürte ein Brennen im Magen, und der Umschlag wog plötzlich schwer wie Blei. „Ist das eine offizielle Verwarnung?“

„Nein, überhaupt nicht. Ich stehe auf Ihrer Seite, und wie gesagt, es gibt eine Lösung für Ihr Problem.“

„Ich wusste nicht, dass ich ein Problem habe“, konnte er sich ein Aufbegehren nicht verkneifen.

Dr. Serpell deutete auf das Kuvert. „Und ich hoffe, dass es aus der Welt geschafft ist, sobald Sie dies hinter sich haben.“

„Schicken Sie mich zu einem Kommunikationskurs?“ Die Vorstellung, mit völlig Fremden in einer Gesprächsrunde zu sitzen und über seine Gefühle zu reden, hatte etwas Erschreckendes.

„Alles, was Sie wissen müssen, steht da drin. Sorgen Sie nur dafür, dass Sie am Montag pünktlich um acht Uhr starten können.“ Er klopfte Noah auf die Schulter. „Genießen Sie Ihr freies Wochenende.“

Während sein Chef davonging, nahm das mulmige Gefühl bei Noah nervtötende Ausmaße an, und der schneeweiße Umschlag erschien ihm wie eine tickende Zeitbombe. Um beim Lesen nicht beobachtet zu werden, eilte er ins Arztzimmer. Zum Glück war es leer.

Noah riss den Brief auf und überflog das kurze Schreiben.

Lieber Dr. Jackson,

Ihr vierwöchiges Praktikum am Turraburra Medical Centre beginnt am Montag, dem 17. August, um 8.00 Uhr. Eine Unterkunft können wir Ihnen, wenn gewünscht, im Ärzte-Wohnhaus an der Nautalis Parade anbieten. Sie müssten sich den Schlüssel bis Samstagmittag bei der Hausverwaltung in der Williams Street abholen. Zu Ihrer Orientierung lege ich eine Wegbeschreibung nebst Touristeninformationen bei.

Genießen Sie Ihren Aufenthalt in Turraburra – dem grünen Juwel von South Gippsland.

Mit freundlichen Grüßen

Nancy Beveridge

Vermittlung chirurgischer Praktikanten

Nein! Ausgeschlossen! Das konnten sie ihm nicht antun. Unerwartet erschien ihm die Vorstellung, einen Kommunikationskurs zu besuchen, ausgesprochen reizvoll.

Immer mit der Ruhe, vielleicht hast du nicht richtig gelesen. Noah versuchte, seinen Zorn zu unterdrücken, und las die Zeilen noch einmal langsam von vorn bis hinten genau durch.

Leider änderte sich nichts. Das Urteil stand fest. Schwarz auf weiß.

Man schickte ihn ins Exil, und das Timing hätte nicht schlechter sein können. In weniger als sechs Monaten fanden seine letzten Prüfungen statt. Da brauchte er die Zeit am Victoria, um seine chirurgischen Fähigkeiten zu vervollkommnen, sich mit neuester Technologie vertraut zu machen, Fortbildungen zu besuchen und zu lernen.

Stattdessen sollte er sich in einer Feld-, Wald- und Wiesenklinik die endlosen Klagen von Patienten mit chronischen Krankheiten anhören, die mit chirurgischen Maßnahmen nicht zu beheben waren!

Allgemeinmedizin. Noah schüttelte sich nur bei dem Gedanken daran. Seine Karriere hatte er ganz bewusst so geplant, dass er um die langweilige Routine einer Allgemeinpraxis einen Riesenbogen schlagen konnte. Es interessierte ihn nicht im Geringsten, eine Beziehung zu seinen Patienten aufzubauen, ihre Familien kennenzulernen oder ihren Hunden vorgestellt zu werden. Warum ich? Er fühlte sich zutiefst ungerecht behandelt. Keiner der anderen chirurgischen Oberärzte war für einen Monat aufs platte Land versetzt worden!

Vage tauchte die Erinnerung an eine Auseinandersetzung auf. Oliver Evans hatte ihm vor ein paar Monaten die Meinung gegeigt, aber das hier war sicher nicht die Folge davon, oder? Chefärzte pfiffen ihre Oberärzte schon mal an, vor allem in stressigen Situationen, wenn das Leben eines Patienten auf dem Spiel stand. Hitzige Wortwechsel, saftige Flüche – alles schon da gewesen, aber am Ende des Tages wieder vergessen.

Und noch etwas fiel ihm ein: Der Prof hatte ihn gebeten, in zwei Wochen einen Workshop für die neuen Assistenzärzte zu halten. Also musste die Innenstadt von Melbourne von diesem Turraburra aus recht gut zu erreichen sein. Vielleicht schickte man ihn nur in ein Randgebiet der stetig wachsenden Millionenstadt. Eine Weile zu pendeln, damit kam er klar. Während der Fahrt konnte er seine Lern-Podcasts hören.

Optimistisch suchte er auf der beigelegten Straßenansicht den markierten Punkt.

Noah fluchte laut. Das war am Ende der Welt. Seiner Welt!

Lilia Cartwright, niemals Lil und für ihre Freunde immer Lily, stand im milden Licht der aufgehenden Sonne am Pier und blickte zum Horizont. Sie genoss den Wind in den Haaren und atmete den Duft der salzigen Meeresluft tief ein.

„Ein neuer Tag, Chippy“, sagte sie lächelnd zu ihrem braun-weißen Windhund, der mit seelenvollen dunkelbraunen Augen zu ihr aufblickte. „Na, komm schon, Junge, du könntest ein bisschen mehr Begeisterung zeigen. Nach diesem langen Spaziergang kannst du dich darauf freuen, den ganzen Tag auf der faulen Haut zu liegen und gestreichelt zu werden.“

Chippy zerrte an der Leine wie jeden Morgen, wenn sie am Hafenbecken standen, weil er es nicht erwarten konnte, ins Haus zu kommen.

Lily war gern draußen, aber sie verstand, dass ihr Hund eine sichere Umgebung brauchte – nach den Erfahrungen, die er in seinen ersten Lebensjahren gemacht hatte. Widerstrebend wandte sie sich von der aquamarinblauen See ab und ging auf das Turraburra Medical Centre zu.

Das Natursteingebäude war vor hundertdreißig Jahren als Arzthaus auf dem Grund eines kleinen Buschkrankenhauses errichtet worden. Heute, vollständig restauriert und ausgebaut, beherbergte es eine moderne Klinik. Lily liebte vor allem den Anbau mit der geburtshilflichen Abteilung. Obwohl sie zum Medical Centre gehörte, gab es einen separaten Eingang und einen eigenen Wartebereich, sodass ihre werdenden Mütter nicht mit hustenden, schniefenden Patienten zusammensitzen mussten.

Es war der beste Tag ihrer Karriere gewesen, als die Entbindungsstation des Melbourne Victoria Hospital ihrem Antrag entsprochen und Turraburra ins Förderprogramm für Frauen in isolierten ländlichen Gebieten aufgenommen hatte. Die Entbindungsklinik war Lilys Baby, und sie hatte viel Zeit und Mühe darauf verwandt, die sanften Pastelltöne für die Wände und die Innendekoration auszusuchen. Statt in eine sterile Krankenhausatmosphäre zu kommen, sollten sich ihre Patientinnen und deren Familien wie zu Hause fühlen.

Auf den ersten Blick erinnerten die Geburtsräume an die Zimmer eines Viersternehotels: breites Doppelbett, passende Nachtschränkchen, bequeme Ruhesessel, Flachbildfernseher, Kühlschrank und ein geräumiges Bad. Bei näherem Hinsehen entdeckte man, dass Sauerstoff, Absauger und Lachgas in Wandschränken und weitere medizinische Ausrüstung in einem Schrank verstaut waren, der wie ein Kleiderschrank aussah.

Auf Risikogeburten war Turraburra jedoch nicht vorbereitet. Da ging Lily auf Nummer sicher und schickte ihre Patientinnen nach Melbourne. Bei allen anderen Babys empfand sie es wie ein Geschenk und eine persönliche Ehre, sie auf die Welt holen zu dürfen.

Und da Turraburra eine kleine Stadt war, hörte es damit nicht auf. In den drei Jahren, seit sie in ihren Heimatort zurückgekehrt war, hatte sie nicht nur viele Geburten begleitet, sondern auch eine Menge Kindergeburtstage erlebt. Sie liebte es, die Kleinen aufwachsen zu sehen, und konnte es kaum glauben, dass sie die Dreijährigen in Turraburra als winzige Säuglinge in den Händen gehalten hatte. Und da sie nie eine eigene Familie haben würde, genoss sie die Zeit mit ihren Schützlingen umso mehr.

„Guten Morgen, Karen“, sagte sie automatisch, als sie das Foyer betrat. Erst dann bemerkte sie, dass der Empfang nicht besetzt war. Karens Abwesenheit erinnerte Lily daran, dass heute ein neuer Arzt in der Klinik anfing.

Nichts Ungewöhnliches – leider. Seit der allseits beliebte und geschätzte Dr. Jameson vor zwei Jahren in den Ruhestand gegangen war, hatten sich hier acht Ärzte die Klinke in die Hand gegeben. Den ersten hatten sie fast auf Händen getragen, was allerdings nichts genützt hatte, denn er verschwand nach drei Monaten wieder.

Längst war der Glanz des Neuen stumpf geworden, und die Willkommensgesten schwächten sich mit der Zeit ab. Keiner machte sich noch große Hoffnungen, dass dieser Arzt endlich länger bleiben würde.

Wie in so vielen Kleinstädten auf dem Land fehlte auch in Turraburra ein Arzt, der sich dauerhaft niederlassen wollte. Zwar mangelte es nicht an Praktikanten aus ganz Australien und anderen Ecken der Welt, doch die hakten die Zeit hier als Zwischenstadium ab, bevor sie sich eine Stelle in Melbourne oder Sydney suchten.

Lily konnte der Großstadt nichts abgewinnen. Es hätte schon einer mittleren Katastrophe bedurft, damit sie freiwillig wieder nach Melbourne ging. Die Narben von ihrem letzten Versuch waren noch nicht verblasst.

Zwei Geburten hatten Lily ein volles Wochenende beschert, sodass sie nicht dazu gekommen war, die E-Mail zu lesen, die am späten Freitagabend bei ihr eingegangen war und nähere Informationen zu „Arzt Nr. 9“ enthielt. Jetzt fragte sie sich, ob die Neun Turraburras Glückszahl werden würde.

Chippy zog wieder an der Leine.

„Ja, ja, ich weiß, wir sind da.“ Sie bückte sich und schob die Hand unter das breite Halsband, das eine Patientin für ihn genäht hatte. Ein elegantes Stück aus silbernem und indigoblauem Brokat, das an russische Adlige erinnerte und den anmutigen Schwung von Chippys langem Hals betonte. Lily löste die Leine, und der Windhund flitzte zu seinem großen Korb im Wartebereich. Mit einem hörbaren Hundeseufzer rollte er sich auf dem weichen Polster zusammen.

Er war der Begleithund der Klinik und wurde von kleinen und großen Patienten gleichermaßen geliebt und bewundert. Chippy genoss die täglichen Streicheleinheiten, und Lily hoffte, dass sie ihn für die dunkle Zeit entschädigten, als er noch in den Händen eines zwielichtigen Rennstallbesitzers ein trübes Dasein fristen musste. Sie tätschelte ihm den schlanken Hals. „Viel Spaß und bis heute Abend.“

Chippy lächelte auf eine Art, wie nur Windhunde es können.

Sie ging durch den Wartebereich zu den Fächern, um ihre Post zu holen, als sie plötzlich hörte: „Was zum Teufel tut der hier?“

Lily zuckte beim Klang der scharfen Männerstimme zusammen, weil sie genau wusste, dass Chippy sich jetzt zitternd in sein Körbchen duckte. Wie einen Schutzschild presste sie die Patientenakten an die Brust und marschierte zurück in den Warteraum. Dort stand ein großer Mann mit glänzendem braunem Haar.

Zwei Dinge verrieten ihr auf Anhieb, dass er nicht von hier war. Erstens: Sie war ihm noch nie begegnet. Zweitens: Er trug ein weißes Hemd und eine Seidenkrawatte, die in einem untadelig gebundenen Windsorknoten unter seinem markanten, frisch rasierten Kinn saß. Sie war rot und bot einen augenfälligen Kontrast zu dem dunkelgrauen Nadelstreifenanzug.

Niemand in Turraburra trug einen Anzug – es sei denn, er musste zu einer Beerdigung. Und selbst dann sähe keiner der Männer so elegant, so stattlich und attraktiv aus wie dieser.

Attraktiv oder nicht, Chippy schrumpfte buchstäblich vor Furcht, und Lily straffte die Schultern. Es fiel ihr nicht leicht, doch sie antwortete ruhig: „Dasselbe könnte ich auch fragen.“

Kastanienbraune Brauen zogen sich zusammen, bis eine steile Falte auf der hohen Stirn erschien. „Ich darf mich hier aufhalten.“

Täuschte sie sich, oder hatte er ein „Leider“ gemurmelt? Jetzt streckte er ihr abrupt eine große Hand mit kurzen, gepflegten Nägeln entgegen, und in einem ersten Impuls wäre sie beinahe zurückgewichen. Lily starrte auf die ausgestreckte Hand.

„Noah Jackson“, sagte er knapp. „Chirurgischer Oberarzt am Melbourne Victoria Hospital.“

Sie erkannte den Namen sofort. Als sie ihn zum ersten Mal hörte, hatte sie ihre Freundin Ally angerufen, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass ein Chirurg nach Turraburra kommen würde. Hier wurde nicht mehr operiert. Ally kannte Dr. Noah Jackson vom Victoria Hospital und hielt es für ausgeschlossen, dass der freiwillig auf dem Land praktizieren würde.

Warum stand er dann hier, eine imposante, hochgewachsene Gestalt mit breiten Schultern und einem noch breiteren Ego?

Lily fing seinen ungeduldigen Blick auf und bemerkte erst jetzt, dass er ihr immer noch seine Hand hinhielt. Langsam löste sie ihre von dem Aktenstapel an ihrer Brust. „Lilia Cartwright, Hebamme.“

Ihre Handflächen berührten sich, sie spürte seine Wärme, und dann umschlossen lange, starke Finger ihren Handrücken. Ein fester Händedruck, der schnell vorbei war und doch ein feines Kribbeln auf ihrer Haut hinterließ. Lily wollte nicht darüber nachdenken. Nicht, weil es unangenehm war. Im Gegenteil. Aber sie gestattete es sich nicht, an warme Hände auf ihrer Haut zu denken. Niemals.

Sie umfasste wieder die Akten und konzentrierte sich auf die Frage, was dieser Mann hier zu suchen hatte. „Ist unsere Klinik unerwartet zu Geld gekommen? Wird die Chirurgie wieder in Betrieb genommen?“

Er presste die vollen Lippen zusammen. „Schön wär’s“, murmelte er.

„Wie bitte?“

„Ich bin nicht als Chirurg hier.“

So wie er die Worte hervorstieß, wirkte er aufgewühlt. Der grimmige Gesichtsausdruck passte dazu. War er vielleicht doch wegen einer Beerdigung in Turraburra? Sie ließ den Blick über seinen Anzug gleiten und registrierte ungewollt, wie die Hose seine schmalen Hüften und den flachen Bauch betonte und das maßgeschneiderte Jackett wie angegossen an seinem athletischen Oberkörper saß.

Lily schluckte unwillkürlich, bevor sie antworten konnte. „Als was dann?“

In einer heftigen Geste streckte er den linken Arm zur Eingangstür aus. „Ich darf in den nächsten vier Wochen den Landarzt spielen.“

„Nein!“, rutschte es ihr heraus.

Turraburra brauchte einen Allgemeinarzt. Chirurgen zeichneten sich durch übertriebenen Ehrgeiz, Arroganz und ein unerschütterliches Selbstbewusstsein aus. Dazu zählte eine eingeschränkte Sichtweise auf den Patienten, die darin mündete, das Problem „herauszuschneiden“. All das war von dem, was Turraburra brauchte, so weit entfernt wie der Mond von der Erde.

Was hatten die im Melbourne Victoria sich dabei gedacht, ihnen einen Chirurgen als Allgemeinarzt zu schicken? Das konnte ja heiter werden!

Goldenes Feuer blitzte in seinen braunen Augen auf. „Eins können Sie mir glauben, Ms. Cartwright. Wäre es nach mir gegangen, hätten mich keine zehn Pferde hierhergebracht. Aber mich hat niemand gefragt, also Augen zu und durch.“

Gut, diese Feindseligkeit hatte sie sich zum Teil verdient, nachdem sie so entsetzt reagiert hatte. Das war unhöflich und nicht gerade ein freundlicher Willkommensgruß gewesen. Und jetzt war passiert, was sie immer zu vermeiden versuchte: Männer wütend zu machen. Dabei achtete sie darauf, unauffällig zu bleiben, was Männer betraf. Und auf keinen Fall wollte sie sie verärgern.

Bebend holte sie tief Luft. „Ich war nur überrascht, dass man uns einen Chirurgen schickt. Und wie Sie angedeutet haben, müssen wir uns mit den Tatsachen arrangieren.“ Lily zwang sich zu einem Lächeln. „Also willkommen in Turraburra, Dr. Jackson.“

Ein mürrischer Laut war die einzige Antwort, bevor der Arzt seinen kritischen Blick wieder auf Chippy lenkte. „Schaffen Sie den Hund hier raus. Der hat in einem Krankenhaus nichts zu suchen.“

Ihr schlechtes Gewissen löste sich augenblicklich in Luft auf. „Chippy ist unser Therapiehund. Er bleibt.“

Noah musterte die große, gertenschlanke Frau, die vor ihm stand und einen Stapel leuchtend rosa Aktendeckel an die Brust presste, als hinge ihr Leben davon ab. Auf ihren blassen Wangen prangten zwei hektisch rote Flecken, und ihre himmelblauen Augen sprühten Silberblitze. Noch immer klang ihm ihr entschiedenes „Nein“ in den Ohren. Auch wenn er an diesem gottverlassenen Ort nicht arbeiten wollte, wer war sie, dass sie sich anmaßte, ihn zu beurteilen, bevor er überhaupt angefangen hatte?

„Was zur Hölle ist ein Therapiehund?“

„Er sorgt für etwas Normalität im Krankenhaus.“

„Normalität?“ Ihm entfuhr ein spöttisches Lachen. Noah erinnerte sich nur zu gut daran, wie seine Mutter nach der Diagnose darum gekämpft hatte, auch nur annähernd ein normales Leben zu führen. Unzählige Stunden verbrachten sie in verschiedenen Praxen und Krankenhäusern – diesem hier nicht unähnlich –, in der Hoffnung auf Heilung, die ihr letztendlich versagt blieb. „Dies ist eine Klinik für kranke Menschen, und daran ist nichts normal. Außerdem wirkt auch dieser Hund alles andere als normal auf mich.“

Sie schürzte die Lippen, und ihm entging nicht, was für einen verlockenden roten Mund sie hatte. Unter anderen Umständen hätte er bei einem so sexy Anblick seinen Charme voll aufgedreht, aber bei dieser stacheligen Frau mit dem tadelnden Blick würde er das tunlichst bleiben lassen.

„Chippy ist ein Windhund“, erwiderte sie spitz. „Das sind schlanke Tiere.“

„Das nennen Sie schlank? In meinen Augen ist er magersüchtig, und was soll diese Borte um den Hals? Stammt er vom Zaren ab?“

Noah wusste, dass er sich unmöglich aufführte, aber Lilia Cartwright mit ihrer überheblichen Art brachte ihn auf die Palme. Oder lag es daran, dass er die Nacht im unbequemsten Bett der Welt verbracht hatte und, nachdem er endlich eingeschlafen war, eine Stunde später vom morgendlichen Gekreisch schwefelgelber Kakadus geweckt wurde? Ich hasse das Landleben!

„Sind Sie fertig?“, fragte sie mit einer Kälte in der Stimme, dass er sich nicht gewundert hätte, wenn in ihrem aschblonden Haar Eiskristalle gewachsen wären. „Chippy beruhigt ängstliche Patienten, und gerade die Älteren im angeschlossenen Pflegeheim lieben ihn. Einige von ihnen haben sonst niemanden, und Chippy lässt sich gern von Liebesbeweisen überschütten. Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass tierische Gefährten den Blutdruck senken und emotionalen Stress abmildern. Wie ich sagte, er ist unverzichtbar.“

Eine kindische Regung, auf etwas einzuschlagen, erfasste ihn. Noah fühlte sich tatsächlich, als wäre er wieder im Kindergarten, wo er wegen schlechten Betragens in die Ecke geschickt wurde. „Sollte ich auch nur eine Beschwerde hören oder von einem einzigen Flohbiss erfahren, muss der Köter weg.“

„Relativ betrachtet, sind Sie, Dr. Jackson, im Handumdrehen wieder verschwunden. Chippy ist jetzt schon länger bei uns, als Sie es je sein werden.“

Im Handumdrehen? Wollte sie ihn auf den Arm nehmen? „Mich erwarten hier siebenhundertzwanzig sehr lange Stunden.“

Blaue Augen blickten ihn verblüfft an. „Sie haben sie tatsächlich gezählt?“

„Was sollte ich sonst machen – um drei Uhr morgens, als fauchende Opossums mit Springerstiefeln an den Pfoten auf dem Dach ihr Unwesen trieben? Ich habe kein Auge zugetan.“

Sie lachte hell auf, und in ihren Wangen bildeten sich bezaubernde Grübchen. Flüchtig war er versucht mitzulachen, doch da verstummte sie und nahm wieder ihre angespannte, abweisende Haltung ein.

Noah verschränkte die Arme vor der Brust. „Das war nicht lustig.“

„Zufällig weiß ich, dass einen auch in den grünen Vororten von Melbourne rivalisierende Opossums wach halten können.“

Waren sie Leidensgenossen? Bedauernswerte Opfer einer Krankenhauspolitik, die sich ihm nicht erschloss und die sie und ihn dorthin geschickt hatte, wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagten? Seine Antipathie für Hebamme Cartwright wurde von Mitgefühl überlagert. „Sind Sie auch gezwungenermaßen hier?“

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass der dicke französische Zopf hin und her flog. „Turraburra ist meine Heimat. Melbourne war nur ein schmuddeliger Boxenstopp, um den ich während meiner Ausbildung zur Hebamme nicht herumkam.“

Er dachte an sein sonnendurchflutetes Apartment mit Blick über den Yarra Bend Park. „Mein Melbourne ist nicht schmuddelig.“

„Mein Turraburra ist keine öde Kleinstadt.“

„Na, wenigstens sind wir uns einig, dass wir uns nicht einig sind.“

„Wollen Sie die ganze Zeit so grantig bleiben?“

Die direkte Frage ärgerte und amüsierte ihn zugleich. „Rechnen Sie damit.“

„Schön, dass Sie mich vorwarnen.“ Sie wollte sich abwenden, als ihr etwas einzufallen schien. „Ach, und noch etwas – falls Sie in der Lage sind, einen guten Rat anzunehmen. Verscherzen Sie es sich nicht mit Karen. Sie managt diese Klinik seit fünfzehn Jahren und hat zahlreiche Mitarbeiter überdauert.“

Noah verkniff sich eine bissige Antwort. Zwar hatte er bisher keinen einzigen Patienten gesehen, doch wenn die letzten fünfzehn Minuten mit Hebamme Lilia Cartwright ein Vorgeschmack auf seine Zeit in Turraburra waren, dann lagen noch quälend lange, schwierige siebenhundertneunzehn Stunden und fünfundvierzig Minuten vor ihm!

2. KAPITEL

„Ich bin zu Hause!“, rief Lily, um den Fernseher zu übertönen.

Ein hagerer Arm tauchte über der Sofalehne auf, und ihr Großvater winkte ihr zu. „Marshmallow und ich sehen uns Wiederholungen von ‚The Doctors‘ an. Es erinnert mich daran, dass es vor fünfzig Jahren wesentlich mehr Telefonzellen gab.“

Lily gab ihm einen Kuss auf den Kopf und streichelte die dösende Katze. Chippy ließ sich zu Füßen ihres Großvaters nieder. „Solange der Handyempfang hier zu wünschen übrig lässt, bleibt uns die Telefonzelle in Turraburra erhalten.“

„Ich hoffe, ich lebe noch, wenn der Breitbandausbau abgeschlossen ist. Heute war das Internet so lahm, dass ich drei Versuche brauchte, bis ich auf meine Tippspiel-Seite kam.“

„Definitiv eine Tragödie“, neckte sie. Ihr Großvater liebte jede Art von Sport, doch um diese Jahreszeit konnte er es kaum erwarten, bis die Football-Endspiele begannen. „Warst du heute im Gemeindehaus?“

Er brummte etwas Unverständliches vor sich hin.

„Gramps?“ Eine ungute Ahnung befiel sie. Er war doch nicht etwa mit dem Auto gefahren?

Autor

Fiona Lowe

Fiona Lowe liebt es zu lesen. Als sie ein Kind war, war es noch nicht üblich, Wissen über das Fernsehen vermittelt zu bekommen und so verschlang sie all die Bücher, die ihr in die Hände kamen. Doch schnell holte sie die Realität ein und sie war gezwungen, sich von den...

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