Wie verführt man einen Cowboy?

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Kurz vor ihrem 30. Geburtstag beschließt Jenna, ihr Leben zu ändern: Statt Pflichtbewusstsein und Ehrgeiz will sie nun Spaß und Liebe! Und zwar mit dem wohlhabenden Ranch-Besitzer Dustin. Mit den Waffen einer Frau möchte Jenna ihn verführen. Aber ein echter Cowboy lässt sich nicht einfangen …


  • Erscheinungstag 06.04.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502061
  • Seitenanzahl 146
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Mit Wohlgefallen ließ Jenna Reed den Blick über die zusammengefalteten Sachen schweifen. Sie lagen auf dem Bett im Gästezimmer ihres Hauses und warteten darauf, in die neuen tomatenroten Koffer gepackt zu werden, die neben der Tür standen. Nächste Woche würde sie zu ihrem schon ewig geplanten Europatrip aufbrechen. Dafür hatte sie sich in den letzten Monaten extra ganz neu eingekleidet.

Sie kannte die Reiseroute bereits auswendig, die ihr der Veranstalter zugeschickt hatte. Trotzdem schaute sie das Faltblatt der Happy Singles Travel Incorporation immer wieder gern an, auf dem das Motto der Agentur in hellgrünen Lettern prangte: Reisen Sie mit uns, finden Sie neue Freunde, und erkunden Sie fremde Länder.

Natürlich wäre Jenna lieber mit ihren eigenen Freunden in Urlaub gefahren. Aber die hatten keine Zeit, da sie alle verheiratet und teilweise schon Eltern waren. Also würde sie mit fünfundsiebzig anderen Singles, zumeist Frauen, drei herrliche Wochen in Europa verbringen.

Endlich würde sie auch einmal die Sommerferien voll auskosten. Dies hatte sie noch nie getan, seit sie als Lehrerin zu arbeiten begonnen hatte. Sie galt als diejenige an der Wilson Road Grundschule in Phoenix in Arizona, die nie Nein sagte. Die Kollegen genossen ihre Freizeit, während sie beim Schulferienprogramm Kinder unterrichtet hatte, wann immer man sie darum bat.

Sie war mit Leib und Seele Lehrerin. Vor allem wegen der Kids, die sie als ihre betrachtete. Doch sie waren nicht ihre, und mit neunundzwanzig Jahren hatte sie inzwischen die Suche nach ihrem Mr. Perfect aufgegeben. Sie sah sich einfach nur noch nach einem Mr. Perfect für jetzt um – nach jemandem, der gern die gleichen Dinge machte wie sie und mit dem sie im Augenblick zusammen sein und etwas unternehmen konnte.

Einst hatte sie heiraten und eine Familie gründen wollen. Aber nun wurde sie demnächst dreißig und blickte anders in die Zukunft. Sie hatte beschlossen, dass sie jetzt das Leben genießen wollte. Von nun an würde sie nicht mehr so viel arbeiten und ihr bisheriges und etwas langweiliges Dasein aufregender gestalten.

Deshalb hatte sie sich auch zu einer drastischen Veränderung entschieden. Sie hatte sich darum beworben, ein Jahr lang in China Englisch zu unterrichten. Und selbst wenn sie den Job nicht bekam, würde sie in Zukunft dafür sorgen, dass ihr Leben nicht mehr so eintönig verlief. Sie würde die komplette Ferienzeit nutzen und durch die Welt reisen, um sich Orte anzuschauen, die sie bisher bloß aus Büchern kannte.

Der Europatrip ist der perfekte Einstieg in mein neues Leben, dachte Jenna und setzte sich auf die Bettkante. Vielleicht traf sie ihren Mr. Perfect für den Augenblick in einem Bistro in Paris oder auf der Akropolis in Athen. In genau sieben Tagen, zehn Stunden und zweiunddreißig Minuten würde sie jedenfalls in London Heathrow landen.

Das Telefon klingelte und schreckte sie aus ihrer Selbstvergessenheit. Jenna sprang auf und eilte ins Wohnzimmer. Sie nahm den Hörer ab.

„Hallo, Schwesterherz.“

„Hi, Tom. Wie geht’s dir?“

Ihren älteren Bruder hatte sie sowieso vor dem Urlaub noch anrufen wollen. Sie musste ihm natürlich erzählen, dass sie nach Europa flog und wann sie zurückkehrte. Plötzlich stutzte sie. Ihr Bruder meldete sich eigentlich nur bei ihr, wenn er etwas benötigte oder wenn es schlechte Neuigkeiten gab. Jenna wappnete sich innerlich.

„Ich rufe wegen Andy an.“

„Oh, Tom, ist alles in Ordnung mit ihm?“ Sie liebte ihren zehnjährigen Neffen sehr.

„Immer mit der Ruhe. Andy fehlt nichts. Er hat bloß ein mieses Zeugnis und ist in Englisch und Mathe durchgefallen. Wenn er nicht den Ferienunterricht an seiner Schule besucht, wird er nicht in die fünfte Klasse versetzt.“

„Das klingt nicht gut.“

„Stimmt.“ Tom schwieg einen Moment. „Und da er noch etwas zusätzliche Unterstützung gebrauchen könnte und du Lehrerin bist, habe ich an dich gedacht. Wenn du zu uns auf die Ranch nach Tucson kommen würdest, könntest du ihm Nachhilfeunterricht erteilen und ihn zugleich beaufsichtigen. Ich habe selbst probiert, ihm den Stoff beizubringen, aber ich eigne mich wohl nicht sonderlich dazu. Er versteht einfach nicht, was ich ihm zu erklären versuche.“

„Er wird es mit der Zeit begreifen, Tom. Du bist ein sehr geduldiger Vater“, erwiderte Jenna, als ihr nach kurzer Zeit bewusst wurde, dass ihr Bruder auch vom Beaufsichtigen gesprochen hatte. „Sag mal, warum brauchst du mich denn als Babysitterin? Wirst du gar nicht da sein?“

„Ich habe mir vorgestellt, dass ich so viele Rodeos wie möglich bestreiten könnte, solange du hier bist und der Bullenreiterzirkus noch keine Sommerpause macht. Es wäre die perfekte Gelegenheit, etwas zusätzliches Geld zu verdienen. Nicht nur für die Reparaturen, die auf der Bar R anfallen. Andy braucht demnächst eine Zahnspange, seine Babysitter kosten mich ein Vermögen, und Marla hat gerade die Scheidung eingereicht. Ich muss mir unbedingt einen Anwalt besorgen.“

Jenna schwieg einen Moment. Ihr Bruder litt immer noch darunter, dass seine Frau sich wegen eines anderen Mannes von ihm getrennt hatte. „Wann hättest du mich denn gern bei euch?“

„Nächste Woche.“

„Tom …“ Jenna verstummte, denn der Mut verließ sie. Sie hatte ihrem Bruder so viel zu verdanken. „Ich wollte dich ohnehin anrufen, aber die Zeit ist mir einfach davongelaufen. Ich breche nämlich morgen in einer Woche zu einer Europareise auf – über einundzwanzig Tage …“

Nein, halt! Sie würde alles für Tom tun. Als ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall gestorben waren, hatten sie beide die Highschool besucht. Sie war in die neunte Klasse gegangen und ihr Bruder in die zwölfte. Damals hatte Tom gewissermaßen die Vaterrolle übernommen, auch wenn sie bei den Großeltern gewohnt hatten. Und es war der erfolgreiche Bullenreiter Tom gewesen, der ihr später geholfen hatte, die Studiengebühren zu bezahlen – genauso wie er für sie gebürgt hatte, als sie wegen des Jobs nach Phoenix gezogen war und einen Bankkredit beantragt hatte, um dieses Haus zu kaufen.

Einen bezaubernderen Neffen als Andy konnte sich keine Tante wünschen. Natürlich wollte sie nicht, dass er mit der Schule Probleme hatte. Und sein Vater konnte den zusätzlichen Verdienst nur zu gut gebrauchen, wie ihr klar war. Jenna seufzte. Sie sollte den Europatrip vergessen. Ihre Familie brauchte sie.

„Ich verstehe dich, Schwesterherz. Ich kümmere mich um eine andere Lösung.“

„Nein, das lässt du mal schön bleiben!“, widersprach sie energisch. Sie hatte so lange damit gewartet, bis sie sich vom Reisefieber packen ließ – es spielte letztlich keine Rolle, wenn sie es noch ein wenig weiter hinausschob. „Europa läuft mir nicht davon. Ich kann gut später hinfliegen. Und da ich eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen habe, fallen außer den Stornogebühren keine weiteren Kosten an.“

Die neuen Klamotten würden also erst einmal nicht in den tomatenroten Koffern landen, sondern mit diesen zusammen in Phoenix bleiben. Auf Toms Ranch waren alte Jeans, Shorts und T-Shirts gefragt sowie Cowboystiefel und bequeme Schuhe.

„Dann komme ich heute in einer Woche zu euch. Ich werde gegen Mittag eintreffen. Ist das okay?“ Anstatt nach Europa würde sie eben auf die Bar R in der Wüste von Arizona fahren.

Tom atmete erleichtert auf. „Ich kann dir nicht genug danken, Schwesterherz. Tausend Dank, dass du die Reise noch mal verschiebst!“

„Ist doch klar. Ich freue mich darauf, Zeit mit Andy zu verbringen“, erwiderte Jenna und meinte es ehrlich. „Wie lange wirst du weg sein?“

„Solange es für dich und Andy in Ordnung ist. Er ist immer begeistert, wenn du uns besuchst, und wird mich deshalb nicht so stark vermissen. Ich habe schon mit ihm gesprochen für den Fall, dass du Ja sagen würdest. Er versteht das Ganze und hat mir erklärt, dass er mich und so bald wie möglich auch wieder Onkel Dustin vor dem Fernseher anfeuern wird.“

Dustin Morgan war nicht Andys wirklicher Onkel. Er war ein alter Freund von Tom aus der Highschoolzeit. Die beiden bestritten seit Jahren gemeinsam Rodeos. Wann immer sie mit ihrem Neffen redete, drehte sich die Unterhaltung hauptsächlich um Dustin. Und sie selbst dachte ebenfalls regelmäßig an ihn, seit sie ihn im ersten Jahr an der Catalina Highschool in Tucson in ihrem Mathekurs erblickt hatte.

„Da wir gerade bei Dustin sind“, fuhr Tom zögerlich fort. „Ich habe ihn auf die Ranch eingeladen, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen worden ist. Er muss sich noch ein wenig von seinem Unfall erholen.“

Jenna hatte die Veranstaltung in Albuquerque, bei der Dustin von einem Bullen ernsthaft verletzt worden war, am Fernseher verfolgt. Das Tier war ihm aufs Bein getrampelt und hatte ihm den Knöchel zertrümmert. Jenna war sehr um ihn besorgt gewesen, insbesondere als der Arzt vor Ort erklärt hatte, dass man ihn für eine Notoperation ins nächste Krankenhaus bringen würde.

Jenna stutzte. Erwartete Tom etwa, dass sie sich auch um Dustin kümmerte? Sie war Lehrerin und keine Krankenschwester. „Du hast Dustin gesagt, er soll auf die Bar R kommen?“ Ihr Herz begann wie verrückt zu klopfen, als ihr bewusst wurde, dass sie beide dann unter einem Dach wohnen würden.

„Ja. Er wird hier sein und die Ranch für mich leiten. Aber keine Angst, er wird dir keine Probleme bereiten.“

In der Highschool hatte sie total für Dustin geschwärmt. Sie hätte sich liebend gern mit ihm verabredet, hatte es jedoch noch nicht einmal geschafft, sich in seiner Nähe entspannt zu geben. Außerdem war er viel zu beliebt gewesen und sie ein solcher Bücherwurm, dass sie beide nichts verbunden hatte.

Tom war das einzige Bindeglied zwischen ihnen gewesen. Sie hatte es kaum erwarten können, dass er Dustin mit zu ihnen nach Hause brachte. Als sie erfahren hatte, dass die Universität von Nevada ihm ein Stipendium angeboten hatte, war sie tieftraurig gewesen. Aber anstatt das Stipendium anzunehmen, war Dustin ein professioneller Bullenreiter geworden. Was für eine Verschwendung, dachte Jenna. Dass er bei den Rodeos ein kleines Vermögen verdient hatte, änderte nichts an ihrer Meinung.

„Er kann dir mit Andy helfen“, fügte Tom hinzu.

Jenna wollte ihm erklären, dass sie mit dem Jungen allein zurechtkommen würde und ihr unwohl dabei wäre, mit Dustin unter einem Dach zu wohnen. Aber Tom klang, als wäre das Ganze längst abgemacht. Dass es jedoch ohne Schwierigkeiten für sie über die Bühne gehen würde, daran hegte sie einige Zweifel.

„Nochmals vielen Dank, Jenna. Ich weiß es echt zu schätzen, und Dustin ebenfalls. Andy wird es auch tun, wenn er in die fünfte Klasse versetzt worden ist.“

„Kein Problem, Tom. Wir sehen uns dann nächsten Montag.“

Sie legte den Hörer auf und kehrte gedankenverloren ins Gästezimmer zurück. Wehmütig ließ sie den Blick über die Sachen auf dem Bett schweifen. Für den Moment würde sie die Europareise stornieren müssen, aber sie würde sie baldmöglichst nachholen – wenn ihre Familie sie nicht brauchte oder ihre Freunde, ihre Schüler, deren Eltern, der Rektor oder die Kollegen …

Irgendwer schien sie immer zu brauchen. Jenna seufzte. Jetzt war es Andy – und Dustin Morgan.

Sie lächelte plötzlich und begann die Kleidungsstücke in den Schrank zu räumen. Ja, sie war nach wie vor ein Bücherwurm und Dustin einer der beliebtesten Bullenreiter im Profireiterzirkus. Doch warum sollte ihr Aufenthalt auf der Bar R nicht ebenfalls ein guter Einstieg in ihr neues Leben werden? Sie hatte auf der Europareise nicht nur vorgehabt, fremde Länder kennenzulernen, sondern auch, sich zu amüsieren.

Wieso sollte sie dies nicht mit Dustin tun? Und vielleicht, ganz vielleicht, erwies er sich sogar als das Abenteuer ihres Lebens.

1. KAPITEL

Während der Taxifahrer die Reisetasche aus dem Kofferraum hob, quälte sich Dustin auf Toms Ranch aus dem Auto. Er verfluchte zum wiederholten Mal den zweitausend Pfund schweren Bullen Cowabunga, der ihn in Albuquerque im letzten Durchgang abgeworfen hatte. Vergebens hatte er versucht, dem Tier zu entkommen, das ihn verfolgt und dann überrannt hatte. Schließlich war es ihm aufs Bein getreten und hatte ihm den Knöchel niedergewalzt. Nun wurden seine Knochen von Schrauben und Platten zusammengehalten, und sein Fuß und der Unterschenkel waren eingegipst. Dank Cowabunga konnte er jetzt die besonders lukrativen Rodeos bis zur Sommerpause nicht bestreiten und dort auch nicht punkten.

In den letzten beiden Jahren war er immer Zweiter bei den Profibullenreitern gewesen. In diesem Jahr führte er die Rangliste der Professional Bull Riders Incorporation, kurz PBR genannt, sogar endlich an und war nun zum Pausieren verurteilt. Tatenlos würde er mit ansehen müssen, wie einige seiner jungen Konkurrenten ihn überholten. Aber wenn alles nach Plan verlief, würde er rechtzeitig in die Arena zurückkehren, um wieder Plätze für die PBR-Weltmeisterschaft Ende Oktober in Las Vegas gutzumachen.

Der Taxifahrer stellte die Reisetasche neben Dustin, nickte ihm kurz zu und brauste kurz darauf davon. Dustin ließ den Blick um sich schweifen und atmete tief ein. Wie sehr er den typischen Ranchgeruch liebte.

Es brannte ihm unter den Nägeln, endlich wieder etwas Schweißtreibendes zu tun. Der Arzt hatte ihm zwar gesagt, er solle sich schonen und es langsam angehen lassen, doch das war noch nie sein Ding gewesen.

Als Junge hatte er sich auf alles geschwungen, was ein Fell besaß, und an Rodeos für Junioren teilgenommen. In der Highschool war er im Footballteam gewesen beziehungsweise in der Basketballmannschaft und hatte so viele Rodeos wie möglich bestritten. Mit achtzehn hatte er dann in der PBR-Liga angefangen und es geschafft, sich bis zu dem Zwischenfall in Albuquerque nie wirklich ernsthaft zu verletzen.

Dustin betrachtete das Wohnhaus und die Nebengebäude. Eines Tages würde er auch solch eine Ranch besitzen, aber dass er sich einverstanden erklärt hatte, jetzt auf die Bar R zu kommen, konnte er noch immer nicht ganz glauben. Nur die Tatsache, dass Tom ihn brauchte, hatte ihn dazu gebracht.

Er verdankte seinem Freund so viel. Vor zwei Jahren hatte dieser ihm das Leben gerettet, indem er ihn von einem bösartigen Bullen weggestoßen hatte. Das Tier hatte dann Tom die Hörner in den Körper gerammt, wovon Narben ewig zeugten.

„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten“, hatte Tom gesagt, als er Dustin im Krankenhaus besucht hatte.

Von den verabreichten Schmerzmitteln war Dustin noch ein wenig benommen gewesen und hatte Mühe gehabt, sich zu konzentrieren. „Lass hören.“

„Da du für eine Weile außer Gefecht gesetzt bist … Wie wäre es, wenn du auf die Bar R kommen und dort nach dem Rechten sehen würdest? Ich will nicht, dass du dort ackerst, sondern nur kontrollierst, was der Vorarbeiter und die übrigen Leute machen. Du musst dich schließlich erholen. Warum tust du es nicht auf meiner Ranch?“

„Ich weiß nicht …“

„Meine Schwester wird sich während meiner Abwesenheit um Andy kümmern.“ Er hatte sie zwar noch nicht gefragt, doch Jenna und er halfen sich nach besten Kräften. Sie sagte bestimmt Ja. „Und Andy würde sich über deinen Besuch riesig freuen. Du bist schon länger nicht mehr bei uns gewesen.“

„Jenna?“ Dustin fielen für einen Moment die Lider zu, aber Bilder von ihr schoben sich vor sein inneres Auge. Wie sie in der Highschool mit einem Stoß Bücher unterm Arm einen Flur entlangging. Wie sie unter einem Baum nahe der Cafeteria saß und lernte, während alle anderen sich vergnügten. Wie sie sich für die Wahl zur Sprecherin der Klassenstufe bedankte.

Er hatte ihre Tatkraft bewundert sowie ihre Unabhängigkeit und ihre Bereitschaft, sich zu engagieren. Außerdem hatte es ihm gefallen, dass sie offenbar gut mit sich allein sein konnte und nicht wie er mit der Herde lief.

Damals hatte sie lange blonde Haare gehabt. Sie waren meistens mit einem Lederband zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden gewesen. Und sie hatten ihr als Halter für mindestens ein Schreibgerät gedient – es war einfach typisch für Jenna gewesen, sich ständig etwas zu notieren oder die Nase in ein Buch zu stecken.

Er hatte sie oft heimlich während des Unterrichts beobachtet. Auch hätte er sich gern mit ihr unterhalten und sich mit ihr verabredet, aber er hatte befürchtet, sie würde ihm die kalte Schulter zeigen.

Nicht, dass sie ein Snob gewesen wäre. Sie hatte sich jedem freundlich zugewandt – nur ihm nicht. Deshalb war er zu dem Schluss gekommen, dass ihr Bruder ihr wohl erklärt hatte, sie solle sich von ihm fernhalten.

Seit dem Tod der Eltern war Tom sehr besorgt um seine kleine Schwester gewesen, und Dustin hatte schon einige Freundinnen gehabt. Das war ihr sicher nicht entgangen. Allerdings waren es lediglich Liebeleien gewesen. Keines der Mädchen hatte an Jenna heranreichen können.

„Du wirst jemanden brauchen, der sich ein bisschen um dich kümmert, Kumpel. Da deine Eltern in Alaska sind und deine Wohnung im zweiten Stock ohne Aufzug liegt, hast du keine große Auswahl. Du hilfst mir, und Jenna hilft dir.“

Irgendetwas stimmte an der Argumentation nicht, nur konnte Dustin nicht sagen, was es war. Wenn Tom sich doch bloß aus dem Krankenzimmer zurückziehen würde, dann könnte er schlafen. Die Schmerzen auszuhalten war ermüdend, aber er wollte nicht mehr Medikamente nehmen als unbedingt nötig.

„Jenna hat die Sache schon abgenickt. Und sie freut sich darauf, dich wiederzusehen.“

Dustin fand es seltsam. An der Highschool hatte sie ihn praktisch ignoriert und ganz genauso, wenn er bei ihr zu Hause zu Besuch gewesen war. Und in den letzten Jahren hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt. Es war an Andys Taufe gewesen, dass sie das letzte Mal so richtig miteinander geredet hatten. Jenna war Andys Patentante und er sein Patenonkel.

Erneut blickte Dustin jetzt zu Toms Ranch hin, während er sich an das Versprechen erinnerte, das er dem Freund vor einer Ewigkeit gegeben hatte. Ein Versprechen, das er bis zum heutigen Tag bereute – er hatte Tom sein Wort gegeben, dass er die Finger von Jenna lassen würde. Deshalb hatte er sie auch bestmöglich gemieden, wenn sie bei einer PBR-Veranstaltung mit dabei gewesen war.

Energisch hängte Dustin sich den Gurt der Reisetasche über die Schulter. Tom war mehr als nur ein guter Freund, er war für ihn quasi ein Bruder. Und auf keinen Fall wollte er dessen Vertrauen enttäuschen.

Fast hätte er ihm gleich im Krankenhaus gesagt, dass er nicht auf die Ranch kommen würde, denn er wollte für niemanden eine Last sein. Irgendwie hätte er es schon geschafft, sich um sich selbst zu kümmern. Doch er hatte die passenden Worte nicht finden können.

Er war schließlich im Krankenbett eingeschlafen und hatte davon geträumt, dass er den Sommer mit der hübschen, klugen Jenna verbrachte. In seinem Traum war er für sie nicht der Klassenclown gewesen oder derjenige, der ein Stipendium ausschlug, um Profibullenreiter zu werden. In seinem Traum hatte sie ihn einzig als Mann gesehen.

Aber nun träumte er nicht. Er war auf der Bar R und würde einen Teil des Sommers mit Jenna zusammen sein.

Vielleicht war es dennoch ein Traum!?

„Darf ich jetzt nach draußen, Tante Jenna?“, erkundigte sich Andy. „Ich möchte gern dabei zuschauen, wie Maximus zugeritten wird.“

Ihr Neffe blickte sie hoffnungsvoll an, und sie zerzauste ihm lächelnd die rotblonden Haare. Ein bockendes Pferd war zweifellos fesselnder als Mathematik und Englisch.

„Sobald du diese sieben Dezimalaufgaben gelöst hast.“ Sie deutete auf die erste Fragestellung auf Seite fünfzehn in seinem Rechenbuch. Der Junge hatte in den knapp zwei Wochen, die sie jetzt zusammen lernten, schon gute Fortschritte gemacht. Doch es galt, seine Motivation aufrechtzuerhalten. „Das Lesen und die Beantwortung der Fragen zum Text verschieben wir auf später.“

Andy nickte. Und während er sich über die Übung beugte, räumte Jenna die Spülmaschine aus. Danach stellte sie das Frühstücksgeschirr hinein, das sie vorhin einfach nur auf der Arbeitsfläche stehen gelassen hatte. Kaum war sie damit fertig, klingelte es an der Haustür.

„Ich kümmere mich darum“, erklärte sie und verließ die Küche.

Wenig später sah sie durch den Türspion. Auf Krücken gestützt, stand Dustin auf der Veranda. Seine dunklen Haare glänzten seiden in der Vormittagssonne, und seine Augen waren so blau wie der wolkenlose Himmel.

Die Fernsehbilder werden ihm nicht gerecht, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hatte ihn seit Langem nicht mehr so dicht vor sich gehabt. Er schien immer blendender auszuschauen, falls dies überhaupt möglich war. Schon in der Highschool hatte sie ihn als umwerfend attraktiv empfunden.

Jenna merkte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, während sie ihn betrachtete. Nie würde sie den erfolgreichen Quarterback, Basketballspieler und Rodeoreiter vergessen, der mit jedem Mädchen geflirtet hatte – außer mit ihr. Tatsächlich war sie wohl das einzige weibliche Wesen an der Schule gewesen, das er ignoriert und gemieden hatte.

Dustin lächelte sie an, kaum hatte sie die Tür geöffnet. Sogleich pulsierte ihr Blut noch schneller in den Adern. Kurz ließ sie den Blick über ihn schweifen. Eines der Hosenbeine der Jeans war unten aufgeschnitten, damit er es über den Gips ziehen konnte.

„Hallo, Dustin. Es ist schon eine ganze Weile her.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Er nahm sie und hielt sie einige Sekunden lang fest, bevor er sie schließlich schüttelte. Jenna spürte die Schwielen an seinen Fingern und auf dem Handteller. Es war nur ein schlichter Händedruck, und trotzdem fühlte sie sich plötzlich wie ein aufgeregter Teenager und nicht wie eine gelassene Frau von fast dreißig.

„Schön, dich wiederzusehen, Jenna.“

„Ganz meinerseits, obwohl ich dich ja immer im Fernseher sehe, wenn die PBR-Veranstaltungen übertragen werden oder …“ Sein Lächeln verwirrte sie und ließ sie vergessen, was sie sagen wollte. „Doch diese Situation jetzt ist etwas … ganz anderes.“ Sie hörte, dass ihre Stimme ein wenig zitterte. Warum machte sie die Nähe zu Dustin so nervös?

„Ich schätze, du hast mich am Hals.“

Jenna entzog ihm ihre Hand, denn vielleicht konnte sie dadurch ruhiger werden. „J… ja, das habe ich wohl“, stieß sie hervor und wurde sich dann bewusst, wie ihre Antwort wirken musste, „aber du brauchst Hilfe, und Tom hat mir erzählt, dass du hier auf der Ranch nach dem Rechten schaust. Was ihn sehr entlastet. Außerdem freut sich Andy riesig über deinen Besuch!“

„Ja, es wird Spaß machen, Zeit mit dem Jungen zu verbringen.“

Jenna mied seinen Blick und richtete die Augen auf den Gips. „Das mit deinem Knöchel tut mir leid.“

Dustin schob den Cowboyhut mit dem Daumen ein bisschen zurück. „Danke. Doch hätte der Abwurf wesentlich schlimmer enden können. Ich hatte Glück im Unglück.“

Sie erbebte innerlich. „Ja, das hattest du. Und jetzt komm rein, damit du dich hinsetzen kannst. Ich nehme deine Reisetasche.“

„Das ist nicht nötig.“ Er hob die Tasche auf und schob sich den Gurt über die Schulter. Dann versuchte er, mit den Krücken über die Türschwelle zu gehen.

Jenna trat näher. „Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nein. Ich kann es allein.“

Er klang leicht gereizt. Offenbar hatte sie ihn mit ihrer Frage verärgert. Sie sollten besser einen Weg finden, ihr Miteinander harmonisch zu gestalten. War ihm nicht klar, dass sie für eine Weile gewissermaßen zusammenleben würden? Sie würde für ihn kochen und waschen, ein wenig auf ihn achtgeben und ihm etwas beim Herumlaufen mit den Krücken helfen müssen.

Benötigte er ebenfalls im Badezimmer ihre Hilfe? Bei der Vorstellung, Dustin nackt zu sehen, errötete sie vor Verlegenheit, während ihr Herz zu rasen begann.

Ich habe mir doch ein aufregendes Leben gewünscht, oder?

Der Gips war Dustin so peinlich und schien mindestens fünfundzwanzig Pfund zu wiegen. Zu allem Übel rutschte jetzt noch der Gurt der Reisetasche von der Schulter, und das blöde Ding fiel auf die Veranda.

Dustin bückte sich und hob die Tasche mühsam wieder auf, während er energisch Jennas Hilfe ablehnte. Er wollte ihr unter keinen Umständen zur Last fallen. Nicht dieser Frau, die er kaum kannte und seit der Highschool aus der Ferne verehrte.

Außerdem hatte er das verflixte Versprechen im Hinterkopf, das er Tom gegeben hatte. Fand dieser es etwa witzig, dafür zu sorgen, dass Jenna und er für mehrere Wochen unter einem Dach wohnten? Oder erinnerte Tom sich nicht mehr an die Unterhaltung im Krankenwagen, nachdem er Dustin das Leben gerettet hatte?

Ich habe sie jedenfalls nicht vergessen.

„Danke, dass du mir das Leben gerettet hast, Partner. Ich habe den Bullen einfach nicht auf mich zukommen sehen“, hatte er zu Tom gesagt. „Ich schulde dir sehr viel.“

„Vergiss es, Dustin. Du würdest doch das Gleiche für mich machen. Dass du dein Versprechen nicht brichst, ist das Einzige, was du mir schuldest“, hatte sein Freund erwidert und zugleich vor Schmerzen aufgestöhnt. „Ich habe bemerkt, mit welchen Blicken du hinter meiner Schwester herschaust. Sie ist nicht … so erfahren wie du. Sie ist stets behütet worden. Erst von meinen Eltern, dann von mir. Du bist wie ein Bruder für mich, aber du magst die Frauen zu sehr. Du würdest Jenna wehtun, denn als Bullenreiter bist du meistens unterwegs und kannst nicht für sie da sein. Sie hat jemanden verdient, der immer zu Hause ist.“

Dustin sah Jenna an, die darauf wartete, dass er über die Türschwelle trat. Er würde sich eher die rechte Hand abhacken, als ihr wehzutun. Doch hatte Tom recht damit gehabt, dass er nicht für sie da sein könnte, solange er als Profireiter unterwegs war. Und so hatte er dem Freund in der Ambulanz ein zweites Mal versprochen, sich von seiner Schwester fernzuhalten.

Hat Tom die Sache vielleicht vergessen, überlegte Dustin erneut. Es war schon komisch, dass sein Freund ihn bat, auf die Ranch zu kommen, wenn auch Jenna dort sein würde.

Energisch nahm sie ihm gerade seine Reisetasche ab. Danach öffnete sie die Tür so weit wie möglich, damit er genug Bewegungsspielraum hatte, um ins Haus zu gelangen.

Verflixt, er hasste es, sich wie ein Invalide zu fühlen. Er hätte sich in sein Apartment verkriechen und alles mit sich allein ausmachen sollen. Aber der Arzt hatte ihm nach der Operation erklärt: Je mehr er sich schone, umso schneller würde er wieder gesund sein und zum Bullenreiten zurückkehren können.

Genau das war sein Ziel. Er hatte vor, die PBR-Weltmeisterschaft zu gewinnen und das Preisgeld einzustreichen. Dann konnte er seine Profikarriere beenden, sich eine eigene Ranch kaufen und richtig sesshaft werden. Dafür hatte er all die Jahre gespart.

„Onkel Dustin! Onkel Dustin!“

Andy stürmte aus der Küche ins Wohnzimmer, wo Dustin inzwischen in einen Sessel gesunken war und das Gipsbein von sich gestreckt hatte. Gut einen halben Meter von ihm entfernt blieb der Junge stehen.

„Hallo, Kumpel. Wie geht’s? Es ist schon länger her.“ Er streckte die Hand aus, und Andy schüttelte sie.

„Ich habe dich ständig im Fernsehen gesehen. Dich und Dad. Oh, und J. R. und Skeeter und Cody und Robson und …“

Dustin lachte, als der Zehnjährige einen Bullenreiter nach dem anderen benannte. Der Junge war einfach bezaubernd. Schade, dass seine hellblauen Augen etwas an Leuchtkraft eingebüßt hatten, seit seine Mutter nicht mehr auf der Ranch wohnte.

„Ich glaube, du bist gewachsen.“

„Echt?“

„Ich würde es doch nicht sagen, wenn ich es nicht wirklich meinte.“

Neugierig beugte Andy sich vor, um zu lesen, was sein Vater und andere Leute auf das Gipsbein geschrieben hatten. Währenddessen schaute Dustin kurz zu Jenna hin, die sich aufs Sofa gesetzt hatte.

Sie war noch hübscher geworden, als sie es ohnehin schon gewesen war. Und sie sah so angenehm natürlich aus, da sie im Gegensatz zu den stark geschminkten Bullenreitergroupies nur ganz wenig Make-up trug. Das halblange Haar umschmeichelte ihr Gesicht, und die Ohrstecker aus türkisfarbenen Steinen passten wunderbar zu ihren grünen Augen.

Sein Blick schweifte zu der Reisetasche, die neben der Couch stand. Darin befanden sich gerade einmal genug Sachen für zwei Tage. Er hatte sie für die Veranstaltung in Albuquerque gepackt und nicht für einen längeren Aufenthalt im Krankenhaus oder auf der Bar R.

„Ich muss einkaufen gehen. Meine ganzen Klamotten sind in meinem Apartment in Tubac“, sagte er mehr zu sich selbst.

„Du lebst in Tubac? In der Künstlerkolonie?“ Jenna schaute ihn überrascht an.

„Ja, genau“, bestätigte er, erzählte ihr aber lieber nicht, dass er selbst malte.

Er fertigte Aquarellzeichnungen von Reitern auf keilenden Bullen und bockenden Pferden an. Von Cowboys bei der Arbeit auf einer Ranch. Von der Landschaft rund um Tucson und Tubac sowie von der einen oder anderen Sehenswürdigkeit in der Umgebung. Zunächst hatte er nur zum Spaß gemalt. Doch dann hatte er angefangen, seine Bilder über einige Kunstgewerbeläden in der Kolonie zu verkaufen.

„Ich fahre dich gern hin.“

„Vielen Dank, aber ich will dir nicht noch mehr Mühen bereiten.“

Autor

Christine Wenger
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