Wunder des Lebens - Wunder der Liebe

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Ich bin Arzt, lassen Sie mich durch!" Amanda ist zu mattschwach, um sich aufzurichten. Doch als sie den Fremden sieht, wird ihr Herz ganz leicht. Wie ein starker Engel erscheint er ihr, und tief in sich spürt sie genau: Er wird alles tun, um sie und ihr ungeborenes Baby zu retten ... "


  • Erscheinungstag 11.05.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746513
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es war einer dieser heißen Tage, die Stewart Kramer nicht besonders mochte. Er stand am Bahnhof in Sydney auf der schmalen Fußgängerbrücke über den Gleisen und wartete auf den Zug aus Brisbane. In diesem Zug saß Desiree, die schwangere Frau seines verstorbenen Bruders, mit ihrer kleinen Tochter Sophie.

Stewart war ziemlich spät am Bahnhof angekommen, da die schwierige Geburt eines Zwillingspaares ihn länger als erwartet aufgehalten hatte, und deshalb froh, dass der Zug Verspätung hatte. Stewarts Gedanken schweiften ab zu seinen kleinen Patienten. Das größere der beiden Frühgeborenen bereitete ihm Sorgen, und er wollte so schnell wie möglich zurück in die Klinik, um weitere Untersuchungen einzuleiten. Hoffentlich kam sein Vertreter klar, und es würde keine größeren Probleme geben …

Der Lautsprecher, der die Ankunft des Zuges ankündigte, riss Stewart aus seinen Gedanken. Desiree hatte ihm per SMS mitgeteilt, dass sie mit ihrer Tochter im zweiten Wagen sitzen würde. Stewart atmete tief durch und wappnete sich innerlich für das, was ihm bevorstand. Er konnte sich schon sehr gut vorstellen, welchen Typ Frau Sean geheiratet hatte: Bestimmt war Desiree bildschön, topmodisch gekleidet und gestylt bis in die Zehenspitzen, dafür aber in praktischen Dingen so desinteressiert und unbeholfen wie all die anderen Frauen, mit denen Sean zuvor zusammen gewesen war.

Was soll’s, dachte Stewart missmutig. Er würde sich um die Witwe seines Bruders und ihre kleine Tochter kümmern, so wie es seine Pflicht verlangte, und das Chaos beseitigen, das Sean durch seinen plötzlichen Tod verursacht hatte. Ob Desiree überhaupt ihr richtiger Name ist?, überlegte Stewart weiter. Es könnte auch ein Künstlername sein, denn so wie er wusste, war Desiree Schauspielerin und hatte ihren Beruf wegen ihrer zweiten Schwangerschaft nur vorübergehend aufgegeben.

Der Intercity Express kam in Sicht, und Stewart fiel auf, dass er sich ungewöhnlich schnell dem Bahnhof näherte, wahrscheinlich um die Verspätung aufzuholen. Und was dann geschah, ließ Stewart förmlich das Blut in den Adern gefrieren: Er sah den langen Güterzug, der sich auf demselben Gleis vor dem Intercity viel zu langsam wegbewegte. Stewart stockte der Atem, als er das laute Kreischen der Bremsen hörte und sah, wie die beiden Züge kollidierten.

Was sich nun vor Stewarts Augen abspielte, war der blanke Horror. Waggons sprangen aus den Gleisen und brachen sofort in Feuer aus, Wagenteile flogen durch die Luft, und schreiende Menschen liefen in Panik umher. Adrenalin schoss durch seinen Körper, und Stewart rannte sofort los. Während er die Treppen zum Bahnsteig hinuntereilte, überschlugen sich seine Gedanken. Ruhig, ich muss ruhig bleiben, beschwor er sich, denn in einem dieser halb zerquetschten Wagen befand sich seine Schwägerin mit ihrem Kind!

Überall lagen zerborstene Wrackteile herum, liefen Menschen durcheinander oder blockierten Schaulustige ihm den Weg. Stewart kämpfte sich durch die Menschenmenge bis hin zum ersten Waggon, wo bereits ein Notarzt stand. Ich muss ihm helfen, die Schwerverletzten zu versorgen, dachte Stewart und versuchte sich auf seine Pflicht als Arzt zu konzentrieren. Er trat an den weit auseinanderklaffenden Spalt im Waggon und sah mehrere leblose Körper im Innenraum liegen. Stewarts Herz raste. Hoffentlich würde er Desiree nicht auch in diesem Zustand finden! Gerade wollte er in den Wagen klettern, als ihn von hinten jemand festhielt.

„Sie können hier nicht rein, das ist zu gefährlich!“, rief der junge Arzt, der hinter ihm stand. „Das Rettungsteam muss aber jeden Moment hier sein. Wenn Sie helfen wollen, kommen Sie mit zum zweiten Wagen.“

Stewart nickte und wies noch schnell einige bereitwillige Helfer an, die Verletzten auf keinen Fall zu bewegen, bevor das Rettungsteam zur Stelle sei. Sekunden später hörte er die Sirenen der Krankenwagen und atmete erleichtert auf. Wenigstens war nicht er derjenige, der die Verantwortung für dieses Desaster übernehmen musste.

Gleich darauf hatte er den zweiten Waggon erreicht. Dort, wo die Verbindung zwischen den Waggons gewesen war, klaffte ein großes Loch, und Stewart kletterte vorsichtig in den Wagen. Doch der Rauch im Innenraum war so dicht, dass Stewart kaum etwas erkennen konnte. Irgendwo musste ein Feuer ausgebrochen sein – kein Wunder, bei dieser glühenden Hitze!

Stewart wollte gerade weiter in den Wagen vordringen, als ihn wieder jemand zurückhielt, diesmal ein Rettungssanitäter. „Kommen Sie bitte raus, Sir, wir übernehmen das.“

Doch Stewart schüttelte den Kopf. „Ich muss da rein. Ich bin Arzt, und meine Schwägerin und ihr Kind sind in diesem Wagen!“

Beißender Qualm machte der jungen Frau das Atmen schwer und ließ sie ständig husten. Erst wenige Minuten zuvor war sie wieder zu sich gekommen und hatte keine Ahnung, was passiert war. Ein Unfall musste sich ereignet haben, ein schrecklicher Unfall. Sie schloss die Augen und versuchte ruhiger zu atmen, als sie das Wimmern eines Babys hörte. Die junge Frau tastete unwillkürlich nach ihrem runden Bauch und verspürte einen ziehenden Schmerz im Unterleib.

Sie stöhnte auf und versuchte Luft zu holen, was einen neuen Hustenanfall auslöste. Da hörte sie das Baby wieder wimmern. Sie blickte sich suchend um, doch vor lauter Rauch konnte sie kaum etwas erkennen. Als sie versuchte, sich aufzurichten, merkte sie, dass ihr rechter Arm eingeklemmt war. Sie lag auf der Seite unter mehreren Gepäckstücken und einem zerbrochenen Sitz. Irgendetwas fühlte sich kalt an ihrer Wange an, und erst nach einigen Sekunden wurde ihr klar, was es war: Sie lag mit dem Gesicht auf der Fensterscheibe.

Die Frau schloss erneut die Augen und versuchte sich zu erinnern, was passiert war. Ja, jetzt wusste sie es wieder: Der Zug, in dem sie saß oder vielmehr lag, war mit irgendetwas kollidiert. Sie erinnerte sich an das schrille Kreischen der Bremsen und an den heftigen Zusammenstoß, der kurz danach folgte.

Ich habe überlebt, dachte sie, und ihr Herz begann heftig zu schlagen. Sie musste raus aus diesem Wagen, und zwar so schnell wie möglich! Da hörte sie erneut das Baby wimmern und versuchte auszumachen, aus welcher Richtung diese Laute kamen. Ihr Kopf schmerzte fürchterlich, und aus einer Wunde am Unterarm floss Blut. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich bereits eine große Blutlache unter ihr gebildet hatte.

Ich muss die Blutung stoppen!, dachte sie und drückte den Sitz, der ihren Arm einklemmte, mit aller Kraft nach hinten, bis sie endlich freikam. Dann nahm sie ihren dünnen Seidenschal vom Hals und zog ihn fest um den Arm, was die Blutung schließlich stoppte.

Die Frau ließ erschöpft den Kopf nach hinten sinken. Da vernahm sie erneut das Weinen des Babys, das allmählich lauter wurde. Ich muss es finden!, dachte sie entschlossen und richtete sich mühsam auf. Dann kroch sie langsam und auf allen vieren in die Richtung, in der sie das Kind vermutete. Immer wieder musste sie haltmachen, um sich auszuruhen oder weil ein neuer Hustenanfall sie am Weiterkriechen hinderte. Sie stieß auf etwas Weiches und erschrak – es war der leblose Körper eines Mannes, der vor ihr auf dem Boden lag. Weiter!, befahl sie sich und suchte verzweifelt nach dem Kind.

„Wo bist du, Kleines?“, rief sie laut und schob sich immer weiter vor, bis sie auf eine Babytasche stieß, in der ein halb volles Milchfläschchen steckte. Sie schlang sich die Tasche um die Schulter und kroch mühsam weiter.

Und dann endlich entdeckte sie das Kind. Es war ein kleines Mädchen von etwa einem Jahr, das vor ihr angeschnallt im Kinderwagen saß. Das Gesicht des Kindes war knallrot, und es blickte verängstigt um sich.

„Hab keine Angst, mein Kleines, ich bin schon bei dir“, sprach die Frau beruhigend auf das Baby ein und schaffte es sogar zu lächeln. „Ganz toll hast du das gemacht in deinem Kinderwagen. Und siehst du, dir ist nichts passiert.“

Die Kleine sah sie zuerst mit großen Augen an, dann wurden ihre Züge weich, und sie lächelte so strahlend, dass der jungen Frau das Herz aufging.

„Es ist ein Wunder“, flüsterte sie ergriffen. Sie knöpfte ihre Bluse bis zur Taille auf, nahm das Baby behutsam aus dem Wagen und barg es dicht an ihrem Körper, sodass es nicht verrutschen konnte.

„So, jetzt nichts wie weg von hier“, keuchte sie und setzte sich zusammen mit dem Baby in Bewegung.

Der Qualm wurde immer dichter und machte das Atmen schier unmöglich. Ich muss es schaffen!, dachte die Frau verzweifelt und kämpfte gegen die drohende Ohnmacht an. Mit letzter Kraft gelang es ihr, sich mit dem Baby bis zur Öffnung im Waggon zu schleppen, und dann sah sie plötzlich ein Gesicht vor sich – ein männliches Gesicht mit wunderschönen blauen Augen.

„Retten Sie das Kind“, flüsterte sie matt, bevor sie das Bewusstsein verlor.

In seinem Beruf als Arzt hatte Stewart schon viele Menschen gesehen, die dem Tod ins Auge blickten, aber einen derart starken Überlebenswillen wie bei dieser jungen Frau hatte er noch nie erlebt. Wie sie es geschafft hatte, sich in ihrem Zustand mit dem Baby bis hierher zu schleppen, war ihm ein Rätsel. Aber sie hatte es geschafft, und das allein zählte.

„Desiree?“, sagte er sanft, nachdem er sie vorsichtig auf eine Decke gelegt hatte. Ihr Puls war schwach, und sie hatte sehr viel Blut verloren. Stewart blickte zum Rettungssanitäter auf. „Sie muss sofort ins Krankenhaus. Ich sehe mir rasch das Baby an, dann legen wir sie in den Wagen.“

Stewart löste das Kind vorsichtig aus Desirees Umarmung und legte es neben sie auf die Decke. Während er das Baby untersuchte, versuchte er krampfhaft, seine Emotionen zu unterdrücken. Er durfte jetzt nicht daran denken, dass vor ihm seine Schwägerin und seine kleine Nichte lagen, sondern musste sich voll und ganz auf seine Arbeit konzentrieren. Und das hieß, er musste das Leben dieser beiden Menschen retten!

Das Baby wies keine sichtbaren Verletzungen auf, und auch beim vorsichtigen Abtasten seines kleinen Körpers konnte Stewart nichts Ungewöhnliches entdecken. Er nahm das Baby wieder auf und reichte es dem Rettungssanitäter, dann beugte er sich erneut über die junge Frau. „Sie braucht Infusionen und Blutkonserven, und zwar sofort, sonst sieht es schlecht aus.“

Der Sanitäter handelte schnell und routiniert. Er stellte die Infusionsflaschen bereit, während Stewart Desiree vorsichtig untersuchte. Er atmete tief ein, als er ihren runden Bauch sah. Nur der Himmel wusste, in welcher Verfassung sich das ungeborene Baby befand.

Stewart nahm ihren Arm, um den der blutdurchtränkte Schal gewickelt war. „Sie hat viel Blut verloren, hoffentlich nicht zu viel.“ Dann zog er Desirees Augenlider hoch, und der Sanitäter leuchtete mit der Taschenlampe in ihre Augen.

„Die Reaktion ist schwach, aber an beiden Seiten existent“, sagte der junge Mann und legte Desiree die intravenöse Kanüle an. Als er damit fertig war, hob Stewart Desiree vorsichtig hoch. „Können wir Mutter und Kind zusammen transportieren?“

„Natürlich, das ist kein Problem. Nehmen Sie das Baby, ich kümmere mich um die Infusionen.“

Als Desiree gleich darauf im Krankenwagen lag, stellte Stewart fest, dass der hämorrhagische Schock bereits eingesetzt hatte. Stewart konnte nur hoffen, dass ihr Herzschlag nicht aussetzte und sie diese Fahrt überlebte. Auch konnte man überhaupt noch nicht ermessen, ob Desiree durch die massive Blutung Organschäden erlitten hatte. Stewart hielt den Blick gespannt auf den Monitor gerichtet, während der Krankenwagen mit heulenden Sirenen in Richtung Krankenhaus fuhr.

2. KAPITEL

Das Regal an der Wand verschwamm immer wieder vor ihren Augen, und es fiel ihr schwer, sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Sie konnte jedoch einen Rucksack im Regal erkennen, der ihr bekannt vorkam. Sie zwang sich, den Blick auf das Gepäckstück zu fokussieren, bis ihre Sicht endlich klarer wurde. Und da erst bemerkte sie die ältere Frau, die am Ende ihres Bettes in einem Rollstuhl saß und strickte.

„Hallo, Desiree“, sagte die Frau fröhlich, während sie rasend schnell und ohne hinzusehen, weiterstrickte. „Wie geht es dir?“

Desiree? Die junge Frau blickte sich verwirrt um, doch außer ihr und der alten Dame war niemand im Raum. Wieso nannte diese Frau sie Desiree?

„Ich bin Leonore, deine Schwiegermutter“, fuhr die Frau lächelnd fort. „Siehst du, ich hab deinen Namen nicht vergessen. Stewart hat gesagt, ich hätte dich noch nie gesehen, aber eigentlich ist das egal, denn ich hätte mich sowieso nicht an dich erinnern können.“ Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Es ist wirklich ein Jammer, wenn das Gedächtnis mehr und mehr nachlässt.“

Desiree wusste überhaupt nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie kannte weder diese Frau, noch wusste sie, weshalb sie hier war. Desiree dachte angestrengt nach, und dann kam endlich die Erinnerung, wenn auch nur bruchstückhaft, zurück. Da war doch dieser Unfall mit dem Zug … und das Baby und dieser viele Qualm … und zum Schluss war da ein Mann mit wunderschönen blauen Augen …

„Wo bin ich?“, fragte sie ganz irritiert. „Und was ist mit dem Kind?“

Die alte Dame ließ das Strickzeug sinken und schien sich stark zu konzentrieren, bis sie schließlich in einer Art und Weise antwortete, als hätte sie die Worte auswendig gelernt: „Du befindest dich im Krankenhaus in Sydney, und zwar im …“

Sie zog die Stirn in Falten und schüttelte dann den Kopf. „Nein, ich kann mich an den Namen nicht erinnern. Aber deinem Baby geht es gut, hat Stewart gesagt.“ Sie nickte bekräftigend. „Ja, das hat er gesagt, ich hab es mir genau gemerkt. Er ist nur kurz hinausgegangen und wird gleich wiederkommen. Und er hat gesagt, es sei ein Wunder, dass ihr beide diese Katastrophe überlebt habt“, fügte sie mit Nachdruck hinzu.

„Welche Katastrophe?“

„Ach, es ist so traurig“, fuhr Leonore fort, ohne Desirees Frage zu beantworten. „Jetzt kenne ich zwar mein Enkelkind, aber meinen Sohn bringt mir das auch nicht mehr zurück. Wenn ich seinen Tod doch nur vergessen könnte!“

Desiree verstand nun überhaupt nichts mehr, und ein Anflug von Panik erfasste sie. „Ich … ich weiß nicht, wovon Sie sprechen“, sagte sie verwirrt. „Ich habe kein Baby, und ich kenne auch nicht Ihren Sohn. Ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern!“

Leonore sah sie mitfühlend an. „Armes Mädchen, ich weiß, wie schlimm es ist, wenn das Gedächtnis nicht mehr mitspielt, darunter leide ich jeden Tag. Aber mach dir keine Sorgen, Stewart hat gesagt, dein Zustand wird sich schon bald bessern und irgendwann kommt alles von allein zurück.“

Sie seufzte erneut. „Bei mir ist das leider anders. Ich bin krank und werde von Tag zu Tag vergesslicher.“ Sie berührte das große Medaillon, das sie um den Hals trug. „Das hat Stewart mir gegeben und gesagt, ich soll es immer tragen. Und ich darf nur von meinem Rollstuhl aufstehen, wenn jemand bei mir ist.“ Sie nickte versonnen. „Ja, ja, Stewart ist ein guter Sohn …“

Desiree hatte keine blasse Ahnung, wovon Leonore sprach. Wer war Stewart, und was hatte sie, Desiree, mit ihm zu tun? Sie konnte sich ganz schwach daran erinnern, dass sie verletzt gewesen war, wahrscheinlich war sie deshalb hier im Krankenhaus. Aber was war mit dem Baby, das sie im Arm gehalten hatte und von dem Leonore offenbar die ganze Zeit sprach?

Desiree wurde schlecht, und sie fühlte sich der Ohnmacht nahe. War es tatsächlich möglich, dass sie ein Baby hatte? Aber warum konnte sie sich nicht daran erinnern? Und wie lange war sie überhaupt schon hier? Die Übelkeit nahm zu, und Leonores Gestalt verschwamm vor ihren Augen. Desiree ließ sich erschöpft ins Kissen sinken und ergab sich der Dunkelheit, die alle Angst und allen Schmerz vergessen ließ.

„Sie war noch vor wenigen Minuten wach, aber jetzt ist sie schon wieder eingeschlafen“, hörte Desiree Leonore wie aus weiter Ferne sagen. „Und gesprochen hat sie kaum etwas.“

„Keine Sorge, Mutter, das kommt schon mit der Zeit“, antwortete eine angenehm dunkle, männliche Stimme, die Desiree irgendwie bekannt vorkam. „Wir müssen nur Geduld haben.“

Sie öffnete halb die Augen und sah einen Mann, der vor ihrem Bett stand und auf sie herabblickte. Er war ziemlich groß, hatte dunkles Haar und blaue Augen. Hatte sie diese Augen nicht schon irgendwo gesehen?

Stewart Kramer blickte nachdenklich in Desirees Gesicht. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe, und ihre rechte Wange war geschwollen und verfärbt. Es war ein Wunder, dass sie diese Katastrophe überlebt und keine schwereren Verletzungen davongetragen hatte.

Je länger Stewart Desiree betrachtete, desto mehr musste er sich über seinen Bruder wundern. Es war schon erstaunlich, dass Sean ausgerechnet eine Frau wie sie geheiratet hatte. Alle seine früheren Freundinnen hatten nichts mit Desiree gemein. Sean hatte sich immer nur für Frauen interessiert, die sich bedingungslos seinem Willen unterworfen und ihm niemals widersprochen hatten. Desiree hingegen wirkte völlig anders.

Der eiserne Wille, der sie offensichtlich antrieb, und die Sanftheit, die aus ihren Augen sprach, standen in krassem Widerspruch zu den Charaktereigenschaften, die Sean bisher bei einer Frau gesucht hatte. Auch äußerlich schien Desiree sich deutlich von den anderen abzuheben. Sie wirkte sehr natürlich, hatte langes dunkelbraunes Haar, das nicht gestylt war, und eine ausgesprochen weibliche Figur.

Da öffnete sie die Augen, und Stewart verspürte ein seltsames Ziehen in der Magengegend. Hatte er je so schöne Augen gesehen?

„Darf ich … darf ich Sie was fragen?“, sagte sie stockend und so leise, dass nur er es verstehen konnte.

Stewart lächelte. Diese Frau strahlte einen Liebreiz aus, der ihn tief berührte. „Nur zu. Allerdings werde ich bestimmt nicht alle Ihre Fragen beantworten können, denn ich bin nicht Ihr behandelnder Arzt, sondern nur ein Kinderarzt in dieser Klinik.“

Desiree schluckte schwer. „Was … ist mit mir passiert?“

Stewart zog tief den Atem ein. Desiree wirkte so verletzlich, dass er sie am liebsten in den Arm genommen und getröstet hätte, und das irritierte ihn. In seiner Tätigkeit als Arzt war er es gewohnt, seinen Patienten immer ruhig und sachlich zu begegnen, doch bei dieser Frau war alles anders. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sie Gefühle in ihm ausgelöst, die er sich nicht erklären konnte.

Er verdrängte den verwirrenden Gedanken und antwortete sachlich: „Sie leiden unter retrograder Amnesie, was bedeutet, dass Sie im Moment nicht in der Lage sind, sich an Ereignisse zu erinnern, die vor Ihrem Unfall lagen. Und auch daran werden Sie sich vermutlich kaum erinnern können.“

Desiree runzelte die Stirn. „Ja, das Zugunglück … daran kann ich mich ganz schwach erinnern.“ Sie sah Stewart hoffnungsvoll an. „Aber die Erinnerung kommt doch irgendwann zurück, nicht?“

„Das kann schon eine Weile dauern“, antwortete er ehrlich. „Wahrscheinlich haben Sie sich bei der Kollision der Züge den Kopf angeschlagen oder es ist Ihnen etwas auf den Kopf gefallen, sodass Sie für einige Zeit bewusstlos waren.“ Er konnte nicht umhin, ihre Hand zu nehmen und sie sanft zu drücken. „Es wird schon ein paar Wochen oder sogar Monate dauern, bis die Erinnerung zurückkommt.“

„Wochen oder Monate?“, wiederholte Desiree entsetzt. „Kann … kann es auch passieren, dass sie gar nicht mehr zurückkommt?“

Stewart zögerte mit der Antwort. Einerseits wollte er Desiree nicht ängstigen, andererseits durfte er ihren Zustand jedoch nicht verharmlosen. „Ich bin sicher, dass Sie sich schon bald erholen werden“, antwortete er schließlich ausweichend. „Erfahrungsgemäß kehrt bei den allermeisten Patienten die Erinnerung im Lauf der Zeit zurück.“

„Na, das ist ja sehr beruhigend“, erwiderte Desiree sarkastisch, ließ ihre Hand dabei jedoch in seiner liegen, was in Stewart ein angenehmes Gefühl der Wärme und Verbundenheit auslöste.

Überhaupt fühlte er sich zu Desiree seltsam hingezogen, doch warum, konnte er sich nicht erklären. Seit er sie aus dem Wrack gezogen hatte, musste er ständig an sie denken, und wenn er sie dann sah, verspürte er den fast unwiderstehlichen Drang, sie zu berühren.

Stewart räusperte sich und ließ ihre Hand wieder los. „Sie müssen nur etwas Geduld haben, Desiree. Im Moment erscheint Ihnen die Vergangenheit wie ein riesiges Puzzle, dessen Teile wild verstreut sind. Aber mit der Zeit werden Sie immer mehr dieser Teilchen zusammensetzen können, bis ein komplettes und logisches Bild daraus entsteht.“

„Das heißt also, dass ich bis dahin alles glauben muss, was Sie mir erzählen?“

Da musste Stewart lachen. „Ja, so könnte man es sagen.“

Er war froh, dass sie trotz ihrer schwierigen Lage immer noch Humor besaß, doch das wunderte ihn eigentlich nicht. Diese Frau war ungeheuer stark, und er war sicher, dass sie ihr Schicksal meistern würde.

Stewart blickte kurz zu seiner Mutter, die im Rollstuhl saß und geistesabwesend aus dem Fenster schaute, und sein Herz wurde schwer. Ihr Zustand würde sich leider nicht mehr bessern, denn ihr Gehirntumor war inoperabel, und es war nur eine Frage der Zeit, wann sie geistig völlig umnachtet sein würde.

„Aber keine Sorge“, fügte er schmunzelnd hinzu, „wenn ich Ihnen irgendwelche Lügengeschichten auftischen sollte, können Sie mich später ruhig verklagen.“

Da zeigte sich auch auf Desirees Gesicht ein schwaches Lächeln, und Stewart hatte das Gefühl, als ginge die Sonne auf. Was hatte diese Frau nur an sich, dass sie ihn so faszinierte?

Dann wurde sie wieder ernst und runzelte die Stirn. „Warum nennen sie mich eigentlich Desiree?“

Stewart hob erstaunt die Brauen. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet. Offensichtlich konnte sie sich selbst an ihren Namen nicht erinnern. „Nun, weil das Ihr Name ist“, erklärte er. „Sie heißen Desiree Kramer, kommen aus Queensland und befinden sich nun in Sydney.“

Desiree schüttelte den Kopf. Sie konnte mit diesem Namen nichts anfangen, aber wie sie tatsächlich hieß, wusste sie auch nicht mehr. „Sind Sie wirklich sicher, dass ich Desiree heiße? Habe ich denn keinen … gewöhnlicheren Namen?“

„Offensichtlich nicht. Aber wir können Sie auch anders nennen, wenn Sie sich dann wohler fühlen.“

„So ein Unsinn!“, gab sie schroff zurück, bereute aber schon im nächsten Moment ihre unbedachten Worte. Dieser Arzt konnte schließlich nichts dafür, dass sie ihr Gedächtnis verloren hatte. „Es tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich sein“, entschuldigte sie sich sofort. „Bitte verzeihen Sie mir.“

Dir würde ich alles verzeihen, schoss es Stewart durch den Sinn, und wieder fragte er sich, warum diese Frau ihn innerlich so sehr berührte. „Kein Problem“, sagte er schnell, um sich von seinen verwirrenden Gefühlen abzulenken. „Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie Sie sich im Moment fühlen.“

Desiree sah ihn prüfend an. „Kann es sein, dass wir uns schon mal begegnet sind? Sie kommen mir bekannt vor.“

„Ja, wir haben uns schon einmal gesehen. Außerdem bin ich Ihr Schwager, Stewart Kramer.“

Autor

Fiona McArthur

Fiona MacArthur ist Hebamme und Lehrerin. Sie ist Mutter von fünf Söhnen und ist mit ihrem persönlichen Helden, einem pensionierten Rettungssanitäter, verheiratet. Die australische Schriftstellerin schreibt medizinische Liebesromane, meistens über Geburt und Geburtshilfe.

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