Zerrissenes Herz

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Es gibt Tage am Willow Lake, da ist der Wind so still und das Wasser so ruhig, dass man nur den eigenen Herzschlag hört. Auch Daisy Bellamy lauscht, doch sie kann anhand des Klopfens nicht herausfinden, für wen ihr Herz stärker schlägt. Für den verantwortungsvollen Logan, den Vater ihres Sohnes? Oder den abenteuerlustigen Justin, den sie seit ihrer Jugend liebt? Diese Entscheidung wird ihr auf schicksalhafte Weise abgenommen. Daisy stürzt sich in ihre Arbeit als Fotografin - und in die Arme des Mannes, der ihr und ihrem Sohn ein stabiles Zuhause geben kann. Langsam kehrt eine gewisse Ruhe in ihr Herz und in ihr Leben ein. Bis mit einem Mal der Mann vor ihr steht, den sie nie vergessen konnte. Wie wird sie sich jetzt entscheiden?


  • Erscheinungstag 10.07.2012
  • Bandnummer 7
  • ISBN / Artikelnummer 9783862784363
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Wiggs

Zerrissenes Herz

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Ivonne Senn

image

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Marrying Daisy Bellamy

Copyright © 2011 by Susan Wiggs

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Thinkstock /Getty Images, München;

Trevillion, Brighton/UK.

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz;

Crystal Photography

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-436-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

TEIL EINS

1. KAPITEL

Der Bräutigam sah so gut aus, dass Daisy Bellamy bei seinem Anblick beinahe das Herz geschmolzen wäre. Bitte, dachte sie. Oh bitte, lass es dieses Mal richtig sein.

Er schenkte ihr ein kurzes, nervöses Lächeln.

„Komm schon“, flüsterte sie kaum hörbar. „Noch einmal mit Gefühl. Sag Ich liebe dich so, als würdest du es auch meinen. Zeig mir, was du fühlst!“

Er war der Märchenprinz in seinem taubengrauen Smoking, kein Haar tanzte aus der Reihe, aus jeder Pore strahlte Bewunderung. Er schaute ihr tief in die Augen und sagte mit vor Ernsthaftigkeit brechender Stimme: „Ich liebe dich.“

Ja“, flüsterte Daisy. „Ich hab’s“, fügte sie dann hinzu und senkte die Kamera. „Genau davon habe ich gesprochen. Gut gemacht, Brian!“

Der Videograf kam näher, um die Reaktion der frischgebackenen Braut einzufangen, eine errötende, hübsche junge Frau namens Andrea Hubble. Als wäre die Kamera gar nicht anwesend, lockte Zach Alger das Pärchen mit einem oder zwei leisen Worten, und schon sprachen sie auf ganz vertraute Weise über ihre Liebe, ihre Hoffnungen und Träume, ihr Glück an diesem herrlichen Tag.

Daisy gelang eine ungestellte Aufnahme von den beiden, als sie einander den Kopf für einen Kuss zuneigten. Im Hintergrund erhob sich ein Seetaucher aus dem Willow Lake, Wassertropfen glitzerten im Licht der frühen Abenddämmerung. Die Schönheit der Natur machte den Augenblick noch romantischer. Und Daisy war gut darin, Romantik mit der Kameralinse einzufangen. Im wahren Leben hingegen …

Sie sehnte sich danach, die Freude zu finden, die sie in den Gesichtern ihrer Kunden sah, aber ihre romantische Vergangenheit bestand aus einer Aneinanderreihung von Fehlern und verpassten Chancen. Sie selbst nannte sich eine Vermasslerin, weil sie so viel in ihrem Leben vermasselt hatte. Eine Vermasslerin, die alles versuchte, um ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Denn sie hatte einen kleinen Sohn, der nicht ahnte, dass seine Mutter eine Vermasslerin war. Eine mit verantwortungsvollem Beruf, die in sich die Sehnsucht nach etwas verspürte, das sie nicht haben konnte – die schimmernde Liebe, die ihre Kamera durch die sehr teure Linse beobachtete.

„Ich denke, wir sind hier fertig“, sagte Zach und warf einen Blick auf die Uhr. „Und ihr zwei werdet, glaub ich, dringend auf einer Feier erwartet.“

Das Brautpaar drückte einander die Hände. Ihre Gesichter waren ein einziges großes Lächeln. Daisy spürte die aufgeregte Vorfreude, die von ihnen ausging. „Die größte Party unseres Lebens“, sagte Andrea. „Ich will, dass alles perfekt ist.“

Das wird es aber nicht, dachte Daisy. Sie hielt die Kamera immer noch so, dass sie jederzeit auf den Auslöser drücken konnte. Die besten Fotos entstanden in Momenten, in denen sich die Menschen unbeobachtet fühlten. Und die kleinen Makel waren es, die eine Hochzeit besonders und erinnerungswürdig machten. Der Glanz der Unvollkommenheit gehörte zu den ersten Entdeckungen, die Daisy in ihrer Anfangszeit als Hochzeitsfotografin gemacht hatte. Jedes Ereignis, egal wie sorgfältig es auch geplant worden war, hatte seine Unvollkommenheiten. Es würde immer einen Trauzeugen geben, der mit dem Gesicht in der Punschschüssel landete, ein zusammenbrechendes Pavillonzelt, Haare, die in Brand gesetzt wurden, weil sich jemand zu weit über eine Kerze gebeugt hatte, eine übergewichtige, ohnmächtig werdende Tante, ein weinendes Baby.

Das waren die Dinge, die das Leben interessant machten. Und als alleinerziehende Mutter hatte Daisy das Ungeplante zu schätzen gelernt. Denn einige der schönsten Erlebnisse ihres Lebens waren passiert, als sie es am wenigsten erwartet hatte – die kleinen Hände ihres Sohns, als sie ihre umklammert und sie viel stärker auf dem Boden gehalten hatten als die Schwerkraft. Einige der schlimmsten allerdings auch – ein Zug, der aus dem Bahnhof gefahren und sie allein mit ihren Träumen zurückgelassen hatte –, aber sie versuchte, nicht allzu lang darüber nachzudenken.

Sie schlug vor, dass die Frischverheirateten Hand in Hand über die große Wiese am Willow Lake gingen. Während des Zweiten Weltkrieges hatte es hier einen Victory Garden gegeben – ein Garten, in dem Gemüse und Kräuter angepflanzt wurden, um die Bevölkerung zu versorgen und die Moral zu stärken. Jetzt war die Wiese eine von Daisys liebsten Fotokulissen, vor allem zu dieser goldenen Stunde des Tages, wenn die Zeit zwischen Nachmittag und Abend schwebte.

Die letzten rosa- und bernsteinfarbenen Strahlen der Sonne fielen auf die Wiese. Dieser Moment war für Andrea und Brian einfach perfekt. Die Braut ging ein kleines Stückchen vor ihrem Mann, das Kinn stolz erhoben. Die Haltung des Bräutigams war beschützend, und zugleich strahlte jede seiner Gesten pure Freude aus. Der Wind hob ihr Kleid an, sodass die Schatten die beiden wie ein zartes Netz miteinander verbanden. Das ungeprobte Schauspiel der Bewegung fiel mit dem wie Gewehrfeuer klingenden Klicken des Kameraauslösers zusammen.

Als Daisy sich die Bilder auf dem Display anschaute, wusste sie, dass sie das Foto dieses Pärchens gemacht hatte – das Bild, das für immer an diesen Tag erinnern würde.

Obwohl … Sie zoomte einen kleinen Fleck am Horizont näher heran.

„Verdammt“, murmelte sie.

„Was?“ Zach beugte sich über ihre Schulter.

„Jake, der Hund der Fritchmans, ist wieder ausgerissen.“ Sie sah ihn in all der hochauflösenden Pracht, ein Scherenschnitt vor dem Himmel, der gerade ein Häufchen machte.

„Ein Klassiker“, merkte Zach an und machte sich wieder daran, seine Kabel zusammenzurollen und seine Ausrüstung für die Feier zusammenzupacken.

Daisy drückte einen Knopf, um das Bild für spätere Retuschen zu markieren.

„Bereit?“, fragte sie Zach.

„Zeit weiterzufeiern“, antwortete er. Sie folgten dem Brautpaar den Weg am See entlang zum Hauptgebäude des Camp Kioga, wo die Hochzeitsfeier stattfinden würde. Das Pärchen zog sich noch kurz zurück, um sich für seinen Auftritt frisch zu machen. Währenddessen bereitete sich Daisy darauf vor, die Feier fotografisch festzuhalten.

Die Braut war ihr von Anfang an sympathisch gewesen, und Camp Kioga liebte sie sowieso. Das ruhige Resort am See war ein historisches Wahrzeichen und gehörte Daisys Großeltern. Inmitten der Wildnis von Ulster County und in der Nähe des Städtchens Avalon gelegen, war Camp Kioga als Zufluchtsort für die Elite aus New York City gegründet worden – ein Ort, an dem die gut Betuchten der drückenden Sommerhitze der Stadt entfliehen konnten.

Inzwischen war Camp Kioga von Daisys Cousine Olivia zu einem Luxusresort umgebaut worden. Letztes Jahr war das neu eröffnete Resort auf www.Iamthebeholder.com erwähnt worden, und seitdem war es stets gut gebucht.

Für Daisy war Camp Kioga mehr als nur ein schöner Ort. Sie hatte hier die schönsten – und schmerzvollsten – Augenblicke ihres Lebens erlebt, und die Landschaft hatte ihre Auffassung von ästhetischer Fotografie geprägt.

Die Firma, für die sie arbeitete, seit sie den Collegeabschluss hatte, hieß Wendela’s Wedding Wonders und war in der Region fast eine Institution geworden. Daisy war sehr dankbar für den Job. Die Aufträge kamen stetig, die Arbeitszeiten waren verrückt, das Einkommen war angemessen, wenn auch nicht üppig. Es würde nie an Menschen mangeln, die heiraten wollten. Aber ja, sie gab es zu, sie träumte davon, Hochzeiten und Porträts hinter sich zu lassen. Denn ihre tiefste Liebe galt der erzählenden Naturfotografie, wie sie es nannte.

Denn im Grunde genommen war sie eine Geschichtenerzählerin. Ihre Fotos boten intime Einblicke durch die Kameralinse. Daisy fing die zerbrechliche, vergängliche Natur der sie umgebenden Welt mit Bildern ein, die sie tief bewegten und starke Gefühle weckten, allein durch die Anmut von Bäumen, die ihre Äste ins Wasser tauchten, durch die Fülle eines grünschattigen Waldes im Frühling oder durch die epischen Formen der Granitklippen über einem Abgrund. Im College hatte sie immer unter Zeitdruck gelitten, weil die Abgabetermine festgestanden, die Motive sich aber nicht hatten drängen lassen – Kaulquappen, die sich verwandelten, ein Rehkitz, das sich einen Weg über eine Lichtung suchte, ein regungslos in den sumpfigen Ebenen stehender Fischreiher, der auf seine nächste Mahlzeit lauerte.

In der Fotografie hatte sie ihre künstlerische Stimme gefunden und die Leidenschaft für ihre Arbeit. Die Faszination hatte mit einer geschenkten Kodak-Kamera zu ihrem achten Geburtstag angefangen. Daisy hatte ein Foto von ihrer Grandma geschossen, die an jenem Tag gelernt hatte, wie man Hula Hoop tanzt. Dieses Erlebnis hatte sie mit so viel Befriedigung erfüllt, dass es sich beinahe wie eine Segnung angefühlt hatte. Es war ein Augenblick gewesen, der nie wiederkehren würde; sie hatte ihn für alle Zeiten eingefangen. Und obwohl es ein Foto ihrer Großmutter war, hatte das Bild etwas Universelles, das jeder verstand.

In jenem Moment hatte sie die Macht der Fotografie verstanden. Heute wünschte Daisy sich oft mehr Zeit, um mit ihrer Kamera wahre Kunst herzustellen, aber sogar bildende Künstler – und deren kleine Söhne – mussten essen. Für eine alleinstehende Mutter stach ein geregeltes Einkommen jede hohe Kunst aus. Und die Snobs unter den Fotografen schienen eine Tatsache zu vergessen: Inmitten einer Hochzeit boten sich unzählige Gelegenheiten, einen überirdischen Moment zu finden. Ein guter Fotograf wusste einfach, wo man Ausschau hielt und wie man diese Momente einfing. Auf einer Hochzeit waren die Menschen am echtesten. Die gleiche Geschichte spielte sich auf unendlich viele und verschiedene Weisen ab, und das war es, was Daisy faszinierte.

Sie war gefesselt von der geheimnisvollen Alchemie, die ein Paar zueinander zog und es veranlasste, gemeinsam die Reise durchs Leben anzutreten. Wenn sie richtig bedient wurde, konnte eine Kamera die Geschichte wieder und wieder erzählen, in all ihren unterschiedlichen Ausprägungen.

Vielleicht lag es daran, dass Daisy es selber so gerne verstanden hätte. Wenn sie die weltbeste Expertin im Einfangen der glücklichsten Augenblicke des Lebens wurde, dann kam sie vielleicht darauf, wie sie selbst das Glück finden konnte.

Die Hochzeit war nicht perfekt. Mitten in ihrer Ansprache versagte Andrea Hubbles Mutter die Stimme, und sie war in Tränen aufgelöst. Der Champagner ging schon nach einer Stunde zur Neige, und dem DJ brannte ein Lautsprecher durch. Eine der Brautjungfern bekam aufgrund einer Lebensmittelallergie einen Ausschlag. Der Fünfjährige, der die Ringe getragen hatte, wurde verzweifelt gesucht und schließlich schlafend unter einem der Banketttische gefunden.

Daisy wusste, dass innerhalb weniger Stunden nichts mehr davon wichtig sein würde. Als der DJ seine Anlage abbaute und die Arbeiter die Tische auseinandernahmen, entschwand das überglückliche Pärchen in die Nacht in Richtung Summer Hideaway, der am einsamsten gelegenen Hütte des Resorts. Die letzte Aufnahme des Tages, erhellt vom Mond und von Daisys Lieblingsblitz, zeigte sie auf dem Weg zur Hütte. Der Bräutigam hob den Arm und wirbelte seine Braut im Kreis herum. Keine Frage, die Nacht wird für die beiden gut verlaufen, dachte Daisy und packte ihre Sachen mit einem rastlosen Seufzen ein.

Die Hochzeitsgäste hatten die anderen Unterkünfte von Camp Kioga in Beschlag genommen – alte Schlafbaracken, A-förmige Hütten oder luxuriöse Zimmer im Hauptgebäude.

Auf dem Heimweg öffnete Zach im Lieferwagen eine Bierdose, die er aus der Bar entwendet hatte, und hielt sie Daisy hin.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein danke. Hast du ganz für dich allein.“ Auch wenn sie jung war und gerade erst das College hinter sich hatte, war sie kein großer Freund von Alkohol. Was vermutlich daran lag, dass der bei ihr nie zu etwas Gutem geführt hatte. Unter anderem war Alkohol der Grund dafür, dass sie mit neunzehn Mutter geworden war. Wenn Charlie sie jemals fragte, woher Babys kamen, würde sie einen Weg finden müssen, ihm zu erklären, dass zur Entstehung lediglich ein Übermaß an Bowle und ein ganzes Wochenende voller dummer Entscheidungen nötig waren.

„Dann trinke ich auf dich“, sagte Zach. „Und auf Mr und Mrs Glücklich-bis-ans-Lebensende. Mögen sie lange genug zusammenbleiben, um die Hochzeit abzubezahlen.“

„Sei nicht so zynisch!“, schalt Daisy ihn. Zach Alger hatte es bisher nicht leicht gehabt. Aber sie waren ein gutes Team. Er war mehr als nur ihr Assistent und Videograf. Er war eines ihrer liebsten – und widerwilligsten – Fotomodels, was an seinen starken, kantigen Gesichtszügen und seinem ungewöhnlich nordischen Teint lag. Er war so blass, dass er manchmal für einen Albino gehalten wurde. Er war total unsicher wegen seines weißblonden Haars, das die Farbe von anderen Quellen zu absorbieren schien. Daisy hatte es schon immer cool gefunden. Einige der Bilder, die sie von ihm gemacht hatte, waren für Werbezwecke gekauft worden. Offensichtlich war sein Look – der blasse Teint und die Winteraugen – in Japan und Südkorea sehr beliebt. Irgendwo im Fernen Osten verkaufte sein Gesicht Aftershave und Handyverträge.

Allerdings reichte das nicht, um seine Rechnungen zu bezahlen. Er war auch gerade erst mit dem College fertig und sehr begabt in allem, was mit Hightech und Medien zu tun hatte. Was sie jedoch am meisten an Zach mochte, war, dass er ihr ein guter Freund war, keine Vorurteile hatte und ein guter Gesprächspartner war.

„Ich meine ja nur …“

„Mach dir keinen Kopf“, sagte sie. „Du machst dir immer viel zu viele Sorgen.“

„Ja, genau. Und du nicht, oder was?“

Damit hatte er sie. Als Mutter fand Daisy es allerdings auch schwierig, absolut sorgenfrei durchs Leben zu gehen.

„Wenn wir unsere Sorgen zusammenschmeißen“, schlug sie vor, „haben wir bestimmt fast genug Energie, um diesen Wagen anzutreiben.“

„Ich brauche nur genug, um es bis zum Ende des Monats zu schaffen.“ Zach trank das Bier, rülpste und schwieg. Er schaute aus dem Fenster und blickte in das absolute Nichts, dem Avalon bei Nacht glich. Die Einheimischen machten Witze darüber, dass die Bürgersteige um neun Uhr abends hochgeklappt würden, aber das war eine Übertreibung. Acht Uhr traf es eher.

Daisy und Zach mussten die Stille nicht mit sinnlosem Gerede füllen. Sie kannten einander seit der Highschool, und sie beide hatten Prüfungen hinter sich. Während sie als Teenager Mutter geworden war, hatte Zach sich mit dem finanziellen Ruin seines Vaters und der folgenden Verhaftung wegen Korruption herumschlagen müssen. Nicht unbedingt ein Rezept für Gelassenheit.

Doch irgendwie hatten sie sich durchgekämpft und waren ein wenig lädiert, aber immer noch heil aus allem herausgekommen. Zach arbeitete methodisch einen Berg von Studentendarlehen ab, während Daisy damit lebte, eine Reihe schlechter Entscheidungen getroffen zu haben. Sie fühlte sich, als würde sie ihr Leben verkehrt herum leben, angefangen damit, dass sie so früh Mutter geworden war. Dann waren Schule und Arbeit gekommen, und inzwischen hatte sie alles ins Gleichgewicht gebracht. Doch eines fehlte ihr noch. Das, was sie beinahe jedes Wochenende fotografierte, was ihre stetig wechselnden Kunden feierten und hochleben ließen. Liebe und Ehe. Das sollte ihr nicht so viel bedeuten. Sie wünschte, sie könnte glauben, dass ihr Leben im Moment genau richtig war. Aber damit machte sie sich nur selbst etwas vor.

Es war eine Herausforderung, zurückzuschauen und die eigenen Entscheidungen dabei nicht infrage zu stellen. Sie hätte es mit der Ehe versuchen können. Ein überraschender Antrag an Heiligabend hatte sie vollkommen umgehauen. Sogar jetzt noch, mehr als ein Jahr später, hyperventilierte sie allein beim Gedanken daran. Während sie sich an den Abend erinnerte, der ihr Leben hätte ändern können, verstärkte Daisy unwillkürlich den Griff ums Lenkrad. Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? Oder bin ich vor dem Einzigen weggelaufen, was mich hätte retten können?

„Ist Charlie heute Abend bei seinem Vater?“, brach Zach das Schweigen.

„Ja. Sie sind das dynamische Duo.“ Sie bremste ab, als sie eine kleine Waschbärenfamilie am Straßenrand sah. Der Größte der drei blieb stehen und warf einen Blick aus funkelnden Augen in Richtung der Scheinwerfer, bevor er die beiden kleineren in den Graben trieb.

Charlies Vater, Logan O’Donnell, war in seinen Teenagerjahren genauso verkorkst und unvorsichtig gewesen wie Daisy. Aber genau wie Daisy hatte die Elternschaft auch Logan verändert. Und wenn sie ihn brauchte, damit er sich einen Abend oder auch über Nacht um Charlie kümmerte, war er sofort da.

„Und was ist mit dir und Logan?“, wollte Zach wissen.

Sie schnaubte. „Wenn es etwas zu erzählen gibt, bist du der Erste, der es erfährt.“ Die Sache mit ihr und Logan war kompliziert. Das war das einzige Wort, das ihr einfiel, um die Situation zu beschreiben. Kompliziert.

„Aber …“

„Nichts aber.“ Sie bog um eine Ecke und fuhr auf den Marktplatz zu. Um diese Zeit war niemand auf der Straße. Zach wohnte in einer kleinen Altbauwohnung über der Sky River Bakery. Als Teenager hatten sie beide dort gejobbt. Nun wurden die riesigen Mischmaschinen und Backöfen in den frühen Morgenstunden von einer neuen Generation von Jugendlichen bedient. Kaum zu glauben, aber Daisy und Zach gehörten nicht mehr dazu.

Sie fuhr in eine Parklücke. „Ich bin morgen um zehn im Studio. Ich habe Andrea für nächsten Samstag einen ersten Rohschnitt versprochen.“

„Meine Güte“, entgegnete er stöhnend. „Weißt du, wie viele Stunden ich aufgenommen habe?“

„Allerdings. Aber es ist doch nur ein kurzer Vorabblick. Ich mag diese Braut, Zach. Ich will sie glücklich machen.“

„Ist das nicht die Aufgabe des Bräutigams?“

„Sie hat vier jüngere Schwestern.“

„Ich weiß. Sie konnten sich nicht von der Kamera fernhalten.“ Er öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Im Schein der Straßenlaterne leuchtete sein Haar wie Bernstein.

„Vielleicht konnten sie sich einfach nicht von dir fernhalten“, meinte Daisy.

„Ja, bestimmt.“ Vermutlich errötete er, aber in diesem Licht konnte Daisy es nicht erkennen. Zach hatte noch nie viele Dates gehabt. Aber auch wenn er es niemals zugegeben hätte, wusste Daisy, dass er seit der Vorschule eine Schwäche für ihre Stiefschwester Sonnet hatte.

„Gute Nacht, Zach“, sagte sie.

„Wir sehen uns morgen. Bleib nicht mehr zu lange auf!“

Er kannte sie zu gut. Nach einer Veranstaltung wie dieser war sie meist noch zu aufgedreht und konnte nicht widerstehen, ihre Bilder hochzuladen. Sie liebte es, ein einzelnes, perfektes Bild auf ihre Website zu stellen, um der Braut einen Vorgeschmack auf das zu geben, was kommen würde.

Ihr Zuhause war ein unscheinbares, kleines Häuschen in der Oak Street. Sie ließ sich Zeit, die Tür zu öffnen und einzutreten. Das Schlimmste daran, Charlie gemeinsam mit einem Mann aufzuziehen, der nicht bei ihr wohnte, war, dass sie ihren Sohn wie verrückt vermisste, wenn er bei seinem Vater war.

Sie schloss die Tür hinter sich, und die allumfassende Stille raubte ihr den Atem. Totale Stille war ihr noch nie gut bekommen. Dann dachte Daisy zu viel nach, und wenn sie zu viel nachdachte, fing sie an, sich Sorgen zu machen. Wenn sie sich Sorgen machte, machte sie sich selbst verrückt. Und wenn sie sich verrückt machte, wurde sie zu einer schlechten Mom. Es war ewig dasselbe.

Vielleicht würde sie sich einen Hund zulegen. Ja, einen freundlichen, herumspringenden Hund, der sie mit Schwanzwedeln und fröhlichem Fiepen an der Tür begrüßte. Ein lustiger, urteilsfreier Hund, der sie von allem ablenken würde, worüber sie nicht nachdenken wollte.

„Ein Hund“, sagte sie laut. „Genial.“

Sie ging in die Büroecke, holte die Speicherkarten mit den Fotos der Hochzeit aus ihrer Tasche und sah zu, während ein Bild nach dem anderen auf ihrem Computer geöffnet wurde. Einige waren ihr höchst vertraut – Fotos, die sie gemacht hatte, weil niemand darauf verzichten wollte: der erste Tanz des Brautpaares, dessen Silhouette sich dramatisch gegen den nächtlichen Himmel abhob; oder die Eltern von Braut und Bräutigam, die miteinander anstießen. Andere Fotos waren einzigartig, eine Pose oder ein Ausdruck, den sie noch nie gesehen hatte. Sie hatte die Großmutter der Braut schielend beim Austernschlürfen erwischt und den Onkel des Bräutigams, wie er hingerissen lächelnd einem Lied lauschte. Eine Aufnahme zeigte eine der Brautjungfern, die sich duckte, um den Brautstrauß nicht zu fangen. Und dann war da der eine Schuss, das eine Bild, das sie erwartet hatte und das alles andere in den Schatten stellte.

Es war das Foto von Braut und Bräutigam, wie sie Hand in Hand über die Wiese gingen. Es erzählte eine Geschichte, erklärte, wer sie waren, und zeichnete sie als Paar aus. Zwei gemeinsam, verbunden durch ihre Hände in einer Geste, die ewigwährend wirkte.

Das perfekte Bild – sobald sie Jake daraus entfernt hatte. Daisy öffnete das Bildbearbeitungsprogramm. Der häufchenmachende Hund im Hintergrund musste verschwinden. Während sie das Foto sorgfältig bearbeitete, betrachtete sie den Lichtschein auf den Farnwedeln, das verzerrte Spiegelbild des Pärchens auf dem Wasser, die sich auf dem Gesicht der Braut spiegelnden Gefühle und die Freude, die der Bräutigam ausstrahlte. Das Foto war gut. Besser als gut. So gut, dass ich es bei einem Fotowettbewerb einreichen kann, dachte Daisy.

Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf schoss, warf sie einen Blick auf die Mappe, die im Postkorb auf ihrem Schreibtisch lag. Da sollte sie ihre Fotos einreichen: beim Fotowettbewerb des Museum of Modern Art in New York. Die besten Beiträge wurden jedes Jahr in einer Ausstellung in der Abteilung für aufstrebende Künstler des MoMA gezeigt. Der Wettbewerb war der am höchsten angesehene der ganzen Branche. Dort ausgewählt zu werden öffnete Türen und war karrierefördernd. Daisy wünschte sich nichts sehnlicher, als ihre Arbeiten dort einzureichen.

Doch das Postkörbchen war jämmerlich leer, die Mappe wie eine leicht geöffnete Tür, hinter der nur Leere lauerte. Alle guten Vorsätze der Welt, alle Ambitionen und hochfliegenden Träume konnten Daisy das Eine nicht geben, das sie brauchte, um das Projekt zu vollenden und ihre Sachen einzureichen: das Geschenk der Zeit. Manchmal ertappte sie sich dabei, dass sie sich fragte, wann ihr Leben endlich anfangen würde, ihr Leben zu werden.

Sie schob den Frust beiseite und konzentrierte sich wieder auf das Hochzeitsfoto, das sie schnell auf Wendelas Blog stellte und mit der Überschrift „Andrea und Brian – kleiner Vorgeschmack“ versah. Dann lehnte sie sich zurück, schaute das Foto an und gab sich einem ganz privaten kleinen Weinkrampf hin. Sie wollte nicht, dass die Menschen erfuhren, dass der Anblick von glücklichen Pärchen sie zum Weinen brachte. Sie wollte nicht, dass irgendjemand ihren Wunsch, ihr Verlangen, ihre herzzerreißende Sehnsucht sah. Deshalb weinte sie allein in der späten Abendstunde. Anschließend fuhr sie ihren Computer herunter.

Inzwischen war es ein Uhr nachts. Sie musste dringend ins Bett. Als sie durch das Haus ging, um überall das Licht zu löschen, fielen ihr ein paar Umschläge auf dem Fußboden unter dem Briefschlitz in der Tür auf. Sie beugte sich hinunter, um sie aufzuheben, und blätterte durch den kleinen Stapel. Werbesendungen und Flyer. Spendenaufrufe und Ankündigungen von Nachbarschaftstreffen. Rabattmarken, die sie niemals benutzen würde. Und … ein cremefarbener Umschlag, auf den ihre Adresse mit einer nur zu vertrauten Handschrift geschrieben worden war.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie riss den dicken Umschlag auf.

… laden wir Sie hiermit zu Julian Maurice Gastineaux’ Ernennung zum Second Lieutenant der United States Air Force ROTC, Abteilung 520, an der Cornell University am Samstag, den 14. Mai, um 13.00 Uhr im Statler Auditorium ein.

Auf der Rückseite stand mit der Hand geschrieben: „Ich hoffe, du kommst. Muss wirklich mit dir reden. J.“

So viel zum Thema Schlafen.

Es war verrückt. Ein simpler Name auf einem Stück Papier konnte sie in eine Vergangenheit zurückkatapultieren, die erfüllt war von „Was wäre wenn“ und Wegen, die nie beschritten worden waren. Denn Julian Gastineaux, bald Second Lieutenant Julian Gastineaux, war ihr persönlicher unbeschrittener Weg.

2. KAPITEL

Camp Kioga, Ulster County, New York

Fünf Jahre zuvor

Den Sommer ihres vorletzten Jahrs an der Highschool hatte Daisy mit ihrem Dad und ihrem kleinen Bruder in einer muffigen Holzhütte am See verbracht. Es war das Letzte, was Daisy gewollt hatte, aber ihr war keine Wahl geblieben. Sie hatte gemusst.

Auch wenn ihre Eltern nichts zu ihr oder Max sagten, spürte Daisy, dass ihre Familie im Begriff war zu zerbrechen. Ihre Mom und ihr Dad konnten die Fassade des glücklichen Pärchens nicht länger aufrechterhalten, auch wenn sie es seit Jahren versuchten. Die Lösung ihres Dads sah vor, sich aus ihrer Wohnung in der Upper East Side auf das Anwesen der Bellamys zurückzuziehen – das historische Camp Kioga am Willow Lake – und so zu tun, als wäre alles super.

Aber nichts war super, und Daisy war entschlossen, es zu beweisen. Sie hatte ihre Tasche mit ausreichend Haarzeug für einen Sommer, einem iPod, einer SLR-Kamera und einem üppigen Vorrat an Haschisch und Zigaretten vollgepackt.

Auch wenn sie fest entschlossen war, die hypnotisierende Schönheit des am See gelegenen Camps zu ignorieren, stellte sie fest, dass die tiefe Einsamkeit, die allumfassende Ruhe und die unvergesslichen Ausblicke sie irgendwie innerlich aufwühlten.

Nie hätte sie damit gerechnet, ausgerechnet hier, mitten im Niemandsland, jemanden kennenzulernen. Doch wie sich herausstellte, war ein Junge in ihrem Alter auch zu einem Aufenthalt im ehemaligen Sommercamp verdonnert worden – allerdings aus vollkommen anderen Gründen.

Als er das erste Mal zur Abendessenszeit den Speisesaal des Hauptgebäudes betrat, fühlte Daisy in sich eine wirbelnde Hitze aufsteigen und dachte, dass der Sommer vielleicht doch gar nicht so langweilig werden würde.

Er sah aus wie alles, wovor die Erwachsenen sie immer gewarnt hatten. Er war groß, schlank und kraftvoll. Er strahlte Selbstbewusstsein aus, vielleicht sogar ein wenig Arroganz. Seine kaffeefarbene Haut zierten Tattoos, seine Ohren waren gepierct, und er trug Dreadlocks.

Er schlenderte zum Buffet, geradewegs auf sie zu. Es war, als würde er von der unsichtbaren Hitze angezogen, die in ihr tobte.

„Nur damit du es weißt“, sagte er. „Das hier ist der letzte Ort, an dem ich meinen Sommer verbringen will.“

„Nur damit du es weißt“, erwiderte Daisy und klang genauso cool wie er. „Das hier war auch nicht meine Wahl. Wie kommst du überhaupt hierher?“

„Es war entweder das hier, also mit meinem Bruder Connor in diesem Kaff arbeiten, oder eine Schicht im Jugendknast“, sagte er leichthin.

Jugendknast. Er sagte es so dahin, als erwartete er, dass sie das Wort genauso selbstverständlich benutzte. Das tat sie jedoch nicht. Jugendhaft war etwas, das Kindern aus dem Getto oder den Ausländervierteln passierte.

„Du bist Connors Bruder?“

„Ja.“

„Ihr seht gar nicht wie Brüder aus.“ Connor war ein konservativer Typ, weiß, ein Holzfäller aus dem wilden Norden, wohingegen Julian dunkel und … gefährlich war; das totale Gegenteil.

„Halbbrüder“, warf er lässig ein. „Verschiedene Väter. Connor will mich hier nicht haben, aber unsere Mom hat ihn dazu verdonnert, sich um mich zu kümmern.“

Connor Davis war der Bauunternehmer, der mit der Renovierung von Camp Kioga beauftragt war. Es sollte zum fünfzigsten Hochzeitstag von Daisys Großeltern in neuem Glanz erstrahlen. Es wurde erwartet, dass jeder seinen Teil dazu beitrug, aber Daisy hatte nicht erwartet, jemanden wie Julian anzutreffen. Noch bevor sie seinen Namen erfahren hatte, hatte sie etwas ganz Elementares in dem Jungen wahrgenommen. Auf verschlungene, höchst geheimnisvolle Weise war er dazu bestimmt, wichtig für sie zu sein.

Er hieß Julian Gastineaux, und genau wie bei ihr würde sein letztes Jahr an der Highschool bald anbrechen. Doch abgesehen davon hatten sie nichts gemeinsam. Sie war aus der Upper East Side von New York City, stammte aus einer privilegierten, aber unglücklichen Familie und ging auf eine schicke Privatschule. Er war aus einer miesen Gegend in Chino, Kalifornien, die im Dunstkreis der Kuhweiden lag.

Wie Motten ums Licht tanzten sie während des Essens umeinander herum. Später wurden sie damit beauftragt, abzuräumen und zu spülen. Daisy äußerte nicht wie sonst üblich ihr Missfallen über diese Aufgabe. Und während sie mit Julian zusammenarbeitete, entwickelte sich eine vertrauliche Art der Kameradschaft zwischen ihnen. Daisy war fasziniert von der sehnigen Stärke seiner Unterarme und von seinen breiten, zupackenden Händen. Als sie die Geschirrtücher aufhängten, berührten sich ihre Schultern, der kurze Körperkontakt war auf eine Weise elektrisierend, die Daisy noch nie empfunden hatte. Sie kannte genügend Jungs, aber das hier war anders. Ein seltsames Erkennen, das sie gleichzeitig verwirrend und aufregend fand.

„Am See unten gibt es eine Feuerstelle“, sagte sie und suchte in seinen ungewöhnlichen, whiskeyfarbenen Augen nach einem Zeichen dafür, dass er es auch fühlte, doch sie war sich nicht sicher. Sie kannten einander kaum. „Vielleicht können wir da hingehen und ein Feuer machen.“

„Ja, wir könnten uns an den Händen halten und ‚Kumbaya‘ singen.“

„Ein paar Abende ohne Fernsehen und Internet – und du bettelst um ‚Kumbaya‘?“

„Klar.“ Sein großspuriges Lächeln wich schnell einem sehr süßen Gesichtsausdruck. Daisy fragte sich, ob er sich dessen wohl bewusst war.

In diesem Moment sah sie ihren Dad, der den Speisesaal gerade verlassen wollte, und rief: „Können wir am Strand ein Feuer machen?“

„Du und Julian?“ Während ihr Vater rasch näher kam, huschte sein misstrauischer Blick von ihr zu dem hoch aufgeschossenen Jungen.

„Puh, ja, Dad. Julian und ich.“ Sie versuchte, sich genauso genervt wie in den letzten Tagen zu zeigen. Ihr Dad sollte nicht wissen, dass sie langsam Gefallen daran fand, den Sommer in einem rustikalen Camp in den Catskills zu verbringen, während ihre Freunde an den Stränden der Hamptons feierten.

Zu ihrer Überraschung schaltete Julian sich ein. „Ich verspreche, dass ich mich untadelig benehme, Sir.“

Es war befriedigend zu sehen, wie ihr Dad überrascht die Augenbrauen hob. Das Wort Sir aus dem Mund des Dreadlock-Trägers zu hören, war ganz eindeutig unerwartet gekommen.

„Das wird er.“ Connor Davis gesellte sich zu ihnen und warf seinem Bruder einen warnenden Blick zu, der genau verriet, welcher der Brüder das Sagen hatte.

„Ich nehme an, dann spricht nichts dagegen“, antwortete Daisys Dad. Er erkannte vermutlich, dass Connor bereit war, Julian die Hölle heißzumachen, sollte er sich danebenbenehmen. „Vielleicht komme ich später mal vorbei, um nach euch zu sehen.“

„Klar, Dad.“ Daisy zwang sich, fröhlich zu klingen. „Das wäre toll.“

Sie und Julian waren beide nicht sonderlich gut darin, ein Feuer zu entzünden, aber das war ihr eigentlich egal. Sie verbrauchten eine ganze Schachtel Streichhölzer, und erst das letzte Hölzchen entzündete endlich die Flammen an den kleinen Ästen, die sie als Anmachholz benutzten. Als der Wind den Rauch in Daisys Richtung trug, drängte sie sich nur zu gern an Julian. Er machte keine Anstalten, ihr näher zu kommen, aber er rutschte auch nicht weg. Einfach nur in seiner Nähe zu sein fühlte sich unglaublich an. Es war ganz anders als das Rumgemache mit den Jungs von der Schule unter den Zuschauerbänken im Sportstadium oder in den Wohnheimen der Columbia University, wo sie bezüglich ihres Alters gelogen hatte, um auf eine Collegeparty zu kommen.

Als die Flammen erst einmal fröhlich in der Feuergrube tanzten, merkte Daisy, dass Julian ihr Spiegelbild auf der schwarzen Oberfläche des Sees betrachtete.

„Ich bin schon einmal hier gewesen“, sagte er. „Als ich acht war.“

„Echt? Du warst hier im Sommercamp?“

Er lachte leicht. „Ich hatte nicht wirklich eine Wahl. Connor ist in dem Jahr als Betreuer hier gewesen und musste den Sommer über auf mich aufpassen.“

Sie wartete auf weitere Erklärungen, doch er schwieg. „Weil …?“, hakte sie nach einer Weile nach.

Sein Lächeln schwand. „Weil es sonst niemanden gegeben hat.“

Die Einsamkeit, die aus seinen Worten sprach, und der Gedanke an ein Kind, das niemanden hatte außer seinem Halbbruder, berührten Daisy. Sie beschloss, ihn nicht nach Einzelheiten zu fragen, auch wenn sie unbedingt mehr über diesen Jungen erfahren wollte. „Und was hat dich dieses Mal hierher geführt?“

„Meine Mutter ist eine arbeitslose Künstlerin – sie singt, tanzt, schauspielert.“

Wie, dachte er etwa, sie würde ihn so leicht vom Haken lassen? „Das ist die Geschichte deiner Mutter. Mich interessiert aber deine.“

„Ich hab im Mai Ärger mit dem Gesetz bekommen“, antwortete er nun.

Na, das ist mal interessant, dachte sie. Faszinierend. Gefährlich. Sie beugte sich vor und rückte noch ein Stück näher heran. „Worum ging’s? Hast du ein Auto geklaut? Mit Drogen gehandelt?“ In der Minute, in der ihr die Worte über die Lippen gekommen waren, wollte sie am liebsten sterben. Sie war so ein Idiot. Er würde sicher denken, dass sie wegen seiner Hautfarbe Vorurteile hatte.

„Ich habe ein Mädchen vergewaltigt“, erwiderte er. „Vielleicht auch drei.“

„Okay“, lenkte sie ein. „Das hab ich verdient. Und ich weiß, dass du lügst.“ Sie schlang sich die Arme um die angezogenen Knie.

Eine Weile war er schweigsam, als überlege er, ob er sauer sein sollte oder nicht. „Lass mich überlegen. Sie haben mich dabei erwischt, wie ich nach Einbruch der Dunkelheit vom Zehnmeterturm im geschlossenen Freibad gesprungen bin, mit meinem Skateboard die Rampe eines Parkhauses runtergefahren bin … solche Sachen. Vor ein paar Wochen haben sie mich geschnappt, als ich mit einem selbst gemachten Bungeeseil von einer Highwaybrücke gesprungen bin. Der Richter hat mir für den Sommer einen Umgebungswechsel verordnet und gesagt, dass ich etwas Produktives tun soll. Glaub mir, dabei zu helfen, ein Sommercamp in den Catskills zu renovieren, ist das Letzte, worauf ich Bock hab.“

Das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte, war innerhalb von Sekunden auf den Kopf gestellt worden. „Warum solltest du einen Bungeesprung von einer Brücke machen?“

„Warum nicht?“

„Oh, lass mich überlegen. Du könntest dir jeden Knochen im Leib brechen. Gelähmt enden. Hirntot. Total tot.“

„Jeden Tag sterben Menschen.“

„Ja, aber von Brücken zu springen beschleunigt den Prozess.“ Allein bei der Vorstellung lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

„Es war großartig. Ich würde es sofort wieder tun. Ich hab fliegen schon immer geliebt.“

Damit hatte er ihr die perfekte Vorlage geliefert. Daisy griff in ihre Tasche und nahm ein Brillenetui heraus. Als sie es aufschnappen ließ, kam ein fetter, unförmiger Joint zum Vorschein. „Dann wird dir das hier gefallen.“

Mit dem glühenden Ende eines Zweiges zündete sie den Joint an und inhalierte tief. „Das ist meine Art zu fliegen.“ In der Hoffnung, ihn schockiert zu haben, hielt sie Julian den Joint hin.

„Danke, nein.“

Was? Wer schlug denn einen Zug vom Joint aus?

Er schien ihre Gedanken zu lesen, denn er fügte grinsend hinzu: „Ich muss aufpassen. Der Richter in Kalifornien hat meine Mutter vor die Wahl gestellt – entweder ich verlasse einen Sommer lang die Stadt, oder ich gehe für eine Weile in den Jugendknast. Weil ich hierhergekommen bin, ist der Bungee-Vorfall aus meiner Akte gestrichen worden.“

„Das klingt fair“, erwiderte sie, hielt ihm aber immer noch den Joint hin. „Du wirst nicht erwischt.“

„Ich mach nicht mit.“

Lächerlich. Was war er, irgend so ein Pfadfinder? Seine Zurückhaltung ärgerte sie; sie hatte das Gefühl, dass er sie verurteilte. „Komm schon! Das ist echt gutes Gras. Wir sind hier mitten im Nirgendwo.“

„Darüber mache ich mir keine Sorgen“, sagte er. „Ich mag es nur nicht, high zu werden.“

„Wie du meinst.“ Jetzt kam sie sich albern vor und warf schnell noch einen Ast aufs Feuer. Während sie beobachtete, wie er Feuer fing, murmelte sie: „Ein Mädchen muss seinen Spaß finden, wo immer es nur kann.“

„Also hast du Spaß?“, fragte er.

Sie blinzelte ihn durch den Rauch hindurch an und überlegte, ob sie sich diese Frage jemals selbst gestellt hatte. „Bisher ist dieser ganze Sommer … seltsam. Er sollte irgendwie mehr Spaß machen. Ich meine, überleg mal, es ist unser letzter Sommer als echte Kids. Nächstes Jahr um diese Zeit arbeiten wir schon und bereiten uns aufs College vor.“

„College.“ Er lehnte sich auf die Ellbogen zurück und schaute in den Sternenhimmel. „Der war gut.“

„Hast du etwa nicht vor, aufs College zu gehen?“

Er lachte.

„Was?“ Sie ließ den Joint zwischen ihren Fingern verglühen; es war ihr egal, wenn er ausging.

„Das hat mich noch niemand gefragt.“

Das konnte Daisy kaum glauben. „Haben dich nicht seit der neunten Klasse alle möglichen Lehrer und Berater genervt?“

Wieder lachte er. „An meiner Schule glauben sie, gute Arbeit geleistet zu haben, wenn kein Kind durchfällt, ein Baby bekommt oder verdonnert wird.“

Daisy versuchte, sich so eine Welt vorzustellen. „Wozu verdonnert?“

„Zu einer Jugendstrafe oder, schlimmer noch, zu Jugendarrest.“

„Du solltest die Schule wechseln.“

Wieder das freudlose Lachen. „Ich habe nicht wirklich eine Wahl. Ich gehe zu der am nächsten gelegenen, öffentlichen Schule.“

Sie war skeptisch. „Und dort wirst du nicht aufs College vorbereitet?“

Er zuckte mit den Schultern. „Die meisten Jungs kriegen einen miesen Job in der Autowaschanlage, spielen Lotto und hoffen auf das Beste.“

„Du kommst mir nicht wie die meisten Jungs vor.“ Sie hielt inne und studierte seinen amüsierten Gesichtsausdruck. „Was? Warum siehst du mich so an?“

„Ich bin nichts Besonderes.“

Das glaubte sie keine Sekunde lang. „Sieh mal, ich sage ja nicht, College wäre das Nirwana oder so, aber es schlägt die Arbeit in einer Waschanlage garantiert um Längen.“

„College kostet Kohle, die ich nicht habe.“

„Dafür gibt es ja Stipendien.“ Daisy erinnerte sich an die Vollversammlung zum Schuljahresende vor ein paar Wochen. Sie hätte sie ausfallen lassen, aber die Schülerzeitung hatte Fotos von ihr gebraucht. Irgendein Typ vom Militär hatte einen Vortrag darüber gehalten, wie man dafür bezahlt werden konnte, weiter zur Schule zu gehen. Sie hatte nicht richtig zugehört, aber das Thema war ihr trotzdem im Gedächtnis geblieben. „Dann geh zum ROTC. Das steht für Reserve Officer Training Corps. Das Militär übernimmt die Kosten für dein Studium. Verdienen, während man lernt, so nennen sie es.“

„Ja, aber die Sache hat einen Haken. Es gibt immer einen Haken. Sie schicken dich in den Krieg.“

„Sie lassen dich vermutlich mehr machen als nur Bungeespringen.“

„Was bist du, ein Rekrutierungsoffizier für die Typen?“

„Ich erzähle dir nur, was ich weiß.“ Ihr war egal, ob Julian zum College ging oder nicht. Ihr war ja sogar egal, ob sie zum College ging. Wenn sie Hasch rauchte, wurde sie meist geschwätzig. Seufzend schob sie den inzwischen erkalteten Joint in einen kleinen Reißverschlussbeutel, um ihn für später aufzuheben. Vielleicht für jemanden, der gemeinsam mit ihr high werden wollte. Das Problem war, sie wollte eigentlich nur mit Julian abhängen. Er hatte irgendwas an sich. „Es muss komisch sein, auf eine Schule zu gehen, in der einem niemand hilft, aufs College zu kommen“, sagte sie. „Aber nur weil dir niemand hilft, heißt das ja nicht, dass du dir nicht selbst helfen kannst.“

„Sicher.“ Er warf einen trockenen Ast aufs Feuer. „Danke für die Verkündung dieses öffentlichen Angebots.“

„Du trägst deine Nase aber ganz schön hoch.“

„Und du hast deinen Kopf in den Wolken.“

Daisy lachte laut. Sie warf den Kopf in den Nacken und stellte sich vor, wie die Töne gemeinsam mit den Funken und dem Rauch des Feuers in den Himmel stiegen. In Julians Gegenwart fühlte sie sich einfach wundervoll, und das lag nicht am Pot. Sie mochte ihn. Sie mochte diesen Jungen wirklich. Er war anders und besonders und irgendwie geheimnisvoll. Er berührte sie nicht, obwohl sie nichts dagegen gehabt hätte. Er küsste sie nicht, obwohl sie auch dagegen nichts einzuwenden hätte. Er saß einfach nur da und bot ihr ein kleines, leicht schiefes Lächeln an.

Diese Augen, dachte sie und spürte, wie ihr ein warmer Schauer über den Rücken lief. Sie schaute in seine Augen und dachte: Hallo, du andere Hälfte meiner Seele. Es ist schön, dich endlich kennenzulernen.

Heute

Daisy dachte weit mehr über ihre gemeinsame Vergangenheit mit Julian nach, als sie sollte. Vor allem in Zeiten wie diesen, mitten in der Nacht, wenn sie ganz allein war und sich nach körperlicher Berührung sehnte. Wenn ihr Leben einem Drehbuch gefolgt wäre, wäre nach dieser ersten, elektrisierenden Begegnung alles ganz einfach gewesen. Die Musik wäre angeschwollen, die Vögel hätten gesungen und das wär’s gewesen. Gehe direkt zu „Glücklich bis ans Lebensende“. Gehe nicht über „Los“, kassiere keine 200 Dollar. Geh einfach nur.

Sie wusste, dass das ein bisschen viel Gepäck für das erste Treffen von zwei Teenagern gewesen wäre. Das Camp in der Wildnis war die perfekte Kulisse für einen Sommerflirt gewesen – zwei Jugendliche, deren Leben unter keinem guten Stern stand, fühlten sich entgegen aller Wahrscheinlichkeiten zueinander hingezogen … und wurden am Ende des Sommers von ihren Familien auseinandergerissen, die sie nicht verstanden. Perfekt.

Außer dass es sich nicht so zugetragen hatte. Denn Daisy und Julian hatten stattdessen das Unmögliche getan. Sie hatten dem wilden Rausch der Hormone widerstanden, den Sommer in einem Zustand der schmerzhaften Sehnsucht nacheinander verbracht und sich wie durch ein Wunder trotzdem nicht aufeinander eingelassen. Es war kein wirkliches Wunder, sondern vielmehr auf Julians Selbstbeherrschung zurückzuführen gewesen. Er hatte seinem Bruder geschworen, sich von allem Ärger fernzuhalten. Und Daisy hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass Julian ein Mann war, der sein Wort hielt. Am Ende des Sommers waren sie getrennte Wege gegangen und hatten sich den Umständen gebeugt.

Sie hätte merken müssen, dass sie füreinander nie mehr als eine Sommererinnerung sein konnten. Im Herbst war in Manhattan ihr letztes Jahr an der Highschool angebrochen, und Daisy war ein wenig durchgedreht. Sie hatte eine unglaublich dumme Entscheidung getroffen, die zu einem genauso unglaublich wertvollen Geschenk geführt hatte – zu Charlie. Geboren im Sommer nach ihrem Schulabschluss. Aber nur weil sie ein Baby bekommen hatte, hatte das nicht bedeutet, dass sie Julian vergessen hatte. Sie hatte gewartet und gehofft, dass ihre Zeit irgendwann kommen würde. Doch sie hatte sich um ihr Kind gekümmert, und Julian war einem eigenen Traum gefolgt.

Sie versuchte, zwischen den Zeilen seiner Einladung zu lesen. Das war jedoch ein nutzloses Unterfangen, da es sich um eine gedruckte Einladung handelte. Die Worte auf der Rückseite hingegen konnten auf verschiedene Art interpretiert werden. Wollte er sie wirklich sehen, oder war er einfach nur höflich?

Sie wusste es nicht, weil die Sache zwischen ihnen wie immer seltsam war. Trotz einer gegenseitigen und nicht zu leugnenden Anziehungskraft versuchte Daisy, sich damit abzufinden, dass sie und Julian dazu bestimmt waren, jeweils eigene Wege zu gehen. Er stand kurz vor seinem Abschluss an der Cornell und konzentrierte sich auf das Studium und sein ROTC-Programm, wie es sich gehörte. Sie wohnte jetzt in Avalon, einem Ort, der ihr in jenem Sommer am ersten Tag im Camp Kioga wie das finsterste Sibirien vorgekommen war. Heute nannte sie ihn ihr Zuhause, weil ihre Familie hier lebte und es der beste Ort war, um Charlie aufzuziehen.

Es schien keine Möglichkeit für sie und Julian zu geben, zusammen zu sein, ohne dass einer von ihnen alles aufgeben musste. Es gab eben Dinge, so sagte sie sich, die einfach nicht sein sollten. Trotzdem konnte sie nicht anders, als zu träumen. Und in den tiefsten, schlaflosen Stunden der Nacht ertappte sie sich dabei, wie sie sich fragte, ob ihre Zeit jemals kommen würde, ob sie je die sengende Freude der Liebe verspüren würde, die ihre Kamera Hochzeit für Hochzeit einfing.

Eine kleine innere Stimme erinnerte sie daran, dass sie ihre Chance gehabt hatte, und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Es hatte einen Ring gegeben, einen Antrag … aber sie war zu verängstigt und verwirrt gewesen, um überhaupt nur darüber nachzudenken. Stattdessen hatte Daisy sich dafür entschieden, mit Charlie zusammen für ein Jahr ins Ausland zu gehen und dort zu studieren – ein Jahr, das ihr den endgültigen Beweis dafür geliefert hatte, wie sehr sie ihre Familie brauchte.

Oh Daisy, dachte sie. Finde heraus, was dein Herz fühlt. Wie schwer kann das wohl sein?

Innerlich zerrissen und rastlos, legte sie die Einladung beiseite. In ihr tobten die unterschiedlichsten Gefühle und schnürten ihr die Luft ab. Julian hatte immer diese Wirkung auf sie gehabt. Vom ersten Augenblick an, als sie sich als Teenager begegnet waren.

Trotz der unterschiedlichen Wege, die ihr Leben genommen hatten, war ihre Verbindung bestehen geblieben. Während ihrer Collegejahre – ihre auf dem SUNY in New Paltz, seine in Cornell – hatten sie es geschafft, sich hin und wieder zu sehen. Wann immer die Semesterferien sich überschnitten hatten und nicht mit seinen ROTC-Trainings und -Pflichten kollidiert waren, hatten sie sich gemeinsame Zeit gestohlen. Und jedes Mal war die Sehnsucht, die vor so vielen Jahren begonnen hatte, intensiver aufgeflammt. Sie schien trotz aller Widrigkeiten immer mehr zu wachsen. Sie fanden immer wieder zueinander, aber es war nie genug. Daisy verstand es nicht, versuchte, es wegzuerklären, denn mit einem Jungen wie Julian zusammen zu sein schien vollkommen unmöglich. Das Leben führte sie immer wieder in entgegengesetzte Richtungen. Er hatte das ROTC und Cornell, und sie hatte Charlie, ihre Arbeit und … Charlies Vater. Kein Wunder, dass es mit ihr und Julian nie geklappt hatte.

Manchmal, wenn Daisy davon träumte, mit Julian zusammen zu sein, versuchte sie, sich ihn und Charlie als Vater und Sohn vorzustellen.

Doch die schmerzhafte Tatsache war, dass Julian entschlossen schien, diese Rolle nicht anzunehmen. Er war nett zu Charlie, doch sie spürte, dass er eine gewisse Distanz wahrte. Sie erinnerte sich an das eine Mal, als Charlie ihn aus Versehen „Daddy“ genannt hatte. Julian war sichtlich zusammengezuckt und hatte gesagt: „Ich bin nicht dein Daddy, Junge.“

Er hatte nicht ahnen können, dass aus dieser Bemerkung ein Spitzname entstehen würde. Doch seit jenem Tag nannte Charlie Julian nur noch „Daddyjunge“.

Wenn man alleinerziehende Mutter ist, rief Daisy sich in Erinnerung, wird das Leben von den Bedürfnissen des Kindes bestimmt. Charlie braucht einen Dad, keinen Daddyjungen.

Entgegen allen Erwartungen war Logan ein ziemlich guter Vater. Wie Daisy hatte er seinen Abschluss auf der SUNY in New Paltz gemacht und sich danach in Avalon niedergelassen. Er hatte einem Versicherungsmakler, der in den Ruhestand ging, seine Agentur abgekauft. Die Geschäfte liefen gut. Trotz der wirtschaftlich schweren Zeiten brauchten die Menschen Versicherungen für den Fall, dass ihnen etwas passierte. Daisy wusste nicht, ob er Spaß an seinem Beruf hatte, aber was Charlie anging, war Logan ein absolut hingebungsvoller Vater. Und bisher funktionierte ihr unkonventionelles Arrangement tadellos.

Manchmal ertappte sie sich bei der Frage, ob das wirklich ihr Leben sein sollte.

Sie seufzte, nahm die Einladung noch einmal in die Hand und drehte die Antwortkarte hin und her. Die Zeremonie klang unglaublich wichtig. Sie war wichtig. Alles, was Julian seit der Highschool getan hatte, war wichtig. Ohne Geld und mit nichts als Köpfchen und Ehrgeiz hatte er genau das getan, was sie ihm in jenem Sommer vorgeschlagen hatte. Er hatte sich für das ROTC qualifiziert, um aufs College gehen zu können. Es war das einzige Mal, dass sie ihm einen Rat gegeben hatte, und es hatte tatsächlich funktioniert. Im Tausch für seine hervorragende Ausbildung schuldete er die nächsten vier Jahre seines Lebens der Air Force – und noch mehr, wenn er sich später für das Pilotentraining qualifizierte.

Diese Einladung bedeutete, dass er an irgendeinen Ort der Welt geschickt würde.

Irgendwohin, nur nicht hierhin, überlegte sie und dachte an den Ort, den sie ihr Zuhause nannte – das unglaublich kleine, unglaublich idyllische Örtchen Avalon, das so überhaupt keinen strategischen Nutzen für das Militär hatte.

Sie überprüfte das Datum in ihrem Kalender.

Ja, sie hatte an dem Tag frei. Wendela’s Wedding Wonders beschäftigte mehrere Fotografen und Videografen, und Daisy war an dem Wochenende nicht eingeplant. Sie könnte Logan bitten, auf Charlie aufzupassen, und nach Ithaca fahren, um mit ihrer Kamera Julians vielversprechenden Augenblick festzuhalten.

Sie wollte hingehen. Sie musste hingehen. Es musste ihr gelingen, etwas Zeit allein mit Julian zu finden. Nach all den Jahren, in denen sie sich nach ihm gesehnt hatte, nach all den Jahren, in denen sie aufeinander zugestolpert waren, nur um immer wieder von den Umständen auseinandergerissen zu werden, sah sie ihre Chance endlich gekommen.

Ein für alle Mal würde sie tun, was sie schon vor langer Zeit hätte tun sollen.

Es war an der Zeit, ehrlich zu Julian zu sein – und zu sich selbst. Sie durfte nichts zurückhalten. Nach all dieser Zeit würde sie ihm endlich sagen, was sie wirklich für ihn empfand. Seiner kryptischen Nachricht auf der Rückseite der Einladung nach zu urteilen, schienen seine Gedanken in die gleiche Richtung zu gehen.

3. KAPITEL

Julian Gastineaux fiel mit zweihundertvierzig Kilometern pro Stunde durch die Luft und genoss das Gefühl, dass der Wind bis in sein innerstes Wesen zu dringen schien. Er riss an jeder Naht des Fallschirmanzugs, füllte Nase und Mund, verzerrte ihm das Gesicht zu einer albtraumhaften Maske. Julian fühlte sich von einer Kraft getragen, die stärker war als jeder Mensch, und das war für ihn der ultimative Kick.

Es fühlte sich ein wenig an, wie verliebt zu sein.

Doch anders als bei der Liebe handelte es sich hierbei um eine optionale Trainingseinheit. Und Julian war der Meinung, wenn sich einem Mann die Gelegenheit bot, aus einem Flugzeug zu springen, dann musste er es tun. Die praktische Ausbildung hatte er zwar hinter sich, doch zu einem Fallschirmsprung würde er nie Nein sagen. Er mochte zwar ein wenig verrückt sein, aber er war nicht so dumm, eine solche Gelegenheit auszuschlagen. Dafür liebte er das Gefühl der Schwerelosigkeit und das Gefühl, nur vom Himmel umgeben zu sein, viel zu sehr. Er sah die Landschaft des Staates New York, die wie eine Patchworkdecke unter ihm lag – Hügel, von Bächen gespeiste Farmen, eine spektakuläre Reihe von lang gezogenen Seen, wie von Riesenhand in die Landschaft gegraben.

Da vibrierte der Höhenmesser und zeigte an, dass es an der Zeit war, sich von dem Anblick loszureißen. Julian löste den Hauptschirm, der sich in dem Luftstrom öffnen sollte.

Doch genau in dem Moment, als der Hauptschirm aus dem Rucksack gezogen werden sollte, wurde Julian von einem Scherwind erfasst und verlor die Kontrolle.

Und mit einem Mal wurde das, was als zusätzliches Training begonnen hatte, zu einem Albtraum. Er wurde von seinem Ziel weggetragen – viel zu weit, viel zu schnell, er war allein der Gnade der Luftströmung ausgeliefert. Durch zusammengebissene Zähne fluchend, gelang es ihm, den Ersatzschirm herauszuziehen. Die Leinen sollten sich eine nach der anderen entfalten, doch sie waren einfach nur ein heilloses Durcheinander. Der Hauptschirm hatte sich nicht ganz geöffnet und war vollkommen außer Kontrolle. Julian arbeitete mit den Steuerleinen, um langsamer zu werden, während er auf ein dicht mit Bäumen bestandenes Waldstück zuraste.

Er setzte das Notsignal, stieß noch ein paar Flüche aus und sprach ein Gebet.

Das Gebet wurde erhört – zumindest ein wenig. Julian war nicht mit zweihundertvierzig Sachen auf der Erde aufgeschlagen, war nicht in einen Klumpen aus Fleisch und Blut verwandelt worden. Stattdessen war es ihm gelungen, ein kleines bisschen zu navigieren und langsamer zu werden. Die Landung war jedoch nicht ganz das, was er sich vorgestellt hatte.

Kopfüber in seinem Fallschirmgeschirr hängend, konnte Julian die Welt von einem ganz besonderen Aussichtspunkt betrachten. Die biegsamen, mit jungem Blattwerk bedeckten Äste wippten unter seinem Gewicht. Er sah nichts außer Grün und Braun, kein Anzeichen von Zivilisation.

Verdammt. Das hier war die letzte Übung seiner Ausbildung, und die hätte gut verlaufen sollen.

Er zwang sich, bedacht vorzugehen und zu überlegen, was er nun tun könnte. Blut tropfte ihm übers Gesicht. Er hatte an vielen Stellen seines Körpers Schmerzen, aber es fühlte sich nicht so an, als ob etwas gebrochen wäre. Nur seine Schulter schien in Flammen zu stehen. Vielleicht war sie ausgekugelt. Seine Brille war komplett zerstört. Schon der vorsichtige Griff zum Taschenmesser sorgte dafür, dass Julian zu schnell in Richtung Erde rutschte, also hielt er sofort in der Bewegung inne und versuchte, seine nächsten Schritte sorgfältig zu planen. Sich kurz vor Dienstantritt den Hals zu brechen wäre nun wirklich das Dümmste, was er tun könnte. Und Daisy … Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was das für seine Pläne mit ihr bedeuten würde, und hoffte inbrünstig, dass dieses Missgeschick kein schlechtes Omen war.

Er erwog noch immer seine Möglichkeiten und beobachtete das seltsame Gefühl in seinem Kopf, als er ein krachendes Geräusch irgendwo im Wald hörte. Ein paar Minuten später erschien eine kleine Gestalt in einem Overall.

„Du bist ein verdammter Verrückter!“, tobte Sayers, seine Trainingspartnerin. Sie war ein durch nichts zu erschütterndes Mädchen aus Selma, Alabama, und erinnerte Julian an einige seiner Verwandten in Louisiana. Anders als die war Tanesha Sayers jedoch dazu verpflichtet, ihrem Kollegen zu helfen.

„Idiot!“, wütete sie. „Du hast verdammtes Glück, dass dein Signalfeuer funktioniert hat. Ansonsten könntest du hier herumhängen, bis dein Kopf rot anläuft und du irgendwann stirbst. Ach, zum Teufel, ich sollte dich einfach hängen lassen.“

Julian ließ sie weiterschimpfen. Er entschuldigte sich nicht; es hatte keinen Zweck, über den Scherwind zu sprechen. Außerdem war Sayers im Grunde genommen harmlos. Sie hatte die verblüffende Fähigkeit, jemanden gleichzeitig auszuschimpfen und dabei alles zu tun, was getan werden musste. Sie würde wie Julian den Rang des Second Lieutenant verliehen bekommen und würde ein guter Offizier werden. Während sie weiter vor sich hin schimpfte, kletterte sie in den Baum und fing an, Julian mithilfe ihres Messers zu befreien.

„Du hast selber ein Messer“, sagte sie. „Wieso hast du dich nicht losgeschnitten?“

„Das wollte ich ja. Aber ich wollte sichergehen, dass ich nicht die falsche Schnur durchschneide und auf dem …“ Er fiel hinunter und landete hart auf dem Waldboden. Trotz Helm spürte Julian den Aufprall deutlich.

„… Kopf lande“, beendete er den Satz. „Danke, Mom.“ Sayers’ Spitzname in der Einheit war Mom. Denn obwohl sie alle herumkommandierte, kümmerte sie sich auch mit der Inbrunst einer Bärenmutter um ihre Kameraden.

„Kein Grund, mir zu danken, Idiot“, sagte sie. „Halt einfach still, wenn ich das Pflaster auf die Wunde klebe.“

„Was für eine Wunde?“ Vorsichtig berührte er seine Stirn und spürte eine warme Feuchtigkeit am Haaransatz. Na großartig.

Sayers sprang vom Baum herunter und meldete über Funk, was passiert war.

Julian wischte sich die Hand am Overall ab, und in dem Moment fiel ihm der Ring ein. Er trug ihn schon seit langer Zeit mit sich herum. Sogar während des Sprungs hatte er ihn in einer mit einem Reißverschluss gesicherten Tasche direkt an seinem Herzen.

Wenn er Daisy dieses Mal den Ring anbot, würde es nicht wie das letzte Mal sein, nicht mitten in einem Faustkampf auf einem Bahnsteig. Dieses Mal …

Er riss den Klettverschluss am Kragen seines Overalls auf und tastete mit der Hand darunter. Mit den Fingern berührte er den Reißverschluss seiner Hemdtasche.

Sayers kniete sich vor ihn. „Was ist los?“

„Ich gucke nur … ah.“ Julian sank erleichtert zusammen, als sich seine Hand um die Ringschachtel schloss. Er zog sie heraus und öffnete sie, um das Innere zu enthüllen – einen zertifizierten, in warmes Gold gefassten Diamantring, in den „Für immer“ eingraviert war. Er hielt die Schatulle so, dass Sayers den Inhalt sehen konnte.

Sie betrachtete den Ring eingehend. „Tut mir leid, Sturkopf“, murmelte sie dann und benutzte seinen Spitznamen. „Aber ich liebe dich nicht auf diese Art.“

„Natürlich tust du das.“ Er klappte die Box zu und steckte sie wieder weg. „Du bist diejenige, die gerade vor mir kniet, Baby.“

„Hm.“ Sie riss die Verpackung eines sterilen Wundverbands auf. „Ich liebe deine Wunden. Ich schwöre, Sturkopf, du bist ein atmender, auf zwei Beinen gehender Crashtest-Dummy. Und das mag ich an dir so.“

Sayers wollte irgendwann Medizin studieren. Sie war nahezu besessen von Blut und Eingeweiden. Je blutiger, desto besser. Und Julian mit seinem Hang zum Extremen hatte sie während ihrer Ausbildung mit mehr als genug Abschürfungen, Verstauchungen, blauen Flecken und blutigen Wunden versorgt.

Nachdem sie die Schnittwunde gereinigt hatte, verschloss sie sie mit einigen Klammerpflastern. Dabei fragte sie: „Warum trägst du diesen Ring immer und überall mit dir herum?“

„Weil ich nicht weiß, was ich sonst damit tun soll. Ihn ganz unten in meine Unterwäscheschublade zu stecken kommt mir irgendwie … na ja, da bewahre ich normalerweise meine … Ach, vergiss es.“ Darüber wollte er mit Sayers nicht sprechen. „So ungern ich es auch sage, aber auch auf dem Campus passieren immer wieder Diebstähle.“

Unausgesprochen blieb eine andere Wahrheit, die ihnen beiden bewusst war: Wenn der Sprung tödlich geendet hätte, wäre die Ringschachtel eine stumme letzte Nachricht an die Frau gewesen, die er liebte und die er für immer lieben wollte.

„Ich schätze, wenn ich ihn dabeihabe, kann ich die Frage jederzeit stellen, wenn ich das Gefühl habe, der richtige Zeitpunkt ist gekommen.“

Geringschätzig schüttelte Sayers den Kopf und berührte noch einmal sanft die Reihe Klammerpflaster. „Dein Wort in Gottes Ohr“, sagte sie. „Stell nur sicher, dass das arme Mädchen auch anwesend ist, wenn du ihn herausholst.“

„Das ist der Plan. Ich habe sie zur Zeremonie eingeladen. Und falls sie kommt …“

„Warte mal. Falls? Das steht noch nicht fest?“

„Na ja, zwischen uns ist es schon immer ein bisschen seltsam gelaufen.“ Die Untertreibung des Jahres.

„Oh, wenn das mal nicht eine solide Basis für eine lang anhaltende Beziehung ist.“ Sie packte ihre Utensilien ein und zog dann an Julians Hand, um ihm auf die Füße zu helfen.

Während er vorsichtig Arme und Beine schüttelte, riss er sich zusammen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen. Seine Nervenenden hatten Nervenenden, aber Schmerz war nur ein Gefühl. Alles funktionierte tadellos – das war das Wichtigste. Trotz der brennenden Schmerzen war er sicher, dass sie keine Verstauchung oder gar einen Bruch übersehen hatten. Nein, er konnte auf eigenen Füßen stehen.

„Weißt du, die Sache ist die“, sagte er und packte seinen Schirm zusammen. „Mit Daisy und mir – wir sind wie ein sich bewegendes Ziel. Nichts ist je einfach. Sie hat ein Kind, ein großartiges Kind, aber das kompliziert alles. Sie geht in die eine Richtung, und ich gehe in eine andere. Wir sind irgendwie nie auf der gleichen Seite.“

Er und Sayers machten sich auf, den Wald zu verlassen. Beim Gedanken an Daisy klopfte Julian das Herz schneller. „Ich bin verrückt nach ihr und weiß, dass es ihr genauso geht. Eine Verlobung wird den ganzen unbedeutenden Quatsch aus dem Weg räumen und alles vereinfachen.“

Abrupt blieb Sayers stehen und drehte sich zu ihm um. Sie legte ihm eine Hand auf die Brust. „Oh Honey, bist du wirklich so dumm?“

Er grinste. „Sag es mir.“

Während sie sein Gesicht musterte, spiegelten sich Besorgnis, Verzweiflung und kaum verhohlene Leidenschaft in ihren Augen. „Meine Mama hat mal gesagt, man solle nie die Dicke eines männlichen Sturkopfs unterschätzen. Ich denke, sie hatte recht.“

„Was? Sie ist auch verrückt nach mir“, betonte Julian. „Das weiß ich.“

„Dann seid ihr ja zu zweit.“

Sie brauchten eine ganze Weile, um zurückzulaufen, einen Bericht zu schreiben und den Fallschirm in der Prüfstelle abzugeben, wo er genau untersucht werden würde.

Julian ignorierte das Stechen in der Schulter und kehrte auf den Campus zurück. Hastig lief er ins Studentenzentrum und holte seine Post ab. Während er zum Wohntrakt ging, blätterte er den kleinen Stapel durch. Er versuchte, der anstehenden Dienstgradverleihung nicht allzu viel Bedeutung beizumessen. Es war ein persönlicher Meilenstein, etwas, das er ganz allein geschafft hatte, und falls niemand außer seinem Halbbruder Connor auftauchte, wäre das für ihn auch in Ordnung.

Aber vielleicht sagte er sich das auch nur, um sich gegen eine Enttäuschung zu wappnen.

Bei anderen in seiner Einheit klang es so, als würde die halbe Welt zur Zeremonie auflaufen. Julian hatte einfach nicht so viele Menschen in seinem Leben. Sein Vater, er hatte als Professor an der Tulane University gearbeitet, war gestorben, als Julian gerade einmal vierzehn gewesen war. Julians Tante und sein Onkel in Louisiana hatten keinen Platz gehabt, um ihn bei sich aufzunehmen. So war ihm keine andere Wahl geblieben, als nach Chino, Kalifornien, zu gehen, um bei seiner Mutter zu leben.

Das war nicht gerade die Art von Vergangenheit, die dazu führte, dass ihm bald unzählige Verwandte stolz zujubeln würden. Vielleicht fühlte er sich in der Armee deshalb so wohl. Die Menschen, mit denen er hier trainierte und arbeitete, waren für ihn wie eine Familie.

Wie so oft wanderten seine Gedanken zu Daisy. Sie stammte aus einer großen und weitverzweigten Familie, was zu den Eigenschaften gehörte, die er an ihr so liebte. Allerdings war das auch ein Grund, warum er solche Schwierigkeiten hatte, sich eine gemeinsame Zukunft mit ihr vorzustellen. Daisy müsste sich im Zweifel von allen anderen verabschieden – das war ganz schön viel verlangt.

Als er die Post durchging, fiel ihm ein kleiner Umschlag in die Hände. Nachdem Julian ihn aufgerissen hatte, grinste er breit.

Alles fiel von ihm ab. Die Sorgen wegen der Zeremonie, die Schulterschmerzen, die Tatsache, dass er morgen eine Präsentation halten musste. Alles.

Er starrte auf die schlichte Antwortkarte. „Daisy Bellamy wird _ / wird nicht _ an der Feier teilnehmen.“ An den unteren Rand hatte sie geschrieben: „Das würde ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen! Ich bring meine Kamera mit. Bis bald. xo.“

Bester Laune ging Julian in sein Zimmer. Davenport, einer seiner Mitbewohner, warf nur einen Blick auf sein Gesicht und fragte: „Hey, bist du endlich flachgelegt worden, Sturkopf?“

Julian lachte nur und nahm sich eine Flasche Gatorade aus dem Kühlschrank.

„Dann musst du deine Präsentation fertighaben“, riet Davenport weiter.

„Hab noch nicht mal richtig damit angefangen.“

„Was für ein Thema hast du noch mal?“

„Was man in der Schlacht überleben kann.“

„Was bedeutet, dass es eine sehr kurze Präsentation wird, oder? Kein Wunder, dass du dir keine Sorgen machst.“

„Du wärst überrascht, was für Katastrophen der Mensch überleben kann“, entgegnete Julian.

„Na gut, überrasch mich!“ Davenport wandte sich von seinem Computer ab und wartete.

„Einen Unfall beim Fallschirmsprung, wenn man keine weiche Stelle zum Landen findet“, fing Julian an und dehnte die schmerzende Schulter.

„Ha, ha. Das ist ja Kinderkram. Wie steht es mit einer raketenbetriebenen Granate?“

„Einen Granatenangriff kann man auch überleben.“

„Aber nicht der Kerl, der sich auf seine Kumpels wirft, um sie zu beschützen.“

„Idealerweise wirfst du das Ding dahin zurück, woher es gekommen ist.“

„Gut zu wissen“, sagte Davenport.

Julian machte sich keine Gedanken über das Thema. Der schwere Teil des Lebens hatte nichts mit körperlichen Anstrengungen und akademischen Zielen zu tun. Die Abschlussprüfung würde er problemlos schaffen. Er konnte Marathon laufen, eine Meile schwimmen, einhändige Liegestütze. Nichts davon war wirklich schwierig.

Ihn forderten Sachen heraus, die anderen Menschen leichtfielen. Zum Beispiel die Entschlüsselung des größten Mysteriums der Welt – herauszufinden, wie die Liebe funktionierte.

Doch das würde sich ändern.

Es gab zwar kein Lehrbuch und keinen Kurs, den er besuchen könnte, um das zu lernen. Vielleicht war es aber ein wenig, wie in einem Scherwind gefangen zu sein. Man musste versuchen, so gut es ging zu steuern, und hoffen, dass man in einem Stück landete. Eigentlich hatte er auf diese Art bisher sein Leben gemeistert.

Februar 2007

Julian starrte auf das Schreiben des United States Secretary of the Air Force. Er traute seinen Augen nicht. Drei verschiedene ROTC-Abteilungen hatten ihn angenommen, und jetzt hielt er die Bestätigung fürs Stipendium in Händen. Er stand mitten auf einem unscheinbaren Parkplatz, drückte sich das formell formulierte Schreiben an die Brust und schaute in den farblosen Himmel über Chino, Kalifornien. Er würde aufs College gehen. Und er würde fliegen.

Auch wenn er darauf brannte, die Neuigkeiten mit jemandem zu teilen, fand er niemanden, der ihm zuhören wollte. Er versuchte, es seinem Nachbarn Rojelio in schnellem Straßenspanisch zu erklären, aber Rojelio musste zur Arbeit; er war schon spät dran und konnte nicht länger mit Julian herumhängen. Danach lief Julian den ganzen Weg zur Bücherei an der Central Avenue, wobei er den Bürgersteig unter seinen Füßen kaum spürte. Er hatte keinen Computer zu Hause, und er musste eine Antwort sofort abschicken.

Der Autor John Steinbeck nennt den kalifornischen Winter die trostlose Jahreszeit. Julian verstand genau, warum. Überall herrschte totale Flaute. Chino, eine direkt am Highway gelegene Stadt östlich von L.A., wurde vom Smog aus dem Westen und der Inversionswetterlage der Berge aus dem Osten eingekesselt, was dazu führte, dass der scharfe, reife Geruch der Schlachthöfe dick in der Luft hing und jeden Atemzug beeinträchtigte. Julian neigte dazu, sich in der Bücherei zu verschanzen, Hausaufgaben zu machen, zu lesen … und zu träumen. Der Sommer, den er am Willow Lake verbracht hatte, fühlte sich an wie ein ferner Traum, verschleiert und surreal. Er war wie aus einer anderen Welt, einer Welt, die es nur in Büchern gab.

Um sicherzustellen, dass die anderen Kids an der Highschool ihn nicht ärgerten, musste Julian so tun, als würde er keine Bücher mögen. Unter seinen Freunden war es extrem uncool, wenn man gerne las und gut in der Schule war. Also behielt er seinen Appetit auf Geschichten für sich. Für ihn waren Bücher Freunde und Lehrer. Sie hielten ihn davon ab, sich allein zu fühlen, und er lernte aus ihnen alles Mögliche. Zum Beispiel, was eine Halbwaise war. Aus einem Buch von Charles Dickens hatte Julian gelernt, dass eine Halbwaise ein Kind war, das ein Elternteil verloren hatte. Damit konnte er sich identifizieren. Nachdem sein Vater gestorben war, gehörte Julian nun zu den vielen Kindern mit alleinerziehenden Müttern.

Seine Mutter hatte nie Mutter sein wollen. Das hatte sie ihm selbst gesagt und – in einem Moment übertriebener Offenheit – erklärt, dass er auf einer Aeronautenkonferenz in Niagara Falls empfangen worden war; das Ergebnis eines One-Night-Stands. Sein Vater war einer der Hauptsprecher auf der Konferenz gewesen. Seine Mutter eine Stripteasetänzerin im Nachtklub des Konferenzhotels.

Neun Monate später tauchte Julian auf. Seine Mutter hatte ihn nur zu gerne seinem Vater überlassen. Sie waren zusammen sehr glücklich gewesen – bis sein Vater gestorben war. Deshalb verbrachte Julian die Highschooljahre bei seiner Mutter, die keine Ahnung zu haben schien, was sie mit ihm anfangen sollte.

Er hatte kein Handy. Er war wohl so ungefähr der letzte Mensch auf Erden, der keins hatte. So arm waren seine Mom und er. Sie arbeitete zwar wieder, und er hatte einen Nebenjob bei einem Autohändler, wo er Reifen und Öl wechselte. Einige Kunden gaben ihm Trinkgeld, allerdings nie die Reichen mit den heißen Autos, sondern eher die Arbeiter mit ihren Chevys und Pick-ups. Seine Mom hatte ein Handy, das sie, wie sie sagte, brauchte, falls sie wegen eines Schauspielangebots angerufen würde. Aber das Letzte, was sie im Moment gebrauchen konnten, war eine weitere Rechnung. Sogar ihr Telefonanschluss war die allerbilligste Variante ohne integrierten Anrufbeantworter.

In der Bücherei konnte er im Internet surfen und seine kostenlose E-Mail-Adresse nutzen. Schnell fand er die ROTC-Seite und benutzte das Log-in, das ihm mit dem Willkommenspaket zugesendet worden war. Er fühlte sich, als wäre er Mitglied in einem Geheimklub geworden. Dann schaute er schnell in sein E-Mail-Account, wo er den Kontakt zu Daisy hielt. Sie waren beide nicht sonderlich gut darin, zu schreiben, und auch heute gab es keine E-Mail von ihr. Er hatte seine Schule und seinen Job, sie war erst kürzlich von New York City in das kleine Städtchen Avalon gezogen, um dort bei ihrem Dad zu wohnen. Sie sagte, ihre Familiensituation wäre ein wenig seltsam, da ihre Eltern sich gerade getrennt hatten. Sie tat ihm leid, aber er konnte ihr keinen guten Rat geben. Seine Eltern hatten nie zusammengelebt, und in gewisser Hinsicht war das vielleicht sogar besser. Denn somit hatte es erst gar keine Trennung gegeben, an die sich alle Beteiligten hätten gewöhnen müssen.

Doch E-Mails waren begrenzt. Er wollte Daisy anrufen und ihr von seinen Neuigkeiten berichten. Und ihr danken, weil sie ihn daran erinnert hatte, dass das College für ihn nicht völlig außer Reichweite lag. Der Vorschlag, den sie ihm letzten Sommer unterbreitet hatte, hatte bei Julian gefruchtet. Es war nicht unmöglich, dass er das Leben führte, von dem er bisher nur geträumt hatte. Mit einer beinahe beiläufig dahingesagten Bemerkung hatte sie ihm den goldenen Schlüssel überreicht.

Die Wohnung, die er sich mit seiner Mutter teilte, lag in einem in deprimierend schlechtem mexikanischen Stil errichteten Gebäude, das von einer von Unkraut überwucherten Freifläche und einem Parkplatz mit rissigem Asphalt umgeben war. Er schloss die Tür auf; seine Mutter war nicht da. Wenn sie keine Arbeit hatte, verbrachte sie die meiste Zeit im Bus in die Stadt, um zu verschiedenen Treffen zu gehen und zu „netzwerken“, wie sie es nannte.

Julian tigerte vor dem Telefon auf und ab. Irgendwann brachte er genug Mut auf, um Daisy anzurufen. Er wollte ihre Stimme hören und ihr persönlich von dem Brief erzählen. Der Anruf würde zwar weitere Kosten verursachen, die sie sich nicht leisten konnten, aber das war ihm egal.

Gleich nach dem ersten Klingeln meldete Daisy sich. Das tat sie immer, wenn er sie auf dem Handy anrief. Aber er wusste nicht, ob er der Einzige war, der mit dieser Vorwahl bei ihr anrief.

„Hey“, sagte sie.

„Selber hey. Störe ich gerade?“ Er dachte an den Zeitunterschied von drei Stunden. Im Hintergrund hörte er leise Musik.

„Nein, alles gut.“ Während sie noch zögerte, erkannte er das Lied. Es war „Season of Loving“ von den Zombies. Er hasste den Song.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Es war komisch, er hatte sie seit dem letzten Sommer nicht gesehen, und doch klang ihr „Nein, alles gut“ in seinen Ohren irgendwie falsch. „Was ist los?“, wollte er wissen.

Sie stellte die Musik ab. „Olivia hat mich gebeten, zu ihrer Hochzeit zu kommen.“

„Das ist doch cool, oder?“ Julian würde auch auf der Hochzeit sein, weil sein Bruder der Bräutigam war. Er war noch nie auf einer Hochzeit gewesen, aber er konnte es kaum erwarten – weil sie im August im Camp Kioga stattfinden würde. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er in seinen ROTC-Plan schauen musste, um zu klären, ob er an dem Tag überhaupt freihaben konnte.

„Das ist gar nicht cool.“ Daisys Stimme klang irgendwie dünn. „Hör mal, Julian, ich überlege schon die ganze Zeit, wie ich dir das sagen soll. Mein Gott, es ist echt schwer.“

Seine Gedanken rasten. War sie krank? Hatte sie die Nase voll und wollte ihn nicht mehr sehen? Wollte sie nicht mehr, dass er sie anrief oder sich sonst wie bei ihr meldete? Hatte sie, um Himmels willen, womöglich einen Freund?

„Sag es einfach!“

„Ich will nicht, dass du mich hasst.“

„Ich könnte dich niemals hassen. Ich hasse niemanden.“ Nicht einmal den betrunkenen Autofahrer, der seinen Vater überfahren hatte. Julian hatte ihn im Gerichtssaal gesehen. Der Mann hatte so heftig geweint, dass er nicht hatte aufstehen können. Julian hatte keinen Hass verspürt. Nur ein unglaublich hohles Nichts. „Ehrlich, Daze.“ Er benutzte ihren Spitznamen. „Du kannst mir alles sagen.“

„Ich hasse mich.“ Sie sprach ganz leise, und ihr zitterte die Stimme.

Sein Telefon hatte noch eine Schnur. Deshalb war er dazu verdammt, in dem kleinen Radius vor dem Fenster hin- und herzulaufen. Er blickte in den farblosen Februartag hinaus. Unten auf dem Parkplatz sah er Rojelios Frau, die mehrere Einkaufstüten ins Haus trug. Normalerweise würde Julian hinunterlaufen und ihr zur Hand gehen. Sie hatte eine ganze Bande Kinder – er wusste nicht, wie viele genau –, die immer hungrig zu sein schienen. Die arme Frau war den ganzen Tag damit beschäftigt, zu arbeiten, einzukaufen und Essen zuzubereiten.

„Daisy, jetzt erzähl schon, was los ist.“

„Ich hab’s vermasselt. Ich habe es total verbockt.“ Sie klang zerbrechlich, die Wörter wie Glasscherben, auch wenn er nicht wusste, wovon sie sprach. Was immer es auch war, er wollte bei ihr sein, wünschte sich, sie in die Arme nehmen zu können, den Duft ihres Haars einzuatmen und ihr zu versichern, dass alles wieder gut würde.

Im Geiste ging er alle Möglichkeiten durch. Hatte sie wieder angefangen zu rauchen? Gab es Schwierigkeiten in der Schule? Er wartete. Sie wusste, dass er da war. Er musste sie nicht weiter drängen.

„Julian“, sagte sie schließlich mit brechender Stimme. „Ich werde ein Kind bekommen. Es ist im Sommer fällig.“

Das kam so unerwartet, dass ihm nichts einfiel, was er hätte sagen können. Er starrte einfach nur weiter auf Rojelios Frau, die gerade den zweiten Schwung Einkaufstüten aus dem Wagen holte. Daisy Bellamy? Ein Baby?

Auf Julians Schule waren schwangere Mädchen nichts Ungewöhnliches, aber Daisy? Sie sollte ein privilegiertes Leben führen, in dem nichts Schlimmes passierte. Sie sollte seine Freundin sein. Ja, sicher, sie hatten sich in jenem Sommer verabschiedet, ohne einander etwas zu versprechen. Aber das war doch eine unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen.

Das hatte zumindest er gedacht.

„Julian? Bist du noch da?“

„Ja.“ Er fühlte sich, als hätte ihm jemand in den Magen geboxt.

„Ich komme mir so dumm vor.“ Sie weinte jetzt und klang verängstigt. „Und es kann nicht rückgängig gemacht werden. Der Junge … es ist jemand aus meiner Schule in New York. Wir waren nicht mal zusammen oder so. Wir haben uns an einem Wochenende betrunken und … Oh, Julian …“

Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Das war nicht das Gespräch, das er sich vorgestellt hatte, als er den Hörer abgehoben hatte. „Ich schätze … Wow, ich hoffe, dir geht es gut.“

„Ich habe so ziemlich alles in meinem Leben geändert. Ich habe es meinen Eltern erzählt. Sie waren auch erst schockiert, aber dann haben sie mir versichert, dass wir das schon irgendwie hinkriegen.“

„Das werdet ihr auch.“ Er hatte keine Ahnung, ob das stimmte.

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